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PS 3 Schläft ein Lied in allen Dingen

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Schläft ein Lied in allen Dingen
fer dienen. Damit kann man sofort etwas anfangen und mehr sehen: »Gelingendes Leben«, »Resonanz«, »Weltbeziehungen«. Ideen, die bei ihm schon lange gären und über die an dieser Stelle auch schon geschrieben wurde: »Dass menschliches Leben dort gelingt, wo Subjekte konstitutive Resonanzerfahrungen machen, dass es dagegen misslingt, wo Resonanzsphären systematisch durch stumme, das heißt rein kausale oder instrumentelle Beziehungsmuster verdrängt werden.« Diese Gärung ist nun aufgegangen. 814 Seiten. »Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung.« So beginnt sein neues Buch »Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung«, das in diesem Frühjahr bei Suhrkamp erscheint¹. Rosa entwickelt, variiert und vertieft diese sofort überzeugende, wenn auch erst mal nur ahnungsvolle Idee: »Resonanz ist das Aufblitzen der Hoffnung auf Anverwandlung und Antwort in einer schweigenden Welt.« Nicht mehr ankommen Er arbeitet an der Neuformulierung einer Kritik der Entfremdung.

PS 2 Kompetenzen und Resonanzen

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Kompetenzen und Resonanzen
fort, waren die Pisawerte der deutschen Schüler in den Naturwissenschaften noch einigermaßen. Auch träges Wissen lässt sich ja in gewissem Maße speichern. »Da haben wir das Wissen noch einigermaßen vermittelt,« sagte Schleicher, »aber die Motivation weiter zu lernen und im Leben die Kompetenzen auszubauen, geht verloren.« Damit war nun das Wort gefallen, das dann das Hauptwort in den Bildungsdebatten wurde: Kompetenzen. Die sollten nun gebildet werden. Man muss den Satz zweimal lesen: Kompetenzen sollen gebildet werden? Nicht die Schüler bilden, sondern Kompetenzen? Das war eine wunderbare Abkürzung. Statt über die realen Kräfte genauer nachzudenken, die die Schüler tatsächlich bilden, die ihnen nahelegen, nur ihr Geschick, um in der Schule zu glänzen, zu trainieren oder wenigstens unauffällig durchzukommen oder nach einer Umgebung fragen, die vielleicht doch in dem Sinne bildet, wie es die zu Präambelsätzen abgesunkenen großen Entwürfe einmal konzipiert hatten, nämlich Menschen, die die Welt lieben, die in ihr ihren Platz finden und die in ihr tätig werden wollen, statt einer wirklichen Bildungsdebatte, die gar nicht möglich ist, ohne über die Gesellschaft, die bildet, zu reden, wählte man die vermeintliche Direttissima: Kompetenzen. Ein dicker Auftrag für Ministerien, Forschung, Lehrerfortbildung, Verlage und auch für manche Scharlatane.

PS 1 Keine Angst vor der Angst

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Keine Angst vor der Angst

NDR Gedanken Wurzeln und Flügel

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Wurzeln und Flügel | NDR.de - Kultur

11.02.16, 15:18

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Wurzeln und Flügel
von Reinhard Kahl Kinder und Flüchtlinge haben etwas gemeinsam: Sie sind "Neuankömmlinge". Werden sie willkommen geheißen - oder argwöhnisch beäugt? Die

PS 12 Die vergessene Bildung

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Die vergessene Bildung
für den Einzelnen gar nicht klar, welche Re geln tatsächlich gelten. Da Mitarbeiter nach Anerkennung strebten, hänge ihr Verhalten letztlich davon ab, wofür Unternehmen ihnen Anerkennung zollen. Belohnt wird mit Plät zen in der Rangordnung. So entstehen die Wer te, die tatsächlich bilden. Deshalb sei auch das Aufstellen eines anders lautenden Ethik kodex kaum wirksam. Er könne allenfalls die Funktion haben, die Mitarbeiter an morali sche Prinzipien zu erinnern. Solche pseudotie fen Mahnungen wirken aber nicht lange. Wo ist die Musik! Ich mache jetzt einen großen Sprung in den von Daniel Barenboim vor zehn Jahren ini tiierte Musikkindergarten Berlin. Dessen Grundidee ist: »Keine Musikerziehung, son dern Bildung durch Musik.«

Willkommen ?!

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Willkommen! ­ ??
in Berlin kennenlernte, als ich die Fernsehdokumentation »Aufbruch ­ die Kraft der Einwanderer« drehte. Der siebzehnjährige Schüler Van Bo Le, dessen Eltern illegal aus Thailand eingewandert waren, rappte in der Berliner U-Bahn. »Freestyle ist etwas Heiliges«, sagte er damals, »wenn du Freestyle kannst, kannst du spontan reden, vor allem ehrlich, weil du nicht lange darüber nachdenken kannst, was du gerade denkst, du offenbarst dich. Und der, der in der Freestylesession antwortet, der macht es genauso.« Inzwischen ist Van Bo Le Architekt, aber vor zwei Jahren ist er aus dem Job im Architekturbüro ausgestiegen. Er wollte nicht weiter im Hamsterrad mitrennen. Berühmt wurde er durch die von ihm erfundenen Hartz-IV-Möbel http://hartzivmoebel.blogspot.de, die er häufig in Schulen baut. Dafür erhielt er kürzlich den ZEIT-Wissen-Preis >Mut zur Nachhaltigkeit< und wurde in der Hamburger Hochschule für Bildende Künste Vertretungsprofessor für Design. Den Studierenden zahlt er sein Honorar aus. Er hat sich für das Jahr 2015 sein Grundeinkommen per Crowdfunding bereits finanziert. ... nach der Crowd Um die Idee der Hartz-IV-Möbel zu realisieren, hat er in der Volkshochschule das Tischlern gelernt.

PS 11 Willkommen

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Willkommen! ­ ??
in Berlin kennenlernte, als ich die Fernsehdokumentation »Aufbruch ­ die Kraft der Einwanderer« drehte. Der siebzehnjährige Schüler Van Bo Le, dessen Eltern illegal aus Thailand eingewandert waren, rappte in der Berliner U-Bahn. »Freestyle ist etwas Heiliges«, sagte er damals, »wenn du Freestyle kannst, kannst du spontan reden, vor allem ehrlich, weil du nicht lange darüber nachdenken kannst, was du gerade denkst, du offenbarst dich. Und der, der in der Freestylesession antwortet, der macht es genauso.« Inzwischen ist Van Bo Le Architekt, aber vor zwei Jahren ist er aus dem Job im Architekturbüro ausgestiegen. Er wollte nicht weiter im Hamsterrad mitrennen. Berühmt wurde er durch die von ihm erfundenen Hartz-IV-Möbel http://hartzivmoebel.blogspot.de, die er häufig in Schulen baut. Dafür erhielt er kürzlich den ZEIT-Wissen-Preis >Mut zur Nachhaltigkeit< und wurde in der Hamburger Hochschule für Bildende Künste Vertretungsprofessor für Design. Den Studierenden zahlt er sein Honorar aus. Er hat sich für das Jahr 2015 sein Grundeinkommen per Crowdfunding bereits finanziert. ... nach der Crowd Um die Idee der Hartz-IV-Möbel zu realisieren, hat er in der Volkshochschule das Tischlern gelernt.

Wie Schulen klingen

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Reinhard Kahl

Wie Schulen klingen
1. Bitte Eintreten!
Können Schulen klingen? Ja. Und wie! Sie riechen sogar. Sollten sie aber weder klingen noch riechen und sich auch sonst nach nichts anfühlen, dann wären wir im nowhere land. Gebildet würde hier der nowhere man, von dem die Beatles singen: doesn't have a point of view, knows not where he's going to, making all his nowhere plans for nobody. Manchmal überkommen mich düstere Tagträume. Schulen im rasenden Stillstand. Nichtorte für Niemande. Da läuft dann jemand mit einem Spray durch die Räume, wie die Hausfrau hinter Monsieur Hulot in Jaques Tatis Film Mon oncle. Leben wird desinfiziert. Perfektion. Metaphern des Todes. Davon sind die Schulen weit entfernt, wenn auch nicht unbedingt durch Lebendigkeit, so doch wenigstens durch Schmutz, durch das Unreine, mit dem alles anfängt. Ich träume aber viel lieber von Schulen, die leuchten und klingen. Der Verzicht auf Desinfektion und Perfektion macht heiter und klingt etwa so: Ihr seht schon ganz manierlich aus, kommt mir nur nicht absolut nach Haus. So spricht der Dichter. Das ist der Sound von Goethe.1 Wer eine Schule betritt, der riecht und hört gleich, was los ist.

PS 10 Beziehungen, Bindungen, Spielräume

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P.S. Beziehungen, Bindungen, Spielräume
dass sie sogar noch im Erwachsenenalter spielt. Davon handelt Bildung.« Und deshalb sollte in der »Bildung der Bildung« oder »Pädagogik«, oder wie immer wir es nennen, das »Was« hinter dem »Wie« zurücktreten. Zumal in der Mathematik. Hier gilt auch kognitiv: Alles ist Beziehung. Alles steht in Relationen. In der angestrengten Pädagogik ist allerdings das Gegenteil der Fall. Man gestaltet nicht die Umgebung. Man setzt nicht auf das Indirekte, die Beziehungen und das Spielerische. Alle Kraft voraus geht es direkt aufs Ziel ­ und das wird verfehlt. »So viele Lehrer«, wundert sich Martin Kramer, »bereiten sich ewig auf den Unterricht vor, aber sie geben den Schülern keine Rolle. Die dürfen nicht mitspielen.« Und wer nicht mitspielen darf, was macht der? Davon erzählte mir kürzlich Peter Fratton. Beziehungen Peter Fratton hat in der Schweiz Schulen gegründet. »Haus des Lernens« heißen sie. Diese Schulen wurden für viele zum Vorbild.² Will man das Wichtigste dieser Schulen zusammenfassen, so ist es die Anerkennung der Tatsache, dass vor allem Lernen die Beziehungen zwischen den Mitspielern und die Art ihrer Bindungen kommen. Daraus ergeben sich dann Spielräume für Biographien und daraus erwachsen schließlich Leistungen. Diese sind dann gar nicht mehr zu vermeiden. Peter Fratton nun beobachtet, wie sich manches von dem, was auch er mit in die Debatte gebracht hat, ins Gegenteil kippt, wenn man diesen Weg von den Beziehungen zur Leistung gewalttätig abkürzt. Ein Beispiel sind die »Kompetenzraster«.

PS 9 Lesen ohne zu lesen

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Lesen, ohne zu lesen
Lesen wir weiter Uwe Timm: »Der Schü ler aus meiner Grundschulzeit, der die bes ten, weil fehlerfreiesten Diktate schreiben konnte, leitet heute eine Mülldeponie bei Hamburg und sagt, es sei eine wunderba re Beschäftigung, dieses Chaos zu über blicken. Vielleicht ist diese Beschäftigung seine Antwort auf den Rechtschreibzwang, den er fraglos erduldete. Jetzt schreibt und liest er nicht mehr. « Die Passage von Uwe Timm über die Rechtschreibung bekamen kürzlich Ham burger Schüler zu lesen. In die 1 692 Zei chen waren zwölf Schreibfehler einge schmuggelt. Im Rahmen von »Vergleichs arbeiten« sollten alle Zehntklässler die Fehler anstreichen. Welch phantastische Übung in der Selbstreferenzialität schuli scher Kultur! Fehler anstreichen. Und aus gerechnet diesen Text auf eine Pfeifton rückkopplung reduzieren. Pawlowsche Hunde Das Ergebnis fiel erwartungsgemäß mies aus. Die Fehler wurden in der Behörde zu Schulnoten umgerechnet. Danach betrug die Durchschnittsnote für Gymnasiasten 3,7. Sofort begannen die pawlowschen Hun de zu bellen. Dicke Letter auf Seite Eins des »Hamburger Abendblatt«: »Deutsch test überfordert Hamburger Zehntklässler«. Die CDU sprach in genüsslichem Déjàvu vom »verheerenden Gesamtergebnis« und die ängstliche SPDBehörde verwies auf ihren »Maßnahmenkatalog zur Verbesse rung der Rechtschreibung«. Dabei hatte die ser Test mit dem Schreiben doch gar nicht viel zu tun. Die Schüler waren als Korrek toren gefragt. Ein professioneller Korrektor muss möglichst sinnfrei, also ohne verste hen zu wollen und auf den Zusammenhang zu achten, die Wörter möglichst einzeln lesen. Sonst kommt ihm nämlich bei der Fehlersuche das Genie unseres Gehirns in die Quere. Es ergänzt Lücken, stellt Feh ler richtig und übersieht, was einem Kor rektor nicht entgehen sollte.

PS 7 Das eindimensionale Kind

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Das eindimensionale Kind
mer nur etwas tun, um zu. Statt sich in der Sache selbst verlieren, sie genießen, auch mit ihr kämpfen, sie lieben, sie vielleicht auch hassen, aber eben nicht nur mit ihr ein Investment in den Nutzen betreiben. Der Text ist ein Protest dagegen, zum Betriebswirtschaftler seiner selbst zu werden, der sich ständig optimieren soll, der sich verwerten muss und der sich damit selbst entwertet. Überfüllte Leere Nicht so leben wie jene Menschen, die arbeiten, um Urlaub zu machen, und die Urlaub machen, um wieder fit für die Arbeit zu werden. Wenn sie arbeiten, sind nicht bei der Arbeit. Und auch im Urlaub haben sie keinen Urlaub, weil sie nicht bei sich sind, wenn der Urlaub eine Arbeit zur Ermöglichung der Arbeit wird. Gegenwart erodiert. Die Ewigkeit des Augenblicks verödet. Stattdessen wird das Hase-Igel-Spiel zur Regel. Von irgendwoher ruft immer ein Hase dem Igel zu: »Ick bün all dor.« Am Ende bleibt von diesem Wettbewerb wenig, doch alle sind irgendwie überwältigt. Ein Scheißleben wird diese ständige Funktionalisierung. Menschen verlieren sich selbst. Und junge Menschen können sich nur schwer gewinnen. Eine irritierende Gleichzeitigkeit von Überfüllung und Leere. Kein Wunder, dass die Kinder dann Prothesen brauchen. Zum Beispiel gute Zensuren.

96 PÄDAGOGIK 7 ­ 8/15

NDR Gedanken Lernen was sie wollen

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NDR Kultur Gedanken zur Zeit 21. Juni 2015
Sollen Kinder lernen was sie wollen?
Wege aus der Erschöpfung in der Bildung

PS 6 Reformpädagogik ade

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Ade Reformpädagogik?
solche Großnomina wie Freiheit, Reformpädagogik oder Kommunikation benutzte, der musste einen Dollar zahlen. Das verbesserte die Gespräche enorm. Dennoch macht es natürlich Sinn, sich noch mal die reformpädagogischen Karten anzusehen. Der Begriff wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfunden. Und zwar rückwirkend. Mit dem neuen Oberbegriff versuchte man sich Legitimität für die aufkommenden neue Ideen zu verschaffen und ging weit bis zu Rabelais, Montaigne und vor allem zu Comenius zurück. Der hatte bereits gemahnt, »Lehrer, lehrt weniger, damit eure Schüler mehr lernen.« Rabelais, der Mönch, Dichter und Arzt, hatte den Satz, dass Kinder nicht wie Fässer gefüllt, sondern wie Flammen entzündet werden wollen, in der griechischen Antike gefunden und ihm eine Renaissance verschafft. Dieser seit Heraklit gut abgehangene Satz ist immer noch einer der aktuellsten. Und natürlich war Rousseau ein Eidvater. Rousseau? Jetzt werden sich viele, die Rousseau nicht gelesen haben, ihren Triumph nicht verkneifen, aha, so ein Romantiker, zurück zur Natur, ha ha ... Diese Leute sollten Kant lesen, der von keinem Autor so tief erschüttert war wie von Rousseau. Dieser Kant, der als zwanghafter Stubenhocker und Prinzipienreiter gehandelt wird. Und so geht es weiter mit der lebendigen und auch ambivalenten Geschichte der Versuche, »die Erziehung vom Kinde aus« immer wieder neu zu entdecken, denn die herrschende Praxis im Alltag war so ganz anders. »Erziehung vom Kinde aus«, das steht übrigens bereits in der »Didactica magna« von Johan Amos Comenius auf Seite eins. Das Buch wurde 1657 gedruckt und war als »Didaktik des Lebens« geschrieben.

PS 5 Falschgeld

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Falschgeld
Hansestadt für Politiker der höchste Maßstab, ihr eigentliches Referenzsystem. Der Artikel berichtete auf einer Dreiviertelseite von den »Maßnahmen«, die der Senator ergreifen will, um das schlechte Abschneiden vieler Stadtteilschulen bei Vergleichsarbeiten in Mathe zu verbessern. Die Stadtteilschule tritt in Hamburg die Nachfolge von Haupt-, Real- und auch Gesamtschulen an, mehr und mehr auch von Sonderschulen. Die Schule also für all die Schüler, die nicht zum Gymnasium gehen. Das ist inzwischen die Minderheit, wenn auch eine große, in manchen Stadtteilen bereits eine kleine. Stadteilschulen werden immer noch von der Hoffnung begleitet, sie könnten pädagogische Erneuerungen hervorbringen. Stärker allerdings wächst die Befürchtung, sie liefen auf neue Restschulen heraus, B-Schulen, mit ein paar reformerischen Biotopen vielleicht. Senatorengeschichten Ergäben sich daraus nicht Überlegungen zu den schlechten Matheergebnissen?

150. Philo Café Lit.Haus Hamburg

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PS 4 Erwachsen

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P.S. Erwachsen? Erwachsen werden!
sein wird welk. Und Jugend wird so endlos wie die Zukunft, die alles überstrahlt, vor allem die Gegenwart. Herkunft, Geschichte und Geschichten verdunkeln sich. Dieser Spur geht nun eine andere Amerikanerin nach, Susan Neiman. Sie schreibt: »Nachdem es uns nicht gelungen ist, Gesellschaften zu schaffen, in die unsere Jugend gerne hineinwachsen möchte, idealisieren wir die Phasen der Kindheit und Jugend.« Erwachsen Susan Neiman hat in Yale und Tel Aviv Philosophie gelehrt. Jetzt lebt sie in Berlin.

PS 3 Villa Monte Teil 2

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Irritationen ­ Villa Monte II*
Man sieht die Kinder bei vielen Tätigkeiten und dann wieder zum nächsten Ziel rennen. Dieser wunderschöne Laufschritt von Kindern, die begeistert sind! In Gesprächen haben sie den gleichen Ernst wie beim Spiel. Es wird hier so sonnenklar, dass das Spielen der Kinder keine »bloße« Spielerei im Gegensatz zum »richtigen« Lernen ist, das der Vorbereitung auf den »Ernst des späteren Lebens« dient. Wo bleiben in den auf das »spätere Leben« verweisenden Schulen das jetzige Leben und die wache Gegenwart, aus der Zukunft entspringt? Radikale Gegenwart ist in der Villa Monte eine alles überwölbende und vieles ermöglichende Atmosphäre. Lernen Die Kinder lernen ­ auch wenn Lernen nicht drauf steht. Oder lernen sie sogar besser, wenn jedes Kind auf seine einzigartige Weise lernt? Lernen als etwas Intimes, zutiefst eigenes und zugleich der Welt Zugewandtes ­ wie die Liebe? Was ist den Kindern ihr Nächstes? Und wie machen sie ihre nächsten Schritte?

PS 2 Villa Monte 1

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Die Villa Monte 1
lassen. Sie werden sogar von Harry Kool, der mit Rosemarie Scheu die Schule prägt, handwerklich unterstützt. Aber, um nun gleich ein Ergebnis vorweg zu nehmen: Keine Schule habe ich so friedvoll erlebt wie diese. Irgendwann lassen die Kinder die Waffen, um die kein pädagogischer Krieg geführt wird, hinter sich. Im Hauseingang stehen Schuhe. Es geht raus und rein. Die Erwachsenen in dieser Schule mit 80 Kindern und Jugendlichen binden Kindern geduldig die Schuhbänder. Schon wieder so eine Irritation. Wir helfen den Kindern, sagt Rosemarie Scheu, die diese Schule vor 30 Jahren aus einem Montessori Kindergarten heraus entwickelt hat. Und dann dauert es manchmal länger oder es geht ganz schnell, dass die Kinder ihre Schuhbänder selbst zubinden wollen. Wollen! Ein Stockwerk höher, über dem Telefontisch, hängt dieser Spruch: »Wenn ich nur darf, was ich soll, aber nie kann, wenn ich will, dann mag ich auch nicht, wenn ich muss.
64PÄDAGOGIK 2/15

Philo Cafe in HH

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28.01.2015 Pressemitteilung zum 150. Philosophischen Café

DAS 150. PHILOSOPHISCHE CAFÉ: EINANDER BEIM DENKEN ZUSCHAUEN
Seit 1999 lädt Reinhard Kahl Philosophen und Publikum zum Gedankenaustausch ein. Neues und erweitertes Format: Am 4.2. erstmals Philosophisches Café Extra in der Freien Akademie der Künste. Susan Neiman ist Gast der Jubiläumsausgabe am 24.3.

WIE MUSIKER DIE BILDUNG VERÄNDERN

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Das >Zukunftslabor<:

Wie Musiker die Bildung verändern
The >Future Lab<:

Initiator des Zukunftslabors

einen Teil der Bremer Gesamtschule Ost. Das Orchester suchte Räume zum Üben und für Schallplattenaufnahmen. Die Schule wurde gerade wegen Asbest und der Müdigkeit des Betons saniert. Der Geschäftsführer des Orchesters erinnert sich, dass er vor der Schule umkehren wollte. Hier? Nein, das kann nicht wahr sein. Aber ein Musiker, der mitfuhr, meinte nun lass uns doch wenigstens mal reingehen. Hier ist eine Bemerkung zur Geschichte der Kammer philharmonie nötig. Sie wurde Anfang der 80er-Jahre aus der Jungen Deutschen Philharmonie gegründet. Die Musiker hatten sich geschworen, niemals unter einem Karajan zu spielen. Sie wollten keine Instrumentalbeamten werden. Sie wollten sich je nach Art ihrer Musik Dirigenten suchen. Derzeit ist es Paavo Järvi aus Estland, mit dem sie in den Metropolen Asiens, in New York und eben auch in Bremen OsterholzTenever spielen. Das Orchester wird nur zu einem sehr geringen Teil subventioniert. Die Musiker sind Teilhaber. Man kann auch sagen: Unternehmer. Die Balance von Sicherheit und Unsicherheit, von Wagnis und Gelingen ist ihr Wasserzeichen von Anfang an. Und das haben sie in die Schule ge tragen. Die Kammermusiker spielen ein bisschen wie Jazz. Sie sind keine Ausführenden. Zuzuhören ist fast so wichtig wie selbst zu spielen. Die Stücke entstehen so immer wieder neu und kommen jedes Mal ein bisschen anders.

PS 1 Eltern

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Eltern!
auf die gleiche Art von Schule gehen, auf der sie selbst waren. Aber dann siegt doch die Angst vor dem Ungewissen und dass aus ihren Kindern nichts werden könnte. Schließlich beruhigen sie sich damit, dass die Schule ihnen nicht geschadet hätte. Seit einiger Zeit neigen sie wieder dazu, dass Kinder auf Durchsetzungsvermögen, Bluff und auch Ellbogeneinsatz trainiert werden sollten, was man, wie sie meinen, im Leben braucht. Einer Schule, die Freude am Lernen erhält ­ diese Freude müsste ja keine Schule erst machen, die Kinder bringen sie mit - der trauen viele nicht. Dagegen wäre noch eine Seele in der Brust der Eltern zu öffnen. Sie wissen doch alle, dass sie in ihrer Arbeit besser sind, wenn sie diese interessiert und Freude macht. Dann nimmt auch in Kauf, dass natürlich nicht alles und schon gar alles ständig alles nur Spaß macht. Eltern sollten sich mehr trauen. Sie sollten es nicht hinnehmen, wenn in der neunten Klasse des Gymnasiums vierzehn Fächer auf dem Stundenplan stehen. Jedes Kind weiß, dass man dann nur eines lernt: zu funktionieren. Bulimielernen halt.

Lernkultur Interview taz Drucker

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Lernkultur & Optimierungsdruck

,,Es gibt mehr Angst als früher"

Sollen sich Eltern um die beste Schule für ihr Kind bemühen? Ja, sollen sie, sagt der Bildungs Reinhard Kahl - aber nicht nur auf die Noten schauen.

lernkultur taz layout

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taz.nord vom 6.12.2014 Seite 43
LERNKULTUR Sollen sich Eltern um die beste Schule für ihr Kind bemühen? Ja, sollen sie,

sagt der Bildungsaktivist Reinhard Kahl ­ aber dabei nicht nur auf die Noten schauen

,,Es gibt mehr Angst als früher"

,,Eltern sind die unterschä Akteure in der Bildung": Reinhard Kahl Foto: David
INTERVIEW KAIJA KUTTER

taz: Herr Kahl, wenn Eltern eine Schule für ihr Kind auswählen ­ worauf sollten sie achten? Reinhard Kahl: Auf ihr Kind sollten sie achten. Zum Beispiel, ob es eine Schule ist, in der auch die anderen Kinder aus der Kita gehen. Kinder sollten ihre Freundschaften fortsetzen können. Das ist bei der weiterführenden Schule vielleicht schwierig. Das ist auch nur ein Aspekt. Eltern sollten darauf achten, wo Kinder willkommen sind, wo es gute Räume gibt, wo die Erwachsenen die Kinder auch mögen. Dass es nicht eine Schule ist, in der nur das ,,Durchkommen" wichtig ist, in der Lehrer den Stoff nicht nur durchnehmen und die Kinder den auswendig lernen, um ihn gleich wieder zu vergessen. Sondern Schulen, in denen es um die Anverwandlung der Welt geht. Eigentlich gibt es eine wunderbare Parole von Heraklit, die François Rabelais in der Renaissance wieder aufgenommen hat: ,,Kinder wollen nicht wie Fässer gefüllt, sondern wie Flammen entzündet werden." Wie können Mütter und Väter das bei einem Info-Tag feststellen? Damit sind sie doch überfordert. Eltern müssen sich klar machen, was der Schulwechsel für ihr Kind bedeutet. Das ist eine Mindestanforderung. Es ist ein guter Anlass darüber nachzudenken, was für eine Umgebung schaffe ich für mein Kind? Sie sollten auf ihr Gefühl achten, auf den berühmten ersten Eindruck der ersten 30 Sekunden. Ist das alles klinisch, steht da, wenn es hochkommt, ein Kakus auf dem Tisch. An vielen Schulen herrscht immer noch ein stiller Bürgerkrieg. Was meinen Sie mit ,,Bürgerkrieg"? Dass eine Tradition fortgeführt

PS 12 Alle reden vom Wetter

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Alle reden vom Wetter
Doch reißen wir die Augen auf! Blicken wir auf die Schule und die ganze »Bildung« und verstehen wir das Wort doch ursprünglich. Wie und wozu bilden wir die Welt? Und uns selbst? Wenn wir dem nachspüren, sind wir im Nu wieder beim Durchkommen, das in den Schulen und im Leben hinterrücks das Hauptfach geworden ist. Warum machen wir das eigentlich mit? Rückblende Es hat in den Schulen der deutschsprachi gen Länder im vergangenen Jahrzehnt Auf brüche gegeben. Es galt, endlich Abschied zu nehmen vom dummen dasgehtjadoch nichtRefrain. Sich lieber ins Gelingen ver lieben! Einen subversiven Konstruktivis mus erfinden! Das waren, jetzt spreche ich von mir, auch Ideen für meine Filme, vor allem für die »Treibhäuser der Zukunft«, die ja das Glück hatten, zum richtigen Zeit punkt zu entstehen. Eine Zeitlang schien es dann zu reichen, Bilder und Geschichten vom Gelingen zu ver breiten. Aber sehr weit reicht so ein bisschen Reformpädagogik nicht, vor allem wenn im Alltag dann doch nur allzu kleine Brötchen angeliefert werden, wie zum Beispiel die Umstellung vom 45 auf den 90Minuten takt und wenn manche gut gemeinte Ganz tagsschule doch in ein verwahrlostes Zwi schenlager für die nächste Generation kippt. Dann sind sie wieder da, diese Nachtgedan ken. Werden aus den Schülern am Ende doch nur Betriebswirtschaftler ihrer selbst? Läuft es bei den Lehrern nicht doch darauf hin aus, irgendwann den Countdown zur Pen sionierung zu zählen?

PS 11 Weggucken und Hinstarren

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P.S. Vom Weggucken und Hinstarren
Freud, die Mutter war es nicht, dann haben wir fast schon ein Geständnis. Es war so: Gerold Becker und Martin Bonhoeffer waren am Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen tätig. Hartmut von Hentig und Heinrich Roth waren die Ordinarien. Becker war Assistent von Roth. Becker und Bonhoeffer kümmerten sich um meinen Schulfreund Nils Schmerling. Wir hatten zusammen 1967 in Göttingen den USSB gegründet (antiautoritärer Schülerbund). Nils wohnte in der Maschstraße. Da standen Häuser mit »Behelfswohnungen«. Man sagte, da wohnen die Asozialen. Bonhoeffer hatte bei seinen wohl nicht nur wissenschaftlichen Recherchen über Heimkinder und andere aus prekären Verhältnissen Nils kennengelernt und ihn gefördert. Das Fördern steht außer Zweifel. Als der Missbrauch in der Odenwaldschule aufgedeckt wurde, erahnte ich das Muster. Der Retter zieht einen armen Jungen aus dem Sumpf. Erst später erfuhr ich, dass Nils, den ich aus den Augen verloren hatte, Selbstmord begangen hatte. Martin Bonhoeffer hat später in Berlin beim Senat die Jugendhilfe geleitet. Dann zog es ihn wieder in die Praxis.

P 10 Die Welt ist keine Maschine

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Die Welt ist keine Maschine
Wesen.« Wird das missachtet, dann läuft die Lehr-Lern-Maschine leer und je hochtouriger sie läuft, desto leerer. Kürzlich sollte Fischer für ein Magazin Abituraufgaben im Fach Physik begutachten. »Das waren nur Fragen, die niemanden interessieren, vermutlich auch die Lehrer nicht«, erinnert er sich. Das wiederum interessierte das Magazin nicht. Es wollte von ihm wissen, in welchem Bundesland die Aufgaben schwerer waren. Da wurden Berechnungen verlangt, so Fischer, »die man als Ingenieur können muss, die aber alle anderen sofort vergessen.« Die Maschine Wird die Welt als Maschine verstanden, dann wird etwa von genetischen Programmen gesprochen, als hätte es nie die Entdeckungen der Quantenphysik gegeben. Die Welt ist immer sehr viel mehr Möglichkeit als ein Programm, das exekutiert wird. Solche Entdeckungen machen die Naturwissenschaft heute so spannend. »Je genauer man hinschaut, desto mehr Komplexität wird sichtbar.« Das Lebendige ist eben keine Mechanik. »Wissenschaft verwandelt die wundersamen Geheimnisse der Wirklichkeit in noch größere Geheimnisse ihrer Erklärung.« Und das ist Fischers Pointe: »Mit den Antworten geht das Fragen erst los.« Die Fragen werden mit den Erkenntnissen ja nicht weniger.

PS 9 Sein

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Einfach nur sein?
nannt. »Erziehung von Kindern nicht durch direkte Erziehung, sondern durch allmähliches Teilnehmen lassen an Beschäftigungen der Erwachsenen.« Goethe verlangte für die Erziehung eine »vollständige Umgebung«.² Aus dem Überschuss von Gelegenheiten entwickeln sich Biographien ­ und die ständige Erneuerung der Welt. Nennen wir es Sein oder wie auch immer. Das ist mein Gärgedanke. So bilden sich Personen. In diesem Zwischenraum entspringt Neues. Theorien sprechen heute von Emergenz oder, wie Hartmut Rosa, von Resonanz. Wie schafft man Resonanzverhältnisse? Ist es nicht so, dass die Strategien von Planerfüllung und Stoffvermittlung darauf hinaus laufen, Resonanz auf ein bloßes, würdeloses Echo zu reduzieren? Basislager Die Schule als Resonanzraum wäre einer von Werkstätten, Laboren, Ateliers und Vortragsräumen. Sie wird ein Basislager für Exkursionen. Es gibt auch Räume der Stille und zum Üben. Die Rehabilitation des Übens steht an. Es ist so wichtig wie das Wissen. Üben heißt dann nicht mehr nur Wiederholen, das auch. Üben heißt zugleich Variieren und Ausüben und auch Spiel. Der Resonanzraum Schule wäre einer des Handwerks, des Wissens und der Künste. Er wäre zuerst als ein einmaliger und sich verwandelnder Ort zu beschreiben. Einer der Schonheit, der Poesie und des Staunens. Einer, an dem die Kinder und Jugendlichen auf Erwachsene treffen, die sie mit ihrem lebendigem Wissen und tätigem Konnen anregen und anstoßen. Einer mit der Chance, irgendwann an etwas hängenzubleiben und zu sagen, ja, das ist es, das will ich, das ist mein Ding. Eine Passion, die dem Passionierten selbst immer auch ein Geheimnis bleibt. Kurz: Wir brauchen eine Schule der Welt und nicht der Abziehbilder von ihr. Mein Selbstgespräch wird auch vom Geschrei in der Realität getrieben. Von Kindern, die aus dem Sog der Konsumsphäre nicht mehr herauskommen und in deren All² Den Hinweis und den auf Novalis verdanke ich dem Waldorfpädagogen Peter Guttenhofer. tag das Spiel und die sich aus ihm entwickelnden Tätigkeiten an Terrain verlieren. Aber auch vom dumpfen Geräusch, das aus Schulen kommt, die jede Praxis verachten und sich schon deshalb auf den Zuschnitt des Stoffs stürzen, der von Schülern vielleicht auswendig, aber kaum inwendig gelernt wird. Es werden Wissenssegmente in Umlauf gebracht, die an kognitives Falschgeld erinnern und die auch genau so behandelt werden, nämlich verachtet. Personen Auch die Erfindung von »Kompetenzen« und die »Individualisierung des Unterrichts«, die einen Ausweg versprachen, sind in diesen Sog geraten. Sie haben die »didaktische Konstruktion des Individuums«,³ die Michael Schratz kritisiert, fortgesetzt und die Personen damit weiter geschwächt. Statt ein Puzzle aus Schulstoff zusammenzulegen, wären Gewebe aus den vielen Stoffen und dem Material der Welt zu weben. Diese Gewebe sind natürlich nicht jedes Mal neu. Behüte! Sie tragen Traditionen weiter! Aber es gibt immer wieder neue Muster. Und was unterscheidet den wertvollen Perserteppich von der maschinellen Imitation? Sein Eigensinn und auch die Webfehler. Wenn Individuen ihr einmaliges Muster flechten, spricht Michael Schratz von »Personalisierung«. Darauf käme es an. Die Schule der Vermittlung hingegen ist eine Mühle geworden, in der inzwischen der Stoff so fein ausgemahlen wird, dass er nicht mehr schmeckt.

Es gibt Themen, die müssen gären. Wenn sie durch die sieben Mägen des Gehirns wandern, kommen von dort auch die Signale »unverdaulich« oder »lass es«. Aber ich kann es nicht lassen. In der nächsten Hirnkammer sieht es dann schon wieder anders aus. Es denkt, wie es regnet, sagte Lichtenberg. Der Gedanke, der mir nicht aus dem Kopf will, heißt in meinen Selbstgesprächen »Schule des Seins«. Die Gärung begann im Frühjahr in Bremen, als ich die Wirkung der ungewohnlichen Wohngemeinschaft einer Schule mit dem Weltklasseorchester »Deutsche Kammerphilharmonie« erlebte.¹ Das Aufregende daran ist, dass die Musiker nicht gekommen sind, den Schülern Musik beizubringen. Ihre enorme Wirkung ist für den üblichen Blick geradezu paradox, ein Nebeneffekt. Aber das Indirekte wirkt stärker als der auf direkte Erfüllung gerichtete Plan. Es reicht einfach zu sein. Eine Person. Und dass ihr das, was sie macht, wichtig ist. Ich zitierte bereits im Juni Goethe: »Man merkt die Absicht und ist verstimmt.« Arbeitet der so absichtsvolle Lehrkorper nicht an der Verstimmung des Lernkorpers? Provoziert er nicht dessen Immunabwehr und bekämpft und schwächt sie sogar? Rasen die vor Absicht starrenden Systeme nicht in die falsche Richtung? Labore Statt einer Wohngemeinschaft mit einem Orchester konnte es vielleicht auch die Arbeitsgemeinschaft der Schule mit einer Tischlerei sein oder mit einer Medienwerkstatt oder mit einem Labor. Gärten in der Stadt und Außenstellen bei Bauern. Wie wäre es mit Künstlern, Wissenschaftlern oder Handwerkern in Residence? Oder Werkstätten mit den rüstigen Pensionären? Kinder und Jugendliche sollten die Chance haben, Erwachsene kennenzulernen, für die das gilt, was der Soziologe Richard Sennet über das gute Handwerk schrieb: Etwas um seiner selbst willen tun und es deshalb gut machen wollen. Novalis hatte in einem Fragment über Pädagogik diese List des Indirekten schon be¹ PS im Juni

http://www.redaktion-paedagogik.de/2014/06/es-ist-etwas-dazwischen-gekommen/


Zeitpunkt CH ueber Reinhard Kahl

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Zeitpunkt
Für intelligente Optimistinnen und Optimisten zeitpunkt.ch

Reinhard Kahl ­ Archivar der Zukunft

Von: Christian Wirz Der Erziehungswissenschaftler, Journalist und Filmemacher sammelt Beweise, dass Schulen auch anders sein können. Beweise, dass Lernen auf Befehl nicht funktioniert, sondern überall da gelingt, wo Begeisterung geweckt und Individualisierung nicht verhindert sondern gefördert wird. Seine Beweissammlung sind Texte und Filme über die vielen Schulen, die neue Wege wage Reinhard Kahls Beweismaterial ist mittlerweile so umfang- und aufschlussreich, dass er damit locker jeden Prozess gegen Anwälte konservativer Schulmodelle gewinnen würde. Sein Werk nennt er «Archiv der Zukunft», denn es geht ja darum, wie wir heute über die Schulen Zukunft gestalten. Reinhard Kahls Film «Treibhäuser der Zukunft ­ wie Schulen in Deutschland gelingen» stiess auf ein gewaltiges Echo.

Resonanzkörper Schule NDR und WDR Gedanken zur Ze

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NDR

KULTUR - Gedanken
zur Zeit
-
3. August 2014

RESONANZKÖRPER SCHULE
Musiker verändern die Bildung

Resonanzkörper Schule Gedanken zur Zeit

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Wie Musiker die Bildung verändern
Von Reinhard Kahl Jede Woche sendet WDR 3 Kultur am Sonntag Essays namhafter Autoren, die unsere Weltbilder diskutieren. Heute befasst sich Reinhard Kahl mit dem Resonanzkörper Schule und fragt, wie Musiker die Bildung verändern.

Sendung zum Thema
WDR 3 Kultur am Sonntag | Heute, 12.05 - 13.00 Uhr

Streicher des Bundesjugendorchesters

Eine Geschichte beginnt, wenn etwas dazwischen kommt. Das kann man vom weisen Skeptiker Odo Marquard lernen. Eine Geschichte folgt keinem Plan. Eine Geschichte beginnt mit einer Störung, einem Fehler, einer Mutation oder eben damit, dass etwas oder jemand dazwischen kommt, "so wie meine Frau mir dazwischen gekommen ist", schreibt der Philosoph. Denn, so Marquard, "erst wenn einem geregelten Ablauf oder einer geplanten Handlung ein unvorhergesehenes Widerfahrnis widerfährt, können sie - die Geschichten erzählt werden." - Sonst ist einfach nichts.

theater träumt schule. Festschrift M. Zurmühle

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Reinhard Kahl

Theater träumt Schule

Wir brauchen andere Bilder von der Schule und vom Lernen. Wir brauchen andere Ideen vom Gelingen und auch vom Scheitern. Und wir brauchen Orte, an denen diese Bilder, Ideen und Geschichten gedacht und diskutiert, geträumt und inszeniert werden können. Kein bloßes Reden darüber. Kein Rezensieren der Welt. Fürs Träumen, zum Inszenieren und für Debatten brauchen wir Labore und Werkstätten und auch das Theater. Der Satz von Karl Marx, dass die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert haben, dass es aber darauf ankommt, sie zu verändern, gilt immer noch. Eine Abwandlung dieses Satzes von Peter Sloterdijk geht noch ein Stück weiter: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden umlogen. Es kommt darauf an, zu landen. Also liegen! Und dann landen! Und wieder liegen! Aber vor allem landen! Eine Renaissance der Bildung ist überfällig. Die Schulen und mehr und mehr auch die Hochschulen produzieren Überdruss und Gleichgültigkeit. Ein Beispiel: ,,Das ist ja alles interessant, was sie da vortragen", sagen Studierende zu ihrem Professor, ,,aber bitte reden Sie nicht so viel. Sagen Sie uns lieber gleich, was Sie prüfen. Das lernen wir dann auch." Oder: Schüler tragen T-Shirts mit dem Aufdruck: ,,Der Schüler kam, saß und vergaß." Das Betriebssystem ihrer Schule haben sie verstanden. ,,Lernbulimie" ist inzwischen eines der am häuigsten gebrauchten Wörter über die Schule und neuerdings auch über das Studium. Was läuft schief, wenn den meisten Schülern das, was in der Schule geschieht, egal wird? Wenn sie bald nur noch ein einziges Fach haben: irgendwie Durchkommen. Wenn vielen irgendwann sogar alles scheißegal geworden ist. Kinder und Jugendliche sollten auf den Geschmack der Welt kommen! Sie sollten hungrig werden und nicht satt! Die Gesellschaft sollte sie herausfordern und dazu ermuntern, wirksam zu werden!

PS 7 Medien: Werkzeug oder Fetisch

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P.S. Medien: Werkzeug, Kommando oder Fetisch?
hen. »Die flächendeckende Alphabeti sierung«, schreibt Markus Günther in einem Essay, »ist, historisch betrach tet, erst einen Wimpernschlag alt.« Der könnte bald vorüber sein. Er berichtet von desillusionierenden Evaluationen auf bürgerlichen Partys mit der Frage, wel ches Buch lesen Sie gerade? Er hat auch in Verlagen hinter die Internetseiten ge blickt. Am 20. Februar, als die Krim Krise eskalierte, war bei SpiegelOnline der meistgeklickte Artikel die Fotoserie »Grimassen beim Eiskunstlauf«. Und die berühmte »Washington Post«, die sich AmazonGründer Jeff Bezos als Spiel zeug gekauft hat, investiert jetzt Milli onen Dollar in Videotechnik. Texte wer den bald ein Zusatzangebot sein. Ambivalenz Man muss auch vom Kapitalismus re den. Der braucht prothesenbedürfti ge, eher dumme Konsumenten und ver langt zugleich mehr und mehr nach wa chen, selbstbewussten und intelligenten »Mitarbeitern«. Routinearbeiten über nehmen die Maschinen. Arbeit bedeutet mehr und mehr Probleme zu lösen und Neuland zu betreten. Dabei müssen die Menschen ihrer Wahrnehmung, also sich selbst trauen und denken.

PS 6 Es ist was dazwischen gekommen

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P. S. Es ist etwas dazwischen gekommen
umkehren wollte. Hier? Nein, das kann nicht wahr sein. Aber ein Musiker, der als Vertreter des Orchesters mitfuhr, meinte, nun lass uns doch wenigstens mal reingehen. Hier ist eine Bemerkung zur Geschichte des Orchesters nötig. Es wurde Anfang der 80er Jahre aus dem Bundesjugendorchester gegründet. Die Musiker hatten sich geschworen, niemals unter einem Karajan zu spielen. Sie wollten schon gar keine müden Instrumentalbeamten werden. Sie wollten sich je nach der Art der Musik ihre Dirigenten suchen. Das Orchester wird nur zu einem Viertel subventioniert. Die Musiker sind Teilhaber. Man kann auch sagen: Unternehmer. Die Balance von Sicherheit und Unsicherheit, von Wagnis und ­ auch unerwartetem ­ Gelingen ist ihr Wasserzeichen von Anfang an. Und das haben sie in die Schule getragen.

PS 5 Angst essen Seele auf

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Angst essen Seele auf
man sieht. Aber warum nur wird diese prekäre Systemgrammatik nicht zum Hauptthema in den Diskursen über Bildung? Symptomatisch ist die Diskussion um das Turboabi. Sie hat längst das Abendbrot in den Familien erreicht. Da sagt unsere Freundin Claudia, Mutter von Paulina, die elf Jahre alt ist und sich täglich ins Gymnasium schleppt, »doch, zurück zu G 9 das ist gut, dann ist bestimmt weniger Stress.« Und Paulina fällt ihrer Mutter ins Wort: »Oh nein, nicht noch ein Jahr länger!« Das war ja durchaus ein Aspekt von G8. Zwölf Jahre Schule reichen. Ich muss gestehen, wenn ich diese ziemlich erwachsen wirkenden Schülerinnen und Schüler der Oberstufe sehe, erinnern sie mich immer an die eingesperrten Panter im Zoo. Mein Impuls ist, die sollten raus. Zumindest studentischer sollten sie sein können, aber inzwischen werden ja auch die Studenten bolognesiert. Finnisch Und ich denke dann an die pragmatische finnische Lösung. Deren Gymnasium, eine Oberstufe, die auf die zehnjährige Gemeinschaftsschule aufbaut, können die Jugendlichen in zwei oder auch in vier Jahren absolvieren. Die meisten brauchen drei Jahre. Abweichungen sind kein Problem, weil die Oberstufe aus frei kombinierbaren sechswöchigen Einheiten besteht. Man kann einzelne wiederholen, bevor man sich prüfen lässt. So entsteht in den Schulen eine Vielfalt der Tempi. Der Effekt: weniger Bulimielernen. Und die Jugendlichen, die ich dort sehen konnte, wirkten weniger schulisch, eher studentisch oder wie aus einem College, der klassischen Übergangskultur.

PS 4 Der Mensch ist gar nicht gut…

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Der Mensch ist gar nicht gut ...
Das ist der Refrain all der Skandalisierungen, Entschuldigungen und beidseitigen Entrüstungen: »Das kann man sich gar nicht vorstellen!« Mit dieser vermiedenen Phantasie lässt sich die Symbiose von Scheinheiligkeit und Empörung immer weiter treiben. Ein Spiel, das dem alten Narrativ von den Engeln folgt. Dessen Pointe sind die gefallenen Engel. Die Teufel. Dieser zwangsläufige Fall ist das Unmenschliche an der Konstruktion. Der greise Philosoph Odo Marquard hat in seinem Essay »Abschied vom Prinzipiellen« die Sache auf den Punkt gebracht. »Himmel auf Erden« ist eine noch nicht verarbeitete Hybris der Moderne. Die Erde wird um so wahrscheinlicher zur Hölle, je mehr sie Himmel sein soll. Marquard schlägt »Erde auf Erden« vor. Anerkennen, dass der Mensch gar nicht gut ist, dass er im Zweifelsfall zu allem fähig ist und dass bei dieser Erkenntnis niemand aus allen Wolken fallen muss. Dass er aber auch nicht so schlecht ist.

PS 3 Hängengeblieben: wie sich Biographien bilden

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P.S. Hängengeblieben oder: Wie sich Biographien bilden

in Friedrichshafen

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Bildungsdiskussion: Lob der Einzigartigkeit
FRIEDRICHSHAFEN

PS 2 Jesper Juul

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P.S. Jesper Juul ­ ein Sokrates der Pädagogik
fig pathologisiert. Dann sprechen Eltern über sie wie über ihre Lieblingspatienten. Die Quittung für den ausgesparten Schatten gibt es dann in der Pubertät, wenn die lange vermiedene Farbe schwarz sie überwältigt. Nichts geht in der Erziehung ohne Paradoxien. Wer auf Perfektion verzichtet, hat die besten Aussichten aufs Gelingen. Um andere zu ändern, arbeitet man am besten am eigenen Modus. Zu viel Belehrung steht dem Lernen im Wege. Erziehung bedeutet, über Bande zu spielen. Das Indirekte ist wirksamer als die Linearität der gängigen Muster. Es schafft Raum für die Möglichkeiten der anderen. Motivieren? Noch eine Jesper Juul-Geschichte. Eine Mutter, die Lehrerin ist, sorgt sich, weil es ihr nicht gelingt, ihre Kinder und Schüler zu motivieren. Sie wird unsicher, weil Juuls Antwort auf sich warten lässt, und setzt nach, ob sich vielleicht die heutigen Kinder gar nicht motivieren lassen wollen? Jesper Juul geht auf und ab. Motivieren?

PS 1 Beschämungen und Missverständnisse

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P.S. Beschämungen und Missverständnisse

NDR Kultur – „Uns ist ein Kind geboren“

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NDR

KULTUR Gedanken zur Zeit 22. Dezember 2013
,,Uns ist ein Kind geboren"

MDR Figaro und Hess. Rundfunk Interviews zu Pisa

http://www.mdr.de/mdr-figaro/index.html

http://mp3.podcast.hr-online.de/mp3/podcast/derTag/derTag_20131203.mp3  (hier ab Minute 30´30

PS 12 Ambivalenzen

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Ambivalenzen
Kritik ist scharf und ich bin mir sicher, sie trifft den Nerv, nämlich die überbordende Grammatik von Zweck-Mittel-Relationen, für die es am Ende nur den einfältigen Sound der vorgeführten McKinsey-Streber gibt: Erfolg, Erfolg, Erfolg. Besser als die anderen sein. Es an die Spitze schaffen. Effektiv sein, egal wofür. Wer keinen Erfolg hat, der lebt angeblich nicht, der vegetiert nur. Gerade die vorgeführten Erfolgreichen leben nicht. Sie zerren sich und die Welt in die schrecklichen Strudel bloßen, wenn auch luxuriösen, Überlebens. Konkurrenz und Erfolg machen alles egal und gleichgültig. Sie verwandeln Alles in Nichts. Erwin Wagenhofer ist in seinen Filmen dieser fatalen Grammatik auf der Spur und doch rast er in die Sackgasse. Darin ist etwas Symptomatisches. Wofür? Tiefem Unbehagen an der Schule und an der Entfremdung des Lebens wird Erlösungsmetaphorik und Begeisterung angeboten. Statt dokumentarisch zu sein, ist der Film durch und durch metaphorisch.

PS 11 Gefühle, Ungewissheit….

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P.S. Gefühle, Ungewissheit und Individualität
und eben die Geschichte der Gefühle. Wo ist die Bildung geblieben? Das fragte ich mich auch, als ich gefragt wurde für die Festveranstaltung zum 50-jährigen Jubiläum des Instituts Einspielfilme zu drehen. Und so nannte ich die filmische Annäherung an 50 Jahre MPIB dann auch: »Was heißt hier Bildung?«¹ Aber nach vielen Gesprächen und Beobachtungen, und dann noch mal Wochen der Sichtung und des Schnitts ist ein anderes Bild entstanden. Am MPIB wird der heimliche Lehrplan einer anderen Schule vorgedacht, allerdings ohne ihn bisher so zu nennen. Was wären das für Schulen, die der Maxime folgen, dass man Fehler machen darf? Ja, machen muss, um gute Lösungen zu finden!

PS 10 Alles neu erfinden?

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Alles neu erfinden?
einer Welt diktatorischer Zugehörigkeiten gelebt: Französisch oder deutsch; katholisch oder evangelisch; männlich oder weiblich. Und noch bis vor kurzem regierte die Ordnung eines Wissens, die vom Buchdruck und von den Priesterkasten der Wissenden beherrscht war. Jetzt bekommt ein Universum der Individuen in einer Welt, »in der alles Wissen bereits da ist«, eine Chance. Aber der Welt fehlen dafür noch die Kultur und auch die Politik. So stehen die Kinder gewissermaßen mit Flügeln am »abschüssigen Rand«. »Wir Erwachsene haben keine neuen Bande erfunden. Die generalisierte Kultur des Verdachts, der Kritik und der Empörung hat eher die Zerrüttung der bestehenden vorangetrieben.« Wie immer ist bei Serres vieles ahnungsvoll, das dann beim Versuch, es zusammenzufassen, schrumpft. Liest man ihn allerdings, geht es einem wie dem Kameramann, der aus der Unschärfe dauernd neue Bilder holt. Umformatierung des Wissens »Wie ein Atom ohne Valenz ist der Däumling völlig nackt.« Däumling, das ist der Kosename, der ihm zu seinen SMS schreibenden Enkeln eingefallen ist.

PS 9 orte für Kinder

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P.S. »Betreuung« oder Orte für Kinder?
hat und Dinge zu Ende macht. Zum Beispiel Bucheckern sammeln und Lieder singen. Das war in den letzten hunderttausend Jahren der Normalfall. Und nun? Einer von vielen Normalfällen ist ein Kind ohne Geschwister mit einem Erwachsenen in einer Dreizimmerwohnung und dem Fernseher als der Hauptperson. Es sind auch die Eltern dieser Kinder, beziehungsweise die alleinerziehenden Elternteile, die vom 1. August an verführt werden, das Betreuungsgeld vom Staat zu kassieren, das ihnen nun zusteht, wenn das Kind zu Hause bleibt. Zugleich gilt von diesem Tag an das »Kinderförderungsgesetz«. Von ihrem ersten Geburtstag an haben Kinder jetzt Anspruch auf einen Betreuungsplatz. Die Kinder? Oder die Eltern?

Laudatio R. D. Precht

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Reinhard Kahl erhält den Vision Award 2013
Eine Laudatio von Richard David Precht

taz Kinder

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09.08.2013

Kein Platz für Kinder
ERZIEHUNG Seit dem 1. August gibt es das Betreuungsgeld. Kinder werden immer weniger rausgelassen. Dabei bieten sich da neue Erfahrungswelten

Dass man auf die Idee kommt, nach Orten für Kinder zu fragen, ist historisch neu. Es ist noch nicht lange her, da war die Antwort klar: draußen. Draußen bot sich ein Universum: der Wald oder eine Baustelle, der Hinterhof oder die Straße. Zeitweilig auch Trümmergrundstücke. In meiner Kindheit in den 1950er Jahren rief nachmittags immer jemand: "Kahli, kommst du runter?" Unsere Tochter hat ähnliche Worte schon nicht mehr kennengelernt. Was ist passiert? Zurück zur Natur Remo Largo ist Kinderarzt und hat wie kaum ein anderer das Leben der Kinder erforscht. Bis zu seiner Emeritierung hat er die Abteilung "Wachstum und Entwicklung" an der Universitäts-Kinderklinik Zürich geleitet und 800 Kinder auf ihrem Weg von der Geburt bis ins Erwachsenenleben beobachtet. Ihn stimmt der Alltag der meisten Kinder heute geradezu pessimistisch. Viel zu viele wachsen nicht mehr mit anderen Kindern auf. Vielfalt sei wichtig. Kinder seien immer auch mit vielen Erwachsenen aufgewachsen. Und noch etwas: Dreißig Jahre habe er gebraucht, bis er darauf gekommen sei, dass bis vor etwa zweihundert Jahren die Kinder in der Natur aufgewachsen sind. Nur zum Schlafen waren sie in Höhlen und Hütten. Sonst waren sie draußen. "Noch nie", sagt er, "habe ich ein Kind im Wald gesehen, das sich dort gelangweilt hat." Neurobiologen stoßen ins selbe Horn. Ein derzeit beliebtes Thema ist die Ausbildung der exekutiven Funktionen im Frontalhirn. Man könnte es auch Selbstkontrolle oder Willen nennen. Diese Funktionen werden trainiert, wenn das Leben etwas widerständig ist, wenn man Erfolge hat und angefangene Dinge zu Ende bringt. Zum Beispiel Bucheckern sammeln und Lieder singen. Das gehörte in den letzten hunderttausend Jahren zum Normalfall einer "artgerechten Erziehung", so argumentiert jedenfalls Herbert RenzPolster. Er ist Forscher und Arzt und verlangt mehr Naturerfahrung für eine "neue Balance von drinnen und draußen".

NDR Kultur – Orte für Kinder

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NDR
Kultur / Gedanken zur Zeit Sonntag 28. Juli 2013 19´05 Uhr
Orte für Kinder

Überlegungen anlässlich der neuen Gesetze

taz input, output,putput

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SONNABEND/SONNTAG, 22./23. JUNI 2013

Input, Output, Putput
Plädoyer für eine aufrichtige Schule, die Kinder weder beschämt noch sie zum Bluffen verführt

DER LOBBYIST DER WOCHE

Der Leibhaftige

Echokammer
die Filterblase kritisiert, in der wir leben ­ weil etwa Googles Suchtreffer uns nur anzeigen, was Google als für uns interessant berechnet hat. Wie da noch über gemeinsame Themen streiten ­ oder gar von einem gemeinsamen Wissensstand für eine Diskussion ausgehen? Merkels Satz über das Neuland Internet trifft, wenn man ihn auf einen Teil der deutschen Bevölkerung bezieht ­ denn sie halten sich hartnäckig, die Leute, für die das Internet nur aus Mailanbieter, Facebook und SpOn besteht. Einige von ihnen sollen sogar im Parlament sitzen. Dass sie diejenigen, die einen Großteil des Lebens im Netz verbringen, bescheuert finden und umgekehrt ­ so bescheuert, dass man nicht miteinander diskutiert ­, ist ein Problem für den demokratischen Diskurs. Da hat Habermas schon recht. Und dieses Problem wird größer, je mehr Lebensbereiche das Netz umfasst. Aber ach: Während diese deutsche Nabelschau uns wunderbar abgelenkt hat, ist Obama wieder weg und hat uns zu Prism mit einem zweideutigen ,,We listen to the ones we disagree with" abgefrühstückt. Eines Fans darf er sich sicher sein: Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, lobt das Vorgehen der NSA und wünscht sich Ähnliches auch für Deutschland. Schließlich sei der Schutz vor Terror und Kriminalität das ,,wertvollste" Bürgerrecht. Wenn das seine Vision ist, kann man ihm nur dieses olle Schmidt-Zi-


PS 7 Wissen reicht nicht

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Wissen reicht nicht
ginale! Eines meiner stärksten Schulbesuchserlebnisse ist eines mit Kunst und Kultivierung in Dänemark. Ich habe es hier schon mal erwähnt. Man sollte die Geschichte einmal im Jahr erzählen, denn sie hält Selbsterkenntnis bereit. Eine Gruppe deutscher Pädagogen also im dänischen Sonderborg. Schon der erste Eindruck verwirrt sie. So schöne Türklinken. Sind das Designerlampen an den Decken? Die Besucher blicken sich befremdet an. Kunst an den Wänden? Sogar lauter Originale. Und das in einer Berufsschule? Ist doch wohl ein bisschen übertrieben ­ oder? Das sagen sie aber nicht. Sie fragen, was die Schule alles tun muss, damit die schönen Dinge nicht von Schülern zerstört werden. Morton Andersen, der dänische Lehrer, der die Delegation durch die Schule führt, kennt das schon, aber er wundert sich immer wieder. Warum fällt den Deutschen zu einer schönen Schule als Erstes Vandalismus ein? Warum passen gute Dinge und schöne Räume irgendwie nicht ins Bild? Milieu Andersen ist der Umweltbeauftragte seiner Schule. Auch darüber mosern die Deutschen. Sie sind doch gekommen, um etwas über skandinavische Pädagogik zu hören.
96PÄDAGOGIk 7 ­ 8/13

MDR Figaro Interview Lerngenie

http://www.mdr.de/mdr-figaro/audio576678.html

Porträt Münchner AZ

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A B E N DZ E I T U N G FREITAG, 14. JUNI 2013

kinder & familie
Chronist des Gelingens
Der Filmemacher Reinhard Kahl berichtet über Schulen, die Neues wagen. Und organisiert zum Thema Kongresse und Gesprächsreihen
ngenommen, in Deutschland in irgendeinem Kaff würde eine Schule beschließen, mit neuen Unterrichtsformen zu experimentieren, den Schulalltag aufzubrechen. Man würde natürlich meinen, wenn man über diese Schule berichtet: dass man der erste ist damit. Aber da irrt man sich. Weil bestimmt vor einem Reinhard Kahl schon da war. Schon seinen Film gedreht hat über das Aufkeimen neuer Ideen vor Ort. Kahl ist Journalist, Filmemacher, Bildungsexperte ­ und quasi eine wandelnde Zentrale für Schulen im Aufbruch.

D I E FA M I L I E N ­ F R AG E
Das Kinderspiel des Jahres 2013 heißt ,,Der verzauberte Turm" und ist geeignet für zwei bis vier Spieler ab 5 Jahren.

Was ist der Witz am Kinderspiel des Jahres?
Wilfried Tichy, Sprecher Schmidt-Spiele: ,,Das Spiel ist eine Memory-Variation, gehen tut es darum, eine Prinzessin aus einem Turm zu befreien. Alle Spieler helfen zusammen gegen den bösen Zauberer, der den Schlüssel zum Schloss des Turms versteckt hat unter Plättchen auf dem Spielfeld. Man deckt der Reihe nach die Plättchen auf, sieht nach, merkt sich, wo schon aufgedeckt worden ist. Hat man den Schlüssel, folgt Herausforderung Nummer zwei: der Turm hat nämlich sechs Schlösser. Passt der Schlüssel, hüpft die Prinzessin mit einem Satz und dank eines unsichtbaren Feder-Mechanismus aus dem Kunststoff-Turm in die Arme ihres Befreiers. Das Spiel ist aufwendig gemacht und kostet 37 Euro. Bei Verlust des winzigen Schlüssels: www.schmidtspiele.de".

PS 6 Hatti kommt

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Hattie kommt
starke Wirkung von Instruktion herausgelesen und darin sogleich eine Rehabilitierung des Frontalunterrichts gesehen. Geflissentlich übersehen wird, dass Hattie feststellt, Schüler lernten desto besser, je weniger ihre Lehrer redeten. Das ist nicht gerade das, was man hierzulande unter Frontalunterricht versteht. Die zumeist ungelesene Studie kam manchen Konservativen beim Zündeln im immer noch nicht beendeten deutschen Bildungskrieg gerade recht. Ein Geschoß gegen den eben erst entdeckten Vorrang des Lernens vor der Belehrung. Kein Stigma Tatsächlich geht es Hattie, das wurde bei seinem einzigen Vortrag in Deutschland klar, ums Lernen.

Päd. Meditation mit Hannah Arendt II.

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Beitrag

Pädagogische Meditationen mit Hannah Arendt

I Autorität ­ Oder: Was es heißt, erwachsen zu sein
Pädagogische Meditationen mit Hannah Arendt ­ Teil 2
Bald 40 Jahre nach ihrem Tod strahlen Hannah Arendts Gedanken mehr denn je. Der Kinofilm von Margarethe von Trotta macht sie derzeit sogar populär. Man wünscht sie sich als Zeitgenossin, mit der man ins Gespräch kommen möchte. Aber in den pädagogischen Diskursen ist sie noch nicht angekommen. Zu Erziehung und Bildung hat sie sich allerdings auch nur selten ausdrücklich geäußert, um so mehr zwischen ihren Zeilen. Dort wartet eine pädagogische Inspiration darauf, entdeckt zu werden.1

Päd. Meditation mit Hannah Arendt I.

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Beitrag

Pädagogische Meditationen mit Hannah Arendt

I Denken ­ Oder: Wie Neues zur Welt kommt
Pädagogische Meditationen mit Hannah Arendt ­ Teil 1
Hannah Arendt ist zu entdecken, immer wieder.1 Für Epigonen, die einer Vordenkerin folgen wollen, ist sie ungeeignet. Aber um den Unterschied von Denken und Wissen zu erkennen, vor allem um ihn zu erfahren, gibt es kaum eine größere Meisterin. Nun begegnet sie vielen, die sie bisher noch nicht kannten, in dem Film von Margarethe von Trotta. Der Film heißt schlicht Hannah Arendt und im Untertitel weniger bescheiden: Ihr Denken veränderte die Welt.2 Aber es stimmt. Das Wagnis zu denken, verändert die Welt. Hannah Arendt hat sich zu Bildung und Pädagogik kaum explizit geäußert, aber diese Themen scheinen ständig durch. Es wird für Pädagogen Zeit, sie zu entdecken.

PS 5 Und

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. UND
de sein Ding. Machte er Fehler, löschte er sie nicht, sondern korrigierte sich. So wurden die Schüler Zeugen seines Denkens. Es sprach sich herum, dass bisher Unverstandenes gar nicht so unverständlich sein muss. Die Videos wurden auf YouTube ein Renner. Auch Bill Gates hatte mit den Hausaufgaben seiner Kinder zu kämpfen und die Kinder stießen auf die Khan Academy. Nun geschah das Unvermeidliche. Gates sprach in einem Vortrag vom »Beginn einer Revolution« und spendet aus seiner Stiftung zwei Million Dollar. Khan gab seinen nur halb geliebten Job auf und produzierte Lektionen und Lektionen ­ bis heute immer nur mit seiner Stimme und dieser Quasi Tafel. Kein virtueller Zauber. Kein Internet-Fetisch.

PS 4 Sitzenbleiben? Aufstehen!

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Sitzenbleiben? Aufstehen!
gehe. Auch Anstrengung wird in diesem Kosmos außen installiert. Was die Dame da so plappert, ist natürlich ein Hohn für alle, die gern Fußball spielen und keine Profilegionäre sind. Nur letztere spielen vor allem für ihren Marktwert. Aber auch bei den Profis gibt es kein elegantes Kombinationsspiel ohne Freude. Anstrengung steht dazu gar nicht im Widerspruch, zumindest so lange sie nicht von diesem inneren menschlichen Streben, über das wir von den Klassikern im Deutschunterricht so schöne Sätze gehört haben, abgespalten worden ist. Eine andere Choreographie Spaltprodukte unserer Bildungskultur sind »der Streber« und »der Sitzenbleiber«. Warum können wir nicht endlich dieses Zerrissene wieder zusammenbringen? Streben ohne Streber zu sein. Übungen wiederholen, ohne ein Wiederholer zu werden.

taz Sitzenbleiben…

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DIENSTAG, 19. MÄRZ 2013

TAZ.DIE TAGESZEITUNG

MEINUNG + DISKUSSION

a, Christian Wulff hat Fehler gemacht. Er vermochte es nicht, zwischen seinen öffentlichen Ämtern und seinen persönlichen Interessen klar zu trennen. In seiner Zeit als Ministerpräsident suchte er die Nähe zu solventen Geschäftsleuten und machte sich vom Wohlwollen der Bild-Zeitung abhängig. Insbesondere Letzteres ist ihm zum Verhängnis geworden: Wulff hat sein Amt verloren, sein Ruf ist ruiniert, seine Ehe ging in die Brüche. Das ist eine ziemlich große Strafe dafür, dass ihm echte Verfehlungen bis heute nicht vorgeworfen werden können. Viele der Anschuldigungen wirkten von Anfang an monströs überzeichnet. Ist es schon Bestechung, wenn man ein Bobby-Car geschenkt bekommt? Nach aufwändiger juristischer Prüfung bleibt kaum mehr etwas von den Vorwürfen übrig. Die Justiz hat sich von einer überhitzten Medienberichterstattung treiben lassen. 13 Monate lang hat die Staatsanwaltschaft in Hannover jede Akte umgedreht. Dieser Aufwand war zu keinem Zeitpunkt angemessen, wie sich jetzt deutlich zeigt. Am Ende steht sie mit einer Einladung zum Oktoberfest da, für die sich Christian Wulff seinerseits mit einem Gefälligkeitsbrief im Sinne seines Gönners bedankt haben soll. Man kann das anrüchig finden, aber Korruption sieht anders aus. Und was sind schon die paar hundert Euro, die der Filmproduzent David Groenewold für seinen Freund Christian Wulff in München springen ließ, gegen die 25.000 Euro, die ein Peer Steinbrück von den Stadtwerken Bochum

Interview Es ist nichts egal

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,,Es ist nichts egal"
Gespräch mit Reinhard Kahl

Reinhard Kahl ist Journalist und Filmemacher. 2004 gründete er das ,,Archiv der Zukunft" mit Dokumentationen über interessante und gelingende Schulen. Darin u.a. der Dokumentarfilm ,,Treibhäuser der Zukunft". Für seine journalistische Arbeit erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. 2007 Gründung des ,,Netzwerk Archiv der Zukunft", das Schulen vernetzt und Veranstaltungen organisiert. www.adz-netzwerk.de

PS 3 Neinsager

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Neinsager?
nig selbstverständlich finden es nun die meisten, dass es gegenüber Stunden- und Lehrplänen und dem ganzen »Stoff« die Wahl zwischen ja und nein geben könnte. Wie sollte das denn gehen, wenn jeder macht, was er will? ­ Oder wenn jeder macht, was er »will«. Betonen Sie »will« doch mal anders! In die Tonne Szenenwechsel. Ein Gespräch mit Julian und seiner Mutter Christel. Sie haben gerade einen interessanten Film über Räume in Kitas gedreht. Ein schöner Film auch darüber, wie schon kleinen Kindern Welt geboten wird und wie sie eingeladen werden zu wählen und sich zu entscheiden. Julian erzählt dann, wie er und seine damaligen Mitschüler nach dem Abitur ihre Schulbücher in eine Tonne geworfen und verbrannt haben und wie sie ums Feuer getanzt sind. Seine Mutter, die Fortbildungen für Kitas anbietet, versteht wie viele andere gute Kitaleute die Schule nicht. Was würde sie denn sagen, wenn die Teilnehmer bei ihr am Ende das Material verbrennen und einen Freudentanz aufführen? So eine Verneinung würde sie nicht ertragen. Noch mal ein Szenenwechsel. Das Theater Total in Bochum. sie jahrelang nur noch ein Fach: Irgendwie durchkommen. Ich vermute, so selbstverständlich Sie es eben noch fanden, das auch Kinder das Recht haben, nein zu sagen, so we-

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NDR Kultur Interview Kulturkampf ums Sitzenbleiben

http://www.ndr.de/ndrkultur/audio149115.html

NDR Lob des Eigensinns

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NDR

KULTUR Gedanken zur Zeit 17. Februar 2013
Lob des Eigensinns

Oder: vom Recht der Kinder und Jugendlichen, nein zu sagen

PS 2 Grenzen? Formen!

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Grenzen? Formen!
Europa. Es ähneln sich die Muster gegenüber Kindern und Fremden, diesen »Neuankömmlingen«, wie Hannah Arendt beide nannte. Ich möchte den Grenzen ein anderes Narrativ, also Erklär- und Lösungsmuster gegenüber stellen: Die Form. Die Grenze ist defensiv, territorial und tendenziell kriegerisch. Die Form gibt Gestalt. Viele Gestalten sind möglich. Grenzen sind eindimensional und gleichgültig gegenüber dem, was links und rechts von ihnen passiert. Sie sollen nur trennen. Grenzen gehören zur Überlebensordnung. Häufig ist in sie Stacheldraht eingewirkt. Grenzen zu setzen ist leicht und etwas paranoisch. Man verlangt von anderen, sie einzuhalten. Formen Formen hingegen werden anderen gegeben und müssen erfunden werden, erst mal im inneren Labor der Vorstellungen und in der Werkstatt des gemeinsamen Alltags.

Interview im Buch „Die kommenden Tage“

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bildung und begabung

Reinhard Kahl

geheimnisse guter schulen
Das Geheimnis guter Schulen besteht sowie aus Individualität, sagt der aus der Lust am Denken und dem Lernen Erziehungswissenschaftler Reinhard Kahl. Reine Belehrungen seien hingegen eine Zumutung.
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»Mein Kopf ist voll«, schrieb eine fünfzehnjährige Hamburger Schülerin in der ZEIT. In ihrem Artikel erzählt sie, wie sie den Verdacht entwickelt, in der Schule förmlich um Lebenszeit betrogen zu werden. Der Betrieb presse Wissen in sie hinein, das sie wieder vergisst und sie eher schwächt. »Das ist absurd«, schreibt sie. Herr Kahl, wer irrt denn hier, die Schule oder die Schülerin? Die Schulen sind für Schüler tatsächlich mehr und mehr zum Irrgarten geworden. Das System verwirrt und trägt häufig sogar zu einer Art Verwahrlosung bei. Dabei sollte doch Kultivierung, um das missbrauchte Wort Bildung zu vermeiden, das Ziel sein. Die zitierte Schülerin Yakamoz Karakurt leidet an der Schule, weil sie alltäglich erlebt, dass es eigentlich nur um ihr Kurzzeitgedächtnis geht, nicht um sie und auch nicht um die Welt, in die sie hineinwill. Und dabei wird sie gewissermaßen zum Modul in einem enorm selbstbezüglichen, ja selbstgenügsamen System, das sie von morgens bis abends beansprucht. Darauf reagieren die meisten Kinder und Jugendlichen mit Coolness. Die Schule wird ertragen. Sie wird egal. Und egal werden damit auch das Wissen und die Welt.

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PS 1 Nur die Person?

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Nur die Person?

Interview Neue Musikzeitung

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Forum Musikpädagogik

Dezember 2012 · Januar 2013

nmz 12/12 ·1/13

Die Schule mit Musik aufladen
Beim Symposium ,,Musikunterricht(en) im 21. Jahrhundert" hielt Reinhard Kahl den Eröffnungsvortrag und prangerte die ,,Normalverwahrlosung an Schulen" an (siehe nmz 11/2012, Seite 15). Für die nmz hatte Heike Henning Gelegenheit den Journalisten und Filmemacher ausführlich zu befragen.

Ein Gespräch mit dem Journalisten und Filmemacher Reinhard Kahl
Zeiten und Arrangements. Zu viel Belehrung produziert eine Art Immunabwehr, wohingegen das Interesse und die Neugier der Lehrpersonen, vorausgesetzt sie besitzen diese, ansteckend sein können. nmz: Sind sie denn ein Gegner von Curricula? Kahl: Nein, für mich ist das keine Entweder/Oder-Frage. Meiner Beobachtung nach setzen sich Schulstrukturen und Curricula meist unter der Hand durch, ohne dass man sie bestimmen muss. Wie bei den Medien, wo freitags fünfzehn neue Filme ins Programm kommen und am darauf folgenden Dienstag jeder aus verschiedenen Quellen (Flüsterpropaganda, Rezensionen etc.) weiß, in welche Filme man reingehen sollte.

PS 12 Resonanzen

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Resonanzen
selbe: »Man ahnt die Absicht und ist verstimmt.« Verstimmung als Resultat von Musikunterricht ist besonders widersinnig, aber häufig. In seiner Immunabwehr ist dieses resonanzbedürftige Tier, das wir nun mal sind, gänzlich unbelehrbar. Wer die Bücher des Biologen und Philosophen Andreas Weber (»Alles fühlt«) gelesen hat, oder die von Friedrich Cramer, dem verstorbenen Chemiker, Genforscher und Max-Planck-Direktor, der weiß, dass Resonanzverhältnisse kein humanes Privileg sind. Aber im Unterschied zu anderen Tieren und den Pflanzen bauen wir unsere Welt. Wir gestalten und kultivieren sie als Resonanzräume. Wir steigern uns durch Übung. Ist Üben zugleich Wiederholen und Variieren, werden wir immer besser. Welt schaffen und uns kultivieren! Kommt beides zusammen, kann man von Bildung sprechen.

DIE PRESSE, Wien

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DiePresse.com | Bildung | Schule | Höhere Schulen |

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"Bringt viel Geld auf die Bildungsbank, es lohnt sich"
23.11.2012 | 18:47 | BERNADETTE BAYRHAMMER (Die Presse)

Pädagoge und Filmemacher Reinhard Kahl über Schulen für Träumer, Freude als Produktivkraft und den Unterschied zwischen Schlecker und DM.

MDR Figaro Interview Lehrerstreik in Sachsen

http://www.mdr.de/mdr-figaro/journal/audio397948.html

PS 11 Das große Dunkel

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Das große Dunkel
dem Durchschnitt, aber nirgendwo sind sie so weit von ihm entfernt wie in den Stadtstaaten. Einen Hinweis gibt vielleicht der Befund, dass in NRW 36 Prozent der Migrantenfamilien zu Hause Deutsch sprechen. In Berlin sind es 18 Prozent. Aber als Erklärung reicht das nicht. Erst mal müssen wir allerdings zugeben, dass unsereinem die gegenteilige Nachricht besser passen würde. »Bayern abgeschlagen ­ HH, HB und B vorn!« Das würde sich auf unsere Überzeugungen reimen. Und wir müssen auch zugeben, dann hätten wir keine weiteren Fragen mehr. Nun haben wir viele Fragen. Doch zunächst bestimmen Reflexe die Tagesordnung: »Völlig anspruchslose Lehrpläne und lasche Unterrichtsdidaktik« donnert DL-Präsident Josef Kraus aus Vilsbiburg über die Stadtstaaten. Und in Hamburg wurde ausgerechnet, dass 48,1 Prozent der dortigen Grundschullehrer, die Mathe unterrichten, das Fach nicht studiert haben. In Bayern seien das nur 15,8 Prozent.
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Vorwort Buch R. Louv, Prinzip Natur

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Richard Louv

NATUR
Grünes Leben im digitalen Zeitalter
Aus dem Amerikanischen von Andreas Nohl

PS 10 Wir bauen eine neue Stadt

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Wir bauen eine neue Stadt ...
zur Wiege. Bislang haben wir »Cradle to Grave« produziert, von der Wiege zum Grabe, von der Natur zur Mülldeponie. Dass wir Raubbau an der Natur treiben, ist inzwischen Gemeingut, wie auch dass der Mensch schädlich sei und gefälligst seinen ökologischen Fußabdruck verkleinern solle. Hier widerspricht der Chemiker Braungart, der Lehrstühle in Rotterdam und Lüneburg hat und in Hamburg eine große Ideenwerkstatt und Beratungsfirma betreibt. Er meint, wir könnten durchaus wie ein Kirschbaum sein, so verschwenderisch, schön und energiereich. »Es kommt nicht drauf an, den ökologischen Fußabdruck zu minimieren, sondern ein Feuchtgebiet draus zu machen.« Düngen Zum Beispiel hätte man doch den Impuls, Eisverpackungen einfach wegzuschmeißen. Aber weil das Müll sei, erziehen wir uns und unsere Kinder dazu, sie zu entsorgen. Nun hat Braungarts Firma eine Verpackung entwickelt, die sich kompostiert und darüber hinaus seltene Blumensamen enthält. So kann man vom Sünder zum Dünger werden. Er plädiert für den Abschied von den Erbsünde- und Schuldtraditionen. Es werde Zeit, die Büßer- und Selbstbestrafungshaltungen abzulegen. Die Natur sei verschwenderisch und darin intelligent.

PS 9 Nichts ist egal

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Reinhard Kahls Kolumne

P.S. Nichts ist egal
ter Landwirt und passionierter Pädago ge im Projekt Schlänitzsee der staatlichen MontessoriSchule in Potsdam. Die Schü ler der 7. und 8. Klassen sind eine Wo che im Monat am See und kultivieren das Grundstück, ein ehemaliges Ferienheim der Stasi. Ich fragte Matthias Peeters, was ihm an den Schülern auffällt. Seine Antwort: »Aufrichtiges Interesse.« Pause: »Und auch aufrichtiges Nichtinteresse.« Niemand kann sich für alles glei chermaßen interessieren. Das ist trivi al. Aber was daraus folgt, ist es offen bar nicht. Um sich für etwas zu interes sieren und um sich zu entscheiden, etwas machen zu wollen, muss es die Möglich keit geben, ja oder nein zu sagen. Auf richtiges Interesse kann sich nur in die sem Möglichkeitsraum von Verneinung bilden. Fehlt dieser Raum oder ist er nur schwach, werden Jasager konditio niert. Am Jasager wird deutlich, dass ein Ja, ohne die Möglichkeit nein zu sagen, nichts wert ist. Gleichgültigkeit ist dann ein Schutz. Eine Abwehr aus Gründen der Kräfteökonomie und vor allem eine psychosoziale Immunabwehr aus Grün den der Würde. Etwas wollen! Nun hört man den Einwand. Wenn Kin der und Jugendliche sich ständig ent scheiden können, ja oder nein zu sagen, dann lauern Chaos und Beliebigkeit. tigkeit wurde mir in einem Gespräch mit Matthias Peeters deutlich. Er ist gelern

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NDR Kultur – Jedes Kind ist eine Primzahl

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NDR

KULTUR Gedanken zur Zeit 5. August 2012

Jedes Kind ist wie eine Primzahl
Über den Vorteil einer Schule, in der alle verschieden sein dürfen

Münchner Abendzeitung

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A B E N DZ E I T U N G FREITAG, 13. JULI 2012

kinder & familie

Reinstopfen in Kinderköpfe, was geht: so sieht es aus, unser Konzept von Schule. Höchste Zeit, dieses Konzept zu modifizieren. Foto: Fotolia

D I E FA M I L I E N ­ F R AG E
Man will den Kindern auch ihre Freiheiten lassen, einerseits. Aber man kann nicht einfach alles laufen lassen.

Muss man immer nett sein zu seinen Kindern?
Ulrich Gerth, Vorsitzender der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung im Apothekenmagazin ,,Baby und Familie": ,,Wir müssen nicht die besten Freunde unserer Kinder sein ­ wir sind für sie verantwortlich. Und damit sind wir letztlich die Chefs. Dass dabei der Applaus ausbleiben kann, müssen Erwachsene aushalten. Eltern sollten nicht aus Angst, die Zuneigung der Kinder zu verlieren, vor Auseinandersetzungen zurückschrecken. Denn: Die Liebe der Kinder ist sehr stabil".

Das Projekt des Lebens
... sollte es sein, zu lernen, sagt der Bildungsexperte Reinhard Kahl. Statt dessen? Sitzen Jugendliche ihre Schulzeit einfach ab. Dabei wissen wir längst, dass es auch anders ginge
AZ: Die Pubertät ist nicht gerade die Zeit, in der Jugendliche gerne zur Schule gehen. REINHARD KAHL: Das liegt nicht so sehr an der Pubertät! Die Pubertät ist eine enorm expansive Lebensphase. Die Jugendlichen wollen in die Welt. Sie wollen sich spüren. Aber bloß passives Lernen, also das in sich hinein Kopieren von ,,trägem Wissen", das geht ihnen gegen den Strich. So verwundert auch nicht das magere Resultat. Die PISA-Studien fanden in dieser Phase Nullwachstum beim Wissen und an Kompetenzen. Jugendlichen fehlen wirkliche Aufgaben und Ziele, die sie herausfordern und begeistern. Wenn ich sie so sehe, denke ich, dass eigentlich Bäume-Ausreißen ein Hauptfach sein sollte. Statt dessen haben sie vor allem Frontalunterricht. Ja, überwiegend Belehrung, und dabei verkümmert das Lernen. Aber eigentlich ist Lernen doch eine Vorfreude auf sich selbst, und in der Pubertät sollte es das große Projekt des eigenen Lebens werden. Studien zeigen, dass schon ab der zweiten Klasse die Lernfreude einbricht. Wenn Lehrer sagen, wir müssen den Stoff durchnehmen, dann schalten die Kids mehr auf Stand-by. Die Schule wird ertragen. Ich würde sagen, Lehrer sollten das Wort ,,Stoff" den Dealern überlassen. Stoffdurchnehmen bedeutet für Schüler in der Regel Abhaken von Wissensbröseln, die sie dann schnell wieder vergessen. Der Präsident der Studienstiftung des Deutschen Volkes, Gerhard Roth, schreibt in seinem Buch ,,Bildung braucht Persönlichkeit", dass schon wenige Jahre nach Ende der Schulzeit vom ganzen Schul-

PS 7 Üble Nachrede

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Üble Nachrede
wir den großen Parolen nicht mehr huldigen. Dann wird die Praxis nicht mehr die Magd sein, die im Dienst von Programmen, Theorien oder Weltanschauungen steht. Das könnte ein Gewinn des Missbrauchsskandals sein: Entideologisierung und größere Genauigkeit. Aber diese Versuche haben es schwer. Der Verdacht Als Erste traf es Enja Riegel, die langjährige Leiterin der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden. Als im Frühjahr 2010 die Odenwaldschule Schlagzeilen machte, bekam ich von der ZEIT-Redaktion die Anfrage, darüber zu schreiben. So schnell konnte ich nicht und wollte ich nicht, aber kurz zuvor hatte ich von Enja Riegel gehört, dass sie vor Jahren einen Missbrauchsfall hatte und wie sie damit umgegangen sei. Ich empfahl der ZEIT -Kollegin, mit ihr ein Interview zu machen. Sie berichtete davon, wie sie sofort die Schule informierte, mit den Schülern sprach und der fragliche Lehrer ab sofort in der Schule nicht mehr unterrichtete. Das Interview erschien und am Tag darauf titelte der »Wiesbadener Kurier«: Missbrauch auch in Wiesbaden. Dann trommelte es über Wochen und Monate. Allesamt Versuche, Enja Riegel als Komplizin des Missbrauchs hinzustellen. Nichts war dran, aber mächtig viel Rauch stieg auf.

PS 6 Erfolg

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P. S. Wenn Erfolg nicht zu vermeiden ist
ter und wollen mitspielen. Die Quintessenz: Wenn nichts egal ist, wenn alle Elemente stimmen und wenn vor allem die Menschen nicht zu Mitteln degradiert werden, dann, so Marc Vereeck, »lassen sich Erfolg und auch Gewinne gar nicht mehr vermeiden.« Theater Von ähnlichen Mechanismen konnten auch Enja Riegel und Abdul Kunze berichten, die an der Helene Lange Schule in Wiesbaden schon vor Jahren Theaterproben, die über Wochen gingen, durchgesetzt hatten. »Aber was wird dann aus dem Stoff?« fragten viele Kollegen. »Wie schaffen wir dann noch gute Ergebnisse?« »Und was wird aus den Schülern, die Abitur machen wollen?« Es kam anders. Ein Jahr Vorsprung bei Pisa. Steigende Abiturientenquoten bei denen, die den vermeintlichen Umweg mitgemacht haben. Es gibt inzwischen viele solcher Geschichten.

ZEIT online Deutscher Schulpreis

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SCHULE
DEUTSCHER SCHULPREIS

"Lehren ohne Liebe macht müde"
Erstmals bekommt ein ungewöhnliches Gymnasium den Hauptpreis des deutschen Schulpreises. Auch die anderen fünf ausgezeichneten Schulen bestechen durch Eigensinn und Leistung.
VON Reinhard

Kahl | 12. Juni 2012 - 16:44 Uhr
© Theodor Barth

Schüler der Evangelischen Schule Neuruppin in dem von ihnen betriebenen Café

1

PS 6 Wenn Erfolg nicht zu vermeiden ist

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P. S. Wenn Erfolg nicht zu vermeiden ist
ter und wollen mitspielen. Die Quintessenz: Wenn nichts egal ist, wenn alle Elemente stimmen und wenn vor allem die Menschen nicht zu Mitteln degradiert werden, dann, so Marc Vereeck, »lassen sich Erfolg und auch Gewinne gar nicht mehr vermeiden.« Theater Von ähnlichen Mechanismen konnten auch Enja Riegel und Abdul Kunze berichten, die an der Helene Lange Schule in Wiesbaden schon vor Jahren Theaterproben, die über Wochen gingen, durchgesetzt hatten. »Aber was wird dann aus dem Stoff?« fragten viele Kollegen. »Wie schaffen wir dann noch gute Ergebnisse?« »Und was wird aus den Schülern, die Abitur machen wollen?« Es kam anders. Ein Jahr Vorsprung bei Pisa. Steigende Abiturientenquoten bei denen, die den vermeintlichen Umweg mitgemacht haben. Es gibt inzwischen viele solcher Geschichten.

PS 5 Piraten entern das Geisterschiff

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Piraten entern das Geisterschiff
Kraftfeldes, die sich schnell wieder legen wird, oder erleben wir eine Art Verpuppung, aus der etwas Überraschendes, vielleicht sogar etwas Schönes schlüpfen könnte? Jedenfalls besetzen die Piraten eine Leerstelle. Eine, die enorme Projektionen auf sich zieht. Da liegt etwas in der Luft. Da wird auf etwas gewartet. Aber auf was? In japanischer Tradition entspringt die Zukunft aus einer Leerstelle, die sich in der Gegenwart einnistet. Jedenfalls sind die Piraten etwas anderes als bloß ein Sammelbecken für Protestwähler. Niemand kann es wissen, aber ich wette, sie werden bald mitreden, auch und gerade in der Bildung.

PS 4 Kein Pinsel sein

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Kein Pinsel sein
nie eine Schule besucht hatte, und dennoch ­ oder gerade deswegen ­ ein Bildungssystem erfand, das noch auf seine Verwirklichung wartet. Er setze auf die Einzigartigkeit eines jeden Individuums. Das sei seine Würde. Sein Zweck. Für die Gesellschaft stellten die vielen Verschiedenen gewissermaßen den Genpool ihrer Möglichkeiten, also ihre Zukunft dar. Aber jedes dieser Gene sei eben zu bilden. Schulen und Hochschulen bieten dafür Gelegenheiten, eine gesellige Umgebung. Auf diese sich selbst ermächtigenden Individuen wollte das kriegsverletzte und verarmte Preußen zunächst setzen. Wie man weiß, entschied es sich anders, preußisch. Atmosphäre matica«, ein Standardwerk über Logik, das er mit seinem Schüler und Freund Bertrand Russel zusammen verfasst und 1925 veröffentlicht hatte.

DIE ZEIT Ein wundes Thema 2 Bücher zur Bildung

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DIE ZEIT / Literaturmagazin 15. März 2012
Ein wundes Thema Manfred Geier und Alfred North Whitehead schüren den Hunger nach Bildung

NDR Kultur -Warum wir doch Vorbilder brauchen

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NDR
Kultur / 11. März 2012 / 19´05 / Gedanken zur Zeit
Reinhard Kahl

WARUM WIR DOCH VORBILDER BRAUCHEN

Dradio Kultur Interview Abi-Reform

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dradio.de
09.03.2012 · 15:07 Uhr

Eine Erstklässlerin im Jahr 2010 in einer Grundschule in Magdeburg (Bild: Jens Schlueter/dapd)

Was wir wirklich wissen müssen
Bildungsexperte plädiert für eine weitere Entschlackung der Lehrpläne
Reinhard Kahl im Gespräch mit Liane von Billerbeck
Die Kultusminister der Länder haben beschlossen, das Abitur in bestimmten Kernfächern über die Ländergrenzen hinaus vergleichbarer zu machen. Dem Bildungsexperten Reinhard Kahl reicht das nicht. Er schlägt vor, den Umfang des bis zum Abitur vermittelten Stoffes weiter zu reduzieren. Liane von Billerbeck: Wer Abitur hat, der weiß bestimmte Dinge aus der Physik, Chemie, der kann auf etwa gleiche Weise Französisch, Mathematik und Deutsch - dachten Sie? Stimmt aber offenbar nicht. Denn gestern haben die Kultusminister der Länder beschlossen, die in unserem föderalen System ja über das Bildungswesen bestimmten, das Abitur in bestimmten Kernfächern vergleichbarer zu machen - heißt ja, das war es bisher nicht. Das offenbar Unterschiedliche in den Anforderungen an die Schüler soll also ähnlicher werden. Immer wieder hatte es Ärger mit Schülern und deren Eltern gegeben, wenn jemand auf dem Schulbildungsweg von einem deutschen ins andere deutsche Bundesland wechselte und Bonus- beziehungsweise Maluspunkte für das bisher erlernte zugeschrieben oder abgezogen bekam. Nun soll also das Abitur in Deutschland vergleichbarer werden, aber wie viel Vergleichbarkeit braucht Schule eigentlich? Was bleibt dabei auf der Strecke? Bevor wir darüber mit dem Bildungsexperten Reinhard Kahl sprechen, hier Hamburgs Senator für Schule und Bildung, derzeit Vorsitzender der Kultusministerkonferenz der Länder über die Pläne zum Abitur. "Es wird immer viel von einem Zentralabitur geredet, dabei wissen alle Beteiligten, dass es das in Deutschland kaum geben wird, aber man kann was anderes versuchen: Man kann ja versuchen, dass die Arbeiten gleich schwer sind, und dass sie auch die gleiche Wertigkeit, die gleiche Schwierigkeitsstufe haben. Das Ergebnis muss in der Tat hier vergleichbar sein, daran müssen wir arbeiten." von Billerbeck: Ties Rabe, der Hamburger Senator für Schule und Vorsitzender der Kultusministerkonferenz. Ich bin jetzt verabredet mit dem Bildungsexperten Reinhard Kahl. Guten Tag, Herr Kahl! Reinhard Kahl: Guten Tag! von Billerbeck: Hapert es in Deutschland wirklich an der Vergleichbarkeit des Abiturs? Kahl: Ich glaube nicht. Ich glaube, es hapert an ganz anderen Sachen. Ich zitiere mal eben den Präsidenten der Studienstiftung des deutschen Volkes Gerhard Roth, der ist außerdem Hirnforscher,

PS 3 Abholen

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Abholen?

GEO Interview zu Fehlern

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»Perfektion ist der Tod«
Der Hamburger Publizist Reinhard Kahl, 63, betreibt das »Archiv der Zukunft«, ein Netzwerk für gelingende Schulen
GEO: Sie sagen, Fehler seien ,,das Salz des Lernens". Wieso sind Fehler so wichtig? Reinhard Kahl: Deutlich wird es daran, wie Kinder laufen lernen: durchs Fallen und dann durch das Auffangen des Fallens. Wir begeben uns Schritt für Schritt in die Instabilität und lernen so laufen. Das gilt auch biografisch. Wir kommen nur weiter, wenn wir Schritte ins Neuland wagen. Wollte man das Fallen aus dem Laufen und Leben herauskürzen, würden wir uns bestenfalls wie Roboter der ersten Generation bewegen. Was spricht dagegen, sich beim Lernen an dem zu orientieren, was richtig ist? Aber was ist denn richtig? Ich moderiere seit zwölf Jahren in Hamburg jeden Monat ein Philosophisches Café; es waren alle da, die Rang und Namen haben. Immer geht es, grob und etwas naiv gesagt, um die Wahrheit; aber keiner denkt wie der andere. Es gibt die gleiche Wahrheit nicht zweimal. Gilt dies auch für die klassischen Lernfächer in der Schule? Was in der Schule stattfindet, ist oft nicht Lernen, sondern Belehrung. Da steht der Mathematiklehrer, der alles weiß und nicht versteht, was an seinem Stoff schwierig sein soll, weil es ihm sowieso immer leichtfiel. Und die Schüler werden dazu erzogen, intelligent zu gucken, keine dummen Fragen zu stellen und dann Lösungsstrategien zu kopieren. Man muss nur mal sehen, wie Medizinstudenten sich auf ihre Prüfungen vorbereiten! Ich nenne das Bulimie-Lernen . . . . . . weil die Schüler und Studenten den Lehrstoff in sich hineinstopfen . . . . . . und ihn mit Ekel wieder herauswürgen. Daraus entsteht dann diese seltsame Idee, dass sie nicht lernen wollten. Und dass Lernen eine Art bittere Medizin sei, je bitterer, desto wirksamer. In dieser Fehlerdesinfektionswelt gilt Freude schon als verdächtig, wie das unerlaubte Entfernen von der Lerntruppe. Aber, wie Herodot sagte: Weisheit ist nicht, Schiffe zu beladen, sondern Fackeln zu entzünden.


PS 2 Choreografische Schulreform

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P. S. Eine choreografische Schulreform

PS 1 Tomasello lesen!

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Tomasello lesen!

DIE ZEIT Kinderlust im Wald

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LITERATUR
RICHARD LOUV

Von Kinderlust
Richard Louvs "Das letzte Kind im Wald?" führt uns zu den Ursprüngen von Naturerfahrung.
VON: Reinhard

Kahl 05.12.2011 - 12:36 Uhr
© m|ias

Kinder sollen draußen spielen, sagt Richard Louvs.

»Es ist nicht auszudenken, wie gefährlich die Welt ohne Tiere sein wird«, meinte Elias Canetti. Es sah in ihnen Begleiter der Menschen, die sich zwar gegen Tiere stets abgegrenzt haben, sich aber in Mythen und Geschichten in sie verwandelten. »An dieser Ausbildung der Verwandlung ist der Mensch erst zum Menschen geworden«, schrieb Canetti. Das sind natürlich keine Sätze für ein Sachbuch, das populär sein will. Und doch, bei Richard Louvs Das letzte Kind im Wald? kommt eine canettische Melancholie auf. Das Buch wurde schon vor Jahren in den USA ein Bestseller, und bei uns wird es das nun hoffentlich auch. Louv recherchiert jahrelang für seine Bücher, in denen er vor allem ökologische Themen untersucht. Für Childhood's Future hatte er mehr als 3.000 Kinder und Eltern interviewt, daran knüpft er an. Er weiß, wie indirekt Bildung verläuft. Auf dem direkten Weg werde das Ziel verfehlt, fürchtet er. Bildung sei ein Prozess der

PS Vorbilder?

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Vorbilder?
ja nicht, alles hängt in der Erziehung davon ab, wie wir Erwachsene leben. Er zielt auf das Vorbild als spekulativen Effekt, als Mittel zum Erziehungszweck. Geht das? Sind es nicht die Kinder, die diesen Hintersinn sofort spüren und dagegen ihr psychisches Immunsystem aktivieren? »Man spürt die Absicht, und ist verstimmt« (Goethe, später auch bei Wilhelm Busch). Denn wenn das eigene Handeln ethische Maximen durchsetzen soll, dann dürfen diese doch nicht dazu instrumentalisiert werden, ein bestimmtes Verhalten zu bewirken. Ethik ist nie ein Mittel, außer ­ finden manche ­ in der Erziehung, weil Kinder ethisch noch nicht voll zurechnungsfähig seien. Aber sind es nicht gerade die Kinder, die auf das inszenierte Vorbild mit ihrer unbestechlichen Frage reagieren, wer bist du wirklich? Wenn also zum Zweck, ein Vorbild zu sein, der Erwachsene zu einer Verkörperung von Prinzipien wird, die er per Abfärbung durchsetzen will, dann verschwindet er selbst, dann schwindet sein Selbst. Er steht in Gefahr, ein Prinzipien- und Personendarsteller zu werden, also ein wandelnder performativer Widerspruch.

Stifterverband WebTV Interview

http://www.stifterverband.info/publikationen_und_podcasts/webtv/kahl/index.html

DRadio Kultur zu „theater träumt schule“ an den MK

http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2011/11/20/drk_20111120_2306_39dd439e.mp3

Keynote Wien Über neue Lernkulturen

http://www.youtube.com/watch?v=QP7oktd-lu4

PS 11 Erzählungen gesucht!

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Erzählungen gesucht!
te er »Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben«. Nun geht der Professor am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen und an der Hochschule St. Gallen nach Berlin und beginnt neu. Er gründet die Stiftung »Futur 2«. Er fragt, wie können ganze normale Menschen, die zu allem fähig sind, vielleicht doch den katastrophischen Zukunftsszenarien eine Wende geben? Er fragt, »Welche Geschichte kann man über sich beziehungsweise über diese unsere Gesellschaft erzählen?« In die Form des »Futur 2« übertragen hieße das: »Wer möchte ich gewesen sein?« Welche Geschichten sollen von uns erzählt werden? Konkret: »Werden wir diejenigen gewesen sein, die das Ruder herumgerissen haben?« Fest steht für Harald Welzer, dass der Übergang zur postkarbonen Gesellschaft mit der Wucht der ersten industriellen Revolution vergleichbar ist. Der große Unterschied allerdings ist, dass der erforderliche Wandel sich nicht wie eine soziale Naturgewalt einstellen wird, sondern gewollt werden muss. Die Überwindung der Trägheit wird entscheidend sein.
64 PÄDAGOGIK 11/11

pS 10 Cool

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Cool?
schon die Kinder. Und dass die Kinder für das, was auf sie zukommt, nicht gut vorbereitet werden, ahnt jeder. Erwachsene wissen, dass das »Ende der Welt, wie wir sie kannten« (Leggewie und Welzer) bevorsteht, so oder so. Aber die meisten ziehen es vor, wegzusehen. Wenigstens selbst noch einigermaßen durchkommen. Nach uns die Mutation! Wirtschaft, Politik und Schulen scheinen einer Maxime zu folgen, über die sich Mark Twain schon lustig machte: »Nachdem wir unsere Ziele aus den Augen verloren haben, verdoppeln wir unsere Anstrengungen!« Wohin das führt, ahnen die Jüngsten, zumal, wenn sie nicht mehr glauben, der Frustschutz antrainierter Coolness garantiere noch einigermaßen durchzukommen. Protest? Seit Monaten wird der Kältestrom von einem unerwarteten Wärmestrom unterbrochen. Er ist spanisch, jüdisch oder arabisch, er verbindet die Mittelmeerländer und führt bis nach Chile, wo die junge Studentin Samia Vallejo ganz unagitatorisch das ganze Land mit dem Satz entzündet: »Die Krise der Erziehung ist die Krise des Modells.« Damit meint sie die Haltung, die alles durchzieht.

PS 9 Krieg und Frieden

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Krieg und Frieden
heit nicht als Rahmen für Vielfalt erlebt? Als Sicherheit, um Unsicheres zu wagen? Das sind Fragen an unser kollektives Gedächtnis. Es ist immer noch von Religionskriegen geprägt. Der 30-Jährige Krieg hatte das Land zu einem Hackbrett gemacht und eine Scheide zwischen den beiden Konfessionen gezogen. Und noch immer wirkt diese Formatierung, nach der die richtigen und von den nicht ganz so richtigen Menschen getrennt werden. Evangelisch ­ katholisch Mein bestes Beispiel dafür ist mein eigenes: 1948 in Göttingen geboren. Die Eltern Flüchtlinge aus Schlesien. Katholisch. Göttingen war evangelisch. Dass die Evangelischen nicht dazu gehören, erfuhr ich als Kind schon beim Einkaufen. »Wir kaufen nicht in evangelischen Geschäften!« Oh Gott, muss ich gedacht haben, evangelische Geschäfte, was ist denn das für eine Sünde!

Kongresszeitung 5 Arche Nova in Bregenz

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Die Bildung Kultivieren!

Ausgabe 05 vom 29. August 2011

KONGRESS vom 14. - 16. Oktober 2011 im Festspielhaus Bregenz am Bodensee

++ ,,Anna tanzt" 100 Schüler aus München ++ Nach Bregenz reisen, Anreise per Auto ++ Teilnehmerbereich mit Mitfahrbörse freigeschaltet ++ Yakamoz kritisiert das BulimieLernen ++ Der Psychologe Städtler kritisiert es auch ++ Brecht über Haltung ++ Sitzen ++ Stühle ++ ,,Stirn und Nase" Marco Wehr übers Lernen ++ Anmeldung zum Barcamp auf dem Kongress ++ Mike Sandbothes Kolumne ++ theater träumt schule ++

Guten Tag,
Nun sind wir schon deutlich mehr als 1300, die sich in weniger als 50 Tagen auf der Arche Nova in Bregenz versammeln werden. Neben denen, die sich im Internet täglich anmelden, sind jetzt 100 Jugendliche und etliche Erwachsene aus dem Münchner Projekt ,,Anna tanzt" hinzu gekommen. ,,Anna tanzt" ist vor Jahren aus einem Workshop mit Royston Maldoom hervorgegangen. Inzwischen im sechsten Jahr wurde diesmal unter dem Motto ,,Anna tanzt ­ Anna liebt" Romeo und Julia in Zusammenarbeit mit dem Bayrischen Staatsballett erarbeitet. Neben Schülerinnen und Schülern sowie Pädagogen des Münchner St. Anna Gymnasiums haben Jugendliche und Pädagogen aus BVJ Klassen (Berufsvorbreitungsklassen) der Münchner Berufschule für den Einzelhandel teilgenommen. Natürlich waren die Aufführungen für sie wichtig und die Aufführung soll auch in Bregenz wichtig sein. Aber was passierte auf dem Weg? Und was bleibt? Was bedeutet es für die Jugendlichen mit einem Komponisten, einer Choreographin, der stellvertretenden Ballettdirektorin und professionellen Tänzern zusammen zu arbeiten, zu üben, zu phantasieren, zwischendurch auch zu zweifeln und fast zu sterben, aber dann wieder aufzustehen und aufzutreten? Davon wird viel zu hören sein. Von den Jugendlichen, von den Profis und von den Lehrerinnen und Lehrern. Die Münchner Hundertschaft soll nicht nur zu ihrem Auftritt kommen, sondern die ganze Zeit über dabei sein. (Darum bitten wir übrigens alle Referenten und Mitwirkenden: Bitte nicht nur zum eigenen Auftritt kommen!) Das kostet in diesem Fall allerdings 100 Plätze ohne Teilnehmergebühr. Das Münchener Schulreferat und die Amanda und Erich Neumayer Stiftung helfen. Das reicht zwar noch nicht, aber am Geld wird ,,Anna tanzt" in Bregenz nicht scheitern. Wir sammeln weiter.

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Radio Interview über die Schudebatte der CDU

http://www.radiobremen.de/nordwestradio/sendungen/nordwestradio_journal/audio67284-popup.html

Kongresszeitung 4 Arche Nova in Bregenz

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Die Bildung Kultivieren!

Ausgabe 04 vom 25. Juli 2011

KONGRESS vom 14. - 16. Oktober 2011 im Festspielhaus Bregenz am Bodensee

++ Der tanzende Physiker ++ Ungleichgewicht bei Anmeldungen ++ Hilfe gesucht ++ Üben? Üben?! Üben! ++ Mike Sandbothes Kolumne ++

Guten Tag,
eines der Themen, die den Kongress durchziehen, wird das Üben sein. Üben? Für viele ist schon das Wort ein Schreckgespenst. Ein Plädoyer für eine Rehabilitierung und Neuentdeckung des Übens in dieser Ausgabe. Vielleicht ist dieses Thema ja ein guter Anlass die Au orderung zu wiederholen, sich in der KongressZeitung zu Wort zu melden. Mit Ideen und Geschichten oder mit Beiträgen zu Debatten. Zum Beispiel über das Üben: dialog@adznetzwerk.de

Gasthäuser des Lernens: über den Film Spielen…

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Film


Reinhard Kahls Film entstand in Zusammenarbeit mit dem Ulmer ZNL (Transferzentrum Neurowissenschaft und Lernen). Für einmal nutzte Kahl dafür sein «Archiv der Zukunft» auch als Archiv der Vergangenheit: Neben neu gedrehten Sequenzen an deutschen und schweizerischen Schulen enthält der Film bereits veröffentlichtes Material ­ neu geschnitten zur Thematik «Altersdurchmischung, Spielen und Lernen». Ob alt oder neu: Dieser Film kann jeder Schule als Einstieg in eine Diskussion zur Überprüfung und Verbesserung der eigenen Lernkultur empfohlen werden.

Kongresszeitung 3 Arche Nova in Bregenz

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Die Bildung Kultivieren!

Ausgabe 03 vom 13. Juli 2011

KONGRESS vom 14. - 16. Oktober 2011 im Festspielhaus Bregenz am Bodensee

++ Der Kongress ist ein Organismus, er wächst ++ Arche Nova, die Grundidee ++ Mike Sandbothes Kolumne ++ Brief an die Schulen ++ Harald Welzer, Wachstum: Vor allem wachsen die Probleme

Guten Tag,
man wird im adz-Büro in diesen Tagen schnell zum ZahlenJunkie. Schon jetzt sind fast die Häfte der in Bregenz verfügbaren 1700 Plätze besetzt. Wenn es so weiter geht, werden wir die letzten 250 Plätze doch noch kontingentieren und für Mitglieder und Teilnehmer vorbehalten, die mitwirken wollen. Jedenfalls macht es Freude wie nun alles Form annimmt und wenn solche Mails kommen: Fragen möchte ich, ob es eine Möglichkeit gibt, beim zweiten Kongress am Bodensee, Leute zu finden, die man beim ersten Kongress kennen gelernt hat und deren Namen man nicht mehr weiß, nur noch, dass sie aus Österreich/Steiermark oder Kärnten kamen ... Ich gehöre zu denen, die von diesem Kongress bis heute zehren und die von diesem Kongress maßgeblich beeinflusst wurden!!! Vielen Dank, dass es möglich wurde, am Bodensee den zweiten Kongress zu gestalten. Ich freue mich wie ein kleines Kind darauf! Susanne Link Manche der Kongressideen schienen uns bis zuletzt riskant: eine Küche im Zentrum? Parcours aus Gärten und Cafés? Aber gerade diese Ideen lösen weitere Ideen und Vorschläge aus.

WDR 3 über Buch & DVD „Individualisierung“

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Albrecht Kieser, Rheinisches JournalistInnenbüro Köln

WDR 3, Resonanzen

Alles ist möglich, sogar eine... ...Gute Schule
Wieder geht ein Schuljahr zuende. Wieder sind alle froh, Schüler, Eltern, Lehrer, dass es vorbei ist, die letzten Klassenarbeiten, die Prüfungen, der Notenstress. Buchdeckel zu, Ranzen in die Ecke, Aufatmen in den Sommerferien. Zeit zum Nachdenken, zum Phantasieren, zum Träumen, wie es nächstes Jahr weniger hektisch, weniger nervenaufreibend, weniger sorgenvoll, dafür einfach schöner werden könnte? Wohl kaum. Schüler und Eltern fühlen sich ohnehin den Vorgaben der Institution Bildung ausgeliefert.

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Kongresszeitung 2 Arche Nova in Bregenz

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Die Bildung Kultivieren!

KONGRESS vom 14. - 16. Oktober 2011 im Festspielhaus Bregenz am Bodensee

++ Kücheninstallation auf dem Kongress ++ Österreichische Lehrer werden zum Kongress aufgefordert ++ Verhandlung mit Sir Ken Robinson ++ Kongress-Dialog ++ Bundesbahnsonderkondition

Foto: Tanja Dorendorf / T+T Fotografie

Guten Tag,
nach den ersten Tagen der Kongressanmeldung ist bereits ein Viertel der 1700 Plätze im großen Saal des Festspielhauses belegt. Diese Resonanz freut uns und hat uns überrascht. So schreibt der Direktor eines Gymnasiums in Vorarlberg: ,,Wir sind ein junges aufstrebendes Gymnasium in Lustenau, ca. 7 km von Bregenz entfernt. Ich war beim letzten Kongress in Bregenz dabei und bin heute noch begeistert. Ich wünsche mir, dass diese Begeisterung auch mit meinen Mitarbeitern geteilt wird, daher der Gedanke mit dem ganzen Lehrkörper am Kongress teilzunehmen." In dieser zweiten Ausgabe der KongressZeitung geht es vor allem um die schon angedeutete Kücheninstallation, die im Zentrum des Kongresses stehen soll. Im Zentrum ist ganz wörtlich, aber auch metaphorisch gemeint. Das räumliche Zentrum, in dem die Küche aufgebaut wird, ist die Drehbühne. Inhaltlich wird der Kongress natürlich nicht nur ein Zentrum haben. Die Küche, das Kochen und die damit verbundene Kultur berührt ein Thema hinter vielen Themen des Kongresses: die Haltung, die Art und Weise des Handelns, der Modus der Praxis. Und auch, dass Menschen nicht aus einem Kopf mit Gestell bestehen.

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MEINE SCHULE DER ZUKUNFT

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Meine Schule der Zukunft
von R e i n h a r d K a h l
Ein Archiv der Zukunft
Der Vortrag, auf dem dieser Beitrag aufbaut, war mit Filmausschnitten kombiniert. Vieles lässt sich mit Wörtern besser ausdrücken als in Bildern. Aber in diesem Fall haben Bilder einen Vorteil. Sie berühren die Muster, nach denen wir fühlen, und die Art und Weise, wie wir denken. Sie formatieren unser Handeln. In Deutschland sind Bilder des Gelingens rar. Manchmal könnte man sogar glauben, der größte Skandal sei hierzulande, wenn etwas gelingt. Nachrichten darüber mobilisieren häufig mehr Misstrauen als Begeisterung. Das gilt besonders für die Bildung. Tief im kollektiven Gedächtnis haben sich Muster eingeprägt, dass wirksames Lernen gegen den Strich geht, so wie eine Medizin, von der man glaubt, je bitterer sie schmeckt, desto wirksamer sei sie. Diese Überzeugung hindert viele daran zu glauben, was wir inzwischen wissen: Lernen geht mit Freude viel besser als unter Angst. Das gehört zu den unbestreitbaren Erkenntnissen der Hirnforschung und der kognitiven Psychologie. Viele Pädagoginnen und Pädagogen1 haben das natürlich immer schon gewusst, auch ohne wissenschaftliche Forschung.

PS 7 Auf die Beziehung kommt es an

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Auf die Beziehung kommt es an
biologe Gerald Hüther, liege das Geheimnis der Schule. Dort bilden sich Beziehungen und Haltungen. Die kann man nicht unterrichten. Man kann sie nur ermöglichen. Das sind Erfahrungen, die ­ das kann Hüther zeigen ­ im Frontalhirn gespeichert werden, wo sich die moralischethische Reifung vollzieht. Und wenn Verantwortung, gegenseitige Hilfe und Lernfreude erfahren und zu einer Haltung werden, dann, so Hüther, ist das Bildung. Sie durchfärbt alles. Die Göttinger Schule erhielt dieses Jahr mit sechs anderen den Deutschen Schulpreis. Der Bundespräsident überreichte ihr den mit 100 000 Euro ausgestatteten Hauptpreis. Das war pikant. Als Christian Wulff noch Ministerpräsident war, hatte die niedersächsische Landesregierung diese Schule kurzgehalten. Neugründungen von Gesamtschulen wurden sogar im Schulgesetz verboten.

KONGRESSZEITUNG 1 Arche Nova in Bregenz

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Die Bildung Kultivieren!

Nun ist es so weit. Endlich.
Der Countdown zum Kongress beginnt. Das elektronische Anmeldeformular auf der Webseite ist geschaltet. Natürlich läuft die Vorbereitung schon lange. Sie ist durch mindestens sieben Denkmägen gegangen. Heraus kommt ein Kongress, der anders werden wird als die bisherigen. Das Vorhaben ist nicht risikolos, aber wir bleiben bei unserer Maxime, dass nur das gelingen kann, was auch scheitern darf und eben deswegen seltener schief gehen wird. Mit der Anmeldung beginnt auch die Möglichkeit zur Mitwirkung. Vorab. Damit dieser Aufruf zum Kongress kein zu umfangreicher und dann häufig doch nicht zu Ende gelesener Text wird, verteilt er sich auf die ersten Nummern der KongressZeitung. Sie wird von nun an alle paar Tage auf der Homepage www.adznetzwerk.de erscheinen und auch als ,,Newsletter" verschickt. Die KongressZeitung wird das Medium zur Kongressvorbereitung. Sie enthält Informationen und Debatten zur Ausdifferenzierung des Programms und verdichtet den Kongressparcours.

Arche Nova
Ergebnisversessene, vor allem auf Noten und Prüfungen gerichtete Schulen führen zu Kollateralschäden: Gleichgültigkeit, Äußerlichkeit, Bulimielernen. Wissen wird dann schon für Kinder zur Ware. Es zerfällt in isolierte, häufig unverstandene und bald wieder vergessene Teile. Kinder und Jugendliche kalkulieren und vermarkten ihr Leben wie ihre eigenen Betriebswirtschaftler. Die Sachen werden dabei egal. Am Ende dieser Bildungslaufbahn hören Hochschullehrer von Studierenden solche Sprüche: Bitte reden Sie nicht so viel. Sagen Sie klipp und klar, was geprüft wird. Das lernen wir dann auch. Das ist keine Karikatur. Eine Studie der Deutschen Bundesregierung beschreibt die verbreitete Haltung der Studierenden als labil und teilnahmslos. Mehr und mehr werden sie in ihren Schul- und Studienjahren davon überzeugt, dass sie weder

Foto: Tanja Dorendorf / T+T Fotografie

ihre individuelle Karriere noch politische Entscheidungen beeinflussen können. Einen ähnlichen Einbruch der Erwartungen und Hoffnungen, sagen die Wissenschaftler, hätten sie bisher nur bei Jugendlichen ohne Berufsausbildung gefunden. Die in diesem Frühjahr veröffentlichte, vom Freistaat Sachsen in Auftrag gegebene Studie ,,Fokus Kind" beschreibt, wie Schülerinnen und Schüler schon in der Grundschule von Jahr zu Jahr gelangweilter und uninteressierter werden.

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DIE ZEIT Jesper Juul Postwurfsendung Seitenlayout

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FEUILLETON LITERATUR

22. Juni 2011 DIE ZEIT No 26

Strenge Tigermütter werden gebraucht, denen gar nichts entgeht? Ach was. Jesper Juul, der Sokrates unter den Pädagogen, lehrt die Eltern Gelassenheit im Leben mit ihren Kindern VON REINHARD KAHL

DIE ZEIT Jesper Juul Postwurfsendung Seitenlayout

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LITERATUR
JESPER JUUL "ELTERNCOACHING"

Postwurfsendung an alle
Strenge Tigermütter werden gebraucht, denen gar nichts entgeht? Ach was. Jesper Juul, der Sokrates unter den Pädagogen, lehrt die Eltern Gelassenheit im Leben mit ihren Kindern.
VON Reinhard

Kahl | 22. Juni 2011 - 08:00 Uhr

Bert spielt mit seinem Auto. Sarah nörgelt. Sie will das Auto. Aber Bert spielt ungerührt weiter. Wir sind im Kindergarten. Die Erzieherin schüttelt den Kopf. »Bert«, sagt sie, »nun gib doch Sarah endlich mal dein Auto.« Jesper Juul erzählt die Episode auf einem Kongress vor Pädagogen, die vermutlich überwiegend die Haltung der Erzieherin teilen. Und dann sagt er: »Wenn ich morgens zu meinem Auto gehe und mir jemand sagt, heute solltest du aber das Auto mal deinem Nachbarn geben, was würde ich da wohl sagen?« Der Däne Jesper Juul ist ein Sokrates in den Debatten um Erziehung . Es geht ihm eher um die Erwachsenen als um die Kinder . Seine Botschaft: Liebe Erwachsene, schaltet die Spiegelneuronen ein. Wir waren vor den Kindern auf der Welt. Die Kinder sind unsere Spiegel. Aber statt in den Spiegel zu blicken, zu reflektieren und mit den Kindern das Pingpong vieler Gespräche und Spiele zu beginnen, wollen die meisten Erwachsenen lieber erziehen. Viele wollten nichts als nette Kinder, sagt Juul voller Abscheu, und nirgendwo werde so viel erzogen wie in Deutschland. Chöre von Ratgebern raunen hierzulande: Kindern muss man Grenzen setzen. Juul hingegen sagt, dass die Erwachsenen sich abgrenzen sollten. Er ermuntert sie, nicht als Prinzipien aufzutreten, sondern als genau die Person, die sie nun mal sind, und dabei in Kauf zu nehmen, sich zuweilen unbeliebt zu machen. Vor allem hätten sie zu lernen, Nein zu sagen. Ein Romantiker ist dieser Jesper Juul nicht. Es ist verblüffend, wie bei seinen Gesprächspartnern und Zuhörern Lichter aufgehen, wenn dieser Sokrates sich unters Volks mischt und, ohne zu belehren oder gar zu beschämen, schmerzliche Wahrheiten ausspricht oder seine Gesprächspartner selbst drauf bringt. Das zeigt sein jüngstes Buch, Elterncoaching ­ Gelassen erziehen . Es dokumentiert 18 Gespräche, die Juul zumeist mit der ganzen Familie, also auch mit den Kindern geführt hat. Auf viermal vier Seiten kurzen Reflexionen nach den Gesprächen, die in vier Kapitel unterteilt sind, skizziert Juul seine Philosophie der Gelassenheit. Diese Seiten würde man am liebsten als Postwurfsendung allen Haushalten schicken. Juul analysiert die perverse Elternhaltung, aus Kindern »Bonsaibäumchen« machen zu wollen, »über deren Wachstum der Besitzer die Macht übernommen hat«. Diesen »Projektkindern« werde ihr Eigensinn ausgetrieben. In seiner zweiten Überlegung lobt er die Unsicherheit von Eltern , solange sie nicht destruktiv oder neurotisch ist. »Lasst den Gefühlen der Kinder freien Lauf« heißt die dritte Gedankenübung. Da entdecken wir

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DIE ZEIT Schulpreis Die Haltung

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SCHULE
DEUTSCHER SCHULPREIS 2011

"Das Geheimnis liegt in der Haltung"
Eine Göttinger Gesamtschule verzichtet bis zur zehnten Klasse darauf, die Schüler nach Leistung zu trennen. Für herausragende Leistungen erhielt sie den Schulpreis.
VON Reinhard

Kahl | 16. Juni 2011 - 08:00 Uhr
© Theodor Barth/Robert Bosch Stiftung

Sie lernen an einer preisgekrönten Schule: Schüler der Lichtenberg-Gesamtschule in Göttingen

Gehen dem Deutschen Schulpreis nicht langsam die Kandidaten aus? Seit 2006 erhalten jedes Jahr fünf Schulen, neuerdings sogar sieben, diese mit insgesamt 230.000 Euro dotierte Auszeichnung. Die große Robert Bosch Stiftung und die kleine, von der Familie Bosch getragene Heidehofstiftung ermöglichen diesen Blick auf gelungene Schulen. Und von denen gibt es immer mehr. Der Jury fiel es in diesem Jahr besonders schwer, aus den 15 Nominierten die Preisträger zu küren. Es sind eigenwillige Schulen. Sie entdecken den Vorteil, verschieden zu sein. Das gilt für die Institution selbst und vor allem für die Vielfalt der unterschiedlichen Schüler. Die Marktschule in Bremerhaven hat sich in jahrgangsübergreifenden Klassenfamilien organisiert. Da arbeiten auch Eltern mit. Das Gymnasium im bayerischen Karlstadt hat seine Gestaltung weitgehend in die Hände von Arbeitskreisen gegeben, die aus Eltern, Lehrern und Schülern bestehen. Diese Schulen sind auf dem Weg von der Unterrichtsanstalt zu einem Lebens- und Lernort. Und an all den Schulen zeigt sich, wie die Kinder und Jugendlichen dann geradezu brillieren. Das wird aufgeklärte Bürger nicht wundern. Es ist inzwischen eine Binsenweisheit der Organisationspsychologen, dass eine gute Atmosphäre zu besseren Leistungen führt. Aber gegenüber Schulen gibt es in Deutschland häufig immer noch den Verdacht, zu viel Wohlbefinden könne dem Ergebnis schaden.

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Keine Noten, gute Leistungen -Deutscher Schulpreis

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DIE PRESSE über Individualisierungsbuch & DVD

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DiePresse.com | Bildung | Schule | Höhere Schulen |

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"Bringt viel Geld auf die Bildungsbank, es lohnt sich"
23.11.2012 | 18:47 | BERNADETTE BAYRHAMMER (Die Presse)

Pädagoge und Filmemacher Reinhard Kahl über Schulen für Träumer, Freude als Produktivkraft und den Unterschied zwischen Schlecker und DM.

PS 6 Ach, die Lehrer

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Ach, die Lehrer
sächliche Wirkung ihres Handelns gestärkt werden? Denn es gibt doch nur eine Gruppe, die die Schule verwandeln kann: die Pädagogen. Auf jeden Fall geht es nicht ohne sie. Nicht nur die Allensbachbefragung nährt allerdings den Verdacht, dass sie sich diese große Mission gar nicht zutrauen, dass sie in ihre depressiven Zirkel flüchten und alle möglichen anderen dafür verantwortlich machen, dass sie sich so klamm fühlen. Aber vielleicht ist es falsch zu sagen, die Lehrerinnen und Lehrer seien zu so und soviel Prozent so oder anders. Herrscht nicht bei den meisten Ambivalenz?

nds Der Vorteil verschieden zu sein

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5-2011 17
Nur individualisiertes Lernen wird Kindern gerecht

Der Vorteil verschieden zu sein
Die Individualisierung des Lernens antwortet darauf, dass jedes Kind eine eigene Geschichte hat ­ nein, dass es seine eigene Geschichte ist. Jeder Mensch ist eine Primzahl, teilbar nur durch eins und durch sich selbst. Gute Schulen bieten deshalb Gemeinschaft. Lernende brauchen diesen Schutz, um eigene Wege wagen zu können. Die ,,Individualisierung des Lernens" bedeutet also nicht etwa Vereinzelung. Sie ist eine Voraussetzung für die Abenteuer des Zusammenlebens und für die eigene, unverwechselbare Biografie.

NDR über DVD „Individualisierung…“

NDR Kultur über Buch / DVD: "Individualisierung - Das Geheimnis guter Schulen":

http://www.ardmediathek.de/ard/servlet/content/3517136?documentId=7212978

NDR Kultur -Die Wiederentdeckung des Übens

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NDRKultur/GedankenzurZeit/15.Mai2011


Die Wiederentdeckung des Übens Plädoyer gegen den Drill in der Erziehung

PS 5 Restlaufzeiten

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Restlaufzeiten
zu wählen. Ich ging widerwillig zur Wahl wie die meisten, die ich kenne. Man hatte eine Liste derer im Kopf, die man nicht wählen kann. Wer dort an letzter Stelle stand, an den verlor man dann doch noch seine Stimme, eine unwürdige Erfahrung tatsächlich seine Stimme abzugeben. Dabei ist es doch der Sinn von Politik, die Stimme zu ergreifen. Politik ist ­ wie die Bildung ­ eine Sphäre, in der Menschen sich selbst stimmen, so wie man ein Musikinstrument stimmt, um dann mit anderen zusammenzuspielen. An der politischen Entropie hatte die verunglückte Schulpolitik großen Anteil. Denn es waren ja nicht vornehmlich die Mütter mit den hochgestellten, schwarzen Autos und den Gucci-Taschen, die zusammen mit ihren Rechtanwaltsmännern aus Blankenese die Primarschule zu Fall brachten. Die schwarz-grüne Bildungspolitik litt an einem performativen Widerspruch von Anfang an. Sie wurde als Kabinettspolitik im Stil der 50er Jahre betrieben. Strikt von oben nach unten. Am Kuhhandel aus den Koalitionsverhandlungen sollte es nichts mehr zu deuteln geben. So etwas will sich aber niemand mehr gefallen lassen.

PS 4 Weniger ist mehr

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Weniger ist mehr
hard Roth, laufen darauf hinaus, »dass das Schulsystem einen Wirkungsgrad besitzt, der gegen Null strebt.« Gerhard Roth ist kein Freund des Alarms. Der Präsident der »Studienstiftung des deutschen Volkes« und Direktor des Instituts für Hirnforschung in Bremen hat vor seiner Emeritierung in der Uni Vorlesungen, im Rathaus Vorträge über Lernen, Persönlichkeit und unser Zentralorgan gehalten und sich in der Bremer Gesamtschule-Ost wochenlang hinten in die Klassen und mitten ins Lehrerzimmer gesetzt. Dann hat er 350 Seiten abgeliefert: »Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt«.** Sein Ergebnis ist alles andere als der neueste trendige Schrei der Neurowissenschaften. »Es wäre schlimm, wenn in meinem Buch etwas steht, von dem Sie noch nichts gehört haben«, sagte er zur Buchvorstellung.

DIE ZEIT Lehrt weniger Eine Rezension

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DIE ZEIT 12 2011 / Literaturmagazin Lehrtweniger
Gerhard Roth und Manfred Spitzer erklären allen Nachsitzern wie Lernen geht

DIE ZEIT Zum Tod von Günter Amendt

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Vor allem Befreiung

Zum Tod des Soziologen Günter Amendt
VonReinhardKahl

Interview OÖ Nachrichten

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15. März 2011 - 00:04 Uhr · Claudia Riedler · Oberösterreich

Oberösterreich

,,Ich hatte ein bis eineinhalb Lehrer, die mich wirklich fasziniert haben"
Reinhard Kahl (62) ist Journalist und Filmemacher. Über sein Lieblingsthema ,,Lernen ohne Belehrung" hält der Deutsche bei den ersten Montessori-Tagen Oberösterreichs in Linz am Freitag den Eröffnungsvortrag. OÖN: Sie sagen, dass Kinder als Lerngenies zur Welt kommen, doch dann wird es ihnen verleidet. Was verleidet den Kindern das Lernen? Kahl: Kinder werden in der Schule sehr schnell in eine fertige Welt eingeführt, wo sie so von Antworten umstellt sind, dass für Fragen gar kein Platz mehr bleibt. Die Neugierde der Kinder richtet sich aber gar nicht auf den fertig verpackten Schulstoff. Dazu kommt, dass der Stoff, das Wissen und ­ etwas pathetisch gesagt ­ unsere Welt bald auch zum Prüfungsgegenstand wird. Die Dinge verlieren damit ihre Anziehungskraft und auch ihren Zauber. OÖN: Wie waren eigentlich Ihre Lernerfahrungen? Kahl: Ich habe mich schon ziemlich gelangweilt in der Schule.

SWR 2 Bulimie_Lernen

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SWR2/13.März2011/8´30Uhr(Aula)
Serie:Wissen 2.0 ­
Wie das Internet die Bildung verändert
Plädoyer gegen das Bulimie Lernen

PS 3 Das Yin und Yang der Bildung

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Das Yin und Yang der Bildung

DIE ZEIT „Etwas Respekt bitte“ 3 Bücher

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Bücher zur Bildung: Etwas Respekt, bitte | Gesellschaft | ZEIT ONLINE

SCHULE
BÜCHER ZUR BILDUNG

Etwas Respekt, bitte
Es kann nur gelingen, was auch schiefgehen darf! Drei menschenkluge Bücher wollen den Weg freiräumen, damit Kinder in der Schule endlich gut lernen.
VON:

Reinhard Kahl 2.3.2011 - 10:32 Uhr
© Oliver Berg / dpa

Besucher der Bildungsmesse didacta schauen sich Schulbücher an

Wagt Euch!

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Nummer 47 · Samstag, 26. Februar 2011

Landtagswahl 2011

Proteste gegen Studiengebühren und neue Studiengänge, Stolz auf Erfolge bei der Exzellenzinitiative
Beim größten Reformprojekt in dieser Legislaturperiode, der neuen Werkrealschule, hat Schick Anfang Februar einen überraschenden Kurswechsel angekündigt. Auch Hauptschulen mit nur einer Klasse pro Jahrgang können künftig Werkrealschule werden, wenn sie ein überzeugendes pädagogisches Konzept haben. Andernfalls müssten in den nächsten Jahren viele kleine Hauptschulen auf dem Land schließen ­ was die Regierung bisher bestritten hat. Ob es damit gelingt, die Abwanderung zu stoppen, ist offen ­ zumal es für die Werkrealschüler eine Hürde gibt, die Gymnasiasten und Realschüler nicht kennen. Sie dürfen die zehnte Klasse nur besuchen, wenn sie einen Notendurchschnitt von 3,0 oder besser haben. Längeres gemeinsames Lernen über die vierte Klasse hinaus, wie es viele Rektoren ­ wie die so genannten oberschwäbischen Hauptschulrebellen ­ fordern, lehnt Schick ab.

Im Südwesten fällt eine Bildungslandschaft auf, wie man sie zwischen Hamburg und Bremen nicht zu sehen bekommt. Am Neckar wird sogar an der Autobahn auf Hölderlin und Schiller hingewiesen. Und in jedem dritten Dorf irgendein Weltmarktführer wie Logitech. Unnachahmlich am Stuttgarter Hauptbahnhof Hegels Satz, ,,dass die Furcht, sich zu irren, der Irrtum selbst ist". Tatsächlich bräuchten wir Schulen, in denen Kinder und Jugendliche Fehler machen dürfen. In manchen Firmen fragt sich das Management in einer Art Mittagsmeditation, ,,habe ich heute schon einen Fehler gemacht"? Wer das verneint, steht im Verdacht, noch nichts gemacht zu haben, zumindest nichts Neues. Der Fehler ist das Salz des Lernens. Davon können schwäbische Erfinder wie Arthur Fischer viele Geschichten erzählen. Und in den Schulen? Kann man eigene Wege und Umwege wagen, wenn sie mit dem Zugehörigkeitsversprechen geizen? Wenn keine einzige als Modellversuch Gemeinschaftsschule werden darf, was alle Schulen in den USA, in Skandinavien oder auch Japan sind? Schulen, die den Schülern uneingeschränkt sagen, ihr gehört dazu, es steckt mehr in euch, als ihr glaubt, wagt euch! Andererseits: Die Bildungshäuser für Kinder von drei bis zehn gehören zu den vielversprechendsten Erneuerungen. Spielen und Lernen werden neu gemischt. Interessant ist, dass dort Schulen mehr von Kindergärten lernen als umgekehrt. Vielleicht liegt darin der Keim zu einer einfacheren und eleganteren Schullandschaft: eine Kinderschule bis zur Pubertät, eine Jugendschule, die Spielraum für viele eigenwillige Häuser des Lernens hätte. Und dann Akademien und Unis, die diese Namen wieder verdienen. Jedenfalls Lernfabrik ade!

PS 2 Eine Küchenrevolution

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Eine Küchenrevolution

Haltungen Konf. Netzwerker des Widerstands

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HOLOCAUSTKONFERENZ
Netzwerker des Widerstands
Berlin 27.&28.Januar

DIE PRESSE Wien: Schule muss Küche sein…

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PS 1 Post It

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In Hamburg soll es bald 24 Notenstufen geben. Diese Währungsreform, so heißt es, werde Transparenz und Gerechtigkeit in die Schulen bringen. Wirklich? Zunächst geht es allerdings darum, das System zu synchronisieren. Die Benotung in den künftigen »Stadtteilschulen« soll mit der in den Gymnasien auf eine Skala gebracht werden. Für die Lehrerin Sabine Czerny sind Noten Gift, denn sie beschämen Kinder und schwächen sie beim Lernen. Das hat sie in ihrem hier kürzlich schon erwähnten Buch ausführlich dargestellt. Im kanadischen Montreal wirft ein renommierter Wirtschaftswissenschaftler ein unerwartetes Licht auf das Zensurenthema. Für Henry Mintzberg liegt eine Ursache der Finanzkrise in Bonuszahlungen. Damit hätte man Banker und Börsenmakler auf kurzfristige Erfolge konditioniert. Der amerikanische Ökonom Samuel Bowles stimmt dem zu und geht noch weiter: Explizite, also äußere Leistungsanreize, zerstörten gute Absichten.

Fässer füllen oder Flammen entzünden im Buch Kompe

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Fässer füllen oder Flammen entzünden
Für eine Renaissance der Bildung
Reinhard Kahl

PS 12 Nach Pisa

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Am 7. Dezember ist es wieder so weit, oder war es bereits so weit, je nachdem, wann Sie diese Kolumne lesen. Pisa! Die Fünfzehnjährigen wurden weltweit getestet. Viele Politiker werden auch die vierte Pisa-Studie wieder wie ein Wahlergebnis interpretieren. Aber nicht nur sie starren auf das Ranking. Dieser Blick hat sich in Deutschland seit den ersten Pisaergebnissen Ende 2001 durchgesetzt. Bei den einen dominierte die Kränkung, nicht Weltmeister zu sein, und bei den anderen ein gewisser Triumph über den ultimativen Nachweis des schlechten Zustandes unserer Schulen. Auch beim Pisa-Masochismus hielt sich die Bestürzung über die Wirklichkeit deutscher Bildungsverlierer in Grenzen. Das Rechthaben wurde zumeist wichtiger als die Erkenntnis.

PS 12 Nach Pisa

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Am 7. Dezember ist es wieder so weit, oder war es bereits so weit, je nachdem, wann Sie diese Kolumne lesen. Pisa! Die Fünfzehnjährigen wurden weltweit getestet. Viele Politiker werden auch die vierte Pisa-Studie wieder wie ein Wahlergebnis interpretieren. Aber nicht nur sie starren auf das Ranking. Dieser Blick hat sich in Deutschland seit den ersten Pisaergebnissen Ende 2001 durchgesetzt. Bei den einen dominierte die Kränkung, nicht Weltmeister zu sein, und bei den anderen ein gewisser Triumph über den ultimativen Nachweis des schlechten Zustandes unserer Schulen. Auch beim Pisa-Masochismus hielt sich die Bestürzung über die Wirklichkeit deutscher Bildungsverlierer in Grenzen. Das Rechthaben wurde zumeist wichtiger als die Erkenntnis.

Die Schule der Zukunft ermöglichen

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Reinhard Kahl (1948) ist Bildungsjournalist und Filmemacher. Er hat Erziehungswissenschaften, Philosophie, Soziologie und Psychologie studiert. Kahl schreibt unter anderem für «Die Zeit», «Geo», «Die Welt», «Süddeutsche Zeitung» und «taz» sowie die Kolumne «PS» in der Zeitschrift «Pädagogik». Gründer des «Archivs der Zukunft» mit Dokumentationen über Bildung, die gelingt. Darin beispielsweise der Dokumentarfilm: «Treibhäuser der Zukunft» (2005).

DIE SCHULE DER ZUKUNFT ERMÖGLICHEN DIE ALTE, VERTIKALE ORDNUNG DER BELEHRUNG TRÄGT IM DIGITALEN ZEITALTER NICHT MEHR
Lernen im Informations- und Medienzeitalter? Da stellt man sich vielleicht Räume vor, voll von Apparaten, so wie einst das Sprachlabor, nur viel smarter. Programmierter Unterricht im Sprachlabor erwies sich allerdings als Sackgasse, und die Maschinen standen bald nur noch als Edelschrott rum. Heute werden Schüler mit Laptops ausgerüstet. Und jeder hat bald einen kleinen Computer in der Tasche, mit dem er telefoniert, Musik hört, fotografiert und über Suchmaschinen ständig mit dem Wissen der Welt und vor allem mit den Freunden verbunden ist. Verbunden? In der Welt? Fest steht, inmitten eines Ozeans von Informationen trägt bloss geliehenes Wissen nicht. Die alte Frage verschärft sich: Wie wird Information in Wissen verwandelt? Wie eignen sich Individuen eine Welt enormer Möglichkeiten an? Jeder weiss etwas anderes. Jeder muss sich entscheiden, was er wissen, und das heisst auch, wer er sein will. Die Individuen werden verschiedener. Kooperation wird wichtiger. Der Wunsch nach Zugehörigkeit wird stärker. In Möglichkeitswelten steigt das Verlangen nach Wirklichkeit. Plötzlich stehen in einer Computer- und Medienwelt die Geräte gar nicht mehr im Mittelpunkt. Werden dann Menschen das wichtigste Medium für Menschen? Man muss sich in diesem Satz das Wörtchen «wieder» verkneifen. Es ist ja nicht so, dass in der vordigitalen industriellen Eisenzeit ­ zum Beispiel in den Schule ­ die Menschen im Mittelpunkt standen. Sie wurden eher zu Maschinenmodulen diszipliniert. Sie lernten zu funktionieren. Das Wort «Lernen» wurde zum Zeichen für einen überwiegend passiven Vorgang.

Schule der Zukunft Das krumme Holz, das der Mensch nach Immanuel Kant nun mal ist, sollte in Schulen glatt gehobelt werden. Das ist in den letzten 150 Jahren auf fatale Weise gelungen. Aber daraus ist auch eine Chance entstanden. Fast alle repetitiven

PS 11 Werte und Verwertung

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1. Oktober, eine Stunde nach Mitternacht. Seit 60 Minuten ist die Vegetationsperiode mit dem Verbot, Bäume zu fällen, vorüber, da werden im Stuttgarter Schlosspark majestätische Platanen zersägt und noch in der Nacht geschreddert. Am Abend darauf gehen fast hunderttausend Stuttgarter auf die Straße. Bei ihnen wird ein noch unscharfes Gefühl zur Gewissheit: Stuttgart 21 schafft keine Werte. Es entsteht nichts Neues. Der Umbau des Bahnhofs steht für den Verbrauch der Lebenswelt. Dabei schien die Verlegung des Bahnhofs unter die Erde zunächst eine verlockende Idee. Was würde alles möglich, wenn fast ein Drittel des inneren Stadtraums neu gestaltet werden kann?

PS 10 Haltungen 2

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Immer häufiger liegt mir dieses Wort auf der Zunge, aber lange hatte ich es mir verkniffen. Haltung, das tönte zu sehr nach Kommando, ähnlich wie Üben, Respekt und andere Wörter mit anscheinend eingebautem Ausrufezeichen. Aber eine neue Betonung, sagen wir eine andere Haltung beim Gebrauch dieser Wörter verspricht inzwischen Befreiung aus mancher Sackgasse. Bei Respekt fiel der Wandel zuerst auf. Das stumme Hinaufschauen zu Respektspersonen bekam im Hip-Hop Bedeutungskonkurrenz von der Aufforderung »respect me«. Der Refrain im Rap wurde zur Chiffre für das Verlangen nach Würde und Anerkennung. Wie du mich ansiehst, so blick ich zurück.

PS 9 Tragische Bildungspolitik

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»Jedes Kind ist anders!« Diesen Spruch las man während des Hamburger Schulkampfes viele hundert Mal. Plakate längs der Straßen kündeten von dieser Grundidee des »längeren gemeinsamen Lernens«, doch die FDP hatte diesen Slogan geklebt. Sie ist in Hamburg nicht im Parlament und suchte Anschluss zur außerparlamentarischen Opposition gegen die Einführung der Primarschule. CDU, SPD, Grüne und Linke hatten eine ganz große Koalition für das sechsjährige »längere gemeinsame Lernen« geschlossen und wurden doch beim Volksentscheid von einer noch größeren bürgerlichen Volksfront deutlich geschlagen. 276.304 Hamburger hatten gegen die Reform gestimmt, nur 218.065 dafür. Wie war es möglich, dass mit dem Slogan »Jedes Kind ist anders« gegen die Reform mobilisiert worden konnte und niemand hat vernehmbar widersprochen oder gelacht? Länder mit weniger Gymnasien etwas inklusiver sind. Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de

DIE WELT Das krumme Holz

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Mittwoch, 25. August 2010

Forum
biologischen Gedächtnis, sondern im kulturellen Gedächtnis gespeichert sind und deshalb in Schulen geübt werden, müssen allerdings noch viel individueller gelernt werden als das Laufen und Sprechen. Es gibt viele Wege. Vor allem hat Peter ein anderes Tempo als Gabi. Außerdem ist auch das Tempo von Peter und Gabi jeweils nicht gleichmäßig. Auf Phasen der Verlangsamung folgen unerwartete Beschleunigungen und manchmal sogar Sprünge. Lernen ist ein diskontinuierlicher Vorgang. Für den Gleichschritt einer Kolonne ist es nicht geeignet, denn es geht immer darum, etwas zu üben und sich zu üben. Ständig arbeitet der Übende auch am Verhältnis zu sich selbst. Lernen ist keine Schnellbelichtung von Gehirnzellen, es ist kein passiver Kopiervorgang, Lernen ist vielmehr eine kontinuierliche Gestaltung und Selbstgestaltung. ,,Bei der Geburt sind zwar so gut wie alle Nervenzellen vorhanden", weiß der Neurobiologe Wolf Singer, ,,aber die allermeisten sind noch nicht miteinander verbunden, vor allem in der Großhirnrinde nicht. Dann wachsen Verbindungen aus, zwar nach einem genetischen Plan, aber die endgültige Festlegung verläuft in einem Prozess von Versuch und Irrtum. Da entscheidet sich, wer bleibt und wer geht. Etwa 30 Prozent der einmal angelegten Verbindungen verschwinden wieder, sie werden eingeschmolzen." Entscheidend dafür, was bleibt, unterstreicht Singer, ist die Aktivität. ,,Zellen, die häufig gleichzeitig aktiv sind, haben die Tendenz, ihre Verbindung zu erhalten. Was gebraucht wird, bleibt erhalten, und es wird vernichtet, was als Möglichkeit vorhanden gewesen wäre, aber keine Verwendung fand."

NDR Der Kollateralnutzen: Bildung kultivieren

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NDR Kultur 8.8.2010
GEDANKEN ZUR ZEIT Der Kollateralnutzen
Über die Kultivierung der Bildung

mdr Interview zum Scheitern der Hamburger Schulreform


Interview mit Reinhard Kahl zur Volksabstimmung über die Hamburger Schulreform (Primarschule)

http://www.mdr.de/mdr-figaro/7501472.html

Radio Bremen Gesprächszeit zur HH Schulreform


Am 19. Juli Radio Bremen / Nordwestradio eine Stunde "Gesprächszeit" zur Hamburger Schulreform

http://www.podcast.de/episode/1680470/Reinhard_Kahl

DIe WELT Längeres gemeinsames Lernen

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Freitag, 16. Juli 2010

Das Sein und das Nichts
In dem alten deutschen Spielfilm ,,Das Spukschloss im Spessart" rühren die Schlossgespenster einen Zaubertrank aus obskuren Zutaten an und singen dabei ein Lied mit dem schönen Refrain: ,,Die Hauptsache ist der Effekt!" Um den Effekt der Homöopathie und darüber, ob Krankenkassen dafür bezahlen sollen, stritten sich diese Woche auch Politiker. Im 21. Jahrhundert diskutieren Parlamentarier ernsthaft über Wunderkräfte in Zuckerkügelchen. Was kommt als nächstes? Eine parlamentarische Anfrage zum Horoskop der Kanzlerin? Aurafotografie in den neuen Personalausweisen? Wir sind auf alles gefasst. Die Zahl der Homöopathie-Gläubigen steigt unentwegt. Schon über die Hälfte der Deutschen schluckt Kügelchen. Homöopathie ist ein Milliardenmarkt geworden. In Großstädten schreiben Apotheken ,,Allopathie" auf ihr Ladenschild, wenn sie nicht nur Kügelchen, I Wer zum sondern auch Medikamente Heilen keinen verkaufen. ,,AlloWirkstoff pathie" ist der braucht, braucht abfällig gemeinte Ausdruck der zum Diskutieren Homöopathen für wissenschaftauch keine liche Medizin. Information ,,Die Hauptsache ist der Effekt", argumentieren die, die befürworten, dass gesetzliche Krankenversicherungen die Behandlung mit Kügelchen erstatten. Ein Effekt ­ das ist unbestritten ­ stellt sich gelegentlich ein, wenn man Menschen mit Hokuspokus verwirrt. Empfängliche Seelen brauchen solchen Ansporn, um die Selbstheilungskräfte zu mobilisieren. Diesen Placeboeffekt machen sich auch verantwortungsvolle Ärzte zunutze. Doch es ist ein Unterschied, ob man den Placeboeffekt bewusst benutzt, um zu heilen, oder ob man die Wissenschaft durch Magie ersetzen will. Wer das zulässt oder fördert, schadet kranken Menschen. Deshalb hat der SPD-Parlamentarier Karl Lauterbach recht, wenn er sagt, dass die Krankenkassen die Homöopathie ,,adelt", wenn sie sie bezahlt. Denn viele Patienten glauben, dass die Kassen nur erstatten, was nachweislich hilft. Deshalb sollte Pseudo-Medizin nicht übernommen werden. Die Kassen haben sich aber offenbar von dem Gedanken längst verabschiedet, dass sie den Patienten zu bestmöglicher Behandlung verhelfen sollen. Sie fühlen sich nur noch für Kostensenkung zuständig und argumentieren, dass die Zuckerkügelchen viel billiger sind als Medikamente. Unterstützt werden sie dabei von den Grünen. Deren Fraktionschefin Künast sagte: ,,Die pauschale Kritik an der Homöopathie verkennt, dass selbst die Schulmedizin in vielen Fällen auf die industrielle Nachahmung von Heilmitteln zurückgreift, die es in der Natur kostenlos gibt." Offenbar ist Frau Künast der Unterschied zwischen Arzneien aus Naturstoffen und Homöopathie unbekannt. Die einen enthalten Pflanzenextrakte, die anderen nichts als Zucker. Aber irgendwie konsequent: Wenn man zum Heilen keinen Wirkstoff braucht, braucht man zum Diskutieren auch keine Information.

PS 7/8 Es geht!

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Es ist eine kleine Schule für 200 Kinder und Jugendliche. Elf Lehrer unterrichten sie, vom Erstklässler bis zum Abiturienten. Zu Hause sind es brave Schüler, Schulverweigerer oder Überflieger. Sie sind Grundschüler, Realschüler, Hauptschüler, Berufsschüler und Gymnasiasten. In Oberjoch gehen sie in gemeinsame Klassen. Die Klassen sind auch vom Alter her gemischt. Eine Schule, wie sie in Deutschland nicht für möglich gehalten wird, oder zumindest für hoffnungslos ineffektiv. Die Sophie-SchollSchule in Oberjoch bekam am 9. Juni aus der Hand der Bundeskanzlerin den Hauptpreis des Deutschen Schulpreises.

Stattdessen steht da zum Beispiel »Bin ich vielleicht der Arzt?«

In dem höchsten Bergdorf in Deutschland liegt eine Rehaklinik, in der Kinder mit Herz- und Lungenleiden behandelt werden. Während der Kur besuchen sie die zum Krankenhaus gehörende SophieScholl-Schule. Das dauert gewöhnlich vier bis acht Wochen. Außerdem gibt es eine Handvoll sogenannter Langzeitschüler. Das hört sich nicht besonders spektakulär an. Man muss genau hin gucken. Jeden zweiten Donnerstag kommen die Neuen, um ihre Kur anzutreten. Die von der Heimatschule präparierten Ranzen und Rücksäcke werden im Flur vor dem Lehrerzimmer abgestellt. Darin sind Berichte über die Schüler und über den aktuellen Stoff, Hefte und Schulbücher. Übers Wochenende wird das alles von einem Lehrerteam studiert. Für jeden Schüler wird ein Wochenplan erstellt. Dabei haben die Pädagogen ein Verfahren entwickelt, wodurch die jeweiligen Klassenlehrer möglichst nicht erfahren, von welcher Schulart die Neuen kommen. Aber über die Schüler, über die Person, wollen sie möglichst viel wissen. Dabei sind die Lehrer der SophieScholl-Schule immer wieder überrascht, wie wenig die Kollegen der Heimatschulen die häufig seit Jahren von ihnen unterrichteten Schüler kennen. Manche Spalte auf dem von der Sophie-Scholl-Schule verschickten Fragebogen bleibt leer. So gibt es selten Auskunft über das Hörvermögen und dessen eventuelle Beeinträchtigungen.


NDR Kultur Interview zum Bildungsgipfel

Interview zum Bildungsgipfel

Nachhören hier:

http://www.ndrkultur.de/media/audio36844.html

ZEIT online Abschied von der Anstalt

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SCHULE
DEUTSCHER SCHULPREIS 2010

Abschied von der Anstalt
Sieben Schulen erhielten heute von Angela Merkel den Deutschen Schulpreis. Deren mutige pädagogische Praxis könnte die Richtung vorgeben für den Bildungsgipfel am Donnerstag.
VON ReinhardKahl | 09. Juni 2010 - 16:14 Uhr
© Theodor Barth/Robert Bosch Stiftung

Schüler in der Siegerschule, der Sophie Scholl Schule, während eines Kuraufenthaltes. Auch die anderen Preisträger sind eigenwillige Wege gegangen

Eigenwillige Geschichten haben die mit dem Schulpreis geehrten Schulen alle. Die Schule in Templin, der Heimatstadt von Angela Merkel, zum Beispiel, war noch vor ein paar Jahren eine Sonderschule für geistig Behinderte. Dann hat sie sich auch für nicht behinderte Kinder geöffnet; sie ist beliebt und erfolgreich damit. Das Firstwald Gymnasium in Baden-Württemberg, ebenfalls in evangelischer Trägerschaft, erweiterte sich um eine Grundschule, deren Pädagogik die höhere Schule nun inspiriert und voran bringt. Eine staatliche Realschule in Bayern bringt körperliche Bewegung in den Alltag und untersucht zusammen mit Neurobiologen, wie Bewegung den Leistungen und der Freude am Lernen bekommt. Und dann die Sophie-Scholl-Schule in Oberjoch in den Kalkalpen . "Sie hat bei unserem Peter ein Wunder vollbracht", sagte Dagmar Loesing, Peters Mutter, heute in Berlin, nachdem diese Schule aus der Hand von Angela Merkel den mit 100.000 Euro dotierten Hauptpreis erhalten hatte. Sieben Schulen wurden von der Bundeskanzlerin mit dem deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Zum vierten Mal wurde er vergeben. Gestiftet haben ihn die Robert Bosch Stiftung und deren kleine Schwester, die Heidehof Stiftung, die von Robert Boschs Kindern ins Leben gerufen wurde. In der Jury sitzen Erziehungswissenschaftler, darunter der Deutsche Pisa Chef, reformerische Pädagogen, aber auch der Generalsekretär der Kultusministerkonferenz.

DIE ZEIT Schulpreis Preisträger

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SCHULE
DEUTSCHER SCHULPREIS 2010

Ganz oben
Den Deutschen Schulpreis erhält in diesem Jahr die Klinikschule in Oberjoch, weil sie jedes Kind so nimmt, wie es ist
VON Reinhard

Kahl | 10. Juni 2010 - 08:00 Uhr
© Theodor Barth/Robert Bosch Stiftung

Hier blühen schulmüde Kinder wieder auf: Die Sophie-Scholl-Schule mitten in den Alpen

Frau Loesing will jetzt eine Schule gründen, in Ostfriesland. Dort betreibt ihre Familie einen Hof mit 120 Kühen und genauso vielen Schafen. Die vergangenen Jahre musste sie die Landwirtschaft in Pogum an der Ems dem Ehemann und den Schwiegereltern überlassen. Sie selbst hatte ihren Sohn zu einer Schule am anderen Ende der Republik begleitet, nach Oberjoch, dem höchsten Bergdorf Deutschlands. 1200 Meter über dem Meeresspiegel liegt hier eine Rehaklinik, in der Kinder mit Herz- und Lungenleiden behandelt werden. Während der Kur besuchen sie die zum Krankenhaus gehörende SophieScholl-Schule. Gewöhnlich vier bis acht Wochen dauern Behandlung und Schulbesuch. Außerdem gibt es eine Handvoll sogenannter Langzeitschüler. Das hört sich nicht besonders spektakulär an. Aber ihrem Sohn Peter, der jetzt elf ist, habe der Aufenthalt das Leben gerettet, sagt Dagmar Loesing ­ und zwar in der Schule, nicht im Krankenhaus. Das sei ein Wunder. Und weil dort in kurzer Zeit auch andere Kinder aufblühen und große Erfolge beim Lernen erzielen, beschloss die Jury des Deutschen Schulpreises, in diesem Jahr ihren Hauptpreis an die Sophie-Scholl-Schule zu vergeben. Es ist eine kleine Schule für 200 Kinder und Jugendliche aus allen 16 Bundesländern. Elf Lehrer unterrichten sie, vom Erstklässler bis zum Abiturienten. In Oberjoch gehen sie in gemeinsame Klassen. Hier ist für sie fast alles anders. Eine Schule, wie sie von den meisten Menschen in Deutschland nicht für möglich gehalten wird oder zumindest für hoffnungslos ineffektiv. »Doch es geht«, sagt Jury-Mitglied Michael Schratz. »Wie gut gemeinsamer

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PS 6 Haltungen

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»Dass sie alle von Mutterleibe an voll böser Lust und Neigung sind ... alle verdammt, so sie nicht durch das Evangelium neu geboren werden.« Man muss diesen Satz zweimal lesen. Aber so steht er tatsächlich in der 1530 von Philipp Melanchthon verfassten Augsburger Konfession, dem großen Text der Reformation. Darin erfährt man, »dass wir Vergebung der Sünden vor Gott nicht erlangen mögen durch Verdienst,« denn der Mensch ist sündig durch und durch. Und immer wieder dieser Refrain: Du musst Dich erst aufgeben, um angenommen zu werden. Du musst auf deinen bösen Kern verzichten, damit die Erlösung, von außen kommend, in deiner »angeborenen Seuche und Erbsünde« ihren Platz findet.

DIE ZEIT Hartmut von Hentig muss reden

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ZEITGESCHEHEN
REFORMPÄDAGOGIK UND MISSBRAUCH

Hartmut von Hentig muss reden
Und die, die ihm zugejubelt haben, auch ­ etwa Bildungsministerin Annette Schavan
VON Reinhard

Kahl | 22. April 2010 - 08:00 Uhr
© dpa/Boris Roessler

Gegen elf ehemalige Lehrer der Odenwaldschule wird mittlerweile ermittelt

PS 5 Der blinde Seher

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Am 26. Januar dieses Jahres war Jubel im »Weißen Saal« des Stuttgarter »Neuen Schlosses«. Kultusminister Helmut Rau hatte Hartmut von Hentig zu einem Vortrag eingeladen, den dieser auf der Einladungskarte als seinen »letzten pädagogischen Vortrag« angekündigt hatte. Das Thema hieß: »Das Ethos der Erziehung. Was ist an ihr elementar.« Hartmut von Hentig wurde gefeiert. An diesem Abend, wie so oft, dort und anderswo, mehrfach in diesem Ministerium, dessen frühere Kultusministerin Annette Schavan den Hentig so gerne zitierte, wie es ihre Gegenspieler taten, die sich Schule ganz anders vorstellen. Während ich diesen Text schreibe, es ist Gründonnerstag, kommt mir dieser 26. Januar wie Palmsonntag vor.

NDR Kultur „Ich sehe was…

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NDR Kultur / Gedanken zur Zeit 11.4.2010

Ich sehe was, was Du nicht siehst

PS 4 Schulfrieden?

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Bremen hat zuerst den Schulfrieden ausgerufen. Zehn Jahre, darauf haben sich die Fraktionen in der Bürgerschaft vor einem Jahr geeinigt, wollen sie nicht am nun zweigliedrigen System von Oberschule und Gymnasium rütteln. Auch in Hamburg hat jetzt eine supergroße Koalition das Bildungskriegsbeil für ein Jahrzehnt begraben. CDU, Grüne, Linke und Sozialdemokaten haben sich nach einem irritierenden Hin und Her auf die sechsjährige Primarschule geeinigt, an die sich ebenfalls ein zweigliedriges System aus Gymnasium und Stadtteilschule anschließen soll. Diesem Pakt stehen allerdings 184.000 Unterschriften für ein Volksbegehren gegenüber, das die Primarschule verhindern soll. Im Juli wird es zum Volksentscheid kommen. Waffenstillstand im Rathaus, aber Bürgerkrieg in der Stadt, ist das Schulfrieden?

DRadio Kultur heute zum 100. Philo Café

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dradio.de
31.03.2010 · 17:35 Uhr

Begeisterung, Fehler machen, Denken
Das 100. philosophische Café im Hamburger Literaturhaus
Von Elske Brault
Unter dem Titel "Begeisterung, Fehler machen, Denken" haben sich zum 100. Mal begeisterte Denker zum Philosophischen Café im Hamburger Literaturhaus getroffen. Vor elf Jahren hatte der Hamburger Journalist, Autor und Regisseur Reinhard Kahl das Café als neue Form der Salonkultur ins Leben gerufen. "Die Voraussetzung für ein gutes Gespräch ist, einen Kontext zu schaffen, in dem vielleicht andere Facetten oder neue Facetten an Worten, an Gedanken sichtbar werden. Das Schlimmste ist, wenn Gesprächspartner sich nicht zum Gespräch verleiten lassen, sondern stur von der Festplatte runterladen." Reinhard Kahl, Anfang 60, mit wild abstehendem grauen Haar und weichen Gesichtszügen, hat einst Philosophie studiert, beschäftigt sich jedoch sonst vor allem mit dem Thema Bildung. Er sieht da einen Zusammenhang: "Weil das, was an der Bildung eigentlich doch letztlich das Thema hinter dem Thema immer ist, ist auch die Frage: Wie wollen wir leben? Woher kommt unsere Kultur? Was wollen wir eigentlich? Wo stehen wir jetzt?" Das Besondere im Philosophischen Café: Hier dozieren die Denker nicht von einem Podium hinab, sondern sitzen mitten im Raum, umringt von 150 Besuchern.

PS 3 Individualisierung?

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Was »Chancengleichheit« für die Bildungsreform der 60er und 70er Jahre war, ist in der Nach-Pisa-Zeit mehr und mehr die »Individualisierung« geworden. Sie ist drauf und dran zur Formel für neues Lernen zu werden. Dass jeder Mensch anders lernt, ist ja eigentlich eine Selbstverständlichkeit und dennoch eine lang vernachlässigte und für viele ­ gerade auch Pädagogen ­ neue Erkenntnis. Lernen in der Schule wurde als die passive Seite von Belehrung verstanden, nicht als konstruktive Leistung aktiver Individuen, von denen keines wie ein anderes tickt. Man sah Menschen, sobald sie eingeschult werden, als leere Fässer, die zu füllen sind, und nicht als lauter besonders geschliffene Prismen, in denen sich die Weltstrahlen anders brechen. Wie all die Großworte nährt sich allerdings auch »Individualisierung« von einer Verneinung.

rückblick Körberforum mit Sloterdijk über Üben

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15.02.2010: Körber-Stiftung (Druckversion)

18.02.10 12:23

Körber-Stiftung // KörberForum // Rückblicke // 2010

Rückblicke 2010
Die Wiederentdeckung des Übens 15. Februar 2010 Es sei der österreichische Pianist und Komponist Artur Schnabel gewesen, begann Reinhard Kahl sein Gespräch mit Peter Sloterdijk, der einmal gefordert habe, gegenüber Kindern v.l. Reinhard Kahl, Peter Sloterdijk doch ganz auf das Wort »Üben« zu verzichten. Zu sehr sei mit (Foto: Jann Wilken) diesem Begriff bis in die fünfziger Jahre ein drillhaftes Lernen verbunden gewesen. Inzwischen liege das »Üben« jedoch wieder »in der Luft«, meinte Kahl, diesmal aber als emphatischer Inbegriff dessen, was Menschen und nur Menschen alles können. Sloterdijk gelang es anschließend, in einem kursorischen Rückblick auf die neuere und ältere Geschichte, mit seiner Antwort zunächst die pädagogischen Wurzeln früher Bildungssysteme frei zu legen. Noch immer müsse das psychohistorische Erbe jener größten Bio-Katastrophe, die die mittelalterliche Menschheit mit der Pest erlebt habe, kompensiert werden, so Sloterdijk. Bis zu zwei Fünfteln der europäischen Bevölkerung sei ihr damals zum Opfer gefallen. Die anschließende Frage, wie sich staatliche Identität und Macht überhaupt definiere, sei bald mit der Erkenntnis beantwortet worden, dass Macht der Reichtum an Bevölkerung sei. Der Körper der Frau sei deshalb gewissermaßen zu staatlichem Territorium und Fortpflanzung zur ersten Bürgerpflicht erklärt worden. Der Hintergrund der modernen Pädagogik sei der Versuch gewesen, aus dieser staatlich verordneten Überproduktion von Menschen »nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft« zu machen.

ZEIT online HH Angst vor Individualisierung

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SCHULE
SCHULSTREIT

Angst vor der Individualität in Hamburg
Hamburg hat jetzt die Wahl: Entweder werden im Schulstreit weiter Ressentiments geschürt oder es beginnt eine ehrliche Debatte über die Zukunft des Lernens.
VON Reinhard

Kahl | 11. Februar 2010 - 18:26 Uhr
© Ronald Wittek/dpa

Länger gemeinsam lernen - Kindern tut das gut, sagen die Reformbefürworter in Hamburg

Immerhin: Die Qual endloser Verhandlungen hat in Hamburg nun ein Ende. Sechs zähe Sitzungen lang stritten sich der schwarz-grüne Senat und die Initiative Wir wollen lernen über die Einführung der sechsjährigen Primarschule ­ ohne Ergebnis. Jetzt soll ein Volksentscheid Klarheit bringen. Der Hamburger "Schulkrieg" ist damit noch lange nicht beigelegt. Er könnte sich sogar ausweiten bis nach Nordrhein-Westfalen, wo die SPD und auch Grüne und Linke bei der Landtagswahl am 9. Mai für längeres gemeinsames Lernen antreten. Auch in Hamburg dürfte bis zum Volksentscheid weiter gestritten werden ­ zu viele haben ein Interesse daran, dass sich die Gemüter in dieser Sache nicht beruhigen. Man findet sie kaum auf der Seite des schwarz-grünen Senats, der um des Schulfriedens willen, zu vielen Zugeständnissen breit war. Anders sieht es bei der Führung der Reformgegner aus. Sie hatten bisher erfolgreich Ressentiments gestreut und Ängste verbreitet, und es sieht so aus, als wollten sie dieses Spiel weiterspielen. Auch, weil sie dafür gesellschaftlichen Rückenwind haben. Denn der Angstpegel steigt. Diese Woche wurde eine Forsa-Umfrage veröffentlicht, wonach 61 Prozent der Befragten angaben, sie hätten große Angst, dass Kinder in Deutschland keine gute Ausbildung erhalten. Diese Angst ist größer als die vor steigender Arbeitslosigkeit

PS 2 Der Kuhhandel

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Vermutlich wissen Sie beim Lesen dieser Kolumne mehr über den Ausgang des Hamburger Schulkrieges als der Autor beim Schreiben. Eines allerdings ist sicher: Es wird ein Kuhhandel sein. Und damit wäre man wieder dort angekommen, wo die ganze Sache vor zwei Jahren begann. Die Grünen und die CDU erfanden in den Koalitionsverhandlungen kurzerhand die sechsjährige Primarschule. Mit dem Spruch »Neun macht klug« waren die Grünen in den Wahlkampf gezogen. Ihr Ziel war mit Blick auf ein rot-grünes Bündnis eine »Schule für alle« nach skandinavischem Vorbild. Die CDU hingegen hatte seit 50 Jahren eigentlich nur das eine bildungspolitische Credo: Das heilige Gymnasium ist tabu.

ZEIT online Bildung wirkt langsam OECD Studie

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SCHULE
OECD-STUDIE BILDUNGSRENDITE

Bildung wirkt langsam, aber mächtig
Nur 25 Punkte mehr in den PISA-Studien brächten der nächsten Generation in Deutschland 5000 Milliarden Euro ein. Das errechnet eine heute in Paris vorgestellte OECD-Studie.
VON Reinhard Kahl | 25. Januar 2010 - 15:35 Uhr

Erfolge in der Schule lohnen sich. Die neue OECD-Studie rechnet aus, wie viel Geld man gewinnt, wenn unsere Kinder schon früh gefördert werden

ZEIT online Bildungspolitik als Kuhhandel

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Schulreformen in Hamburg: Bildungspolitik als Kuhhandel | Gesellschaft | ZEIT ONLINE

23.01.10 17:37

SCHULE
SCHULREFORMEN IN HAMBURG

Bildungspolitik als Kuhhandel
Reinhard Kahl 23.1.2010 - 12:53 Uhr
© Philipp Guelland/ ddp

Der Gegner der geplanten Hamburger Schulreform Walter Scheuerl ist Mitinitiator des Volksbegehrens "Wir wollen lernen!". Am Freitag traf er sich mit der schwarz-grünen Hamburger Regierung

Ein Volksentscheid kann in Hamburg nur noch vermieden werden, wenn sich die Landesregierung, der Senat, und die Initiative mit dem Namen "Wir wollen lernen" einigen. Nun haben die Kontrahenten am Freitag eine Entscheidung wieder vertagt. Aber auch wenn sie demnächst aufeinander zugehen, wäre die Bildungspolitik wieder bei dem Kuhhandel angekommen, mit dem Schwarz-Grün vor fast zwei Jahren begann. Die Grünen und die CDU erfanden im Frühjahr 2008 in den Koalitionsverhandlungen kurzerhand die sechsjährige Primarschule. Mit dem Spruch "Neun macht klug" waren die Grünen in den Wahlkampf gezogen. Ihr Ziel war mit Blick auf ein rot-grünes Bündnis eine neunjährige "Schule für alle" nach

http://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2010-01/schulreformstreit-hamburg?page=all&print=true Seite 1 von 4

PS Nieder mit Prokrustes

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In den Mythen der griechischen Antike gibt es einen furchtbaren Gastwirt. Prokrustes. Der hat in seiner Herberge nur einen Typ von Bett. Gäste, die dafür zu klein sind, werden gedehnt. Und wer zu groß ist, der wird gestaucht oder ihm werden die Füße abgeschnitten. Froh kann sein, wem nicht am Kopf gesägt wird. An das Prokrustesbett erinnern mehr und mehr unsere Hochschulen. Die G8-Gymnasien schließen auf. Der jüngste Streik der Studenten und das Grummeln bei den Schülern sind ein Aufschrei. Prokrustesbetten schmerzen. Die Unruhe ist diesmal existentieller als bei früherem Protest. Bildung ist nun mal das Allerindividuellste, was Menschen mit sich anfangen können. Und sie ist zugleich das Allersozialste, denn über das Wissen und mehr noch über die je eigene Art und Weise damit umzugehen, nimmt man an der Welt teil, wird Akteur, schöpferisch und produktiv, kann sich verständigen. Aber für die Weltlust schwindet die Resonanz und in Veranstaltungen von Prokrustes hat das Individuelle, dieses »I did it my way«, kaum eine Chance. So fühlen sich viele Studierende wie Findelkinder auf dem Bahnhof.

NDR Kultur Interview zum Bildungsgipfel

http://www.ndrkultur.de/media/audio23308.html

PS 12 Neue Schule Wolfsburg

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In einem Film über das Volkswagenwerk aus den 50er Jahren sieht man riesige Antriebsräder, mächtige Hebel und dazwischen winzige Menschen. Wie Ameisen bauen sie Teile des VWKäfers mit ihren Punktschweißern zusammen. Die Arbeiter sind die beweglichsten Teile der großen Maschine. Die Stadt Wolfsburg ist in diesem Film ein Zubringer und gewissermaßen die Raststätte des Werks. Dazu gehört auch eine saubere Neubauschule, in der man Kinder in Reih und Glied sitzen sieht, so verwechselbar und stumm wie die Arbeiter im Werk. Wer heute, 50 Jahre später, durch die Fabrik geht, sieht nur noch wenige Menschen am Fließband. Einfache, sich wiederholende Arbeiten wurden weitgehend von Robotern übernommen. Menschliche Arbeit besteht darin, die Megamaschine zu konstruieren, zu bauen und zu warten.

MDR Das Prokrustesbett Wogegen Studenten streiken

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Reinhard Kahl: Wogegen die Studenten streiken | MDR.DE

20.11.09 19:05

MDR FIGARO | Kolumne | 20.11.2009 | 17:10 Uhr

Das Prokrustesbett - wogegen die Studenten streiken
von Reinhard Kahl In den Mythen der griechischen Antike gibt es einen furchtbaren Gastwirt. Prokrustes. Der hat in seiner Herberge. nur einen Typ von Bett. Gäste, die dafür zu klein sind, werden gedehnt. Und wer zu groß ist, dem werden die Füße abgeschnitten und er kann froh sein, dass nicht am Kopf gesägt wurde.

ZEIT online 43 Bildungsstreik

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Bildungsstreik: Wie man Studenten apathisch macht | Studium | ZEIT ONLINE

17.11.09 14:40

HOCHSCHULE
BILDUNGSSTREIK

Reinhard Kahl 17.11.2009 - 13:17 Uhr
© Timur Emek/ ddp

"Besetzt". Dieses Banner hängt hängt an der Humboldt-Universität in Berlin. Wird auch dieser Streik wieder verpuffen?

Das Physikum in der Zahnmedizin hatten in Regensburg drei Studenten zu viel bestanden. Zu gute Leistungen. Nun fehlten Plätze im klinischen Teil des Studiums. Aber die Studierenden sollten sich mal keine Gedanken machen, wurde ihnen gesagt. Als sie dann am ersten Tag des Wintersemesters morgens früh angetreten waren, in den weißen Hosen und Kitteln, die sie von der Uni bekommen hatten, bemerkte der Professor im Nebensatz, dass ja wohl erst noch drei ausgelost werden müssten. Er begann trotzdem schon mal mit seiner Einführung. "Dann kam der Herr vom Dekanat mit einer Schachtel voller Lose", notierte die Studentin Anja Spitzer, "jeder wurden aufgerufen und musste ein Los ziehen". Nachdem die drei, die den Kürzeren gezogen hatten, fest standen, "wurde mit der Vorlesung begonnen".
http://www.zeit.de/gesellschaft/generationen/2009-11/bildungsstreik-zivilisation?page=all&print=true

PS 11 VW Schule 1

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Ferdinand Piëch, in dem angeblich nicht Blut, sondern Benzin zirkuliert, winkt freudig und entspannt den Kindern zu. Die haben gerade so schön gesungen, »Ich bin ich und du bist du und das soll so bleiben, genauso wie wir sind, mögen wir uns leiden«. Wann er zuletzt wohl solche Freude an neuen Prototypen hatte? Versteht der Ingenieur und Milliardär überhaupt, dass diese Kinder nicht mehr wie Generationen vor ihnen in der Schule standardisiert werden sollen? Die von VW gegründete »Neue Schule Wolfsburg«, wurde Ende September mit einem Festakt offiziell eröffnet. Sie soll mit dem Slogan von der »Individualisierung« des Lernens tatsächlich ernst machen.

DIE ZEIT VW schenkt eine Schule

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SCHULE
INTEGRIERTE GESAMTSCHULE

20 Kinder pro Klasse + Einzelunterricht
Der VW-Konzern spendiert Wolfsburg eine integrierte Gesamtschule.
VON

Reinhard Kahl 26.10.2009 - 16:24 Uhr

»Ich bin ich, und du bist du«, singen die Erstklässler, »und das soll so bleiben.« 700 Menschen sind in die Kongresshalle Wolfsburg gekommen. VW schenkt der Stadt zu ihrem 70. Geburtstag die Neue Schule Wolfsburg. »In der Neuen Schule sollen Kinder nicht das Fragen verlernen«, sagt Horst Neumann, im VW-Vorstand für Personal zuständig, »der Forschergeist der Kinder soll erhalten bleiben.« Manch einer reibt sich die Augen. Warum will VW eine reformpädagogische Schule und lässt sich das Millionen kosten? Kurz vor den Herbstferien wurde die Gründung gefeiert. Der Unterricht hat bereits nach den Sommerferien begonnen. Bei der Feier in der ersten Reihe der mächtige Ferdinand Piëch und der vollständige VW-Vorstand nebst Betriebsrat und der CDU-Kultusministerin Elisabeth HeisterNeumann.

Schule träumen Theater Freiburg

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VON EINER RESSOURCEN VERNICHTENDEN ZU EINER POTENTIALE ERMÖGLICHENDEN GESELLSCHAFT.
SCHULE TRÄUMEN
»Es wird Zeit, Bildung neu zu denken. Oder sie überhaupt wieder zu denken. Welcher Ort wäre dafür besser geeignet als das Theater?« schreibt Reinhard Kahl, Journalist, Filmemacher und Begründer des Netzwerkes »Archiv der Zukunft«. Im Rahmen der Baden-Württembergischen Theatertage versammelten sich im Theater Freiburg am 20. und 21. Juni 2009 rund 2.000 Menschen zu den Aktionstagen »Schule träumen im Theater«.

Paderborn Vortrag

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Die Bulimie des Lernens
Neues Forum an der Universität für Lehrer der Klassenstufen 5 bis 10 VON HANS-HERMANN IGGES

01.10.2009

Paderborn. "Kinder sind keine Fässer, die gefüllt, sondern Flammen, die entzündet werden sollen." Das berühmte Wort des französischen Schriftstellers Francois Rabelais aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist auch die Maxime von Reinhard Kahl. Der profilierte Journalist und TV-Autor mit Schwerpunkt Bildung und Schule war gestern Star-Gast des "1. Paderborner Sek-1-Tages". Rund 420 Lehrerinnen und Lehrer der Klassenstufen 5 bis 10 aus ganz Ostwestfalen fanden sich dazu auf Einladung des Zentrums für Bildungsforschung und Lehrerbildung (Plaz) im Auditorium Maximum der Universität ein. Geboten wurden neben dem Vortrag von Kahl drei Dutzend Workshops, allesamt zu aktuellen

PS 10 Schönheit Das Geheimnis der guten Schule

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Nach der Auswertung landesweiter Vergleichsarbeiten in Brandenburg wird Ulrike Kegler, die Leiterin der staatlichen Montessori-Oberschule in Potsdam, zum Schulrat bestellt. Mit weichen Knien macht sie sich auf den Weg. Plötzlich überkommen sie Zweifel an vielem, was sie die vergangenen Jahre begonnen hat. Weniger belehren. Mehr Gelegenheiten zum Lernen schaffen. Mindestens so wichtig wie das zu vermittelnde Wissen sollte eine gute, einladende Atmosphäre nach skandinavischem Vorbild sein. Nun fragt sie sich, ob so eine Schule, die Schülern und Lehrern weniger gegen den Strich geht, vielleicht doch Einbußen bei den Leistungen hinnehmen muss?

ZEIT online Kann denn Schule schön sein?

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Kann denn Schule schön sein?
Deutschland muss mehr in Bildung investieren. Die Schulleiterin Ulrike Kegler hat ein Buch darüber geschrieben, wie erfolgreich eine Schule wird, wenn sie schön ist

Die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bestätigt in ihrer jährlichen Bilanz Bildung auf einen Blick erneut die deutsche Schieflage. Deutschland knausert. Der Anteil aller privaten und staatlichen Ausgaben des Bruttosozialprodukts ist für die Bildung mit 4,8 Prozent gering und wird nur noch von vier Ländern wie der Türkei und der Slowakei unterboten. Schlecht sieht auch die Quote der Studienanfänger und Absolventen der Hochschulen aus. Dabei zeigen die Zahlen abermals, dass sich keine Investition so auszahlt wie Geld für die öffentliche Bildung: Denn eine höhere Bildung verspricht hohe Renditen für den Einzelnen und für die Volkswirtschaft. Die bereits vergangene Woche veröffentlichte OECD-Kinderstudie zeigte, wie sehr unser Land, allen Sonntagsreden über die Bedeutung der Bildung zum Trotz, ihren Einrichtungen misstraut. 40 Prozent aller staatlichen Aufwendungen für Kinder gehen hierzulande an die Eltern. Bei den erfolgreichen und kinderfreundlicheren Ländern Skandinaviens werden nur 20 Prozent auf die Familienkonten geleitet. Das meiste Geld bekommen dort die Kindergärten, Horte und Schulen sowie Freizeitstätten. Die schöne Architektur der Bildungshäuser gehört zu den ersten und bleibenden Eindrücken in diesen Ländern. Die Finnen sagen stolz: Unsere besten Architekten bauen Schulen. Die Atmosphäre ist ihnen ebenso wichtig wie der Lehrplan. Wenn Deutsche eine geschmackvoll ausgestattet dänische Schule betreten, dann gucken sie sich zuweilen irritiert an, als wollten sie sagen, ist das nicht ein bisschen übertrieben? Nein, ist es nicht. Das zeigt in ihrem gerade erschienen Buch* Ulrike Kegler, die Leiterin der staatlichen Montessori-Oberschule in Potsdam. Sie hat ihre Schule nach skandinavischen Vorbildern umgebaut. Nach der Auswertung landesweiter Vergleichsarbeiten in Brandenburg wurde sie zum Schulrat bestellt. Mit weichen Knien machte sie sich auf den Weg. Plötzlich überkamen sie Zweifel an all dem, was sie die vergangenen Jahre begonnen hatte. Denn sie fragte sich, ob so eine Schule, vielleicht doch Einbußen in den Leistungen hinnehmen musste? Einen Moment lang dachte sie also wieder so wie viele Menschen in Deutschland. Entweder Freude oder Leistung. Schule ist doch nicht dazu da, Spaß zu machen. "Ihre Schule ist Spitze", begrüßte sie der Schulrat. ,,Verraten Sie uns bitte Ihr Geheimnis!" Die Antwort: Die Schule muss schön sein, ein Lebensraum. Es kommt

Die kleinen Fehler sind die besten!

Die kleinen Fehler sind die besten!

Der deutsche Bildungsjournalist Reinhard Kahl wird nicht müde, das Hohelied des Fehlers zu singen. Er setzt sich für eine neue Schule ein, die die Unverwechselbarkeit der Menschen ernst nimmt. Und für Lehrkräfte, die ihre Chancen wahrnehmen, statt über bestehende Begrenzungen zu jammern.
Interview: Christine Haiden, Fotos: Andreas Röbl
 
 
Wir haben in Österreich eine ziemlich heftige Schuldebatte hinter uns …
… das haben die teutonischen Völker so an sich, die führen gerne Bildungskrieg. Das ist der letzte Religionskrieg, der noch geblieben ist, und Religionskriege lieben sie seit ein paar Hundert Jahren. 
 
Aus der Perspektive von Fehlern – werden in einem solchen Konflikt Fehler gemacht?
Da gibt es zwei Antworten. Man könnte sagen, man macht zu viele große Fehler und vermeidet die interessanten Fehler. Die kleinen Fehler sind die, aus denen man lernt. Weil man im Schulbereich eine große Angst hat, Fehler zu machen, etwas auszuprobieren, sich selbst auszuprobieren, führt man lieber Krieg. Was ein bisschen komisch ist.

Reinhard Kahl setzt sich für eine Schule ein, die die Individualität junger Menschen ernst nimmt.
Foto: Hinrich Schultze

 
Der Krieg ist die höchste Eskalationsstufe.
Der Krieg ist die Form, in der man den anderen abspricht, dass sie überhaupt interessant sein können, dass aus ihnen etwas hervorgehen kann. Diese Atmosphäre von Verdächtigung ist gerade im Bildungskrieg so stark. Oft weiß man gar nicht, worum es geht. 
 
Ist das ein systemisches Problem, dass Schule solche Verhaltensweisen hervorruft?
So wie die meisten Schulen noch sind, haben sie eine heimliche Religion. Die ist die der richtigen Lösung. Die Rückseite der richtigen Lösung sind die Fehler, die man nicht machen darf. Die Mentalität der Schule ist nicht, dass es viele Möglichkeiten gibt, sondern viele Unmöglichkeiten. Natürlich ist nicht alles möglich und beliebig. Es gibt aber so viele Möglichkeiten, Mensch zu sein. Sehen wir das als einen Vorteil? Oder messen wir ihn oder sie an einem Ideal, dem keiner standhält? Das ist die Erbsünde der Schule. Dass ein Perfektionsideal herrscht, dem keiner richtig standhält. Am Ende gehen die meisten eher geschwächt als gestärkt heraus. Das ist doch verrückt.
 
Bildung soll Menschen zu Kreativität führen, das wird auch keine Lehrerin, kein Lehrer abstreiten.
Wir kommen als Individuum auf die Welt. Dann gibt es Versuche, die Ecken und Kanten abzuschleifen. Das ist ein solcher Irrsinn. Menschen, denen man den Eigensinn ausgetrieben hat, sollte man dann wieder motivieren? Das klappt nicht. Wenn man Kinder beobachtet, wie sie lernen, sieht man, welchen unglaublichen Antrieb sie haben. Ein Kind lernt pro Tag drei, vier Wörter. Sie lernen den aufrechten Gang, alles ohne Lehrer. Stellen Sie sich einmal vor, man würde das Gehen in der Schule im Sitzen lernen! 
 
Aber wir haben auch ständig die Diskussionen um Leistungsnormierungen und um Standardisierung des Wissens. 
Wenn man dafür ist, dass Verschiedenheit gut ist, dann braucht man so etwas wie Standards, an denen man das misst. Wenn man aber die Standardisierung zum Hauptthema macht, ist das, als ob man Häuser nur mit Statikern, aber ohne Architekten baut. Dann kommen hässliche Häuser raus. Diese Standarddiskussion ist unglaublich angstgetrieben und hat vielleicht auch damit zu tun, dass wir ein schwach ausgebildetes Urteilsvermögen haben. Ein Beispiel: Der Lernforscher Manfred Spitzer macht bei seinen Vorträgen mit Lehrern gerne ein Spiel mit dem Publikum. Er unterbricht, gibt jedem ein DIN-A4-Blatt und sagt, jeder solle nur die wichtigsten Formeln der Mathematik aus der Oberstufe aufschreiben. Das sagt er so, dass keiner lacht. Dann beginnt er zu lachen, weil jeder weiß, dass dafür eine Streichholzschachtel reichen würde. Am nächsten Tag machen die Lehrer trotzdem wieder Unterricht, als würde man all dieses Zeug behalten, als würden noch immer beim Lernen Fässer gefüllt und nicht Elemente verflochten. So entsteht bestenfalls ein Bluffsystem, in dem man für die Prüfung lernt und anschließend nie wieder etwas damit zu tun haben will. 
 
Was heißt das für Standardisierungen?
Das Überprüfen von Standards ist dann gut, wenn man es in großem, auch zeitlichem Abstand zur Schule macht. Das war auch der Sinn von PISA, zu fragen, welche Kompetenzen sie haben, und nicht, welches Wissen. Es geht darum, wie Menschen Handelnde werden und weiterlernen können. 
 
Heftige Debatten gibt es zur Ganztagesschule. Wie können Kinder umfassend lernen, wenn man sie den ganzen Tag in der Schule belässt und nur künstliche Lernumgebungen schafft?
Das funktioniert nicht. Ich denke an eine Schule in Potsdam bei Berlin. Die haben ein völlig verwahrlostes Grundstück der früheren Stasi übernommen und gehen mit den Schülern der 9. und 10. Klasse da wochenlang raus, um zu bauen, daraus einen Bauernhof zu machen. Die Schüler, auch die schulmüden, kommen voller Begeisterung hin. Sie haben unglaubliche Lust, Werkzeuge zu benutzen, wirksam zu sein. Eine gute Schule findet nicht nur im Schulraum statt. Wenn eine Ganztagesschule nur zu einer beschäftigungstherapeutischen Anstalt wird, ist das furchtbar.
 
Viele Lehrer klagen, dass sie unter massivem Druck stehen, dass sie sozusagen in ihrer Arbeitssituation nicht verstanden werden.
Lehrer klagen gerne.
 
Stimmt das, werden sie nicht verstanden?
Ja, aber das sind so Zirkel. Leute, die sich selbst immer als Erstes als Opfer verstehen, sind solche, die selbst kein Opfer bringen wollen. Warum ändern sie denn nichts? Beispiele von guten Schulen sind solche, wo die Lehrer auch eine Schule machen, die sie selbst gut finden, wo sie sich wohlfühlen. Wer entscheidet, ich will mich da eigentlich gar nicht wohlfühlen, aber ich will um ein Uhr raus sein, bei dem stimmt doch etwas nicht. In einer kantonalen Schule in Bürglen in der Schweiz haben Lehrer aus drei Räumen die Wände rausgenommen. Sie haben nun eine Klasse von 60 Schülern und haben drei bis fünf Lehrer drinnen, die arbeiten zusammen. Der Klassenraum wird zu einer Art Lernbüro. Das Erste in der 7. Klasse ist – in der Schweiz gibt es eine sechsklassige Primarschule –, dass die Kinder nach der Sommerpause ihre Arbeitsplätze bauen. Die Lehrer haben auch ihre Arbeitsplätze mit einer kleinen Ampel, mit Grün, Gelb und Rot. Wenn sie ungestört arbeiten wollen, stellen sie die auf Rot, wenn sie bereit sind, etwas zu klären, machen sie Grün und wenn sie gelb ist, muss sich ein Schüler überlegen, ob es wichtig ist. Da kommt etwas von einem Zusammenleben mit Respekt auf, von Interesse. Da gibt es fast keine Disziplinprobleme, die diese Schule vorher hatte.
 
Was halten Sie von der Idee, Lehrer und Lehrerinnen sollten nicht nur eine Schulkarriere haben, sondern einmal irgendwo in einem nicht schulischen Bereich tätig sein und andere Erfahrungen sammeln?
Das finde ich auch. Aber man sollte die Schule auch öffnen für Lehrer, die vielleicht auf einem zweiten Bildungsweg hinkommen. Man sollte aber vor allem versuchen, dass man eine neue Gruppe von Lehrern kreiert, sogenannte Dritte. Handwerker, Künstler, Wissenschaftler, die das bleiben und einen Tag oder eine gewisse Zeit in die Schule gehen. Das hätte den Vorteil, dass Lehrer, wenn sie solche Dritte wie Menschensammler suchen, selbst aufgewertet werden. Dann haben sie nicht nur immer mit Kindern zu tun, sondern auch mit Erwachsenen. Dann werden sie mehr zu Managern dieser Lerninszenierung. Ich glaube, das wäre wichtiger, als dass jemand vor seinem Studium ein Praktikum gemacht hat. Entscheidend ist, dass Kinder in der Schule andere Erwachsene als nur Lehrer kennenlernen. Damit ist nichts gegen Lehrer gesagt, sondern dagegen, dass man nicht alles sein kann. Die meisten Schüler sind gar nicht richtig geistesanwesend in der Schule. 
Es wird immer geredet über Klassengröße und Unterrichtsausfall oder diese etwas absurde Diskussion über die schulautonomen Tage. Aber es reden nur wenige darüber, dass 70, 80 Prozent der Zeit nur der Körper rumsitzt und die Fantasie spazieren geht. Wenn man das schafft, dass die Leute, wenn sie da sind, auch da sind, hat man viel erreicht.
 
Ein interessantes Phänomen ist, dass viele sich vor allem an interessante Lehrer erinnern, die ein Fach mit Leidenschaft, wenn auch mit pädagogischen Fehlern unterrichtet haben. 
Menschen mit Eigensinn, die etwas aus ihren Fehlern gemacht haben.
 
Nimmt man zu wenig ernst, dass Lehrer auch Typen sein sollen?
Sollen sie doch auch nicht sein. Sie sollen doch irgendwie Lehrplanfunktionäre sein. Das andere ist doch gefährlich oder wird auch nicht geliebt. Man müsste es erst mal mögen, dass Menschen unterschiedlich sind. Wir haben so viele Verdächtigungs- und Verachtungsdiskussionen. 
 
Lehrer sagen, ihnen würde kein Fehler gestattet, Fehler würden immer härter geahndet.
Das stimmt doch gar nicht. 
 
So wird das empfunden.
Ja, aber das ist diese Jammergeschichte. Da muss man nach den österreichischen Lehrern fragen, die deswegen vorbestraft sind oder im Gefängnis sitzen. 
 
Kann man das System wirklich aus der Verantwortung entlassen?
Wer ist das System?
 
Das System, das sich aus Normen und Verwaltungen zusammensetzt, aus stark hierarchisierten Verläufen von Anweisungen und Rückmeldungen.
Und wer verlangt, dass man dieses Spiel mitmacht?
 
Die Lehrer in dem System meinen, das System sei stärker als sie und sie hätten zu wenige Handlungsmöglichkeiten.
Ich glaube, das stimmt einfach nicht. Das System ist doch das Spiel, auf das wir uns geeinigt haben und das wir mitspielen. Natürlich, ein möglicher Beobachterblick ist es, auf das System zu gucken, aber ein anderer Blick ist es, darauf als Akteur zu blicken. 
Diese Vorliebe für den Blick, der die Welt rezensiert als ein Theaterstück, in dem man nicht mitspielt, ist etwas schwach. 
 
Lieber kritisieren als handeln?
Ja. Man ist froh über alle Anzeichen, die man in diesen Verhinderungsdiskursen kapitalisieren kann. Wenn die Ministerin irgendeinen Käse baut, kann man sagen: Seht ihr, das geht nicht! Das sind alles so Zaungastperspektiven. Warum einigen sich viele Pädagogen darüber, lieber ein Zaungast zu sein als ein Zaunkönig? Warum haben sie häufig so wenig Lust am Leben?
 
Haben Sie eine Vermutung, woran das liegt?
Ich würde dazu neigen, dass es diesen Trägheitssog und Schweresog für Menschen gibt und dass die Frage ist, wie man die Gegenkräfte, die nach oben ziehen, an sich selbst und für andere ausbildet. Die Schule ist eine, in der diese Schwere gegenüber den hochziehenden Kräften dominiert.
 
In das Schulsystem gehen eher Menschen, die das anzieht?
Ja, aber es gehen auch Menschen hinein, die noch anderes wollen. Wenn ich an diejenigen denke, die die Lernaufwiegler sind, die etwas Interessantes gemacht haben, dann haben die das nicht so sehr aus irgendeiner Grundsatzüberlegung gemacht, sondern die haben gesagt: So will ich nicht leben. Ich will nicht in diesen muffigen Räumen sein, das Papier, das rumliegt, stört mich, deswegen hebe ich es auf und nicht, weil ich ein Vorbild sein will. 
Die also in der Lage sind, »ich« und »wir« zu sagen, und nicht immer »man« und »das System« sagen. Die sich fragen: Will ich das so? Und: Was habe ich zu verlieren, wenn ich dieses Spiel nicht weiter mitmache? 
 
Haben Sie aus Ihrer Erfahrung – Sie haben sehr viele Schulen besucht – eine Empfehlung zur Maximalgröße einer Schulklasse?
Die Erfahrung zeigt, man kann auch mit einer großen Schule so umgehen, dass man sie in viele kleine Schulen aufspaltet. 
Eine der interessantesten Schulen in Deutschland, eine Grundschule in Münster, ist gar nicht groß, 250 oder 300 Schüler. Die ist aufgeteilt in kleinste, altersgemischte Lernhäuser, Dörfer. Das Maß, mit wie vielen man verkehren kann, ist das Maß der Gruppen. Ein solches Lernhaus ist etwas anderes als ein Klassenraum, der altershomogen ist. Das ist eine Organisation von im Gleichschritt laufenden Lernrekruten.
 
Eine Untersuchung in Deutschland hat gezeigt, dass die Klassengröße an sich, auch wenn sie bei 25 Schülern ist, nichts ändert, wenn die Pädagogik sich nicht ändert.
Das ist einleuchtend. Wenn vor allem der Lehrer spricht, ist es egal, ob da 17 oder 700 sitzen. Diese Klassengröße ist eine Ausredendiskussion. 
 
Was ist für Sie die interessanteste Schule, die Sie derzeit kennen?
Ach, das ist wie die Frage nach dem interessantesten Menschen.
 
Eine Schule, wo sich eine Weiterentwicklung zeigt.
Interessant finde ich diese Potsdamer Montessorischule, dieses Rausgehen mit den Kindern in der Pubertät. Wo die Schüler das planen, wo sie das Grundstück vermessen, zuerst mit Schritten, dann mit ihrem Band, und dann merken, wie nah sie schon mit den Schritten dran waren, wo auch eine andere Körperlichkeit hineinkommt. In den Schulräumen stört der Körper und deswegen ist der dann auch gestört. Vom Leib gar nicht zu reden. Das ist doch Fernunterricht mit Anwesenheitszwang.
 
Was würden Sie als Erstes tun, wenn Sie Bildungsminister würden?
Zurücktreten. (Er lacht.) Ich glaube, die Musik spielt an anderen Stellen. Ein Schulleiter, eine Schulleiterin, ein Lehrer, eine Lehrerin, die gut sind, können mehr Einfluss haben als ein Minister. Ein Bildungsminister könnte sich zum Beispiel selbst auferlegen, dass er die Hälfte seiner Zeit an Schulen verbringt, mit den Leuten spricht, sich das ansieht und in die Gesellschaft zurückträgt. Ein Bildungsminister sollte die Illusion aufgeben, er würde an einem besonders langen Hebel sitzen. Wenn er etwas verändern will, soll er das Ministerium ändern. Wenn ein Ministerium aufhört, eine Superbürokratie zu sein, und eine lernende Organisation würde, wäre es fast nicht zu vermeiden, dass sich das positiv auf die Schulen auswirkt. \\

PS 9 Auf das Wie kommt es an

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Viele Kinder kommen in Deutschland zu spät in die Schule, sagt die Bundesbildungsministerin. »Am Ende der ersten Klasse haben sie dann keine Lust mehr, weil sie unterfordert sind.« Ihre Konsequenz: »Keinen starren Stichtag.« Die Zukunft liege in einer stärkeren Verbindung von Kindergarten und Grundschule. Mit dem Lernen solle früher begonnen werden, »etwa mit vier, statt erst mit sechs Jahren«. Das Interview mit Annette Schavan löste einen Sturm der Entrüstung aus. »Die Kinder haben ein Recht auf ihre Kindheit«, erklärte der GEW-Vorsitzende Ulrich Thöne wie ein Volkstribun und traf damit die Stimmung im Land. Aber beginnt mit der Einschulung tatsächlich das Ende der Kindheit? Das ist offenbar die Überzeugung der meisten Deutschen. Man bekommt sie auf jedem Spielplatz zu hören. Sagt eine Mutter, wir schicken Laura schon mit fünf in die Schule, antwortet der Chor der Mütter und Väter: Ach, lass ihr doch noch ein Jahr Kindheit, der Ernst des Lebens kommt früh genug.

DIE WELT Kinder sind geniale Neuanfänger

Kinder sind genialeNeuanfänger

 

von ReinhardKahl, Journalist und Filmemacher

25.08.2009 - 14.20 Uhr

Kinder sind genialeUnterbrecher und Neuanfänger. Und genau dies fehlt der Gesellschaft insgesamt.Wo ist die Unruhe im Uhrwerk? Unterbrechen und Neuanfangen ist ebenso wichtigwie das Weitermachen.

Albert Einsteins Antwort aufdie Frage, wie er sich seine Erfolge erkläre, war ganz einfach. „Weil ich immerdas ewige Kind geblieben bin.“ Es versteht sich, dass dieses ewige Kind nichtsmit Infantilität oder irgendeinem Mangel an Erwachsensein zu tun hat.Vielleicht sollten wir uns Erziehung und den Prozess des Erwachsenwerdens vielmehr auch als Schutz dieses Kerns, des ewigen Kindes vorstellen. EineSelbstverständlichkeit? Ja, aber eine, die in der Industriegesellschaft anSelbstverständlichkeit verloren hat.

Ging es nicht in den vergangen150 Jahren vor allem darum, keine Fehler zu machen, möglichst immer schonfertig zu sein, selbst beim Lernen? Von diesen Obsessionen der fertigen Weltmüssen wir uns heute im Übergang zu einer nachindustriellen Gesellschaft lösen.Erfindungsreichtum, Staunen und Neugier rücken an die Spitze derErziehungsziele und der Gesellschaftstugenden. Dabei müssen diese Eigenschaftendes ewigen Kindes nicht erst erzogen werden. Sie sind ja da! Allen voran dieLernlust und die Neugier. Wir brauchen eine Kultur, die auf die Abtreibungdieses ewigen Kindes, des Lerngenies, verzichtet – nicht nur der Kinder wegen.

Immer mehr Menschen kennenkeine Kinder mehr

Immer mehr Menschen erschreckendarüber, dass sie gar keine Kinder mehr kennen. Viele Menschen wollen liebervon der ungestümen Energie und dem unersättlichen Fragen der nervenden Kleinenverschont bleiben. Vor allem diese aber bräuchten Kinder, von denen sie insLeben hineingezogen werden. Kinder sind geniale Unterbrecher und Neuanfänger.Und genau dies fehlt der Gesellschaft insgesamt. Wo ist die Unruhe im Uhrwerk?Unterbrechen und Neuanfangen ist ebenso wichtig wie das Weitermachen, dessenGefährdung heute alle Welt beunruhigt. Neuanfänge und Kontinuität kann man sowenig gegeneinander ausspielen wie den Plus- gegen den Minuspol oder wie dieVergangenheit gegen die Zukunft.

Kinder sind Zukunft in einemdoppelten Sinne. Sie sind nicht nur eine Zukunft, die brav in die Fußstapfender Vergangenheit tritt, eine, über die man genaue Aussagen machen kann. Kindersind eine Zukunft, die wir nicht kennen und die wir überwiegend niemals kennenlernen können, weil ja die meisten Möglichkeiten, die die Zukunft bereithält,nie verwirklicht werden. Der Sinn für eine offene, unendliche Zukunft, fürKontingenz und Unverfügbarkeit ist in Deutschland schwach. So schwach wie einfreundlicher, neugieriger, ja liebevoller Blick auf Kinder.

Der Hamburger Autor wurde unter anderem mit dem Grimme Preis unddem Civis Preis ausgezeichnet. Zuletzt produzierte er die Kinodokumentation„Kinder! – Über das Lerngenie“.

ZEIT online Die deutsche Angst vor der Schule

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Die deutsche Angst vor der Schule
Einschulung bereits mit vier, schlägt Bundesbildungsministerin Anette Schavan vor und stößt damit auf nahezu einhellige Ablehnung. Dabei würde sich die Debatte lohnen VON REINHARD KAHL

"Die Kinder haben ein Recht auf ihre Kindheit," erklärt der Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Ulrich Thöne wie ein Volkstribun und lehnt einen früheren und flexibleren Schulanfang kategorisch ab. Beginnt mit der Einschulung tatsächlich das Ende der Kindheit? Genau das ist offenbar immer noch die Überzeugung der meisten Deutschen. Man kann sie auf jedem Spielplatz hören. Sagt eine Mutter, wir schicken Laura nun doch schon mit fünf in die Schule, antwortet der Chor der Mütter und Väter: Ach, lass ihr doch noch ein Jahr Kindheit, der Ernst des Lebens kommt früh genug. Der Ernst des Lebens? Das ist eine Schule, in der das Lernen bald zur Prüfung wird. Der gefürchtete Ernstfall ist für die anspruchsvollen Eltern, keine Gymnasialempfehlung für ihr Kind zu bekommen. Mit zehn Jahren möglicherweise als zweit- oder drittklassig abgestempelt zu werden wird bald auch zur Angst vieler Kinder Es ist, als müssten sie von Anfang an schon fertig sein und sich bewähren, statt sich entwickeln zu dürfen. Studien verzeichnen bereits in der zweiten Klasse einen Einbruch der Lernlust, wo doch fast jedes Kind voller Vorfreude und Neugierde in die Schule gekommen ist. Und dieser Krampf soll nun schon mit vier beginnen? Selten wurde in Internetforen ein Politiker so beschimpft wie in diesen Tagen Annette Schavan, die Bundesministerin für Bildung und Forschung. Es begann am Freitag letzter Woche mit einer Online-Notiz des Hamburger Abendblatts zu einem Interview, das am Sonnabend im Blatt stand . Darin sagte die Ministerin, viele Kinder kämen in Deutschland zu spät in die Schule. "Am Ende der ersten Klasse haben sie dann keine Lust mehr, weil sie unterfordert sind." Schavans Konsequenz: "Keinen starren Stichtag." Die Zukunft liege in einer stärkeren Verbindung von Kindergarten und Grundschule. Dabei verwies sie auf Bildungshäuser in Baden-Württemberg . Mit dem Lernen solle jedenfalls früher begonnen werden, "etwa im Alter von vier statt erst mit sechs Jahren". Nun lernen Kinder immer, das lässt sich nicht vermeiden. Aber wie lernen sie und wie entwickeln sie sich am besten? Und wie könnte Lernen in Bildungshäusern, Vorschulklassen oder in schulischen Lernateliers für die Jüngsten aussehen? An der Laborschule in Bielefeld, die seit mehr als 30 Jahren mit den Fünfjährigen anfängt und beste Erfahrungen macht, lässt sich einiges entdecken, besser noch in den Niederlanden oder in Neuseeland, wo Kinder ab vier in Schulen kommen.

Vorwort Buch Ulrike Kegler

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""Ob ihrs glaubt oder nicht", schrieb der Dichter Joseph Brodsky, ,,die Evolution hat ein Ziel, Schönheit."

Kindern beim Lernen zusehen

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SACHBUCH KINDER
P.S.-Buchbeilage vom 02.07.09 / Seite 11

kindern beim lernen zusehen
Wer auch nach der Lektüre von Largo und Beglinger noch am kindzentrierten Ansatz zweifelt und sich eine eigenmotivierte Lernfreude, ja Lernbegeisterung in Kindergärten und Schulen nicht vorstellen kann, sollte sich die passende DVD von Reinhard Kahl ansehen. Sie bestätigt durchwegs Largos Thesen. SUSI OSER
Alles scheint verkehrt: Kinder arbeiten und die Erwachsenen beobachten fasziniert, was sich da tut. Wer hier mehr lernt, ist nicht auszumachen. Die Begeisterung ist beiden Seiten anzusehen. Diese Blicke, diese Augen! Sie sind berührend, Spiegel einer offenbar naturgegebenen Faszination. Was sehen sie? Musiker und Musikerinnen der Staatsoper in Berlin. Eine Schnecke. Den vergitterten Eingang eines Kriegsbunkers. Lehm und Matsch. Eine flackernde Glühbirne. Schauen, versuchen, überlegen. Physik, Tiere, Musik, Elektrizität, Erde, Wasser. «Schöpfen und Giessen wird über Tage ausprobiert, mit Sieb, ohne Sieb, mit Sand im Sieb, Blättern im Sieb, Tieren im Sieb.» Gerd E. Schäfer, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Köln und Projektleiter der «Lernwerkstatt Natur», ist sichtlich beeindruckt: «Die wichtigste Erkenntnis, die wir zusehends durch diese Werkstatt gewinnen, ist, dass der Alltag wichtiger ist als alle speziellen Programme.

PS Kuchen backen

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Neulich eine Fernsehdiskussion. »Porsche oder Forsche«. Nicht schlecht. Ich war zusammen mit Max-Planck Präsident Peter Gruß ins Studio geladen. Er sollte für die Forschung plädieren, ich für die Bildung. Die Sendung war gut gemeint. Sie lief ein paar Tage, bevor die Ministerpräsidenten und die Kanzlerin zur Entscheidung über den »Hochschulpakt II« zusammenkamen. Dabei ging es immerhin um zusätzliche 18 Milliarden Euro in den nächsten zehn Jahren. Geld unter anderem für 275.000 neue Studienplätze. Die Sendung wollte für die Bildung werben und sie wollte vor allem alarmieren. Was droht, wenn weiter dicke Prämien in die Autos gehen und die Bildung abgewrackt wird?

ndr kultur Trainingscampus oder Zukunftswerkstatt?

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NDR kultur

Gedanken zur Zeit 28. Juni 2009

Trainingscamp oder Zukunftswerkstatt
- Was wollen wir von der Schulbildung? Von Reinhard Kahl

Die Presse Wien: Was lernt die Schule

http://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/490596/index.do?from=gl.home_spectrum

Im folgen Artikel aus der österreichischen Tageszeitung "Die Presse" wird im zweiten Teil auch vom Archiv der Zukunft berichtet


Was lernt die Schule?

26.06.2009 | 18:35 | Von Christian Kühn und Christiane Spiel (Die Presse)

Alle reden von der Schulreform. Neue Schulsysteme freilich brauchen auch neue Räume, um sich entfalten zu können. Anmerkungen zum Wechselspiel von Pädagogik und Architektur.

Unter Lernen versteht man im allgemeinen Sprachgebrauch den Erwerb von körperlichen, geistigen oder sozialen Fähigkeiten. Wir lernen gehen und sprechen, wir lernen aus der Geschichte, wir lernen Menschen kennen. Auch Tiere lernen, von Natur aus oder wenn wir sie dressieren. Aber können Institutionen lernen? Oder gar Häuser?

Wer sich mit der Entwicklung der Institution Schule und ihrer Architektur befasst, kommt um diese Frage nicht herum. Wenn es eine Institution gibt, die von Natur aus selbst lernen sollte, ist es die Schule. Tatsächlich zeigt schon ein oberflächlicher Blick auf die Geschichte der Pädagogik, dass die Schule seit mehr als 200 Jahren, also spätestens seit Pestalozzis Zeiten, zu lernen, also sich zu reformieren versucht. Das ist insofern bemerkenswert, als die allgemeine Schulpflicht kaum älter ist. Man könnte sagen: Seit die Schule Pflicht ist, ist sie mit ihrer Reform beschäftigt.

Das letzte große Reformwerk des Schulwesens liegt in Österreich schon mehr als vier Jahrzehnte zurück. 1962 trat ein Schulorganisationsgesetz in Kraft, das eine Verlängerung der Schulpflicht mit sich brachte und eine Hauptschule mit einem eigenen „Zug“ für begabtere Schüler und Schülerinnen einführte, dessen Lehrstoff mit jenem der AHS-Unterstufe ident ist, um einen Wechsel von der Hauptschule in die Oberstufe der AHS zu ermöglichen. Während sich andere Länder für eine gemeinsame Schule aller Kinder bis zum 14. Lebensjahr entschieden, wählte Österreich einen Kompromiss, dessen Folgen sich in den Ergebnissen der PISA-Studie spiegeln. Dass es in Österreich auch exzellente Schulen gibt, steht außer Frage, in Summe holt unser Schulsystem aber durch zu frühe Selektion viel zu wenig aus der vorhandenen Begabung einer viel zu großen Anzahl seiner Schützlinge heraus.

Dass die Reform des Jahres 1962 soziale Differenzierung durchaus gezielt aufrecht erhalten wollte, zeigt sich auch im Schulbau. Die Verlängerung der Schulpflicht und eine ebenfalls im Gesetz verordnete Reduktion der Schülerhöchstzahl pro Klasse mündeten zwangsläufig in ein Schulbauprogramm, das den gestiegenen Bedarf bedienen sollte. Auf die Frage, ob es denn nicht möglich wäre, zumindest bei Neubauten Hauptschule und Gymnasium unter einem Dach zu verbinden, antwortete der damalige Unterrichtsminister, Heinrich Drimmel, in einem Interview in der Zeitschrift „Der Aufbau“ 1963, er sehe dafür keinen Grund: „Wo beide Schularten nebeneinander bestehen, ist eine gewisse Unterschiedlichkeit schon durch die Verschiedenheit der Schüler unvermeidlich und auch pädagogisch wünschenswert.“

Wenig später begann die sogenannte Bildungsexplosion die tradierten Grenzen im Schulwesen zu sprengen. Dass in Österreich der Bevölkerungsanteil von Personen mit einem Schulabschluss der Sekundarstufe zwei – also Matura-, Lehr- oder vergleichbarem Abschluss – auf 80 Prozent steigen würde, war damals zwar ebenso wenig abzusehen wie die Steigerung des Maturantenanteils von 10 Prozent auf 39 Prozent seit 1960 oder die Verdoppelung der Zahl von Menschen im Lehrberuf auf 120.000 im selben Zeitraum.

Aber eines war klar: Es würde mehr Schulen geben müssen, und diese Schulen würden Menschen für eine neue Phase der industriellen Revolution ausbilden, die schon damals gerne mit dem Begriff der „Wissensgesellschaft“ beschrieben wurde, also einerGesellschaftsform, inder individuelles undkollektives Wissen zurGrundlage des ökonomischen und sozialenZusammenlebens geworden ist. Gefragt sind Formen lebendigen Wissens – wie Erfahrungswissen, Urteilsvermögen und Selbstorganisation. Die Jahre um 1970 waren zumindest aufdem Papier die experimentierfreudigsten in der Geschichte des Schulbaus. Architekten verarbeiteten das Repertoire der reformpädagogischen Bewegungen des vergangenen Jahrhunderts in neue Raumkonzepte, die mit Vehemenz propagiert wurden: Autonomie der einzelnen Schulstandorte, Team-Teaching und Epochenunterricht, flexible und variable Räume statt dem „Einheitsklassenzimmer“, um vom Vortrag über Gruppenarbeit und Diskussion bis zum Theaterspiel unterschiedliche Aktivitäten und „forschendes Lernen“ zu ermöglichen. Damit verbunden war die Abkehr von der 50-Minuten-Unterrichtseinheit und von der Schulglocke, letztlich auch von der Jahrgangsklasse, zumindest in der Oberstufe. Die Architekten waren sich naturgemäß einig, dass die äußere und innere Reform der Schule aufs schwerste gefährdet oder gar verhindert würde, wenn sie nicht auf grundsätzlich neue Bauformen im Schulbau trifft.

In „Bauen und Wohnen“, einer der damals renommiertesten Architekturzeitschriften, schreibt Gerold Becker 1967 über den „Schulbau für die neue Schule“, es sei zu vermuten, dass „ Erziehung und Verhinderung von Erziehung in einem bisher kaum geahnten Maß durch Räume und ihre Ausstattung bewirkt werden“. Das Schulgebäude müsse einerseits „Möglichkeiten zu ungestörter Beratung“ bieten, andererseits aber auch „ein Plenum, das zur öffentlichen Debatte zwingt“. Gerade den scheinbar nur der Erschließung dienenden Zwischenbereichen käme eine große Bedeutung zu: „Müssen Gänge, Flure, Pausenhallen eigentlich so steril sein, dass man darin nichts anderes tun kann als sich zu langweilen oder Krach zu machen (oder beides)?“ Und schließlich stellt Becker die rhetorische Frage, ob denn alles „perfekt vorgeordnet, getüftelt, geregelt“ sein müsse, oder ob Schulen nicht vielmehr „so gebaut sein sollten, dass man in ihnen das Improvisieren und Erfinden lernen muss“.

Aus heutiger Sicht klingen die meisten der Alternativen zum traditionellen Schulbetrieb, die hier ins Spiel gebracht werden, seltsam vertraut. Sind das nicht genau die Wünsche, die noch heute – nach mehr als 40 Jahren – von reformorientierten Pädagogen, von Architekten und Bildungsforschern ausgesprochen werden, wenn sie von der „Schule der Zukunft“ sprechen?

Tatsächlich blieb die Realität des Schulbaus in den 1970er-Jahren weit hinter den großen Plänen zurück. Die Zahl der Schulen, die nach den genannten Prinzipien errichtet wurden, war zumindest in Deutschland und Österreich verschwindend klein. Bekannt wurden die auf Initiative desPädagogen Hartmut von Hentig gegründete Laborschule Bielefeld mit ihren gegliederten Großräumen, und die Multischule in Weinheim.Erstere existiert noch in ihrer offenen Form, während die Multischule zu einem normalen Schulbau rückgeführt wurde.

Österreich verdankte den Jahren um 1970 ein Forschungsprogramm zur Vorfertigung im Schulbau, das einige Architekten dazu benutzen konnten, neue Raumkonzepte zu erproben. Die Schulen in Wörgl und Imst mit ihren zentralen, mehrgeschoßigen Hallen gehören dazu – und die radikal aufs Minimum reduzierte Industriehalle des Gymnasiums in Völkermarkt von Ottokar Uhl, dessen offene Zonierung aber bald einer konventionellen Raumteilung weichen musste. Die beiden Tiroler Hallenschulen beeindrucken zwar nach wie vor räumlich und stehen teilweise unter Denkmalschutz, eine andere Pädagogik und Bildung hätten sie aber nur nach dem im Prinzip möglichen Wegfall von Wänden unterstützt, der aber nie passierte.

Eine große Zahl von sogenannten „Open-Plan“-Schulen mit fließenden Großräumen entstand bis Mitte der 1970er Jahre in den USA. Auch dort wurden in den zuerst errichteten Schulen schon wieder zusätzliche Zwischenwände eingezogen, als die letzten im Bau waren. Die tiefen, oft künstlich belichteten und belüfteten Räume boten eine wenig animierende Atmosphäre, und nur wenige Lehrerinnen und Lehrer hatten die nötige Ausbildung, in diesen anderen Räumen auch einen anderen Unterricht zu bieten. Sie scheiterten beim Versuch, wie bisher zu unterrichten, schon an der Akustik. Die überwiegende Mehrheit der Schulbauten der Jahre zwischen 1965 und 1975 war überhaupt konventionell im Typ und so billig in der Ausführung, dass ihr heute oft schon die zweite Generalsanierung bevorsteht.

Die Bereitwilligkeit, mit der die meisten Architekten ab 1980 ihre reformerischen Absichten ad acta legten und wieder zum Typus der Gangschule zurückkehrten, wurde nur noch von der Resignation einer Beamtenschaft übertroffen, die genug hatte von glücklosen Reformen, undichten Flachdächern und schlecht gedämmten Betonfertigteilen. Der historische Kompromiss der österreichischen Schulentwicklung, die Reformer mit „Schulversuchen“ ruhigzustellen, um den Kampf um die nötigen Mehrheiten im Nationalrat für eine neue grundlegende Reform zu vermeiden, fand seine frustrierende Grenze beim Schulraum: Da ein „Schulversuch“ von Gesetz wegen keine besonderen räumlichen Voraussetzungen erfordern darf, hatten die Erfahrungen und Wünsche auch langjähriger Betreiber solcher Versuche so gut wie keinen Einfluss bei Neu- oder Umbauten.

Veteranen der Schulreform, also jene ehemaligen Lehrerinnen und Lehrer Mitte 60, die schon in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren von einer radikalen Erneuerung des Schulwesens geträumt hatten, zitieren gern ein altes indianisches Sprichwort, wenn sie nach ihrer Einschätzung der Reformierbarkeit des Systems gefragt werden: Wenn du bemerkst, auf einem toten Pferd zu reiten, solltest du besser absteigen und gehen. Alle Versuche, die Dinge durch neue Sättel, den Einsatz stärkerer Peitschen, durchs Zusammenspannen mehrerer toter Pferde zu einem Gespann oder durch die Einsetzung von Kommissionen, die herausfinden sollen, wie anderswo tote Pferde geritten werden, in Bewegung zu bringen, seien schlicht hoffnungslos.

Zum Glück haben Länder, die nicht an einem Reformtrauma leiden, längst bewiesen, dass die Institution Schule dazulernen kann. Es sind nicht zufällig dieselben Länder, die in den PISA-Studien am besten abgeschnitten haben. Sie fördern die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen, die von der OECD und der EU proklamiert werden, um die Veränderungsprozesse in einer globalisierten Gesellschaft erfolgreich bewältigen zu können. In einer Studie aus dem Jahr 2003 nennt die OECD folgende Schlüsselqualifikationen als die wichtigsten für den Arbeitsmarkt der Zukunft: Werkzeuge interaktiv benutzen (use tools interactively), selbstständig handeln (act autonomously) und in heterogenen Gruppen zusammenarbeiten (interact in heterogenous groups).

Die Europäische Kommission hat schon im Jahr 2000 die Förderung von lebenslangem Lernen (LLL) als zentrale europaweite Strategie proklamiert. Aus der Perspektive der Bildungspsychologie hängt erfolgreiches lebenslanges Lernen von mehreren zentralen Determinanten ab: einerseits von der anhaltenden Motivation und Wertschätzung für Bildung, Lernen und damit Weiterentwicklung, andererseits von der Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen. Dazu kommen kognitive Kompetenzen wie etwa kritisches und kreatives Denken und soziale Kompetenzen wie Teamfähigkeit und interkulturelle Kompetenz.

Die Forderungen und Konzepte von OECD und EU sind zwar nicht ausschließlich, aber doch primär auf das Funktionieren des Wirtschaftslebens ausgerichtet und damit zu einseitig hinsichtlich der Anforderungen an eine zeitgemäße Schule. Bildung ist jedenfalls mehr als Wissensvermittlung. Unter Bildung als Produkt werden überdauernde Ausprägungen der Persönlichkeit eines Menschen verstanden, die unter einer gesellschaftlich-normativen Perspektive wünschenswert sind. Als Prozess enthält Bildung dementsprechend den Aufbau und die Art und Weise der sozialen Vermittlung dieser wünschenswerten Persönlichkeitsausprägungen und damit die zentrale Aufgabe von Schule.

Mit der Frage, welche Persönlichkeitsausprägungen gesellschaftlich wünschenswert sind, begibt man sich auf die inhaltliche Ebene der Begriffsbestimmung. Wodurch sich ein „gebildeter“ Mensch auszeichnet, unterliegt nicht nur einem historischen Wandel, sondern wird auch von verschiedenen sozialen Milieus unterschiedlich bewertet.

Der deutsche Erziehungswissenschaftler Jürgen Baumert nennt folgende Bildungsziele für die allgemeinbildende Schule: erstens die Vermittlung der kulturellen Basiskompetenzen (Beherrschung der Verkehrssprache, mathematische Modellierungsfähigkeit, fremdsprachliche Kompetenz, informationstechnologische Kompetenz sowie Selbstregulation des Wissenserwerbs); zweitens die Vermittlung eines hinreichend breiten, in sich gut organisierten, vernetzten sowie in unterschiedlichen Anwendungssituationen erprobten Orientierungswissens in zentralen kulturellen Wissensbereichen (diese Wissensbereiche umfassen die verschiedenen Fächer; die elementare Vertrautheit mit jedem von ihnen macht Allgemeinbildung aus); und drittens den Aufbau sozial-kognitiver und sozialer Kompetenzen (Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, zum Mitempfinden, zur Hilfsbereitschaft, zur Kooperation, zur Verantwortungsbereitschaft, zum moralischen Urteil).

Hartmut von Hentig hat die Ziele von „Bildung“ in seinemgleichnamigen Essay aus dem Jahr 1996 auf eine einfache Formel komprimiert: „Die Menschen stärken und die Sachen klären.“ Als Kriterien von gelungener Bildung nennt er: Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeiten, Wahrnehmung von Glück, Fähigkeit und Willen, sich zu verständigen, Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz, Wachheit für letzte Fragen und schließlich die Bereitschaft zur Selbstverantwortung und zur Verantwortung in der res publica.

Insbesondere mit dem letzten Kriterium folgt Hentig den Ideen John Deweys, der schon 1916 in seinem Buch „Democracy and Education“ die Forderung aufstellte, dass Erziehung in der Demokratie eine spezielle Struktur haben müsse, die insbesondere über all jene nationalistischen Tendenzen hinausweisen müsse, die unter anderem das europäische Schulwesen des 19.Jahrhunderts kompromittiert hätten.

Dass es heute auch im deutschsprachigen Raum eine beträchtliche Zahl von gelungenen Beispielen für eine Schule gibt, die erfolgreich versucht diese Anforderungen an Bildung zu realisieren, ist im Lamento um die Ergebnisse der PISA-Studie oft zu wenig beachtet worden. Der deutsche Journalist Reinhard Kahl hat eine Reihe von Beispielen in seinem „Archiv der Zukunft“ dokumentiert, das 2004 mit einem Film über Schulen als „Treibhäuser der Zukunft“ eröffnet wurde. Auf drei hervorragend editierten DVDs sind Schulen aus Deutschland dokumentiert, kombiniert mit 23 Expertengesprächen. Inzwischen ist das Archiv auf mehr als 20 Filme angewachsen, unter anderem eine eigene DVD über den „Raum als dritter Pädagoge“ (neben den Lehrern und den anderen Schülern), die speziell auf die Bedeutung der räumlichen Bedingungen für das Lehren und Lernen hinweist.

Für Österreich liegt eine solche Dokumentation bisher nicht vor. Allerdings hat sich um Reinhard Kahls „Archiv der Zukunft“ inzwischen ein Netzwerk etabliert, das sich auch nach Österreich ausbreitet, und es ist zu hoffen, dass die Erfolge lokaler Initiativen auch hier eine Breitenwirkung bekommen. Die Initiative „Neues Lernen“ der Köck-Privatstiftung, die seit 2003 einen mit 20.000 Euro dotierten Wissenschaftspreis für kindgemäße Pädagogik vergibt, arbeitet mit dem „Archiv der Zukunft“ zusammen und versucht, das Netzwerk zu erweitern. Eine andere über den lokalen Rahmen hinausgehende Initiative ist das Konzept des „Cooperativen Offenen Lernens“, das unter dem Namen COOL seit 1996 von Georg Neuhauser und seinen Kollegen an der Handelsakademie in Steyr entwickelt wurde und sich inzwischen zu einem Impulszentrum mit Partnern in ganz Österreich entwickelt hat.

Die „neue“ Pädagogik, die mit COOL verbunden ist, geht auf den Dalton-Plan zurück, den die Pädagogin Helen Parkhurst bereits in den 1920er-Jahren in den USA entwickelt hat. Mit den Leitbegriffen „freedom“, „cooperation“ und „budgeting time“ nimmt dieser Plan vieles vorweg, was die OECD mit ihren Schlüsselqualifikationen einfordert. Ein bekanntes Wiener Beispiel, das sich an einer anderen Mischung reformpädagogischer Ansätze vom Jena-Plan bis zur Montessori-Pädagogik orientiert, ist die Integrative Lernwerkstatt Brigittenau, eine öffentliche Volksschule mit Mehrstufenklassen, die unter ihrem Direktor, Josef Reichmayr, gerade dabei ist, sich zu einer „Neuen Mittelschule“ zu erweitern.

Die beste Grundlage für den Erfolg von Projekten stellt die Kooperation zwischen Bildungspolitik, Bildungspraxis und Bildungsforschung dar; Letztere gemeint als weiter Begriff, der nicht nur Erziehungswissenschaften und Bildungspsychologie, sondern unter anderem auch Bildungssoziologie und -ökonomie sowie Schularchitektur inkludiert. Ein Beispiel dafür ist das TALK-Projekt, ein vom Unterrichtsministerium gefördertes Schulentwicklungsprojekt des Arbeitsbereichs Bildungspsychologie und Evaluation der Universität Wien, das bei Lehrerteams Vermittlungskompetenzen zur Förderung von Bildungsmotivation undselbstreguliertem Lernen trainiert. Die Evaluierung zeigt sowohl bei Lehrpersonen als auch auf Ebene der Schüler sehr positive Effekte.

Ein weiteres Beispiel stellt das WiSK-Schulprogramm zur Förderung sozialer Kompetenz und Prävention von Aggression und Gewalt dar, das im Rahmen der nationalen Strategie zur Gewaltprävention „Gemeinsam gegen Gewalt“ („Weiße Feder“) eingesetzt wird. Dass bauliche Maßnahmen die sozial-präventiven unterstützen können, ist klar. Auf die Raumprogramme des Schulbaus hat diese Frage freilich bisher kaum Auswirkungen.

Eine genauere Recherche würde wahrscheinlich eine Reihe weiterer österreichischer Initiativen zum Vorschein bringen. Leider gibt es im offiziellen österreichischen Schulsystem noch keine ausreichende Tradition, solche vernetzten Initiativen anzuerkennen, zu fördern und systematisch zu etablieren.

Zumindest im Bundesschulbau gibt es inzwischen aber erste Versuche, der „pädagogischen Basis“ zuzuhören und ihre Kompetenz zu nutzen: Bei einem aktuellen Wettbewerb für eine Schulerweiterung für die Handelsakademie in der Wiener Polgarstraße durften die Lehrerinnen und Lehrer, unterstützt vom Landesschulrat und den Beamten des Unterrichtsministeriums, in einer mehrmonatigen Konzeptphase an der Gestaltung des Raumprogramms mitwirken, ein Novum für den Bundesschulbereich.

Projekte, die den Nutzern klar machen, wie sehr die Schularchitektur als „dritter Pädagoge“ zur Unterstützung von Bildungsprozessen beitragen kann, sind eine notwendige Voraussetzung für das Gelingen solcher Versuche. Gerade bei den zahlreichen anstehenden Schulsanierungen ist die Einbeziehung der Nutzer, verbunden mit einem klaren Reformauftrag, unerlässlich, wenn nicht veraltete Strukturen für die nächsten 20 Jahre fixiert werden sollen.

Die Balance zwischen zentraler Qualitätssicherung und Autonomie der einzelnen Schulen ist wahrscheinlich überhaupt die Kernfrage jeder erfolgreichen Reform. Dazu wurden in den vergangenen Jahren unter anderem mit dem „Lehrplan 99“ einige Schritte gesetzt. Zentralmatura und Bildungsstandards stellen wichtige Schritte in Richtung Qualitätssicherung dar; im Gegenzug müssen jedoch andere Kontrollen und die mit ihnen verbundenen Bürokratien abgeschafft werden. Dass die Schule lernen kann, als Organisation und als Gebäude, steht außer Frage. Man muss es nur zulassen und unterstützen. ■

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nach Freiburg: Schule träumen im Theater und Freiburger-Erklärung

Presseerklärung

2000 Menschen bei „Schule träumen im Theater“ in Freiburg

Freiburger Erklärung kritisiert Lernbluff

Am Wochenende 20. / 21. Juni kamen 2000 Menschen ins Theater Freiburg zu
"Schule träumen im Theater“.

Eingeladen hatten das „Theater Freiburg“ sowie das „Theater im Marienbad“zusammen mit dem überregionalen Netzwerk "Archiv der Zukunft,“ derBildungsinitiative "Schule mit Zukunft“ und der Pädagogischen HochschuleFreiburg.

In Werkstätten, Vorträgen und an Runden Tischen ging es um Theater als„Wurzelbehandlung der Langeweile“ oder „Wände Einreißen“ in Schulen. DerSchweizer Kindheitsforscher Professor Remo Largo sprach über „den Vorteilverschieden zu sein“ und der Neurobiologe Professor Gerald Hüther begründete seineThese: „Ohne Gefühl geht gar nichts.“

Nach dem Erfolg des Wochenendes haben das Theater Freiburg und das Netzwerk„Archiv der Zukunft“ beschlossen das Projekt „Schule träumen“ weiter zu führen.Barbara Mundel, die Intendantin, will das Thema durch die kommende Spielzeitziehen. An deren Ende, am 17. und 18. Juli 2010 will das Theater auf allenBühnen in Werkstätten, Foyers und anderen Räumen die ansteckende Gesundheit desLernvirus in Umlauf bringen.

Theater in anderen Städten überlegen dem Freiburger Vorbild zu folgen.

Das Netzwerk „Archiv der Zukunft“ (www.adz-netzwerk.de)koordiniert das überregionale Projekt und treibt es voran.

Zum Abschluss der Aktionstage im Theater wurde die Freiburger Erklärung veröffentlicht,die sich auch auf den „Bildungsstreik“, der an den Tagen zuvor an vielenSchulen und Hochschulen stattfand, bezieht.

Freiburger Erklärung

Nicht Fässerfüllen, Feuer entfachen

„Einwachsender Teil der Studenten glaubt weder ihre berufliche Karriere nochpolitische Entscheidungen beeinflussen zu können. Diese Einstellung ist bislangnur bei Jugendlichen ohne berufliche Qualifikation so verbreitet gewesen.“

Das ist das alarmierende Ergebnis der jüngstveröffentlichten Konstanzer Studenten-Studie, erhoben für dasBundesbildungsministerium.

Die neuen Proteste der Schüler und Studentensind ein Versuch sich aus dieser Lähmung zu befreien.

Die Ökonomisierung der Ausbildung führt denLernbetrieb in einen angestrengten Leerlauf. Zensuren und Credit-Points habensich zu Zielen verselbstständigt. In deren Schatten sind Wissen und Könnenzweitrangig geworden sind. Von Bildung kann häufig gar nicht mehr die Redesein.

In den Lernfabriken schrumpft Zeit. Dabeiheißt doch der Kern der europäischen Bildungsidee „Scholae.“ Das bedeutete inder Antike „Muße“, „frei sein von Geschäften.“ Muße ist auch ökonomisch gesehenproduktiver als Bluff.

Wenn sich Schüler und Studenten nicht längerwie Betriebswirtschaftler ihrer selbst verwerten wollen, brauchen sie Ermutigungund Unterstützung.

Wenn sie sich über ihr Bulimielernen ekelnund nun fragen, ob ihre Zertifikate, im Zweifelsfall so leer sind wie mancheDerivate auf den Finanzmärkten, dann brauchen sie Verbündete, die mit ihnen dieBildung neu denken.

Bloßzu funktionieren und sich durchzuschlagen, kann kein Bildungsziel sein.

Am 20. und 21. Juni sind Zweitausend Menschenzu „Schule träumen“ ins Theater Freiburg gekommen.

Viele Schulen haben bereits mit ihrem Umbauzu Lernlandschaften begonnen. Lehrer, Eltern und auch Schüler wissen, dass sieselbst damit anfangen müssen.

Der Übergang von der Industriegesellschaft zueiner Wissens- und Ideengesellschaft verlangt Bildung endlich zu dem zu machen,was sie immer schon sein sollte. „Kinder sind keineFässer, die gefüllt, sondern Feuer, die entfacht werden wollen.“ Dasschrieb der Schriftsteller, Arzt und Priester Francois Rabelais bereits vorfast 500 Jahren.

Schulen sollten endlich aufhören, mit demErnst des Lebens zu drohen.  Siesollten die Vorfreude der Kinder auf sich selbst, mit der sie alle auf die Weltkommen, fortsetzen und kultivieren.

Kinder und Jugendliche sollten eingeladenwerden mitzumachen. Sie verdienen das Versprechen dazu zu gehören!

Lernen muss das große Projekt des eigenenLebens werden. Kinder und Jugendliche sollen nicht länger daran gewöhnt werden,wie Untermieter in der Welt zu leben.

Schüler und Studenten brauchen Gesellschaft.Nicht „die Gesellschaft“, sondern Bündnispartner, Freunde, Leute die zu ihnengehen, die etwas mit bringen, vor allem sich selbst. Und sie brauchen Orte: GuteSchulen und Hochschulen, aber auch Orte wie zum Beispiel das Theater.

Das vom Netzwerk „Archiv der Zukunft“, derFreiburger Initiative „Schule mit Zukunft“ und vom Theater Freiburg begonneneProjekt „Schule träumen im Theater“ ist ein Anfang. Er wird weiter geführt.

Schule war einmal Muße – Badische Zeitung

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badische zeitung

k ul t ur

m i t t wo c h , 17. j u ni 2009

,,Schule war einmal Muße"
BZ-INTERVIEW

mit dem Bildungsexperten Reinhard Kahl, der bei den Theatertagen in Freiburg Schule und Theater zusammenbringt

Hier der Spaß, dort die Arbeit
SWR-2-Forum im BZ-Haus: ,,Wie cool ist Beethoven?"
,,Lass raus was in Dir steckt!", fordert das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg mit seinem Jugend-Projekt ,,Der Schrei". Grund genug, sich im SWR-2-Forums-Gespräch die Frage zu stellen: ,,Wie cool ist Beethoven?" Auf den ersten Blick scheint sich dessen Coolness in überschaubaren Grenzen zu halten ­ statt der anvisierten Zahl von 1000 Jugendlichen interessierten sich letztendlich nur 200 aus dem gesamten Sendegebiet für das Projekt, dessen musikalisches Ergebnis am kommenden Samstag (20. Juni, 20 Uhr) im Freiburger Konzerthaus zu erleben ist. Beim von Ursula Nusser moderierten Gespräch im BZ-Haus gab es ganz verschiedene Antworten auf die Frage, wie Jugendliche heute mit klassischer Musik in Berührung kommen. Das Konzertpublikum wird immer älter, in Familien wird immer weniger musiziert. Deshalb sind für Alexander Dick, Kulturchef der Badischen Zeitung, die seit einigen Jahren in Deutschland boomenden Vermittlungsprojekte von Theatern und Orchestern wichtige Versuche, die im gesellschaftlichen Leben an den Rand gedrängte Klassik gerade beim jungen Publikum wieder mehr ins Bewusstsein zu bringen. Rüdiger Nolte, Rektor der Freiburger Musikhochschule, dagegen sieht keine Klassikkrise (,,Das Publikum war immer schon alt") und steht solchen als Event aufgezogenen Projekten wie ,,Der Schrei" grundsätzlich kritisch gegenüber.

ZEIT online Bildungsstreik

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ZEIT ONLINE 16.6.2009

Bildungsstreik

Chance für einen Neuanfang
Von Reinhard Kahl

Seit der Krise wird Bildung neu gesehen. Die streikenden Jugendlichen sehen, dass es nicht nur um Qualifikationen geht, sondern darum, wie wir leben wollen
Die Woche begann mit Protesten und Kundgebungen der Erzieherinnen. Allein 30.000 in Köln. Auch die Schüler und Studenten gehen seit Montag auf die Straße. Lehrer und Hochschullehrer folgen. Sie werden zu Manifestationen ihrer Unzufriedenheit zusammenkommen. Und am Ende der Woche lädt zum Beispiel in Freiburg das Theater zum "Schule träumen" ein. In der Mittsommernacht von Samstag auf Sonntag wird sich ein kilometerlanger Tisch zwischen zwei Theatern durch die Freiburger Altstadt ziehen, garniert mit Sprüchen wie diesem: "Kinder sind keine Fässer, die gefüllt, sondern Flammen, die entfacht werden wollen." Der Satz von Francois Rabelais ist bald 500 Jahre alt, aber er wurde selten so missachtet wie derzeit in Deutschland. Unter dem absurden Fässerfüllen leiden zum Beispiel die Schüler im beschleunigten Gymnasium. Bildung in Deutschland kommt vielen vor wie Tennisspielen auf Kopfsteinpflaster. Eines der größten Probleme ist die traditionelle Geringschätzung der frühkindlichen Bildung. Sie zeigt sich an der niedrigen Einstufung der Erzieherinnen. Dabei ist inzwischen selbst von Bildungsökonomen nachgewiesen, dass Bildung - oder der Verzicht darauf - nie folgenreicher ist als bei den Kleinsten. Jeder in die frühen Jahre investierte Euro bringt der Gesellschaft eine Rendite von 13 Prozent! Ausgerechnet an dieser "Bank" wird in Deutschland am meisten geknausert. Ähnlich verquer ist der Umgang mit Zeit. Lernzeit, ob bei Kindern oder bei Wissenschaftlern, ist immer diskontinuierlich. Man klebt an einem Problem. Man dreht sich im Kreis. Und plötzlich macht man einen Sprung. Das geht nicht im Gleichschritt und nicht unter Druck. Wenn nun in den meisten Schulen und Hochschulen der Zeitdruck erhöht und die Atmosphäre verschlechtert wird, verführt man immer mehr zum Bluff. Jugendliche wollen dann nur noch Prüfungszertifikate erwerben. Viele Schüler und Studenten sehen Ähnlichkeiten zwischen der Panikökonomie in der Wirtschaft und ihrer Ausbildung. Sie erfahren am eigenen Leib, wie die Ökonomisierung und Instrumentalisierung den Lernbetrieb in den Leerlauf führt, wie diese Instrumentalisierung das Instrument selbst zerstört. Dabei heißt doch der Kern der europäischen Bildungsidee "Scholae". Und das bedeutete in der Antike "Muße", "frei sein von Geschäften". Muße ist auch ökonomisch gesehen produktiver als die Rituale von Lernen und Vergessen. Der resignativ-apathische Schleier, der sich in den vergangenen Jahren über Schulen und Hochschulen gelegt hatte und dem die meisten nur durch Karriere oder privaten Rückzug zu entkommen glaubten, könnte sich jetzt auflösen. Natürlich geht es dabei auch ums Geld. Schon wird für die Bildungsausgaben wieder mit der grausamen Sparpolitik gedroht. Politiker sagen, wir sind doch alle für die Bildung, aber woher denn das Geld nehmen? Doch wir reiben uns die Augen, wenn wir erfahren, dass der höchstbezahlte Hedgefonds-Manager in den USA in einem Jahr mehr verdient hat als alle New Yorker Lehrer in drei Jahren. Und nun werden die Wüsten, die solche Menschen hinterlassen haben, mit staatlichen Milliarden wieder aufgeforstet. Allein für Hypo Real Estate wurde eine Summe mobilisiert, die die staatlichen und privaten Ausgaben für Bildung in einem Jahr in Deutschland übersteigt ­ ohne Hochschule und Forschung, aber inklusive privat gezahlter Kindergartengebühren und der zwei Milliarden für Nachhilfe. Aber trotz der Wut, die man angesichts solcher Bilanzen zügeln muss, steht nicht die Schlacht mit Feinden an, sondern die Suche nach Freunden, um mit dem großen Projekt zu beginnen, das der Neurobiologe Gerald Hüther so definiert: Abschied von einer Gesellschaft des Ressourcenverbrauchs zu einer der Ressourcenproduktion. Es geht auch nicht nur um die Kompetenzen von Menschen, es geht darum, sie so ins Leben einzuladen und willkommen zu heißen, dass sie selbst etwas wollen. Die Welt, in der Menschen entkernt wurden, damit sie wie Maschinen funktionieren, geht zu Ende.

PS 6 Theater träumt Schule

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Manch einer will die Zeitung morgens gar nicht mehr aufschlagen: Staatsgarantien für Banken im unvorstellbaren Zahlenraum dreistelliger Milliarden. An der Panik- und Schnäppchenökonomie der kollabierten Finanzmärkte darf nun auch der kleine Mann über Abwrackprämien für fahrtüchtige Autos teilnehmen. Obszön. Aus dem Konjunkturprogramm für Schulen wurde nicht viel, außer Wärmedämmung, Schallschutz und noch mehr Beton. Auch obszön. Flüsterasphalt wird als Lärmschutz großzügig gefördert. Man möchte Schopenhauer zitieren: »Alle arbeiten sie für die Zukunft, dieser opfern sie ihr Daseyn; und die Zukunft macht bankrott.« Und so erhellend die Krisendiskurse à la »Du musst dein Leben ändern« im Feuilleton auch sind, ihnen fehlt doch das Entscheidende, die Aussicht auf eine Praxis.

ZEIT online Das Konjunkturpaket – ein Flop

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Das Konjunkturpaket, ein Flop für die Bildung
11 Milliarden Euro soll das Konjunkturpaket der Bildung bringen. Doch aus einem Zukunftsprojekt wird nun ein verzetteltes Sanierungs- und Bauprogramm VON REINHARD KAHL

Horst Köhler hat ein schönes Wort geprägt, die "Ideengesellschaft". Wäre es nicht gerade jetzt Zeit, Schulen und Hochschulen zu Laboratorien einer Ideengesellschaft zu machen? Und mit dem Umbau gleich anzufangen? Mit gut platzierten Konjunkturspritzen könnte der Staat Langzeitwirkungen und schnelle Effekte erzielen. Also Handwerker, Architekten, Bauunternehmen und auch Künstler in Schulen schicken! Aber nicht bloß um neue Fenster in grauen Anstalten einzusetzen oder um Wärmedämmungen an Lernfabriken anzubringen, auf die man in der Tat Abwrackprämien aussetzen möchte. Die Verwandlung der Schulen in schöne, einladende Orte, ihr Umbau zu Lernlandschaften, das ist ein Paradigmenwechsel, der ohnehin ansteht. Diesen Wandel jetzt zu forcieren schien Bildungsministerin Annette Schavan eine Chance der Stunde. Im Dezember wollte sie zunächst jeder Schule 100.000 Euro geben. Dann holte sie im Konjunkturpaket II stattliche 11 Milliarden* Euro heraus. "Das größte Investitionsprogramm für Bildung, das es je in Deutschland gegeben hat", nannte sie es im Februar bei der Lesung des Gesetzes im Bundestag und versprach: "Deutschland wird mit einem modernisierten Bildungs- und Forschungssystem gestärkt aus der aktuellen Wirtschaftskrise hervorgehen." Und als würde sie schon etwas ahnen, fügte sie hinzu: "Dies ist nicht nur eine Investition in Beton." Bei der Formulierung des "Zukunftsinvestitionsgesetzes", so der Name für das zweite Konjunkturpaket, zeigte sich allerdings, dass die große Bildungserneuerung gar nicht zu der vor drei Jahren beschlossenen "Föderalismusreform" passt. In dieser bisher umfangreichsten Änderung des Grundgesetzes hatte der Bund auch noch den Rest seines Einflusses auf Schulen verloren, der zuvor noch in Modellversuchen und bundesweiten Programmen bestand . Nun verbietet also seit dem 1. August 2006 das Grundgesetz dem Bund, Geld in Bereichen auszugeben, in denen er keine "Gesetzgebungskompetenz" hat. Das sind vor allem die Schulen. Bei Kindergärten und Krippen, die in der politischen Topologie nicht zur Bildung gehören, darf er sich einmischen. Gesetze darf der Bundestag auch in Sachen Klima und Energie erlassen. Und mit Klima und Energie schien nun ein Rettungsring gefunden. Es wird "insbesondere die

PS 5 Konjunkturpaket 3

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Das Versprechen war groß. Milliarden für die Bildung. Zur Erinnerung. Erst kam das Konjunkturprogramm 1 mit Abwrackprämien für noch fahrtüchtige Autos. Konjunkturprogramm 2 folgte mit 13 Milliarden für die Verbesserung von Gebäuden und Infrastruktur. Davon geht der größte Teil, exakt 8,6 Milliarden, an Schulen und andere Bildungseinrichtungen. Wenn Annette Schavan das Programm pries, war kaum von Sanierung, dafür viel von Innovationen und »pädagogischer Modernisierung« die Rede. Dann aber erinnerte man sich in Berlin, an Beschlüsse der »Föderalismuskommission«, die jüngst ins Grundgesetz geschrieben wurden. Der Bund musste den Rest seines Einflusses in der Bildung aufgeben. Er darf nur noch Geld für Bereiche ausgeben, in denen er Gesetzgebungskompetenz hat.

Münsteraner Erklärung

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Der dritte Pädagoge
Münsteraner Erklärung zur Erneuerung der Schulen und anderer Bildungshäuser
Mehr als 400 Pädagogen und Architekten, Kommunalpolitiker, Eltern sowie andere Akteure haben vom 20. bis 22. März auf einem Konvent des Netzwerks Archiv der Zukunft in Münster über den Umbau von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen zu Lernlandschaften beraten. Der Raum wurde bisher in seiner Bedeutung für die Bildung unterschätzt. Er ist der "dritte Pädagoge", neben den Erwachsenen und den anderen Kindern und Jugendlichen. Heute sind Schulräume meist Container, in denen Fächer unterrichtet werden, nicht Schüler. In der ästhetischen Verwahrlosung der Orte findet die innere Abwesenheit vieler Schüler und Lehrer ihren Ausdruck. Der Umbau der Schulen und anderer Bildungshäuser zu Lernlandschaften ist angesichts der Krise noch dringender geworden. Wie die Finanzwirtschaft, die auf Bluff gesetzt hat, verführen manche Schulrituale dazu Wissen vorzutäuschen: Es wird dann nur für die Prüfung gelernt und schnell wieder vergessen.

10 Jahre Philo Café Hamburger Abendblatt

Literaturhaus: Zehn Jahre "Philosophisches Café"

Anstiftung zum Selberdenken

Erfolgsgeschichte: Reinhard Kahl moderiert heute das 91. philosophische Gespräch.

Von Lutz Wendler

Das Literaturhaus am Schwanenwik.

Das Literaturhaus am Schwanenwik. Foto: Michael Zapf

Hamburg -

Der Titel war anders gemeint, aber im Nachhinein ließe er sich auch als programmatische Botschaft zum Start einer neuen Reihe lesen: "Ich bin viele" behauptete das erste "Philosophische Café", zu dem Gastgeber Reinhard Kahl am 14. Januar 1999 den Gießener Philosophen Odo Marquard ins Literaturhaus eingeladen hatte. Tatsächlich steckte in diesem ersten Abend der Keim für viel, viel mehr.

Heute feiert das "Philosophische Café" mit der 91. Veranstaltung sein zehnjähriges Bestehen. Dass der Beginn rasch vom Ich zum Wir, zu Gott und der Welt führte, lässt sich an Programm und Gästen ablesen. Heute geht's um philosophische Aspekte der Finanzkrise: Die Gebrüder Ralph und Stefan Heidenreich sprechen über das Thema "Mehr Geld! Noch mehr Geld?".

Der Erfolg der Reihe, die nicht nur bei bekannten Größen wie Safranski, Sloterdijk oder Alexander Kluge für ein ausverkauftes Literaturhaus sorgt, lässt sich nicht allein mit dem Bedürfnis nach Orientierung in unsicheren Zeiten erklären. Denn fertige Antworten sieht das Konzept von Reinhard Kahl nicht vor: "Obwohl alle der Wahrheit verpflichtet sind, gibt es keine zwei Philosophen, die gleich gedacht haben. Philosophie ist das, was Hannah Arendt Pluralität nannte. Jeder Mensch ist anders und deutet die Welt durch sein individuell geschliffenes Prisma hindurch."

Das Sesam-öffne-dich zu wahrhaft philosophischer Erkenntnis ist für Kahl das Gespräch. Er befragt den Gast, das Publikum kann bei der Verfertigung von Gedanken beim Sprechen nicht nur zuhören, sondern soll sich einmischen, was im Idealfall einen gemeinsamen Reflexionsraum eröffnet. "Ein Gespräch kann eine Bühne sein", sagt Kahl. "Das Ereignis hat eine Einmaligkeit, und wenn dabei etwas Wesentliches entsteht, hat es die Ewigkeit des Augenblicks."

Zuhörer sollen nicht bekehrt werden durch große Gedanken, sondern angestiftet werden zum Selberdenken. "Das hilft gegen ängstliches Nachplappern und das epigonale Hauptrauschen in unserer Alltagswelt." Vom Publikum wird in der Diskussion nicht die Versiertheit des Spezialisten erwartet, sondern "Nachdenklichkeit und gute, klare Umgangssprache" - was Kahl mit einem Einstein-Zitat illustriert: "Alles so einfach sagen, wie es geht - aber nicht einfacher."

Das alles gelingt nicht immer, denn Kahl lädt Gäste ein, deren Thema vielversprechend ist, wohingegen ihre Eignung fürs öffentliche Gespräch sich oft erst am Abend zeigt. "Nicht jeder ist gesprächsfähig, manche monologisieren langatmig, andere wollen die Zuhörer in ihrem System alphabetisieren." Volles Vertrauen hat Kahl jedoch in die Urteilsfähigkeit seines Publikums: "Das ist erfreulich gemischt, vom Schüler bis hin zur alten Frau. Was mich besonders erfreut, sind so viele Gesichter, die Lebendigkeit, Glanz, Interesse ausstrahlen, also eine innere Schönheit."

"Mehr Geld! Noch mehr Geld?", 24.2., 19 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38; www.literaturhaus-hamburg.de

erschienen am 26. Februar 2009

PS 3 Jetzt: Wertschätzungsketten

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NDR Gedanken zur Zeit Neuer Deal für die Bildung

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NDR Kultur - Gedanken zur Zeit ­ 22. Februar 2009

Reinhard Kahl Ein neuer Deal für die Bildung

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung brachte am Tag, nachdem die Münchner Hypo Real Estate Bank am 11. Februar weitere 10 Milliarden Euro von der Bundesregierung erhalten hatte, ein antikes Vasenbild auf ihre erste Seite. Es zeigt die Danaiden beim Füllen eines Fasses. Die Danaiden sind in der griechischen Mythologie Frauen, die wegen eines Verbrechens von den Richtern des Totenreichs dazu verurteilt wurden, für immer mit Krügen Wasser in ein Fass zu schöpfen, dessen Boden wie ein Sieb ist.

Unvorstellbare 102 Milliarden Euro hat die Bundesregierung bisher allein für die Münchner Hypo Real Estate Bank bereitgestellt. Da diese Sendung drei Tage vor der Ausstrahlung aufgenommen wird, könnte der Einsatz inzwischen erhöht worden sein. Das geht ruck zuck.

Hingegen ist es völlig ausgeschlossen, dass die 8,6 Milliarden, die aus dem Konjunkturprogramm von Bund und Ländern in die Bildung fließen, zwischen Aufnahme und Sendung aufgestockt werden. Eher verzögern die Länder das

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REDEN WIR ÜBERS LERNEN 1

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25.01.2009

Gemeindebrief - gefördert durch

BLANKENESER KIRCHE

Gemeindebrief der ev.-luth. Kirchengemeinde Blankenese Ausgabe Nr. 54 Febr uar - März 09

Lieber Herr Kahl, Sie gelten als profunder Kenner der Schulen zwischen Flensburg und dem Bodensee. Nicht zuletzt dank Ihrer Arbeit haben wir alle einen besseren Überblick über den Stand der Bildungsforschung und die vielen Beispiele, wie Schule gelingen kann. Alle sprechen nun von Schul- und Bildungsreform. Woran krankt denn unser Schulsystem? Vor allem krankt es an Respekt. An gegenseitiger Achtung, auch an Neugier auf andere. Es fehlt häufig der Glaube, dass in ihnen vielleicht viel mehr steckt, als man denkt. Bleiben wir noch beim Respekt.

REDEN WIR ÜBERS LERNEN 2

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Schule aufladen: Zum einen die Möglichkeit, dass jeder er selbst werden kann, dass nicht im Gleichschritt marschiert wird und auf der anderen Seite, dass die Schule ein Gefühl von Zugehörigkeit, man könnte auch sagen "Heimat", verspricht.

PS 2 Führung ?

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Führung?

»Wen Du führen willst, dem folge«, geben ihren Kindern oder Schülern gie? Wollen sich nicht zu viele Lehrschrieb Michel de Montaigne vor fast zu verstehen: Seht zu, wie ihr durch amtskandidaten vor den Herausfordeeinem halben Jahrtausend in seinen kommt! Vielleicht wisst ihr besser als rungen der Erwachsenenwelt schützen? Essays. Laotse, der Philosoph aus wir, wie man lebt? Erwartet nichts Wie vermeidet man, dass die Ratlosen dem alten China verlangte, »wer füh- von uns! Aber Kinder, die hungrig auf diesen Beruf ergreifen? Wie werden die ren will, darf denen, die er führt, nicht die Welt sind, die ja alle lernen wollen, Besten und vor allem die Leidenschaftim Wege stehen.« Beide wussten, dass darf man nicht allein lassen. Sie brau- lichen angezogen? Dass es möglich ist Führung nicht heißt, einer weiß, wo es chen Respekt, eine gute Atmosphäre die Besten zu gewinnen, zeigen die lang geht, und die anderen folgen. und vor allem Erwachsene.

Nicht Fässer füllen… Vortrag Landesmusikrat NRW

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1 Reinhard Kahl ,,Nicht Fässer füllen, Flammen entzünden! ­ Plädoyer für eine kreativere Schule"

Badische Zeitung Über Vortrag in Freiburg

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Freiburg: Die Macht der Vorurteile bremst die Reformen - Badische-Zeitung.de

28. Januar 2009

Die Macht der Vorurteile bremst die Reformen
Einer wunderbaren Stuhlvermehrung hätte es am Montagabend bedurft, um allen Interessenten Einlass ins BZ-Haus zu gewähren, die sich mit Reinhard Kahl auf die Suche nach der Schule mit Zukunft begeben wollten. Der Andrang von vorwiegend jungen Leuten, darunter viele angehende Lehrerinnen und Lehrer von Pädagogischer Hochschule (PH) und Universität, mag als Indiz für den Bekanntheitsgrad des Dokumentarfilmers ("Treibhäuser der Zukunft") gelten. Seit Jahren wirbt er mit Optimismus für eine Schule, die "Lust auf Welt" macht und vertraut dabei auf die "Infektionskraft" seiner Bilder. So auch an diesem Abend. Neben den Worten ließ er vor allem Filmausschnitte sprechen. Schließlich gibt es bereits genügend Beispiele von Schulen, die eingetretene Pfade verlassen haben und eine andere "Choreografie des Lernens" praktizieren: Enja Riegels Helene-LangeSchule in Wiesbaden, die ebenfalls mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnete Dortmunder Grundschule "Kleine Kielstraße", die Häuser des Lernens im Schweizer Kanton Thurgau. Was tun sie, dass ihre Schülerinnen und Schüler "nicht in die Schule gehen wie zum Zahnarzt", sondern "das Lernen als Projekt des eigenen Lebens" entdecken? Respekt und Vertrauen, Fehler machen dürfen und lernen, Probleme zu lösen statt mit Wissen voll gestopft werden, Teamfähigkeit der Lernbegleiter, maßgeschneiderte Angebote für jedes Kind sind Stichworte, die nur ansatzweise umschreiben können, was allen diesen Schulen gemeinsam ist. Wobei Schule, wie Reinhard Kahl selbst sie in seiner Jugend erlebt haben mag, als negative Bezugsgröße heute längst nicht mehr taugt, wie BZ-Redakteurin Petra Kistler als Moderatorin zu bedenken gab. "Es hat sich viel getan. Viele haben sich auf den Weg gemacht." Dennoch macht der bekennende Alt-68er Reinhard Kahl noch viel zu viele aus, die "zu ängstlich, zu kleingläubig" sind und ihr Nichthandeln mit System- und Strukturmängeln, falscher Bildungspolitik und mangelnden Ressourcen begründen. "Alles Ausflüchte", findet er. "Wenn man wirklich etwas will, gibt es niemanden, der einen bremsen kann." Es sei vor allem die "Macht der Vorurteile", die solchen Schulen im Weg stünden. PH-Professor Albrecht Holzbrecher, der den Abend mit veranstaltete, kennt die Zweifel der Eltern gegenüber manchen reformpädagogischen Bemühungen: Ist das auch richtiges Lernen, wenn wochenlang Theater gespielt statt Mathe gepaukt wird? Reinhard Kahl räumte ein, dass nicht alle Versuche gelingen und der Mut zum Risiko das Risiko des Scheiterns einschließt.

http://www.badische-zeitung.de/die-macht-der-vorurteile-bremst-die-reformen

31.01.2009

ZEIT online Schulen erneuern, nicht nur sanieren!

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Konjunkturpaket
Von Reinhard Kahl

Schulen erneuern, nicht nur sanieren!
Ein großer Teil der Milliarden zur Stützung der Konjunktur soll zur Sanierung von Schulen ausgegeben werden. Die Chance, sie zu kultivierten Lebensorten umzubauen
Nun steht es fest. 8,6 Milliarden Euro fließen aus dem Konjunkturprogramm (50 Milliarden) in die Bildung. Ende eines wochenlangen Hin und Her. Zwischendurch hatte Bildungsministerin Annette Schavan schon mal 15 Milliarden angekündigt. Auch einen Handwerkergutschein von 100.000 Euro pro Schule brachte sie ins Gespräch. Dabei ist der dringendste Sanierungsbedarf für Schulgebäude in Deutschland inzwischen auf 73 Milliarden angewachsen. Das hat das Deutsche Institut für Urbanistik bereits vor der aktuellen Debatte ausgerechnet. So viel wäre nötig, nur um zu verhindern, dass es bald in noch mehr Schulen hinein regnet und dass noch mehr baufällige Treppenhäuser gesperrt werden müssen. Erweiterungen, etwa für Mensen in Ganztagsschulen, sind in dieser Riesensumme nicht bedacht. Es sieht nicht so aus, als ob die Politiker lange nachgedacht und sorgfältig geplant hätten. Wenn es drauf ankommt, gilt für viele von ihnen immer noch die Reihenfolge: Straße, Schiene, Schule. Dass sich jeder Bildungseuro für die Gesellschaft hoch verzinst, ist zu den lobbyanfälligen Landesfürsten noch nicht durchgedrungen. Für jeden in die frühen Jahre investierten Cent gibt es eine Rendite von sage und schreibe 13 Prozent. So viel zu den Maßstäben. Und dennoch liegt gerade im Unfertigen des Konjunkturprogramms eine große Chance. Denn das politische Halbfertigprodukt muss in kürzester Zeit vor Ort den jeweiligen Umständen angepasst werden. Es könnte dabei mit Ideen zur pädagogischen Kultivierung der Bildungshäuser aufgeladen werden. Ein alle Ausnahmen durchdeklinierendes Vergabe- und Antragsverfahren würden viel zu lange brauchen, und dabei die belebende Wirkung der Konjunkturspritze vereiteln. Deshalb könnte die Ratlosigkeit der Politiker am Ende eine vitalisierte Zivilgesellschaft fördern. Es gibt Beispiele, die nun Schule machen könnten. In Herten haben Schüler der Martin Luther Schule auf den Dächern Sonnenkollektoren installiert und zusammen mit einem Polier im Ruhestand einen Fußballplatz angelegt. Dabei wurde die Hauptschule für die Jugendlichen mehr denn je zu ihrer eigenen Schule. Im bayrischen Wertingen wandelte die Montessorischule ein ehemaliges Möbelhaus in ein "Werkhaus der Generationen" um. Eine Schülermutter, Innenarchitektin, hatte die Idee für den ungewöhnlichen Lernort. Nachmittags arbeiten, spielen und lernen in der offenen Ganztagsschule Kinder und Jugendliche zusammen mit Senioren, Handwerkern, Lehrern und Eltern. Dafür hat der Bundespräsident die Schule als einen von "365 Orten im Land der Ideen" ausgezeichnet. Die Architekturdozentin Susanne Hofmann an der TU Berlin erneuert gemeinsam mit ihren Studierenden (den "Baupiloten") nach Ideen von Kindern, Jugendliche und Pädagogen Schulen und Kitas. Die Baupiloten arbeiten mit Firmen zusammen, aber auch mit Beschäftigungsträgern für arbeitslose Jugendliche oder Werkstätten im Strafvollzug.

taz Kinder sind keine Fässer

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tazthema: aus- und weiterbildung

S ONNAB END/S ONNTAG, 3. /4. JANUAR 2009 TAZ NOR D

Reinhard Kahl hat sich auf die Suche nach der ,,Schule der Zukunft" gemacht ­ und dabei einige gute Beispiele gefunden

PS 1 09 Die Schönste im Land

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Die Schönste im Land

Der ganze Raum in tiefem Rot. An lich ist eine Arbeitshaltung, dass man Es lohnt sich, die Grundsätze auf der einer Wand die Zeichnung einer in- sich die Augen reibt. Homepage (www.muenster.org/Wartdischen Tänzerin. Gegenüber ein VorJeden Morgen stehen zwei Stunden burg-Grundschule) zu lesen. hang aus dünnem Organza. Der Raum WAP, das heißt Wochenarbeitsplan, auf Einem CDU-Stadtrat ... nebenan in etwas hellerem Rot. Auf dem Programm. Stundenpläne gibt es Kacheln asiatische Motive und an einer nicht mehr. Fächer wurden abgeschafft. ... verdankte die Schule dann, dass Wand in feinsten Strichen ein Sumo- Der Tag wird großflächig, wie man hier ihre gewandelte Seele mit dem NeuRinger.

Zeit online Umbauten am Haus des Lernens

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Schule
Von Reinhard Kahl

Umbauten im Haus des Lernens
Was sagen der Schulpreis, Grundschulstudien und die Diskussion über Investitionen darüber aus, wie Schule wahrgenommen wird? Eine Kolumne
Es begann am vergangenen Wochenende mit dem Vorschlag von Bildungsministerin Annette Schavan, die Wirtschaftskrise für ein Konjunkturprogramm zugunsten der Bildung zu nutzen. 20 Milliarden will sie zur Sanierung maroder Gebäude mobilisieren. Wie könnte diese zunächst auf Handwerker und die Bauwirtschaft zielende Hilfe pädagogische Erneuerungen stimulieren? Politische Fantasie wäre gefragt. Wege zu glanzvollen und erfolgreichen Häusern des Lernens zeigen aktuell wieder die mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichneten Schulen. Bevor dieser Preis am Mittwoch vergeben wurde, kamen erst noch zwei Studien, Timms und Iglu, über Grundschüler heraus. Sie zeigen, dass die Grundschulen hierzulande ganz gut, zum Teil sogar sehr gut sind. Allerdings steht darum die Frage, was dann auf dem Weg zum Pisa-Test bei den 15-Jährigen schief geht, drängender denn je auf der Tagesordnung. Zugleich aber schwindet die Strahlkraft der großen Studien. Welche Fragen können sie beantworten und wo bleiben sie stumm? Timms, die internationale Studie über Mathe und Naturwissenschaften, löste vor zehn Jahren die neue Bildungsdebatte aus. Der Befund war, dass deutsche Schüler große Schwierigkeiten haben, ihr Formelwissen außerhalb des engen schulischen Aufgabenkorsetts anzuwenden. Dass es in der Mathematik häufig verschiedene Wege zu Lösungen gibt, war den Schülern eher fremd. Sie haben offenbar überwiegend für die Schule gelernt, im Laufe der Schulzeit vermutlich mehr und mehr widerwillig, kaum aber für die Praxis. Gleichzeitig ist die Praxis in der Gesellschaft immer weniger bloßes Ausführen. Mehr und mehr geht es ums Problemlösen.

18.12.2008

DIE ZEIT Deutscher Schulpreis. Münster

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DIE ZEIT, 11.12.2008 Nr. 51

http://www.zeit.de/2008/51/C-Schulsieger

Applaus, Applaus, Applaus!
Eine Grundschule in Münster gewinnt den Deutschen Schulpreis Schulpreis
Von Reinhard Kahl Chapeau! Der Wartburg-Grundschule in Münster ist Wunderbares gelungen: der Übergang vom Belehren zum Lernen und eine Metamorphose von der Anstalt zur kulturellen Oase. Dafür gibt es den ersten Platz beim Deutschen Schulpreis, 100000 Euro und viele Komplimente vom Bundespräsidenten, der den von der Bosch Stiftung initiierten und finanzierten Preis am Mittwoch in Berlin verlieh. Weitere vier gekrönte Schulen bekommen je 25000 Euro. Erstmals wurden zwei Sonderpreise vergeben. Bei den sieben Preisträgern handelt es sich durchweg um Schulen, die die Einzigartigkeit jedes Schülers entdeckt haben. Die Leistungen sind an diesen Schulen so exzellent wie die Kultur beeindruckend. Lehrer wissen dort, dass Schüler sich nur dann aus sich herauswagen, wenn ihnen die Schule eine Heimat bietet. Die Wartburg-Schule hat diese Pädagogik, die sich an vielen Grundschulen durchsetzt und nun weiterführende Schulen infiziert, besonders kultiviert. Mehrmals im Jahr gibt es Feste. Am vergangenen Freitag etwa kamen an die 1700 Kinder, Eltern und Großeltern sowie Nachbarn zum »Plätzchenprobiermarkt«. Die Kinder haben gebacken und verkauft. Alltäglich ist eine Arbeitshaltung, die ihresgleichen sucht. Jeden Morgen stehen zwei Stunden WAP, das heißt Wochenarbeitsplan, auf dem Programm. Stundenpläne gibt es nicht mehr. Fächer wurden abgeschafft. Der Tag wird großflächig rhythmisiert, wie man hier sagt. In allen Klassen sieht man, wie jedes Kind an etwas anderem arbeitet. Man könnte auch sagen, jedes arbeitet an sich selbst. Sie üben. Die an manchen Schulen vergessene Tugend wurde hier rehabilitiert und wird nun so verstanden, wie Üben ursprünglich gemeint war: wiederholen und variieren. Anderswo wurde das Variieren herausgekürzt. Es blieb das bloße, dann häufig nervende Wiederholen.

taz Einladende Neubauten

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Digitaz-Artikel - taz.de

12.12.2008

Einladende Neubauten
Die beste Antwort auf die Krise wäre, ins deutsche Bildungssystem zu investieren. Die Sanierung maroder Schulen, die Bildungsministerin Schavan anregt, ist ein Anfang Erinnert sich noch jemand an den Bildungsgipfel im Oktober? Inzwischen gipfelt es fast täglich - nur ein Berg ist im Nebel verschwunden, die Bildung. Dabei sagt inzwischen ja fast jeder, sie sollte das Thema Nummer eins sein. Ist sie aber bei den meisten Politikern nur bei Schönwetter. Warum Bildung so wichtig ist, wird an einer McKinsey-Studie deutlich: Jeder Euro für die frühkindliche Bildung wird demnach mit 12 Prozent für den Einzelnen und die Volkswirtschaft verzinst. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft wollte das nicht glauben und rechnete nach - und kam auf 13 Prozent. Nehmen wir an, eine Bank würde diese Rendite anbieten: ein Dummkopf, wer sein Geld nicht dorthin brächte. Warum also legt die Gesellschaft, vertreten durch die Politik, das Geld nicht dort an, wo es am meisten bringt? Weil unsere Politiker - und auch die meisten anderen Leute - nicht wirklich an diesen Gewinn glauben! Das wird schon an der Sprache deutlich, wenn von Kosten und nicht von Investitionen die Rede ist. An Kosten spart man. Investieren kann man gar nicht genug, wenn dabei etwas herauskommt.

PS 12 Ein Konjunkturprogramm für die Bildung

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P. S. Ein Konjunkturprogramm für die Bildung

Nun gipfelt es fast täglich. Längst im Bildung soll nun ja in den USA Thema dem Hinweis vor: »Umwelt ist bei Nebel verschwunden ist dabei die Bil- Nummer eins werden. Und wann be- uns etwas anderes als bei ihnen. In dung. Auch Migrations-, Integrations- ginnt bei uns der Abstieg von den pa- Deutschland ist Umwelt, wenn irund IT-Gipfel sind schon wieder ver- thetischen und panischen Gipfeln? gendwo Öl ausläuft, wir Dänen vergessen. Konjunktur und Finanzen sind Ein Konjunkturprogramm für Bil- stehen darunter ein gutes Milieu.« Als oben. Nach der halben Billion für die dung wäre pragmatisch, weil es den tau- wir davon hören, dass am folgenden Banken klingen 13 Milliarden, die in melnden Kapitalismus beruhigen hilft Wochenende in der Schule ein großes den nächsten beiden Jahren zur Un- und es hätte eine Vision, für die sich Fest sein wird, fragt jemand: »Aber terstützung von Autokauf und von das Engagement lohnt. Wir können Bil- beim Fest hängen Sie die Kunst doch Handwerkern bereitgestellt werden, dungsministerin Annette Schavan er- ab?« »Nein«, antwortet Andersen wie Kleingeld. Während diese Zeilen neut zitieren.

NDR Kultur Gedanken zur Zeit: “ Führung“

NDR Kultur  -  Gedanken zur Zeit – 30. November 2008

 

Reinhard Kahl

Führung - ein deutsches Tabu?

 

 

„Wen Du führen willst, dem folge“, schrieb Michel de Montaigne vor fast einem halben Jahrtausend in seinen Essais.

 

Noch viel länger ist es her, dass Laotse, der Philosoph aus dem alten China verlangte, „Wer führen will, der darf denen, die er führt, nicht im Wege stehen.“

 

Die beiden Weisen wussten, dass Führung nicht heißt, einer weiß, wo es lang geht und die anderen folgen.

 

Das neue Buch des Pädagogen Bernhard Bueb hat das Thema „Führung“ auf die Tagesordnung gesetzt. Es heißt „Von der Pflicht zu führen.“ Bueb hat bis zu seinem Ruhestand 2005 die Internatsschulen Schloss Salem geleitet. [So steht es auch nüchtern im Klappentext des Buches: „geleitet“ und nicht „geführt.“ Semantische Unterschiede sind nicht egal.]

 

Bueb, der zuvor mit seinem „Lob der Disziplin“ auf  die Bestsellerlisten kam, provoziert, um nicht überhört zu werden. Flugs wurde er der Sympathie zur sogenannten „Schwarzen Pädagogik“ verdächtigt, die Kinder mit dem Stock, mit Verboten und aus einem prinzipiellen Misstrauen heraus erzog. Bei Neugeborenen sollte bereits der böse Kern bekämpft werden. Erziehung als Kampf gegen die Erbsünde. So wurde das Individuum geschwächt und sein Eigensinn durch Außensteuerung ersetzt. Die ihres Eigenen beraubten, verlangten nach Prothesen, nach Führung und dem Führer.

 

Das will Bueb nicht.

 

Er hat, und das ist in jedem Fall sein Verdienst, daran erinnert, dass man wie beim Malen nicht ohne die Farbe Schwarz auskommt, weil ohne sie die Tiefe verloren geht und ein all zu transparentes, oft seichtes Pastell entsteht. Es kommt also auf die Mischung an. Auf das Maß. Auf den Kontext. Auf die jeweilige Geschichte. Versuchen wir also den Fallen des allzu Prinzipiellen zu entkommen. Bueb wird zu schnell zu prinzipiell,  zum Beispiel wenn er schreibt, dass wir uns nach Leitern, Chefs und Autorität sehnten und dass es darauf ankomme ein Vorbild zu sein.

 

Treten wir einen Schritt zurück und blicken wir erst mal auf jene schwachen Erwachsenen, gegen die Bueb argumentiert, zumal wenn sie Pädagogen sind.

Erinnern nicht viele Lehrer, Eltern und Kita-Erzieher an Gastgeber, die bei einem Fest so tun, als wären sie selbst gar nicht da? Ihr wisst ja wo der Kühlschrank steht, sagen sie schon an der Tür. Das war’s. Keine Begrüßung. Wenig Form. Kaum ein Ritual. Und natürlich geben solche nicht erwachsen gewordenen Erwachsenen ihren Kindern oder Schülern zu verstehen: Seht zu wie ihr durch kommt, vielleicht wisst ihr besser, wie man lebt. Erwartet von uns nichts. Und wenn solche Erwachsenen dann Selbstregulierungstheorien bemühen, dann werden auch noch diese starken Erkenntnisse bei ihnen verkehrt. Denn Kinder, die tatsächlich alle lernen wollen, darf man natürlich nicht allein lassen, sie brauchen  Respekt, eine gute Atmosphäre und vor allem Erwachsene. [Ganz traditionell ausgedrückt: Sie brauchen Welt. Wird ihnen diese verweigert, und das ist häufig der Fall, ist das der Bildungsskandal, den Bueb zu Recht kritisiert.]

 

Wenn also Erwachsene den Kindern Lebensformen und Herausforderungen schulden, heißt es nicht, dass sie diese den Kindern und Jugendlichen beibringen,  wie Schulstoff, oder die Werte verbal vermitteln, sondern dass sie diese selbst leben und damit anstecken. 

 

Wenn Lehrer von den Schülern Interesse und Neugierde verlangen, aber selbst nicht neugierig sind, dann bringen sie den Kindern eben nicht das bei, was sie proklamieren, sondern das, was sie tun[. Wenn Lehrer oder Vorgesetzte verlangen, ihr müsst zusammen arbeiten, aber nur mit Regelwerken und Leitbildern führen, und wenn sie selbst nicht daran denken zusammen zu arbeiten], dann sind sie so unglaubwürdig und so wenig ernst zu nehmen, wie Feiglinge, die salbungsvolle Reden über den Mut halten.

Sind sie mutig, dann könnte man das Führung nennen, man könnte aber bei Mut, dem großen Wort für diese riesige Tugend bleiben und auf das noch größere Wort, Führung, verzichten.

 

Wie ein wirklich erwachsen gewordner Erwachsener aussieht, der sich vor Führung nicht drückt, allerdings ohne das Wort auskommt, kann man in dem Film „Rhythm is it“ an dem englischen Choreografen Royston Maldoom sehen.

 

Der Film zeigt Ballettproben mit Teenagern für eine Aufführung der Berliner Philharmoniker unter Leitung von Sir Simon Rattle. Der Film konzentriert sich auf die Beobachtung einer Gruppe von Hauptschülern, Jugendliche also, denen man gemeinhin wenig zutraut. Royston Maldoom allerdings zweifelt nicht an diesen Schülern, was nicht heißt, dass er nichts von ihnen verlangt. Dazu gibt es eine Schlüsselszene. Der Choreograph empfiehlt einigen von ihnen auf einer Ballettschule weiter zu machen. Sie hätten das Zeug dazu. In dieser Szene steht neben den Schülern deren freundliche, aber grundbesorgte Lehrerin und interveniert: abends noch allein und im Dunklen mit der S-Bahn nach Wilmersdorf?

 

Plötzlich wird deutlich, welchen Unterschied es macht, ob jemand wie dieser Choreograph die Botschaft sendet, „Kommt her, ihr seid schon ganz gut, in Euch steckt aber noch viel mehr als ihr glaubt; Lasst uns was gemeinsam  anfangen!“ oder ob der Erwachsene dieses Potential eher anzweifelt, den Jugendlichen vielleicht mitteilt, sie hätten doch nur Stroh im Kopf.

 

Wenn ein Pädagoge, wie die Lehrerin im Film, mit den Schülern eine  Opfergemeinschaft gegen die Welt bildet, dann fordert sie die Jugendlichen ebenso so wenig heraus, wie es jene Zynikern tun, die Schülern ihre Talente absprechen und Kinder beschämen. Vielleicht ist die Opferfraktion den Zynikern viel verwandter als man gewöhnlich denkt.

 

Und da wären wir wieder beim bereits zitieren Michel de Montaigne, „Wen Du führen willst, dem folge.“  Der Führer, benutzen wir das kontaminierte Wort, sollte ein „Schrittmacher“ und „Schrittfolger“ sein, schrieb Montaigne. Und er fährt fort: „Verfehlen wir hier die rechte Proportion, verderben wir alles.“

 

Bleiben wir noch einen Moment bei Royston Maldoom. Seine Botschaft nach 30 Jahren Community Dance heißt: „Ich habe noch niemanden getroffen, weder bei traumatisierten Kindern in Bosnien, noch bei Grundschülern in London oder in einem Jugendgefängnis, der nicht tanzen kann.“ Und dann sagt er: „Sollte es Lehrer geben, die nicht glauben, dass jeder Schüler lernen will, dann sollten diese Erwachsenen nicht über die Schwelle zum Klassenraum treten.“ Ein Satz der sitzt. Aber auch hier hängt alles vom Kontext ab. Sagt das ein Royston Maldoom oder steht der Satz in einem Lehrer-Hasser-Buch, das mit der Art seiner Kritik an Lehrern weiter am Teufelkreis von Entwerten und Beschämen dreht?

 

Wie könnten wir diesen Abwärtsspiralen entkommen?  Bueb empfiehlt den Lehrern Mut zur Führung, ja, die Pflicht zur Führung. Geht es nicht etwas pragmatischer?

 

Wer wird denn eigentlich Pädagoge? Beginnt die Berufswahl nicht allzu häufig mit einer Vermeidungsstrategie? Wollen sich nicht zu viele Lehramtskandidaten vor den Herausforderungen der Erwachsenenwelt schützen?  Wie werden Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrerinnen und Lehrer ausgewählt und vorbereitet? Werden sie überhaupt ausgewählt? Wie vermeidet man, dass die Ratlosen diesen Beruf ergreifen? Wie werden die Besten und vor allem die Leidenschaftlichen angezogen? Dass es möglich ist die Besten zu gewinnen, zeigen die Finnen, wo  - je nach Hochschule - zwischen sieben und zehn Bewerber auf einen Studienplatz für das Lehrerstudium kommen. Und das obwohl dort die Pädagogen schlechter bezahlt werden als bei uns. Aber der Beruf wird respektiert. Die jungen Lehrer haben ihre eigene Schulzeit gewöhnlich in guter Erinnerung. So werden Aufwärtsspiralen in Gang gesetzt. Eine Pathosdebatte über Führung ist nicht nötig.

 

Deutschland schwankt zwischen Auf- und Abwärtsspiralen. Auf der einen Seite der bekannte Alltag, in dem sich Lehrer, Schüler und auch Eltern häufig immer noch als Feinde behandeln. Auf der anderen Seite verbreiten jetzt Bilder aus solchen Filmen wie „Rhythm  Is It“ eine ansteckende Gesundheit. Dass diese Erreger des Gelingens wirken, zeigen die vielen Kindergärten und Schulen, die sich umgründen und die zahlreiche Initiativen neue Schulen zu gründen. Allerdings fällt es den Deutschen so schwer zu glauben, dass etwas wirklich gelingen könnte.

 

Vielleicht ist dieses das Thema hinter dem Thema Führung: herrscht Vertrauen oder dominiert das Misstrauen?

 

 Royston Maldoom`s „Kommt her – Ihr seit schon ganz gut – stellen wir was auf die Beine“, sein Nicht-locker-lassen, bis alle ihr Bestes geben und vor allem sein Können, seine Kunst und seine Erfahrung, das alles macht ihn zum  Botschafter einer Welt, in die einzusteigen sich lohnt. In diese Welt zu führen, indem man mit ihr beginnt, das ist etwas ganz anderes als jene Variante von Führung,  die davon ausgeht, dass Kinder und Jugendliche eigentlich ziemlich leer seien und nicht wissen was sie wollen. Und dann wird ihnen auch noch mit dem späteren Leben gedroht, als wäre es eine Strafe, satt sie zum Leben einzuladen.

 

 Vielleicht wäre ein besseres Wort als Führung das Wort Herausforderung. Denn wer andere herausfordern will, muss doch daran glauben, dass in ihnen etwas Gutes steckt, muss deren Besonderheit entdecken wollen. Noch mal Montaigne: „Wen Du führen willst, dem folge.“

 

ZEIT online Protestierende Schüler haben recht

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Schulstreik
Von Reinhard Kahl

Die protestierenden Schüler haben recht
Schüler gehen auf die Straße, Eltern bilden Lichterketten. Gleichzeitig warnen Wirtschaftswissenschaftler vor Deutschlands Rückstand in der Bildung. Ein Kommentar
In vielen Städten gehen Schüler heute nicht in den Unterricht, sondern auf die Straße. Sie verlangen kleinere Klassen, mehr Lehrer und den Abschied vom deutschen Sonderweg mit seinem gegliederten Schulsystem. Diese Forderungen sind nicht gerade neu. Wie sollten sie auch angesichts eines so trägen Systems. Allerdings sind die einzelnen Parolen gar nicht so wichtig. Auch die in den vergangenen Tagen aufgekommene Frage, ob die Linkspartei die Fäden beim Schülerstreik zieht, kann man vernachlässigen. Hinter den Protesten steckt etwas ganz anderes. Es wird munter im deutschen Bildungstal. Die Jugendlichen melden sich zurück. Sie kämpfen mit ihren Aktionen erst mal gegen die eigene Gleichgültigkeit. Nach neun oder 13 Jahren verlassen Absolventen die Anstalten "wie Landsknechte eine aufgelöste Armee" (Peter Sloterdijk). In vielen Schulen herrscht dumpfe Normalverwahrlosung. Kein Wunder, im Alltag ist das Durchkommen mit möglichst guten Noten immer noch die oberste Norm, ganz im Gegensatz zu all den schönen Gipfelreden über Kreativität und Bildung. Gewöhnlich erziehen die Schulen zu einer Art Untermietermentalität. Sie fordert eben nicht den "Innovationsgeist" heraus, der allenthalben verlangt wird. Dieses Lernen, so heißt es in den Aufrufen der Schüler, "haben wir satt." Stoff bewältigen. Lehrpläne befolgen. Für Klausuren büffeln. Und dann? Schnell wieder vergessen. Die Krankheit der meisten Schulen heißt Bulimie: Stoff in sich hineinstopfen und wieder erbrechen. Der Protest der Schüler ist ebenso existenzialistisch wie bildungspolitisch. Der neue Elternprotest ist ähnlich gestimmt. Es begann vor einem Jahr in Freiburg. Dort wurden Mütter (und wenige Väter) vom


13.11.2008

ZEIT online Ein New Deal für die Schule

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Bildung
Von Reinhard Kahl

Ein New Deal für die Schule
Gerät Bildung angesichts von Konjunktur- und Bankenrettungsprogrammen wieder ins Abseits? Oder gibt es eine Chance für eine neue Mischung aus Pragmatismus und Vision? Ein Vorschlag
Nach einem von der Kanzlerin Anfang dieser Woche anberaumten Konjunktur-Gipfel gab es am Mittwoch den Krisengipfel im Kabinett. Mehrere Finanzgipfel stehen noch bevor. Der Bildungsgipfel ist schon wieder im Nebel verschwunden. Ja, von Bildung ist derzeit keine Rede mehr, nur von Autos und Handwerkerrechnungen. Dafür werden 13 Milliarden in den nächsten beiden Jahren locker gemacht. Hätte Bildung nicht der Kern des Konjunkturprogramms sein müssen? Viele Schulgebäude sind marode. Manche Hochschulen aus den siebziger Jahren sind längst einstürzende Neubauten. Krippen und Kitas fehlen ganz. Viele Ganztagsschulen, die nicht bloß in den Nachmittag verlängerte Vormittagsschulen mit einem Kiosk sind, würden nach Erweiterungen und Umbauten erst diesen Namen verdienen. Die belebende Wirkung für Arbeit und Umsatz wäre mit dem Konjunkturprogramm garantiert. Es wäre zielgerichtet. Anders als die Verlockung, umso mehr Kfz-Steuern zu sparen, je größer das Auto ist. Schwarze Stadt-Geländewagen als Meistbegünstigte der Krise? Auf diesen Witz wäre man nicht gekommen. Staatliche Investitionen in die Bildung kämen der Kultivierung des öffentlichen Bereichs, also einer gemeinsamen Welt zugute. An dieser gemeinsamen Welt fehlt es vor allem. Wie weit sind wir von solchen Gedanken an eine lebenswerte, gemeinsame Welt entfernt. Immerhin ein Obama signalisiert, dass es noch etwas anderes gibt als mühseliges Überlebensmanagement, Feuerwehreinsätze der Politik und die Flucht ins Private. Bildung soll nun ja in den USA Thema Nummer eins werden. Und wann beginnt bei uns der Abstieg von den pathetischen und panischen Gipfeln?

07.11.2008

PS 11 Über allen Gipfeln ist Tal

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Reinhard Kahls Kolumne

P. S. Über allen Gipfeln ist Tal
Bildungsgipfels sein können? Fragt jetzt jemand, wer soll das bezahlen? Könnten nicht die Milliarden, die zur Stützung der verschwundenen Investmentgeldmengen offenbar vorhanden sind, mit je einer halben Milliarde für die Bildung gespiegelt werden? Dabei wäre ja kein Euro für die Bildung verloren. Jeder wird hoch verzinst. Bestraft allerdings wird die Unterlassung jedes nicht investierten Euro. Die Berater von McKinsey haben gerade wieder in einer Studie für die Robert Bosch Stiftung nachgewiesen, dass in Deutschland 50 Milliarden im Jahr für Schulen, Kitas und Unis fehlen. Die Folgen, schätzt McKinsey Bildungsexperte Nelson Killius, kosten in den nächsten 12 Jahren die deutsche Gesellschaft und Wirtschaft 1,2 Billionen Euro. Woran wir glauben Wo liegt also das Problem? Das wird an einem anderen Ergebnis von McKinsey deutlich. Dass man dort einen schwärmerischen Bildungsbegriff hat, wird ja niemand unterstellen.

ZDF „Neues aus der Anstalt“ weist auf Archiv der Zukunft hin

Am 28. Oktober nahm sich Georg Schramm in der ZDF Satiresendung "Neues aus der Anstalt" auch den Bildungsgipfel vor und wies völlig unsatirisch auf  Alternativen hin:

"Der Bund ist de jure reformunfähig. Und die Länder de facto.
Und das Spannendste, meine Damen und Herren, ist:
Trotzdem gibt es die Schule der Zukunft bereits.
Wenn Sie Lust und Gelegenheit haben gucken Sie mal ins Internet. Gucken Sie mal bei Schule der Zukunft, der Deutsche Schulpreis, Blick über den Zaun, Archiv der Zukunft.
Überall da, wo Pädaogen, Lehrer, Schüler und Eltern sind über die staatliche Gängelei hinwegsetzen, da tut sich ja schon was!"

 
 
Die Sendung online:
 
Widerholungen
  • ZDFinfokanal
    1. November 2008, 21.30 Uhr
    8. November 2008, 15.02 Uhr
  • 3sat
    4. November 2008, 00.30 Uhr
  •  

    ZEIT online Schüler als Lehrer

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    Unterricht
    Von Reinhard Kahl

    Schüler als Lehrer
    Man lernt am meisten, wenn man sein Wissen anderen erklärt. Warum wird in Schulen kaum danach gehandelt? Vierter Teil einer Spurensuche im Bildungstal
    Im Leistungskurs Französisch steht Michaela vor der Klasse. Sie hält einen Vortrag über den Ursprung des Chansons auf den Schlachtfeldern des Mittelalters. Mit drei Mitschülern hat sie sich vorbereitet. Sie erzählen kleine Geschichten. Alles auf Französisch. Die Klasse ist konzentriert, ernsthaft und gelassen. Zuletzt entdeckt man hinten in der Ecke den Lehrer. Ein Lehrer? Eher ein Beobachter. Er unterbricht die Schüler selten. Doch sein Gesicht spiegelt das Geschehen an der Tafel wider. Lautlos spricht er Wörter von Michaela nach. Wenn sie nach den richtigen Ausdrücken sucht, schiebt er den Kopf vor und nickt ihr wie ein Magier zu. Wirkt das nicht, souffliert er. Am Willibald-Gymnasium in Eichstätt unterrichten in den meisten Stunden die Schüler. Der Lehrer wirkt eher wie ein Regisseur. Er arbeitet mit den Darstellern am Drehbuch für die Stunden, coacht die Mannschaft. Hauptdarsteller will er nicht sein. Der Lehrer ist Jean-Pol Martin, Professor für Französischdidaktik an der Katholischen Universität Eichstätt. Im Sommer wurde er pensioniert. Martin ist einer der Erfinder des Konzepts ,,Lernen durch Lehren" (LDL). Weil man so etwas nicht am Schreibtisch entwickeln kann, unterrichtet er auch am Willibald-Gymnasium. Die Schüler sind begeistert. Sie werden weniger unterrichtet als aufgerichtet. Aber verfestigen Schüler dabei nicht ihre Fehler? Martin nickt, erst nachdenklich, dann begeistert: ,,Genau, Fehler machen, das ist wichtig", sagt er. ,,Ich will im Unterricht Widersprüche entstehen lassen." Wer das zum ersten Mal hört, runzelt die Stirn. Doch Martin setzt noch eins drauf. ,,Mein Unterricht schafft Unklarheiten. Der traditionelle Unterricht versucht immer nur, Klarheit zu schaffen." Letzteres sei auch nicht ganz falsch, räumt er ein, denn zum Lernen brauche man beides. Aber der entscheidende Rohstoff sei das Unfertige. ,,Menschen kommunizieren nur dann, wenn ihnen etwas nicht klar ist." Die Schüler müssten ihre Unklarheit selbst in Klarheit verwandeln. Nach einem Vormittag bei Martin versteht man, warum gewöhnlicher Unterricht oft so bleiern ist. Schüler werden Tag für Tag mit Antworten auf Fragen zugeschüttet, gleichzeitig haben sie kaum Chancen, Fragen überhaupt zu stellen. Sie sollen kopieren und nicht wie bei Jean-Pol Martin nachahmen und improvisieren. Ein feiner, doch alles entscheidender Unterschied. Kopieren ermüdet. Manche verlernen dabei das Lernen. Und das ist gar nicht so leicht, denn unser Gehirn kann eigentlich gar nicht anders als lernen. Es ist, wenn man es ihm nicht abtrainiert, geradezu süchtig nach Neuem.

    22.10.2008

    ZEIT online Vielfalt als Vorteil

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    Vor dem Bildungsgipfel
    Von Reinhard Kahl

    Vielfalt als Vorteil
    Neue Studien beweisen: Jedes Kind lernt anders. Manchen Schulen gelingt es, davon zu profitieren und mit der Vielfalt des Lernens umzugehen. Dritter Teil einer Spurensuche im deutschen Bildungstal
    Das größte Problem der deutschen Schule sieht der Bildungsforscher Jürgen Baumert in den Problemen der Lehrer, mit der Verschiedenheit der Kinder umzugehen. Jedes Kind lernt anders. Inzwischen gibt es eine Reihe von Studien, die zeigen, wie groß die Spannweite ist. Der Züricher Professor für Entwicklungspädiatrie Remo Largo zeigt in der bisher größten europäischen Langzeitstudie, wie ausgeprägt die Verschiedenheit von der Körpergröße über das Schlafbedürfnis bis hin zu den unterschiedlichen Talenten ist. Gleichaltrige Kinder stehen eben nicht immer auf derselben Entwicklungsstufe. Einige Erstklässler können bereits schreiben. Andere werden dafür noch ein oder gar zwei Jahre brauchen, vorausgesetzt, man lässt ihnen die Zeit, die sie brauchen. Sonst verlieren viele den Anschluss und schalten innerlich ab. Das ist der große Nachteil des üblichen, im Gleichschritt und nach Lehrplan oder Schulbuch voranschreitenden Unterrichts. Auch diejenigen, die schon viel können, langweilen sich mitunter. Einer der größten Skandale unserer Schulen ist, dass es den Lehrern häufig gar nicht auffällt, wie viele Kinder nur ihre Körper in den Klassenräumen abstellen, während ihre Fantasie spazieren geht. Unter den Jugendlichen ist das häufig sogar die Mehrheit. Schwierigkeiten im Umgang mit Verschiedenheit ist einer der größten Mängel an den Schulen. Aber bleiben wir bei unserer Spurensuche auf der Fährte des Gelingens. Wir besuchen die Schule Kleine Kielstraße in Dortmund. Sie bekam vorletztes Jahr als Erste den deutschen Schulpreis, Platz eins. Die Schule liegt in der Dortmunder Nordstadt, einem sogenannten sozialen Brennpunkt. Vier von fünf Kindern kommen aus Migrantenfamilien. Doch darüber hören Besucher kein Wort der Klage. Schon der erste Eindruck am Morgen verblüfft. Kinder lassen in den Fluren Luftballons steigen. Die herausströmende Luft treibt kleine Propeller an. Die Lehrerin hilft bei der Montage. Andere Kinder lesen oder spielen, dabei hat es noch gar nicht zum Unterricht geklingelt. In allen guten Schulen zeigt sich dasselbe Bild. Die Kinder wollen viel experimentieren und lernen, warum sollten sie da auf ein Kommando warten? Der erste und der zweite Jahrgang werden gemeinsam in einer Klasse unterrichtet. Das ist eine der vielen Antworten dieser Schule darauf, wie unterschiedlich Kinder sind. Das Wichtigste aber ist, dass man in der Verschiedenheit der Kinder keinen Nachteil sieht. Im Gegenteil. Es ist ein Vorteil, verschieden zu sein. Das macht Menschen füreinander interessant.

    22.10.2008

    ZEIT online Freiarbeit statt Stundenplan

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    Schule
    Von Reinhard Kahl

    Freiarbeit statt Stundenplan
    Viele Schulen wenden sich von der Tradition der Belehrung ab und lassen ihren Schülern mehr Freiheit. Zweiter Teil einer Spurensuche im Bildungstal
    Morgens, kurz nach halb acht. Der Lehrer ist schon da. Auch die ersten Schüler kommen vor Unterrichtsbeginn. Der Lehrer begrüßt sie mit Handschlag, wie ein Gastgeber. Er hat bereits einiges vorbereitet. Die Schüler holen sich ihr Material ab und legen los. Einfach so. Sie warten nicht auf den Gong. Wir sind in der Bodenseeschule Friedrichshafen, in einer siebten Klasse. Die Schüler sind in der Pubertät, es ist eine Hauptschulklasse. Das sei eigentlich der Tiefpunkt, hört man überall, 7. Klasse Hauptschule, oh je. Aber vom täglichen Kleinkrieg oder vom ,,pädagogischen Lazarett Hauptschule" ist hier nichts zu spüren. Die Bodenseeschule war eine der ersten Ganztagsschulen in Deutschland. Sie ist von Ideen der Reformpädagogin Maria Montessori geprägt. Man findet dort niemanden, der das dreigliedrige Schulsystem verteidigt. Doch das hindert die Lehrer nicht daran, für ihre Schüler den besten Unterricht zu machen. Die Regale sind voll mit Material, Schulfächer wurden weitgehend abgeschafft. Der Tag beginnt mit Freiarbeit in den ersten beiden Stunden. Jeder arbeitet in dieser Zeit an etwas anderem. Wer nicht weiter weiß, gibt dem Lehrer ein Zeichen, dann kommt er. Auf die Freiarbeit folgen fächerübergreifender Unterricht und Projekte. Die freie Arbeit am Morgen hat etwas nahezu Heiliges. Es ist die Zeit höchster Konzentration. Die Schüler genießen das. Ähnlich beginnt der Tag an der Max-Brauer-Schule in Hamburg Altona, die von der Vorschule bis zum Abitur geht und bei Pisa bestens abschnitt. Auf diesen Lorbeeren wollte sich die mit dem deutschen Schulpreis ausgezeichnete Schule aber nicht ausruhen. Eine Lehrergruppe hat über Jahre ihre ,,Traumschule" konzipiert und schließlich die Schulkonferenz überzeugt. Für die Schüler wird ab der fünften Klasse das tägliche Lernbüro eingerichtet, in den ähnlich wie in der Bodenseeschule jeder morgens an seiner Sache, man könnte auch sagen an sich selbst arbeitet: Mathe, Schreiben, Lesen. Lehrpläne wurden in Kompetenzraster umformuliert. Jeder kennt die Ziele. Stolz sagen nun die Lehrer, dass sie nie mehr Dompteure sein wollen. Neben dem Lernbüro gibt es Projekte, zum Beispiel in den Naturwissenschaften. Eine dritte Säule sind Werkstätten für Musik, Kunst, Theater oder auch Kochen. Lehrer arbeiten dabei mit Künstlern und Handwerkern zusammen. Zunächst zweifelten die Pädagogen, ob Schüler einen so weiten Spannungsbogen überhaupt durchhalten. Bald wurden sie überrascht. Die Zeit reicht den Schülern nicht, sie wollen oft mehr. Und auch die Lehrer sind nun länger in der Schule. Manchmal gehen sie erschöpft nach Hause, aber fast immer zufriedener als früher.

    20.10.2008

    ZEIT-online Expedition ins Bildungstal

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    Spurensuche
    Von Reinhard Kahl

    Expedition ins Bildungstal
    Angela Merkel lädt kommende Woche zum Bildungsgipfel. Gibt es in der Praxis nicht schon viel mehr Lösungen, als man in der Politik weiß?
    Die Idee der Kanzlerin zu einer Bildungsreise war ja eigentlich nicht schlecht. Einen Einblick gewinnen in den Alltag von Schulen, Kitas und anderen Bildungseinrichtungen. Dann, so unterstellen wir, nachdenken über das Gesehene. Und schließlich ein Ratschlag in Ruhe, abseits der alltäglichen politischen Instrumentalisierungen. Jetzt bekommt Angela Merkel sogar noch Bestätigung von unerwarteter Seite: durch die Krise der Finanzwelt. Das Desaster steht für den Zusammenbruch des kurzfristigen Denkens. Bildung hingegen ist das Arbeiten an Nachhaltigkeit. Auch die jüngsten Schreckensmeldungen von Klimaexperten verlangen, sich Bildung als eine Haltung vorzustellen, und nicht nur als Steigerung von Qualifikationen und Skills. Bildung sollte also als Investition in das, was Menschen können, verstanden werden: denken, Fantasien entwickeln, Ideen verwirklichen. Eine Voraussetzung für all das ist, sich selbst und auch seinen Gefühlen wieder mehr zu trauen. Und noch ein Ass wird nun der Kanzlerin zugespielt. Angesicht der sich ankündigenden Rezession verlangen Unternehmerverbände, der Staat solle investieren. Und zwar in Flughäfen und Straßen. Was spräche gegen großzügige Investitionen in Bildung? Vielleicht könnte ein schöner Satz von Bundesbildungsministerin Annette Schavan zum Maßstab werden, den sie vor einiger Zeit bei einer Diskussion im Körber-Forum der gleichnamigen Hamburger Stiftung sagte. Jede Schule, so Schavan, solle mindestens ebenso schön, so großzügig und aus so gutem Material gebaut sein, wie die schönste Sparkasse der Stadt. Das wäre doch schon ein wunderbares Ergebnis des Bildungsgipfels kommende Woche in Dresden. Aber wer soll das bezahlen? Könnten nicht die Milliarden, die zur Stützung der verschwundenen Investmentgeldmengen offenbar vorhanden sind, mit je einer halben Milliarde für die Bildung gespiegelt werden? Schließlich wäre kein Euro für die Bildung verloren. Jeder wird hoch verzinst. Bestraft hingegen wird jeder nicht investierte Euro. Die Berater von McKinsey haben gerade wieder in einer Studie für die Robert Bosch Stiftung nachgewiesen, dass in Deutschland jährlich 50 Milliarden für Schulen, Kitas und Unis fehlen. Werden diese nicht investiert, schätzt McKinsey-Bildungsexperte Nelson Killius, kostet das die deutsche Gesellschaft und Wirtschaft in den nächsten zwölf Jahren 1,2 Billionen


    18.10.2008

    Hannah Arendt

    www.taz.de

    Pluralität

    Die Welt zwischen den Menschen

    "Jeder Mensch steht an einer Stelle in der Welt, an der noch nie ein anderer vor ihm stand" - Hannah Arendt nannte die Menschen Neuankömmlinge. Aus ihrer ursprünglichen Verschiedenheit und Fremdheit ergibt sich allerdings die Chance, dass sie sich miteinander befreunden. Die Tyrannei der einen Wahrheit hingegen mache aus Menschen schwache Epigonen, die sich als missglückte Kopien verstehen und als arme Untermieter die Welt auszehren.

    Das Übel begann für Arendt damit, wenn pathetisch von dem Menschen gesprochen wurde. Nein, sagte sie: die Menschen, sprach von ihrer Pluralität und plädierte für "das Risiko, als ein Jemand im Miteinander in Erscheinung zu treten". Dafür allerdings sei "Aufschluss zu geben, wer er ist", und auf die "ursprüngliche Fremdheit zu verzichten". Ein großer, aber auch gewöhnungsbedürftiger Gedanke. Auf seine Fremdheit verzichten! Im Gegensatz zu unserer Tradition war am Anfang kein Paradies, auf das der Sündenfall folgte. Und kein Paradies wird am Ende die Geschichte glücklich beenden.

    Hannah Arendt dreht die Konstruktion von ursprünglicher Harmonie und Wahrheit und selbstverschuldeter Entfremdung um. Die ursprüngliche Fremdheit lässt sich nur durch den Aufbau einer gemeinsamen Welt überwinden. So entsteht eigentlich erst die Welt, die immer fragil ist, aber in der für Menschen immer Anfänge möglich sind.

    Hannah Arendt sprach vom "Wunder des Neuanfangs", was zu ihrem radikal diesseitigen Denken kein Widerspruch war, denn "die Welt liegt zwischen den Menschen … und jede Wahrheit, ob sie nun den Menschen ein Heil oder ein Unheil bringen mag, ist unmenschlich im wörtlichsten Sinne, weil sie zur Folge haben könnte, dass alle Menschen sich plötzlich auf eine einzige Meinung einigten, so dass aus Vielen Einer würde, womit die Welt, die sich immer nur zwischen den Menschen in ihrer Vielfalt bilden kann, von der Erde verschwände".

    REINHARD KAHL

    taz über bodenseekongress

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    taz.de - Digitaz-Artikel

    08.10.2008

    Utopie verbrennt sich an Burn-out
    Am Bodensee trifft sich die Avantgarde der Schulneudenker in vergrößerter Runde. Ein rauschendes Fest - mit Kater. Bedenkenträger haben sich unter die Helden von Lernen 2.0 gemischt, Missverständnisse werden sichtbar AUS BREGENZ UND BAD KISSINGEN CHRISTIAN FÜLLER Wir nannten ihn Streber. Einmal bauten wir uns um ihn herum auf. Er hatte seinen Ranzen auf. Dann trat einer so dagegen, dass sich eine Schnalle öffnete. Er drehte sich wutentbrannt dem Tretenden zu - und hatte schon den nächsten Kick auf dem Ranzen, der auch die zweite Schnalle öffnete. Wir schämten uns. Aus Richard wurde etwas. Nun feiern sie alle zusammen 25 Jahre Abitur. Er erzählt von seinen Kindern. Der Sohn, der der ältere ist, geht ins normale Gymnasium. Die Tochter ins verkürzte G 8, das den gleichen Stoff in acht statt in neun Jahren vermittelt. Es ist keine schöne Geschichte. Man hat das Gefühl, dass auch Richards Sohn in die Rolle des Gehänselten schlüpft. Und derjenige, der ihn quält und bedroht, ist nicht etwa ein mobbender Mitschüler, nein, es ist die Schule selbst, die staatliche Schule. Aber schauen wir zunächst in die andere Schule. In die freie, offene, die alternative Schule. In die schlaue Schule. *** Er ist der Papst der Aufklärung über das Kleinkind. Remo Largo eröffnet den Reigen der Hauptvorträge auf dem Kongress der Schulneudenker am Bodensee, dem Kongress aller Bildungskongresse.

    PS 10 Erwachsen werden!

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    Reinhard Kahls Kolumne

    P. S. Erwachsen werden!

    »Man befürchtet im Augenblick nichts In der Familie spielten die Väter bald Möglichkeit, Autorität selbst zu produmehr als einen totalen Bankrott und ver- nur noch »eine Rolle zwischen Zaungast zieren. Die Autorität wirklich erwachgisst dabei die weit gefährlichere Zah- und Aufseher«, wie Thomä diagnosti- sen gewordener Erwachsener, die ein Jelungsunfähigkeit in geistiger Hinsicht.« ziert: »Der Vater wird ein lebender Wi- mand geworden sind, die Autoren ihrer Das schrieb 1836 der dreiundzwanzig derspruch, ein Zwitter aus Machterhalt Biographien sind, die sich nicht mehr Jahre junge dänische Philosoph Søren und Machtverlust«. Und die Familie damit herausreden, Kinder der falschen Kierkegaard. Der Satz klingt im Herbst schwankt zwischen den Zuständen eines Eltern zu sein, sondern aus ihrer Her2008 merkwürdig aktuell und ahnungs- Hohlraums und eines Stauraums. kunft, auch aus Trümmern, ihr eigenes voll, während in New York die Banken Leben bauen. Erwachsene, die sich in Bei Pink Floyd ... krachen und keiner wirklich versteht, der Welt nicht überwiegend fremd oder was da passiert.

    Liebe zur Welt Hannah Arendt

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    Liebe zur Welt
    Hannah Arendt wäre am 14. Oktober 100 Jahre alt geworden ­ ihre Inspiration für die Pädagogik ist erst noch zu entdecken
    Selten wird eine Theorie mit der Zeit nicht grau und grauer, sondern gewinnt an Strahlkraft. Selten tritt die Person, die hinter den Gedanken steht, nach und nach gleichsam erst hervor. Und noch seltener wird eine Frau Philosophin genannt. Das Prädikat Philosophin allerdings lehnte Hannah Arendt entschieden für sich ab. In dieser Ablehnung, bei ihrer gleichzeitigen tiefen Liebe zur Philosophie, liegt vielleicht ein Schlüssel zum Werk und zur Person.

    BEITRAG: 100. GEBURTSTAG VON HANNAH ARENDT

    taz vor dem Kongress

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    taz.de - Artikelseite

    taz logo

    23.09.2008 1 Kommentar

    Schulreformer treffen sich am Bodensee

    Im Treibhaus des Lernens
    Eine Doku über alternatives Lernen sorgt für Diskussionen unter Schulreformern. Die gründen Netzwerke und nehmen den Film zum Anlass für einen Bildungskongress der anderen Art. VON JULIA WALKER

    Selber lernen statt Frontalunterricht. Szene aus "Treibhäuser der Zukunft". promo

    PS 9 Üben

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    Reinhard Kahls Kolumne

    P. S. Das Üben neu entdecken!
    den.« Lehrer improvisierten zuweilen wie heutige Jazzmusiker und sie komponierten zumindest ein bisschen. Üben war eine Wechselwirkung von Ohr und Hand bzw. Mund. Dann kamen Übungsstücke auf den Notenmarkt, zum Beispiel Klavierschulen. Damit ließ sich der Unterrichtsaufwand um den Faktor sechs vermindern, schreibt Klug. Noten wurden Vorschriften. Üben schrumpfte von einem Selbstverhältnis des Musikers mit Blick auf den Meister, zum direkten Weg von der Note zum Instrument. Dominanz der Technik. Statt eines Spiels, das immer indirekt läuft, wurde nun ein kurzer und möglichst perfekter Weg zwischen Note und Instrument angestrebt. Der Übende fand sich störend dazwischen. Durch Üben, Üben und noch mal Üben sollte er sich dünne machen. Heiner Klug sieht darin den Sieg einer veränderten Arbeitshaltung.

    ZEIT online Üben 3 Flow

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    Lernen
    Von Reinhard Kahl

    Wenn Üben glücklich macht
    An der Musik wird deutlich, was Üben einmal war, wozu es geschrumpft ist und was es wieder werden sollte. Dritter Teil der Sommermeditation über das Üben
    III. Flow "Üben ist für Kinder ein Schreckgespenst", warnte der große Pianist und Komponist Arthur Schnabel. Er wollte das Wort am liebsten verbieten, denn man kann Kinder nicht für Musik begeistern, wenn man sie ihnen wie eine bittere Medizin aufzwingt. In seinen Erinnerungen Aus dir wird nie ein Pianist schlug Schnabel vor, die Drohgebärde, ,,hast du heute schon geübt", durch die freundlichen Ermunterung zu ersetzen: "Hast du heute schon Musik gemacht?" Aber welches Wort man auch gebraucht, die Bedeutung hängt letztlich an der Betonung. Es gab Zeiten, da klang Üben ganz anders als das garstig Wort, das der 1951 verstorbene Schnabel streichen wollte. Da kündete Üben nicht den entbehrungsreichen Weg zum fernen Ziel an, das dann zumeist gar nicht erreicht wird und die Sache mehr verleidet als fördert. Üben bedeutet das genaue Gegenteil davon. Es war ursprünglich das Wort für eine Passion. Es stand dafür, etwas zu vervollkommnen. Üben war gewiss nicht leidensfrei und auch nicht ohne Anstrengung möglich, aber schon der Anfänger genoss es, denn es machte hellwach und öffnete die Aufmerksamkeit. Der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi hat für dieses Glück, ganz gegenwärtig zu sein, das Wort ,,Flow" geprägt. Er findet Flow zum Beispiel bei Bergsteigern. Flow wird bei der Hingabe an eine Sache frei gesetzt. Flow kommt auf, wenn Kinder im Spiel versinken, selbstvergessen und voller Ernst. Um Flow zu erreichen, muss man vom Druck des aufgeschobenen Lebens frei sein. In der Musik lässt sich der Wandel wie unter dem Brennglas nachzeichnen. Bachs Goldberg-Variationen zum Beispiel waren als Übungsstücke komponiert, aber eben nicht nach dem Muster jetzt üben und später können. ,,Üben und Ausüben waren noch Synonyme", schreibt der Musikwissenschaftler Heiner Klug. In seiner Studie ,,Musizieren zwischen Virtuosität und Virtualität" (www.art-live.de zeigt er, wie das Üben im 19. Jahrhundert kippte. Bis dahin galt als ,,Übung jede Beschäftigung mit dem Instrument, Übung war jedes Spiel, unabhängig vom Niveau: vom Anfänger bis zum Meister, der Vortrag inbegriffen." Die Notenvorlagen dafür bezeichnet Klug als ,,Muster und Anregungsstücke zum Selbsterfinden". Lehrer improvisierten zuweilen wie heutige Jazzmusiker. Jeder komponierte zumindest ein bisschen. Auch Musiker waren nicht bloß die


    29.08.2008

    Interwiew zum Kongress Bildungsserver

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    ,,Der Austausch von Erfahrungen ist am wichtigsten"
    Anfang Oktober treffen sich 1500 Bildungserneuerer am Bodensee zum Kongress ,,Treibhäuser & Co 2008"

    Reinhard Kahl
    Das ,,Archiv der Zukunft ­ Netzwerk" veranstaltet vom 2. bis zum 5.Oktober 2008 unter dem Titel ,,Herausforderungen" seinen ,,II. Kongress der Schulerneuerer, Lernaufwiegler und Bildungsreformer". Erwartet werden im Festspielhaus Bregenz 1500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Praxis, Wissenschaft und Politik. Die Online-Redaktion sprach mit Reinhard Kahl, dem Gründer des Netzwerks, über die Themen des Kongresses, Geschichten vom Gelingen und darüber, wie gute Schulen aussehen. Online-Redaktion: Das Netzwerk Archiv der Zukunft hat sich mit seinem zweiten Kongress ,,Herausforderungen" viel vorgenommen.

    ZEIT online Lob des Übens II. Intensität

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    ZEIT ONLINE 2008-08-15

    Lernen
    Von Reinhard Kahl

    Von wegen Konzentrationsschwäche
    In einer Lernwerkstatt Natur oder im Sommercamp erfahren Kinder die Welt mit ihren Sinnen. Sie lernen nicht nur etwas über die Dinge, sondern auch etwas über die eigene Wirksamkeit
    2. Teil der Sommermeditation über das Üben: Intensität Mitten im Ruhrgebiet findet man eines der interessantesten Projekte in der Vorschulpädagogik, die Lernwerkstatt Natur. In Mülheim wurde von der Stadt mit Unterstützung der Deutschen Telekom Stiftung in einem Park ein Glashaus errichtet, das man ÜTreibhaus der ZukunftÜ nennt. Ganz in der Nähe ist ein Wald mit einer Schlucht und einem Bach. Das Haus dient Kindergärten als Basislager für Expeditionen in die Natur. Neben der Stadt und der Stiftung sind Erziehungswissenschaftler die Dritten im Bunde. Sie wollen herausfinden, wie der inzwischen viel beschworene Forschergeist der Kinder tickt. Eines wurde sofort klar, nicht im Gleichtakt. Jedes Kind braucht für die verschiedenen Dinge seine Eigenzeit. Kinder trödeln oder rennen. Sie bewegen sich nicht wie brave Kindergartenkinder in der Stadt, die Hand in Hand durch den Straßenverkehr geschleust werden. Im Laufschritt und mit höchsten Tönen geht es in die Schlucht. Die Kinder sind zwischen vier und sechs. Sie haben vorher einen Bollerwagen mit Seilen, Schaufeln, Eimern, Sieben, Lupen und anderem Werkzeug bepackt. Unten am Bach hopsen die meisten mit ihren Gummistiefeln erst mal ins Wasser.

    ZEIT online Lob des Übens I. Fallen

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    Lernen
    Von Reinhard Kahl

    Lob des Übens
    Üben gilt zumeist als gestrig, als das Gegenteil von Entdeckerlust und Selbstverwirklichung. Aber das ist ein Zerrbild. Eine Sommermeditation in drei Teilen
    I. Fallen Ein Lob des Übens ausgerechnet im Sommer, während die meisten Schüler noch große Ferien haben und auch Erwachsene im Urlaub endlich mal nichts tun müssen? Gerade jetzt! Man schaue sich nur Kinder an, wie sie am Strand oder an Pfützen Wasser schöpfen und gießen. Scheinbar machen sie ständig das Gleiche. Schöpfen und gießen. Oder man werfe einen Blick auf die Sommercamps, die nun Jahr für Jahr zahlreicher werden. In kurzer Zeit erzielen Kinder und Jugendliche dort unglaubliche Leistungen und zum Schluss gibt es Tränen. Sie wollen nicht mehr weg und immer weiter so lernen, Theater spielen und zusammen sein. Im Trainingszentrum des FC Bayern von Jürgen Klinsmann soll mehr geübt werden und mehr Freude aufkommen, damit es endlich auch in der Champions League klappt. Bei der uralten Spielkunst der Kinder, in den neuen Sommercamps und bei Klinsmanns Empowerment-Fußball kann man entdecken, was intelligentes, lustvolles und durchaus auch anstrengendes Üben vermag. Es hat wenig mit der Zwangsumschulung des Linkshänders zum Rechtshänder oder mit dem Einbläuen von Flötentönen gemein. Aber genau diese Qual ist für viele noch der Inbegriff von Üben: alles nur Drill und Unfreiheit. Demzufolge wurde dann das Kind wieder mal mit dem Bade ausgeschüttet und aufs Üben ganz verzichtet. Aber der Abstand zwischen einengendem Übezwang und herausfordernder Übelust ist so groß wie der zwischen dem Exerzieren auf dem Kasernenhof und den Exerzitien in einem ZenKloster. Gehen wir heute erst mal zu den kleinen Kindern. Ein Baby zieht sich am Stuhl hoch und fällt hin. Es zieht sich am Hosenbein des Vaters hoch und wieder fällt es. Auch die ersten selbstständigen Schritte enden auf dem Boden. Das Laufen beginnt mit dem Fallen und so geht das monatelang. Erwachsene hätten längst aufgegeben. Aber das Kind macht weiter. Am Lerngenie der Kinder kann man viel begreifen. Mit ihrer angeborenen Lust am Neuen nehmen sie sich etwas vor. Ihre ebenfalls angeborene Lust, zum Ziel zu gelangen, treibt sie, bis die Sache mit größter Leichtigkeit und wie automatisch gelingt. Die Erfolge dieses Lernens lassen sich gar nicht aufhalten. Irgendwann kann jeder laufen. Das Laufen selbst ist ja eine schöne Metapher auf unser Thema. Physiologisch gesehen ist es aufgefangenes Fallen, und dieser Wechsel von Stabilität

    http://images.zeit.de/text/online/2008/33/lernen-ueben-fallen

    11.08.2008

    PS 7 Die dritte Chance

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    P. S. Die Dritte Chance ­ eine Sommermeditation
    tersstudie mögen es sechs oder sieben Jahre sein. Dennoch, der Zahn der Zeit nagt an der Illusion von Zeitlosigkeit. Bietet ausgerechnet das Alter angesichts der nun nicht mehr zu leugnenden Endlichkeit, die Chance im eigenen Leben anzukommen? Die Alten könnten dem falschen Versprechen imperialer Faltenlosigkeit trotzen. Sie könnten die Flucht vor sich selbst beenden. Sie könnten sogar ein Ferment des Wandels in der ganzen Gesellschaft werden, wenn ihre Lebensweise auch die Jüngeren daran erinnert, was gelungenes Leben seit eh und je ausmacht: Tätig sein und aus seiner unvermeidlichen Unvollkommenheit mit anderen eine gemeinsame Welt schaffen. Ab und zu Exerzitien, als wüsste man, dass das eigene Leben nicht mehr lange währt. Das wäre eine Lebensschule. Sterblichkeit ermöglicht Gebürtlichkeit.

    PS 6 Herausforderungen

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    Reinhard Kahls Kolumne

    P. S. Herausforderungen
    Aber immer mehr Menschen entdecken, wie viele neue Welten er hervorbringt. Luhmann erinnerte in diesem Zusammenhang an das Kinderspiel »Ich sehe was, was du nicht siehst.« Wenn auch im Alltag Verschiedenheit immer noch eher als eine zu korrigierende Abweichung gesehen und häufig noch verfolgt wird, so dämmert es doch überall: Es ist ein Vorteil, verschieden zu sein. Differenz ist die stärkste Ressource von Individuen und auch ihre Chance auf Schönheit. Es gilt, sie herauszufordern. Dieses Herausfordern des Eigenen, und zwar nicht theoretisch, sondern im Alltag, das Eigene nicht nur zu tolerieren, sondern darauf neugierig zu sein, ist heute die größte Herausforderung für Schulen. Kindergärten sind da oft weiter. In Schulen erreicht der standardisierte und homogenisierte Stoff die meisten Kinder und Jugendlichen gar nicht mehr. Sie erleben das Lernen oft als Überforderung oder Unterforderung, oftmals als beides zugleich. Häufig schwanken die öffentlichen Debatten zwischen diesen Scheinalternativen. Herausforderung wäre etwas Drittes. Sie macht allerdings auch Angst.

    DIE ZEIT über den Film KINDER!

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    Seite 1 von 2

    ZEIT ONLINE 23/2008
    Film

    Gelassene Heiterkeit
    Der neue Film des Bildungsexperten Reinhard Kahl »Kinder!« zeigt mit großer Ruhe wie der Nachwuchs die Welt entdeckt
    Von Elisabeth von Thadden Kinderarbeit, das Wort bedeutet nichts Gutes, lauter unfreiwillige Schinderei statt Bildung und Spielerei, wie sie Kindern zustehen sollten. Aber das Wort ließe sich auch anders verstehen, und das tut der merkwürdig schöne Film Kinder!: Der konzentrierte Ernst, mit dem Kinder spielend ein Waldloch erkunden, das hartnäckige Interesse, mit dem sie in Variationen Wasser schöpfen und gießen, die unermüdbare Neugier, mit der sie dem Klang eines Tamburins nachgehen wollen, wäre all das nicht am besten ­ und respektshalber! ­ Arbeit zu nennen? Die Kinder tun es selbst. Dann allerdings müsste die erwachsene Arbeitswelt bei Kindern mal in die Schule gehen. Denn die machen etwas grundsätzlich Menschliches vor: Sie wollen Neues lernen, weil sie nicht anders können, es sei denn, man stört sie. Auch unter den übelsten Bedingungen sozialer Brennpunkte: Sie lernen, wenn man ihnen vertraut und ihnen viel zutraut.
    29.05.2008

    PS 5 Element Studie

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    P. S. Die Element-Studie und ein Unglücksfall
    wechselten, seien am Ende der Klasse sechs sage und schreibe zwei Jahre voraus. Er sagte nicht ­ zumindest wurde das nicht gedruckt ­ dass die Kohorte der Kinder, die in Berlin vorzeitig zum Gymnasium geht, gewissermaßen über Nacht diesen Vorsprung durch Selbstauswahl und eigentlich auch von der Studie zugesprochen bekommt. Aber was macht diese Gruppe aus? Sind es die Besten oder haben sie oft nur die ambitioniertesten Eltern, vielleicht bekommen sie auch am meisten Nachhilfe? Über Motive und Haltungen weiß die Studie nichts. Im Leseverständnis erreicht diese Gruppe Ende der vierten Klasse 114 Punkte. Kinder, die in der Grundschule bleiben, erreichen 97 Punkte. Nach Klasse sechs steht es 123 zu 110. Man kann natürlich sagen, wie es in den Interviews mit Lehmann klang, die Grundschüler seien nach zwei Jahren noch nicht mal dort angekommen, wo die Gymnasiasten schon beim Start im Gymnasium waren. Der Leser denkt, oh Gott, was für eine Katastrophe. Kennt man allerdings die Zahlen, dann sieht man den Vorsprung der Gymis von 17 auf 13 Punkte in den zwei Jahren dahinschmelzen.

    ZEIT online Streit um Berliner Element-Studie:

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    DIE ZEIT 23.4.2008 - 12:36 [http://www.zeit.de/online/2008/17/element-studie]

    Schule

    Unglücksfall und Chance
    Die viel diskutierten Ergebnisse der Grundschulstudie "Element" schienen gegen die sechsjährige Grundschule zu sprechen. Tatsächlich legt die Studie andere Schlüsse nahe.
    Von Reinhard Kahl Olaf Köller, der Direktor des von den Kultusministern gegründeten Instituts zur Qualitätssicherung im Bildungswesen (IQB) und Professorenkollege des Bildungsforschers Rainer Lehmann an der Humboldt-Universität Berlin, war nach der Lektüre des Interviews mit Lehmann in der ZEIT über die Grundschulstudie "Element" erschrocken über die vermeintlichen Ergebnisse. Vier Tage später erschrak er erneut - diesmal über die Differenz zwischen Lehmanns Auslegung und den tatsächlichen Befunden der Studie.

    „Lehrpläne auf den Müll“

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    DIE ZEIT 10.4.2008 - 19:35
    Gymnasium

    Lehrpläne gehören auf den Müll!
    Hat der Streit um G 8, das um ein Jahr verkürzte Gymnasium am Ende eine reinigende Wirkung auf unsere Schulen? Bildungsministerin Annette Schavan meint: Weniger ist in der Bildung häufig mehr.
    Von Reinhard Kahl Es gibt Leitzordner-orientierte Lehrer, LOL genannt, und die Fächer-orientierten (FOL). Dann gibt es noch eine Gruppe: SOL. Das Wort klingt bei Ursula Duppler-Breth fast wie Soul. Es sind die Schüler-orientierten Lehrer. Frau Duppler-Breth ist eine Veteranin aus dem Landeselternbeirat Baden-Württemberg. Sie beobachtet über die Jahre die Tendenz weg vom Aktenordner hin zum Schüler, langsam und stetig. Aber ist das bereits die Hauptströmung an den Schulen? Eher noch nicht. Neben den Sündern in der Politik und in der Verwaltung macht die Mutter die vielen LOL-Lehrer für die Probleme mit G 8 verantwortlich. Wenn Sie denen ihre Ordner wegnehmen, dann gibt es einen Aufschrei, den man bis zur Nordsee hört. Solches und manch anderes Geschrei übertönt den eigentlich viel spannenderen Diskurs über Schulen, die gelingen. Um über diese stille Revolution zu sprechen, lud das von Ursula Duppler-Breth, Wolfgang Kuert und anderen Elternvertretern aus Gymnasien gründete Elternforum Bildung unlängst nach Bad Honnef. Das Thema: Wie gestaltet man die Schulzeitverkürzung erfolgreich?

    PS 4 Schwarz-grüne Bildung

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    Reinhard Kahls Kolumne

    P. S. Schwarz-grüne Bildung?
    Lernzeit, so Goetsch, könnte auf verschiedenen Wegen verwirklicht werden. Warum sollten Grundschulklassen nicht schon früher in Schulen wechseln, die bisher noch Gesamtschule, Gymnasium, Haupt- oder Realschule heißen, wenn die Kinder weiter zusammenbleiben? Schulen, die bereits kooperieren, könnten »Tandemschulen« bilden und langsam zu Schulnetzen zusammenwachsen. Andere würden mit den neuen politischen Vorgaben überhaupt erst zu kooperieren beginnen. Bisher ist es ja eher der Normalfall, dass ein Gymnasiallehrer von den Grundschullehrern, die seine Fünfklässler bisher unterricht haben, nichts weiß. Welcher Oberstudiendirektor verabredet sich mit dem Hauptschulrektor, bei dem viele seiner »Rückläufer« Jahr für Jahr landen, mal zu einem Tee oder Kaffee? ... und zweitens ... Mit Schulkonferenzen in den Stadtteilen, mit Tandemschulen und einem tragfähigen Netzwerk könnte sich diese Koalition einer Gemeinschaftsschule nach skandinavischem Vorbild vielleicht schneller nähern, als es einer rot-grünen Koalition, die in Hamburg »Eine Schule für alle« proklamiert hätte, möglich gewesen wäre.

    WDR Schule Interview zu G8

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    Bildungsautor Reinhard Kahl über G8 und Turbo-Abi

    "Geübt wird Pauken und Bluffen"
    Durch die verkürzte Gymnasialzeit (G8) wird die ganze Misere an deutschen Schulen allen Beteiligten erst richtig bewusst, sagt der Bildungsexperte Reinhard Kahl. Anstelle von Nachhaltigkeit regiere "wirkungsloses Stopfen" von Wissensmengen in Schülerköpfe. In NRW sei die Debatte ideologisch vergiftet.

    DIE WELT 1. 4. Kathedralen der Stadtteile

    Welt 1. 04. 2008

    Hamburgs Schulen: Kathedralen der Stadtteile


    von Reinhard Kahl

    Heute kommt bei den Koalitionsverhandlungen in Hamburg die Bildung dran. Dieses bevorzugte Schlachtfeld für Kultur- und Politikkämpfe. Im mehr als 30-jährigen Bildungskrieg wurde immer wieder das Entweder-oder-Schisma inszeniert. Gesamtschule oder dreigliedriges System. Lust oder Leistung. Spiel oder Anstrengung. Könnte Schwarz-Grün Frieden bringen? Möglich.
    Bei den Sondierungen wurde bereits ein Rahmen gesetzt. Kinder sollen bis zum Ende des sechsten Schuljahres zusammenbleiben. Außerdem wird ein Vorschuljahr eingeführt. Jede Schule soll für den Bildungsweg ihrer Schüler verantwortlich werden. Durch „Querversetzen“, zum Beispiel vom Gymnasium zur Realschule, könnten Schulen die schwierigen Schüler nicht mehr einfach loswerden. Das hatte die CDU schon in dem noch vom alten Senat verabschiedeten Plan für ein zweigliedriges System aus „Stadtteilschule“ und Gymnasium so festgelegt.
    Aber die sechsjährige Grundschule macht ganz pragmatische Probleme, zumal wenn noch eine Klasse null, die Vorschule, dazukommt. Dafür reichen in den Grundschulen zumeist die Räume nicht. Nun überlegen die Grünen, ob Grundschulklassen nicht schon früher in die weiterführenden Schulen wechseln können, wenn die Kinder zusammenbleiben. Das findet auch die CDU nicht schlecht. Schulen, die bereits kooperieren, könnten „Tandemschulen“ bilden und zu Schulnetzen zusammenwachsen. Andere würden überhaupt erst mit der Kooperation beginnen. In diesem Prozess würde es immer mehr auf die einzelne Schule ankommen.
    Die Amerikaner nennen so etwas Empowerment. Ermächtigung der Akteure. Was man als entscheidungsschwachen Ausweg kritisieren wird, könnte sich tatsächlich als neuer Weg erweisen.
    Der Anspruch der Grünen, die „Basis“ stärker einzubinden und die subsidiäre Option der CDU, nicht dem Staat zu übertragen, was vor Ort gemacht werden kann, diese Schnittfläche ließe sich kultivieren und mit der schwarz-grünen Vision von der „kreativen Stadt“ verbinden. Sollten Schulen nicht Knoten in diesem Kreativnetz werden? Könnten Sie nicht zusammen mit engagierten Handwerkern, Unternehmern und Künstlern etwas anfangen, das keiner Politik von oben gelingen wird: Schulen zu den Kathedralen ihres Stadtteils zu machen? Jede Schule hätte einen Namen und eine Biografie. Jede hätte ihre Vergangenheit und eine Zukunft, als diese besondere Schule, nicht als geklontes Exemplar einer Gattung.
    Der Autor ist Bildungsexperte und Filmemacher in Hamburg

    ZEIT online Schwarz-grüne Bildung?

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    Seite 1 von 4

    DIE ZEIT 19.3.2008 - 12:38 [http://www.zeit.de/online/2008/12/bildungschwarz-gruen]

    Schulpolitik

    Hamburger Bildungsfriede
    In Hamburg verhandeln CDU und Grüne über eine Koalition. Findet ausgerechnet Schwarz-Grün Wege aus den Grabenkämpfen des mehr als 30-jährigen deutschen Schulkriegs?
    Von Reinhard Kahl CDU und Grüne, in Hamburg heißen sie Grün-Alternative Liste (GAL), wollen erst ganz am Ende ihrer Koalitionsverhandlungen, am 31. März, über das wichtigste und vielleicht schwierigste Thema reden: Schule. Doch ein Gerüst für Umbauten im Schulsystem wurde bereits bei der ersten Sondierung aufgestellt. Wichtigster Punkt: Die Kinder sollen nicht mehr am Ende der vierten Klasse in Hauptschüler, Realschüler oder Gymnasiasten eingeteilt werden. Sie sollen bis zum Ende des sechsten Schuljahrs zusammen unterrichtet werden. Außerdem wird ein kostenloses und verpflichtendes Vorschuljahr, gewissermaßen eine Klasse null, eingeführt, um mit der Förderung aller Kinder früher zu beginnen. Konsens gibt es grundsätzlich sogar über die Notwendigkeit eines Kulturwandels. Von Anfang an sollen die Schulen mehr Aufmerksamkeit für jedes einzelne Kind aufbringen. Revolutionär für Deutschland wäre es, wenn, wie geplant, jede Schule für den Bildungsweg ihrer Schüler verantwortlich würde. Sich schwieriger Schüler durch ,,Querversetzen" zu entledigen, zum Beispiel vom Gymnasium zur Realschule, wäre dann keine Option mehr. Auch das Abschaffen des Sitzenbleibens steht auf der Agenda. Ohne solche Aussichten hätte die GAL Koalitionsgespräche gar nicht erst aufgenommen. Dass die Hauptschulen auslaufen und das dreigliedrige Schulsystem in Hamburg in die beiden Säulen Gymnasium und Stadtteilschule umgewandelt werden soll, hat die CDU ohnehin schon beschlossen. Die GAL will eine Gemeinschaftsschule bis zum 9. Schuljahr, aber sie weiß, dass dieses große Unterfangen Zeit braucht. Kaum ist dieser Horizont geöffnet, da verdunkelt er sich schon wieder. Ein Aufschrei kommt aus den Schulen: Wohin denn mit den Kindern der dann siebenjährigen Grundschule? Schon die Gebäudegrößen machten einen ersten Strich durch die Rechnung. Mit der Vorschule und den Klassen 5 und 6 würde die Grundschule ja nahezu verdoppelt, und dafür reiche nirgendwo der Platz. Die Vorschule für jedes Kind macht Kindergärten Angst. Werden sie zugunsten der Schule um eine Jahr reduziert? Wird die Kindheit verschult? Es wäre ja nicht das erste Mal, dass sich hohe Pläne vor einer Wirklichkeit blamieren, die immer facettenreicher und unberechenbarer ist, als es sich die Steuerleute oben auf der Brücke vorstellen können. ,,Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt." Am Ende behält Wilhelm Busch recht, es sei denn, Politikern gelingt es endlich, nicht mehr wie eine allwissende Zentrale die widerspenstige Realität zu traktieren und stattdessen deren Komplexität in ihre Strategie einzubauen. Das könnte die Herausforderung für Schwarz-Grün sein, und in

    http://images.zeit.de/text/online/2008/12/bildung-schwarz-gruen

    19.03.2008

    ZEIT online Turbopolitik & Lehrplanwirtschaft

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    Seite 1 von 3

    DIE ZEIT 7.3.2008 - 18:21 [http://www.zeit.de/online/2008/11/bildung-g8]

    Schule

    Turbopolitik und Lehrplanwirtschaft
    So viel Unmut über die Bildungspolitik war selten. Das verkürzte Gymnasium raube den Schülern die Kindheit, klagen viele Eltern. Die hessische Kultusministerin trat zurück. Nun tagten die Kultusminister.
    Von Reinhard Kahl Die Antwort der Kultusministerkonferenz (KMK) auf die Unruhe in den Schulen und auf den Aufschrei vieler Eltern über das auf acht Jahre verkürzte Turbogymnasium mit dem Stoff von ehemals neun Jahren heißt ,,flexibilisieren". Konkret: Es bleibt bei 265 gymnasialen Pflichtstunden im Stundenplan bis zum Abitur, aber künftig dürfen davon fünf Stunden ,,Wahlunterricht" sein. Das beschloss die KMK am 6. März. Außerdem, man genieße diese Sprache im Original, ,,werden die Länder, in denen es erforderlich ist, auf der Grundlage des Austauschs ihrer Erfahrungen die geforderten Inhalte der Lehrpläne ­ auch auf dem Weg zu Kerncurricula ­ anpassen. Es soll gewährleistet werden, dass mit der Stoffvermittlung auch Methodenlernen einhergeht sowie Übungs- und Anwendungszeiten insbesondere in den Kernfächern kombiniert werden." Und das war es denn auch schon. So sprechen Zentralkomitees maroder Planwirtschaften, in diesem Fall der Lehrplanwirtschaft. Das Schulsystem ist der letzte große VEB, volkseigene Betrieb, der uns geblieben ist. Man gibt etwas ,,Flexibilität" und hofft, dass dann wieder Ruhe ist auf dem schwankenden Schiff. Es spricht vieles dafür, die Schulzeit im Gymnasium zu verkürzen, wenn man nicht zugleich versucht, den ,,Stoff" von neun in acht Jahre hinein zu pressen und dann auch noch völlig darauf verzichtet zu beobachten, was dabei passiert. Kultusminister nennen diese versäumte Selbstverständlichkeit sonst gern ,,Evaluation" und verlangen sie von anderen. Aber ein ZK weiß ja im voraus, was richtig ist und reicht seine Wahrheiten in Erlassen, dicken Lehrplänen und täglich neuen Regularien von oben nach unten durch. Wie man weiß, mal mit diesem und mal mit einem ganz anderen Inhalt. Die Schulen entwickeln dagegen ihr ganz spezifisches Immunsystem. Irritations- und Reformresistenz sind Nebenfolgen, die irgendwann die Hauptwirkungen sind. Mit den Kultusministerien ist es ein bisschen wie mit vielen Lehrern, die Zensuren und Bewertungen austeilen, aber ihre Würde schon verletzt sehen, wenn sie nun im Internet von Schülern bewertet werden. Die inzwischen von der Bildungsbürokratie ständig eingeforderte Evaluation kommt ihr selbst, wenn es ums eigene Handeln geht, nicht in den Sinn. Erst entscheiden, dann die Wirkungen der Entscheidungen beobachten und analysieren, und schließlich die Konsequenzen daraus ziehen, das ist das Kleine Einmaleins ,,lernender Organisationen." Aber nichts findet man davon bei denen, die dafür verantwortlich sind, wie Millionen von Schülern lernen. Was würde man eigentlich dem Vorstand eines Sportclubs erzählen, der beschließt, man könne ebenso auf Kopfsteinpflaster Tennis spielen, wie auf dem Center Court

    http://images.zeit.de/text/online/2008/11/bildung-g8

    07.03.2008

    PS 3 G-8: Statusangst & Bulimie

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    P. S. G-8: Statusangst und Bulemie-Lernen
    gogische Task-Force, zur Not auch am Wochenende, nicht am Geld scheitert. Aber Zeit ist nicht vermehrbar. 35 Prozent aller Kinder, so eine repräsentative Befragung der Deutschen Angestellten Krankenkasse, bekommen Nachhilfe. Um die drei Milliarden Euro im Jahr gehen in Deutschland dafür drauf. Damit könnte man auch gute Ganztagsschulen finanzieren. Das Problem, das mit G 8 nun einen Namen bekommen hat, ist die grassierende Lern-Bulimie in den Schulen. Dieses Memorieren und Vergessen. Der Mangel an Nachhaltigkeit. Unerträgliches, häufig bloß taktisches Lernen. Und vor allem die geringe Wirksamkeit. 6 Wochen Frist Wie kommt man aus diesem Schlamassel heraus? Wie wäre es, wenn man in den Schulen nur eine einzige Sache ändert. Mehr erst mal nicht.

    PS 3 WC Pädagogik

    WC Pädagogik

    Sieben Milliarden Euro, rechnete Anfang

    des Jahres das Institut der deutschen

    Wirtschaft vor, gehen im deutschen

    Bildungssystem so offensichtlich

    durch den Schornstein, dass sich der

    Weg des Qualms genau verfolgen lässt.

    Mit 3,7 Mrd. Euro schlägt zu Buche,

    dass Schüler keinen Schulabschluss erreichen

    und oder sitzen bleiben. Durch

    diesen Schornstein verpuffen sieben

    Prozent aller staatlichen Ausgaben für

    die berufliche und allgemeine Bildung.

    Außerdem gehen 3,4 Mrd. durch die

    Schlote fragwürdiger nachschulischer

    Reparaturmaßnamen. Häufig wird

    dort nur die Stigmatisierungskerbe vertieft.

    Je später die kompensatorischen

    Bemühungen, desto wirkungsloser bleiben

    sie. Im Berufsvorbereitungsjahr beträgt

    die Abbrecherquote 43 Prozent.

    Von allen Jugendlichen, die eine berufliche

    Schule verlassen, bleibt ein Fünftel

    ohne Abschluss. Folgeprobleme und

    Folgen der Folgen belasten das ganze

    schlecht eingefädelte System. Was

    könnte man mit dem Geld alles bewirken,

    wenn es nicht spät für Reparaturen

    verschwendet, sondern in die frühe Förderung

    investiert würde?

    Weicher Faktor hat Folgen

    Die Studie des Instituts der Arbeitgeber

    sieht den Grund für die Effizienzmängel

    in der »mangelnden Förderkultur

    im deutschen Schulsystem.« Eine bemerkenswerte

    Feststellung. Jetzt nimmt

    auch die betriebswirtschaftliche Fraktion

    die harten Folgen eines weichen

    Faktors zur Kenntnis. Man beginnt zu

    verstehen, dass das exakt bezifferbare,

    ökonomische Problem nicht nach ökonomischen

    Parametern gelöst werden

    kann. Es wurzelt in der Kultur des Systems.

    Aber der Blick auf die Kultur eines Systems

    ist voller Tücken. Die Wahrnehmungsmuster

    stehen dem Wahrzunehmenden

    häufig im Wege, zumal wenn

    Beobachter zugleich die Akteure sind.

    Ein Beispiel. Am Tag nach der Veröffentlichung

    der zitierten Studie sagt der

    Vorsitzende des Schulausschusses der

    Kultusministerkonferenz, Ministerialdirigent

    Klaus Karpen, auf einer Veranstaltung

    in der Musikhochschule Lübeck,

    es sei doch eigentlich schon lange

    klar, dass Sitzenbleiben rein gar nichts

    bringe. Nach einem halben Jahr seien

    Wiederholer in der Regel wieder auf

    dem gleichen niedrigen Stand, dessentwegen

    man sie hat durchrasseln lassen.

    Ja, das ist bekannt. Dazu braucht man

    nicht mal unbedingt Studien. Die Sache

    spielt sich ja nicht im Verborgenen ab.

    Aber als vor Jahren die GEW vorschlug,

    aufs Sitzenbleiben zu verzichten,

    kamen ihr wenig Sympathie und viel

    Empörung entgegen. Vor allem in der

    Provinzpresse und in Leserbriefspalten

    hieß es, dann würden Schüler wohl bald

    gar nichts mehr lernen, wenn jeder einfach

    so mitgenommen würde.

    Kollektives Imaginäre

    Was nützt es zu wissen, dass Sitzenbleiben

    nichts bringt, wenn die andere

    Hirnhälfte nach dem Damoklesschwert

    verlangt, weil es sich Lernen als Außensteuerung

    mit Druck, notfalls mit der

    Peitsche vorstellt? Glauben geht eben

    über Wissen. Deswegen vermeiden Politiker,

    sich mit solchen Grundstimmungen

    anzulegen. Aber in den Fundamenten

    des kollektiven Imaginären

    scheint sich einiges zu verschieben. Das

    Wissen und vor allem die Überzeugung,

    dass Sitzenbleiben nichts bringt und

    dass die frühen Jahre nicht Betreuung,

    sondern Bildung verlangen, setzen sich

    langsam durch.

    Am selben Tag als die Studie des Arbeitgeberinstituts

    veröffentlicht wurde,

    stellte Rainer Lehmann, Professor für

    empirische Erziehungswissenschaft an

    der Humboldt Universität, Ergebnisse

    seiner Hamburger Untersuchung über

    die Leistungen von Oberstufenschülern

    vor (LAU 13). Eine Ursache für schlechtes

    Abschneiden sah er in einem Unterrichtstil,

    den er das »WC-Modell«

    nennt. Lernen für Prüfungen. Ich habe

    bisher die Bezeichnung Bulimie-Lernen

    als treffender vorgezogen. Egal. Man

    nähert sich jedenfalls dem Problem, und

    das ist die Kultur der Schule.

    Befreiendes Lachen

    Wie ambivalent die meisten Menschen

    auf die überkommenen Rituale der

    Schule regieren, macht eine kleine Inszenierung

    deutlich, mit der der Psychiater

    und Hirnforscher Manfred Spitzer

    seine Vorträge gern unterbricht. »Jeder

    bekommt jetzt ein DIN-A4-Blatt«, sagt

    er ernst, fast drohend. »Schreiben Sie

    bitte auf, was Sie von der Mathematik

    der Oberstufe können.« Eine Viertelstunde

    gibt er dafür. Aber bald erleichtert

    sich der Saal mit donnerndem Lachen.

    Jeder weiß doch, dass man dafür

    keine Viertelstunde braucht. Eine

    Streichholzschachtel würde häufig reichen.

    Auch das ist keine neue Erkenntnis.

    Aber vielleicht sind die Chancen

    heute nicht schlecht, dass sich die Kritik

    an der geringen Effizienz, die nun

    auch die Makroökonomie an der Schule

    führt, mit einer pädagogischen Mikroökonomie

    verbindet, die zeigt, wie Lernen

    geht und wie nicht.

    P. S.

    »Wir bieten unseren jungen Menschen

    zu wenig Freiräume, zu wenig Muße –

    Muße zum Nachdenken, zum Probieren.

    Auch zum sich Irren. Der ständige

    Druck, Arbeit kleinteilig verrichten zu

    müssen, ist nicht unbedingt hilfreich.«

    Das sagt einer der erfolgreichsten Erfinder

    und Unternehmer, Berthold Leibinger.

    Schon als Lehrling machte er seine

    erste Erfindung und musste später

    eine andere Erfindung, die von numerisch

    gesteuerten Werkzeugmaschinen,

    gegen Chefs durchsetzen, die gleich

    wussten, das geht nicht, das wird

    nichts, das ist viel zu teuer. Heute macht

    Leibinger damit 1,4 Milliarden Umsatz

    im Jahr.

    P. P. S.

    Kritik, Zustimmung oder Brainstorming:

    www.reinhardkahl.de

     

    DIE ZEIT Hentig Erinnerungen II

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    Die Zeit - Literatur : Glücklicher Sisyphos

    Seite 1 von 2

    DIE ZEIT
    Glücklicher Sisyphos
    Der große Pädagoge Hartmut von Hentig erzählt im zweiten Band seiner Erinnerungen, wie er seine Pädagogik erfand

    Von Reinhard Kahl Eigentlich sollte es eine »Waldschratschule« werden. So nannten Hartmut von Hentig und seine Freunde Mitte der sechziger Jahre in Göttingen ihre Traumschule. Ein Haus mit Nischen und offenen Räumen. Eine Schule, die den Kindern ihren Eigensinn lässt und Welt hereinholt. Ein Ort, an dem nicht immer nur über die Dinge doziert wird. Eine Republik für Kinder mit vielen Gelegenheiten zum Lernen und Leben. »Waldschratschule« bedeutete auch, den Kindern ihre Geheimnisse zu lassen, Individuen nicht länger zu standardisieren. In den noch steifen, aber mit vielen Ideen und Wünschen aufgeladenen sechziger Jahren fand ein großer Bildungsaufbruch statt. Eine produktive Zeit, in der Finnen und Schweden den Umbau ihrer Schulen begannen und mit langem Atem dranblieben. Deutschland hingegen verfiel nach 1968 in den Kulturkampf. Zu einem der verwüsteten Schlachtfelder wurde in diesem letzten Religionskrieg, der dem Land noch geblieben war, die Bildung. Vor allem von dieser Zeit handelt der zweite Band der Erinnerungen dieses singulären Pädagogen, der sich bescheiden einen Lehrer nennt und doch ein Weltkind ist, wie es ganz selten vorkommt. Der erste Band, Anfang letzten Jahres erschienen, schließt im Jahr 1953 mit der Schiffspassage von Amerika zurück nach Deutschland. Hartmut von Hentig hatte in Chicago alte Sprachen studiert. Aber was sollte der 28 Jahre alte, frisch gebackene Doktor ohne, wie man heute sagen würde, berufsqualifizierenden Abschluss anfangen? Das Netz der aristokratischen Freunde fing ihn auf. Bei Georg Picht, auch einem Altphilologen und damals Leiter des Internats Birklehof im Schwarzwald, kam er unter. Es folgten intensive Lehr- und Lehrerjahre. Zugleich publizierte er, unter anderem in der ZEIT. In Tübingen machte Hentig sein Referendariat, um nicht länger ohne Staatsexamen auf Gedeih und Verderb dem Schulleiter Picht ausgeliefert zu sein. So wurde er Studienrat. Er war begeistert vom Lernen und vom Lehrersein, aber vor allem begeisterten ihn die Kinder, die ihr Lerngenie allerdings häufig ausgerechnet in der Schule verlieren. Hentig litt unter den Regularien der verwalteten, unpädagogischen Schule. Er hätte in diesen Jahren auch andere Karrieren machen können, zum Beispiel als Leiter des S. Fischer Verlags. Aber er wollte Lehrer sein. An seiner Biografie versteht man, dass Leidenschaft ohne Leiden nicht zu haben ist und dass ein guter Lehrer nicht Fächer, sondern Schüler unterrichtet. Das wichtigste Curriculum des Lehrers, sagt Hentig immer wieder, ist seine Person. Er geht noch weiter: »Will ich meine Pädagogik erklären, muss ich mich erklären.« Lehrer sind eben keine Wissensdealer, die den Stoff rüberschieben, und sie sind auch keine Funktionäre von Lernprozessen. Lehrer müssen Meister im Dialog sein, auch in jenem Dialog mit sich selbst, den Platon Denken nannte. Sie müssen Auskunft geben können, wozu das Wissen wichtig ist, und sie müssen für das alles mit ihrer Person einstehen.

    http://images.zeit.de/text/2008/08/SM-Hentig

    22.02.2008

    DIE WELT Lern-Bulimie

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    DIE WELT 16. Februar 2008 Zur Debatte über die Gymnasialzeit

    Lern-Bulimie
    Von Reinhard Kahl

    Wiederholt sich im Streit um das auf acht Jahre verkürzte Gymnasium bloß der alte Kampf zwischen Schmusekurs und Realismus in Sachen Bildung? Nein. Es geht auch nicht nur darum, ob Schüler, die zum Gymnasium gehen, insgesamt zwölf oder 13 Jahren Zeit zum Lernen haben sollen oder wie früh sie zum Weltmarkt der Arbeitskräfte starten. Das Thema hinter dem Thema der jüngsten öffentlichen Erregung ist, wie gelernt werden soll. Und dieses Wie kommt nun mal vor jedem Was und erst recht vor dem Maß wie viel in Lehrplänen steht. Das Problem, das im G 8 Gymnasium nun einen Namen bekommen hat, ist die grassierende Lern-Bulimie in den Schulen. Dieses Memorieren und Vergessen. Der Mangel an Nachhaltigkeit. Unerträglich ist das häufig bloß taktische Lernen, das gar nicht in das Langzeitgedächtnis eindringt, also die Person nicht prägt. Dieses Wisch und Weg ist ohnehin eine Erbsünde unserer Schulen und wird jetzt unter der Kompression des Stoffes von 9 Jahren Gymnasium auf acht Jahre weiter gesteigert. Aber Kinder sind ,,keine Fässer, die gefüllt, sondern Fackeln, die entzündet werden wollen." Diese Unterscheidung wird bereits dem antiken Philosophen Heraklid zugeschrieben. Verbürgt ist der Satz beim Dichter Francoise Rabelais, ein Renaissancemensch, der auch Arzt und Priester war. Derzeit wird das schöne Zitat in Schulen und Kindergärten in Baden-Württemberg plakatiert. Es ist die Parole einer interessanten pädagogischen Innovation. Dort beginnt nämlich im Schatten solcher Aufregungen wie G 8 ein ganz erstaunliches Modell, das Bildungshaus für Kinder von 3 bis 10. Kindergärten und Grundschulen sollen mit gemeinsamen Veranstaltungen kooperieren und dabei langsam zusammen wachsen. Es geht um dieses alte, neue Bild des Lernens, bei dem unterstellt wird, dass es für Kinder und Jugendliche eine Vorfreude auf sie selbst ist. Es gilt Lernen als das große Projekt des eigenen Lebens zu kultivieren. Es ist ein Skandal, wenn heute Legionen von Abiturienten die Schulen verlassen, wie Landsknechte eine aufgelöste Armee. Der Überdruss vieler Eltern und Lehrer, vor allem die Gleichgültigkeit der meisten Schüler am recht wirkungslosen Stopfen und die neuen Ideen für das Bildungshaus, das Spielen und Lernen, Forschen und Handeln zusammen bringt, sollten eine Schnittfläche finden! Erst mal in den Debatten und dann auch in der Wirklichkeit. Es geht um den Übergang von einer Industriegesellschaft, in der die meisten Mensch bloß Gelerntes reproduzierten sollten, zu einer Wissensgesellschaft, in der Ideen zu haben und etwas zu wollen einfach ein Sachzwang wird.

    ZEIT online Pädagogische Bulimie

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    Die Zeit - Bildung : Pädagogische Bulimie

    Seite 1 von 3

    DIE ZEIT
    Pädagogische Bulimie
    Beginnt mit der vor ein paar Tagen entzündeten Debatte über das auf acht Jahre verkürzte Gymnasium und die vollgestopften Tage der Kinder das Nachdenken über nachhaltige Reformen?

    Von Reinhard Kahl Da liegt was in der Luft. Seit Fernsehmoderator Reinhold Beckmann in seiner Sendung die Wut über den Schulalltag seiner Kinder nicht zurückhalten konnte, geht es in den Medien rund. ,,Tägliche Wahnsinns-Lernprogramme", sagte Beckmann über die Stundenpläne seiner zehnjährigen Tochter und des vierzehnjährigen Sohnes. Beide gehen in Hamburg auf ein Gymnasium und erleben in das ,,G 8", das achtstufige Gymnasium, der Stoff von neun Jahren gepresst wird. Bildzeitung und FAZ reagieren ähnlich. ,,So macht die Schule unsere Kinder kaputt", titelt Bild. ,,Hände weg von unserer Kindheit!" steht es in nicht ganz so dicken Buchstaben über dem Aufmacher im FAZ-Feuilleton. Aber auch auf den Spielplätzen und in der U-Bahn, plötzlich in allen Medien, ausführlich auch in dieser Zeitung, erscheint ein Thema: Das Gymnasium wird unerträglich. Beckmann rechnet vor: An zwei Tagen geht die Schule bis 16 Uhr 30. Die beiden letzten Stunden an einem dieser Tage sogar als Doppelstunde in Mathe. Und dann noch Hausaufgaben. Und Nachhilfe. Freizeit? Eltern haben Angst, ob die Kinder das durchhalten. Schaffen sie das Gymnasium? Überlebt die Familie den Druck? Und wo bleibt das Leben? 80 Prozent der Eltern, die Beckmann kennt, organisieren für ihre Kinder Nachhilfe. Man kann annehmen, dass in seinen Kreisen der Einsatz dieser pädagogischen Task-Force am späten Nachmittag, am frühen Abend oder auch am Wochenende nicht am Geld scheitert. Aber Zeit ist nicht vermehrbar. 35 Prozent aller Eltern, so eine repräsentative Befragung der Deutschen Angestellten Krankenkasse, lassen ihren Kindern Nachhilfe geben. Um die drei Milliarden Euro im Jahr, vielleicht auch etwas mehr, gehen in Deutschland dafür drauf. Damit könnte man auch gute Ganztagsschulen finanzieren. Der Blick gen Norden drängt sich wieder mal auf. In Finnland kennt man Nachhilfe so gut wie gar nicht. Die meisten Schulen sind nach deutschem Verständnis keine Ganztagsschulen, sie gehen nur bis in den frühen Nachmittag, aber in jeder Schule gibt es ein Mittagessen. Da sieht man, wie zum Beispiel in Jyväskylä, Kinder in der Schulmensa unter Palmen, zwischen kleinen Teichen, mit gutem Geschirr vor bestem Essen sitzen. Mats Ekholm war viele Jahre Direktor der nationalen Bildungsagentur Skolverket in Schweden. Nach einem seiner Deutschlandbesuche habe ich ihn gefragt, was ihm denn an deutschen Schulen im Vergleich zu den schwedischen am stärksten auffällt. Seine Antwort: ,,Dass die Schüler nichts zu essen bekommen." Ich hatte etwas anderes erwartet. Doch er hat recht: An den Tischsitten erkennt man die Kultur. Essen liefert ja nicht bloß den Nachschub an Kalorien, so wie die Schule nicht nur mit Informationen versorgt.

    http://images.zeit.de/text/online/2008/07/schule-g8-gymnasium

    09.02.2008

    PS 2 Neuer Anfang (3-10)

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    Reinhard Kahls Kolumne
    Magazin
    P. S. Ein neuer Anfang

    ZEIT online Fässer oder Flammen

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    Bildungshäuser: Kindergärten und Schulen sollen zusammenwachsen | ZEIT online

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    Buchbeitrag Der Fehler ist das Salz des Lernens

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    Der Fehler ist das Salz des Lernens
    von Reinhard Kahl

    Neuland erkunden
    Vielleicht erinnert sich manch einer an seine Kindheit, an gereizte Eltern beim Mittagoder Abendessen, wenn Hausaufgaben und Klassenarbeiten vorgezeigt wurden: ,,Was hast Du denn da wieder für einen Fehler gemacht?" Den Vormittag schon hatte sich die pädagogische Inquisition an Mathe, Latein und Erdkunde erprobt. Nur nichts falsch machen! Das war hinter all dem Stoff die Botschaft der roten Tinte. Die Gegenreaktion der Schüler: Perfektion vortäuschen, intelligent gucken, statt angeblich dumme Fragen zu stellen. ,,Hast Du heute schon einen Fehler gemacht?" Die gleiche Frage, nur ganz anders betont, empfehlen Unternehmensberater neuerdings als eine Art Mittagsmeditation. Angefangen hatte es mit diesem Spruch zum Beispiel bei Rank Xerox in Kalifornien. Die Frage dient nun einer ganz anders temperierten Selbsterforschung. Habe ich schon etwas gewagt? Die neue Vermutung heißt: Wer noch keinen Fehler gemacht hat, der hat vielleicht noch gar nichts gemacht, hat sich zumindest nicht bewegt. Fehler werden im mentalen Pass von Grenzgängern nicht mehr als Makel verzeichnet. Im Gegenteil.

    Interview Lausitzer R. Teil 1

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    Lausitzer Rundschau / Elbe-Elster-Rundschau / Samstag, 19. Januar 2008 Lausitzer Rundschau / Elbe-Elster-Rundschau / Samstag, 19. Januar 2008
    SAMSTAGSGESPRÄCH
    „Kinder sollten in der Schule
    BILDUNGSREFORMER Reinhard Kahl ist gegen drohende Zeigefinger, aber auch gegen Kuschelunterricht:
    Herr Kahl, sind Sie gerne zur Schule gegangen?
    Unterschiedlich. Ich habe viel Langeweile erlebt, manche Demütigung, aber auch Faszination. Einem Deutsch- und Geschichtslehrer am Felix-Klein-Gymnasium in Göttingen verdanke ich sehr viel. Allerdings frage ich mich: Muss man wirklich 13 Jahre lang zur Schule gehen, um einen einzigen Lehrer dieser Art zu treffen? Womit hat Ihr Geschichtslehrer Sie fasziniert? Er brannte für seine Themen, etwa für die Analyse des Nationalsozialismus. Weil das so war, konnte ein Funke überspringen. Ein Lehrer, der keinen Wissensdurst und keinen Hunger auf die Welt hat, der bloß den verordneten Lehrplan durchkaut, verbreitet bei Schülern vor allem den eigenenÜberdruss. Auch der färbt ab, genauso wie Neugier. Laut einer McKinsey-Studie sind gute Lehrer entscheidend für den Unterrichtserfolg, nicht die jeweiligen Schulformen.

    Interview Lausitzer R. Teil 2

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    DAS VORLETZTE
    VORSICHT

    Lausitzer Rundschau / Elbe-Elster-Rundschau / Samstag, 19. Januar 2008

    ZEIT-ZEICHEN Vers der Woche SO UND SO Dem süßen Nichtstun pflegen sich die einen hinzugeben, derweil des bittren Nichtstuns Leid die anderen erleben. Thomas C. Dahme (P)Fundsache Das Schwierigste am Leben ist es, Herz und Kopf dazu zu bringen, zusammenzuarbeiten. In meinem Fall verkehren sie noch nicht mal auf freundschaftlicher Basis. Woody Allen Zitat der Woche ,,Jetzt reicht's aber wirklich langsam!" Kommentar zu dem Spruch ,,Alles Gute im Neuen Jahr noch!" Allerletztes der Woche í In Deutschland ist Bigamie verboten. Vorgesehenes Strafmaß: zwei Schwiegermütter. í Je mobiler wir werden, desto weniger bewegen wir uns. í Leistungsgesellschaft: Man zeigt einander stolz, was man sich leisten kann, nicht etwa, was man geleistet hat. í Gesellschaftsspiel: Ich sehe was, was du nicht siehst, und das läuft gerade im Fernsehen. Wolfgang Mocker

    PS 1 NACH PISA

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    Reinhard Kahls Kolumne

    P. S. Nach Pisa
    halb des internationalen Durchschnitts, hält aber den Vergleich mit den vorherigen Tests aus methodischen Gründen für unzulässig. Das Attest, besser geworden zu sein, wird verweigert. Uff. Was soll man da denken? Eine Studie sollte doch Klarheit schaffen. Wir erwarten wie bei einer medizinischen Diagnose erst mal Informationen. Liegen die Werte über den untersuchten Körper vor, könnte über die Diagnose gestritten werden, um die richtige Therapie zu entwickeln. Was würden wir von Medizinern halten, die sich gegenseitig verdächtigen, den Patienten gesundzubeten oder ihn überhaupt erst in die Krankheit hinein interpretiert zu haben? Genau dieser Generalverdacht eines zerstrittenen Consiliums liegt immer noch über deutschen Bildungsdebatten. Dabei hatten wir gehofft, das sei nun endlich vorbei. Nicht zuletzt dank der Pisa-Studien. Aber nein. Man wirft sich vor, Schönredner oder Runtermacher zu sein.

    DIE ZEIT Porträt Enja Riegel

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    Die Zeit - Chancen : Der Traum einer Lehrerin

    DIE ZEIT
    Der Traum einer Lehrerin
    Mit fast 70 möchte die Reformpädagogin Enja Riegel noch einmal eine neue Form von Schule schaffen

    Von Reinhard Kahl Kurz vor Weihnachten wurde sie von einem Medienkonzern angerufen. Man überlege, ganz neue Schulen zu gründen, und benötige dafür ihren, Enja Riegels, Rat. In Österreich gibt sie den schon der Bildungsministerin. Fast jeden Tag könnte sie in Deutschland irgendwo einen Vortrag halten. Auch große Säle sind überfüllt. Aber jetzt muss sie erst mal Termine absagen, denn beim Toben mit der vierjährigen Enkeltochter hat sie sich die Hand gebrochen. Einmal die Woche fährt sie nun mit dem komplizierten Bruch von Wiesbaden nach Bonn zum Handchirurgen. Der gilt als Koryphäe, kommt aus Afghanistan, und es wird niemanden wundern, dass Enja Riegel mit ihm in seinem Heimatland eine Schule aufbaut. Den Arzt hat sie vor vier Jahren in einer Rehaklinik kennengelernt. Da waren sie beide Patienten. Vorangegangen war ein Herzinfarkt bei ihrer feierlichen Verabschiedung als Direktorin der Helene-Lange-Schule. Die vornehme Mutter prügelte ihr den Stoff buchstäblich ein Zwei Jahre vor dem Erreichen der Altersgrenze hatte sie sich pensionieren lassen. Über fast zwanzig Jahre hatte sie die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden zur wohl eigenwilligsten und vielleicht auch erfolgreichsten im Land gemacht. Am 10. Dezember erhielt die Schule mit vier anderen aus der Hand von Bundesbildungsministerin Annette Schavan den Deutschen Schulpreis. Doch die Verwirklichung ihres Lebenstraumes hat die 68-jährige Enja Riegel noch vor sich. Der Traum liegt in Klarenthal am Rande von Wiesbaden auf einem traumhaften, an einen botanischen Garten erinnernden Grundstück. Die dort Jahrzehnte ansässige Lehr- und Versuchsanstalt für Gartenbau des Landes Hessen wurde geschlossen. Das war kurz nachdem Enja Riegel ihren Abschied von der Helene-Lange-Schule genommen hatte. 66.000 Quadratmeter mit seltenen Bäumen, einem Rosengarten, Treibhäusern und vielen Gebäuden wurden vom Land zum Kauf angeboten. Für die Pädagogin ein Wink, ihr pädagogisches Lebensziel zu vollenden. Sie sah ein Theater im Zentrum eines Campus Klarenthal, umgeben von wohnlichen Unterrichtshäusern, Werkstätten und Labors. Denn eigentlich, zitiert sie ihren Mentor Hartmut von Hentig, braucht eine Schule nur Theater und Science, alles andere ergibt sich. Während der Pubertät soll der übliche Unterricht gedrosselt werden. Theaterprojekte würden wie bereits in der Helene-Lange-Schule über Wochen gehen. Jugendliche sollten auch ein Gast- und Logishaus für Besucher ausbauen und bewirtschaften. So entwarf Riegel ein Haus des Lernens von der Kinderkrippe bis zum Abitur. Auch eine pädagogische Akademie soll dazugehören. An Geld und die Niederungen des Alltags dachte sie erst einmal weniger. Sie war sich sicher, der Abschied von der Lernvollzugsanstalt liege in der Luft.

    27.12.2007

    DIE ZEIT Pisa – Lesarten

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    Die Zeit - Chancen : Das Ringen um Pisa

    DIE ZEIT
    Das Ringen um Pisa
    Warum es so viele Lesarten einer Studie gibt.

    Von Reinhard Kahl Als Anfang Dezember 2001 die erste Pisa-Studie veröffentlicht wurde, war das in Deutschland der BSE-Fall für die Bildung. BSE hieß diesmal Bildungs-Skandal-Erreger. Die Irritation brachte mehr in Gang als alle Studien, Reden oder Programme der Jahrzehnte nach dem Versanden der ersten Bildungsreform, die Mitte der 1960er Jahre begann und schon bald darauf auf den Schlachtfeldern eines 30-jährigen Bildungskriegs begraben wurde. Mit Pisa habe ein »Paradigmenwechsel in der Bildung« begonnen, sagt Bundesbildungsministerin Annette Schavan. Dafür hatte nicht nur das enttäuschende Abschneiden der deutschen Schüler gesorgt, sondern auch das Konzept der Studie. Der Schlüsselbegriff heißt Kompetenz. Dabei geht es nicht so sehr um das häufig träge und bald wieder vergessene Schulwissen, sondern um die Fähigkeit, das Wissen anzuwenden und für neue Situationen zu modellieren. Nicht nur darum, wie Manfred Prenzel, der derzeitige deutsche Pisa-Chef, gern sagt, »Algorithmen abzuarbeiten«, also etwa Matheaufgaben nach immer wieder demselben Schema durchzurechnen. Kompetenz heißt auch, selbst an Lösungswegen zu basteln. Und dabei vielleicht zu entdecken, dass es mehrere Wege geben kann. Kompetenz heißt, Wissen und Handeln zu verbinden. Das Pisa-Leitbild, so Andreas Schleicher, der internationale Koordinator der Studie, sei »der handlungsfähige und engagierte Bürger, nicht der artige Schüler«. Von dieser Kompetenz, so die Lehre des Pisa-Schocks, waren die deutschen 15Jährigen weit entfernt. Dabei hatte man doch immer gedacht, unsere Schulen seien, weil so schwer, auch so anspruchsvoll und ebendeshalb auch so wirksam. Nein. »In Deutschland hängt die Latte so hoch, dass es für viele Schüler näher liegt, drunter durchzukriechen als drüberzuspringen.« Damit brachte Jürgen Baumert, Direktor am MaxPlanck-Institut für Bildungsforschung und Leiter der ersten Pisa-Studie, die Sache auf den Punkt.Baumert war es auch, der immer wieder davor warnte, aus den Ergebnissen dieser empirischen Studie unmittelbar auf tiefere Ursachen zu schließen. Auch eine Therapie ist aus dem internationalen Vergleich nicht zwingend abzuleiten. Zu werden wie die Finnen ist so wenig ein Befehl von Pisa, wie den Koreanern nachzueifern. Aber die Studie liefere viele Hinweise, denen nachzugehen sei. Baumert tat das. Er und seine Kollegen fragten die Elite der Lehrer, definiert als diejenigen, die an Lehrplänen mitwirken und Schulbücher schreiben, wie viele ihrer Schüler beim Pisa-Test im Lesen wohl Aufgaben aus der höchsten Kompetenzstufe gut lösen würden. Gymnasiallehrer meinten, das seien fast 80 Prozent. Auch die Hauptschullehrer glaubten im Schnitt, 60 Prozent ihrer Schüler würden es schaffen. Tatsächlich gelangen diese anspruchsvollsten Aufgaben nur 0,3 Prozent der Hauptschüler, also praktisch keinem.


    13.12.2007

    DIE ZEIT Deutscher Schulpreis

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    Die Zeit - Chancen : Die Musterschüler

    DIE ZEIT
    Die Musterschüler
    Fünf Schulen wurden mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Reinhard Kahl stellt sie vor

    Es sah nicht gut aus für die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden, damals in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die Schule war noch ein Gymnasium und hatte die oberen Jahrgänge an ein Oberstufenzentrum verloren. Zu wenige Kinder wurden angemeldet. Lehrer unterrichteten vor sich hin. Dann kam eine neue Schulleiterin. Enja Riegel versuchte mit einigen Lehrern einen Neuanfang. Weil im Haus Platz war, kamen sie auf die verwegene Idee, die Wände zwischen dem Flur und einigen Klassenzimmern einzureißen. Sie fragten nicht lange, ob das erlaubt ist. Sie fingen einfach an. So entstand ein neuartiger Raum, der Schülertreff. Das war der Anfang einer pädagogischen Kettenreaktion.

    13.12.2007

    ZEIT online Pisa Kommentar

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    Die Zeit - Wissen : Mehr Sein als Schein

    Seite 1 von 2

    DIE ZEIT
    Mehr Sein als Schein
    Der Expertenstreit über die Pisa-Rangplätze erinnert an eine Schulkultur, in der die gute Note wichtiger ist als die gute Leistung. Dabei sind viele unserer Schulen bereits im Umbruch.

    Ein Kommentar von Reinhard Kahl Eine Studie sollte Klarheit bringen. Wir erwarten wie bei einer medizinischen Diagnose erst mal Informationen. Möglichst genaue und auch möglichst viele. Man kann ja nicht wissen, was dabei zutage kommt. Auf Neugier also kommt es an! Liegen die Werte über den untersuchten Körper vor, kann über die Diagnose notfalls gestritten und die Therapie entwickelt werden. Oder der Gesunde wird mit guten Wünschen entlassen. So sollte es doch sein? Was würden wir aber von Medizinern halten, die sich ständig gegenseitig verdächtigen, den Patienten gesundzubeten oder ihn überhaupt erst in die Krankheit hinein interpretiert zu haben? Genau dieser gegenseitige Generalverdacht eines zerstrittenen Consiliums liegt immer noch über deutschen Bildungsdebatten. Dabei hatten viele gehofft, das sei nun endlich vorbei. Nicht zuletzt dank der Pisa-Studien selbst. Aber nein. Man wirft sich gegenseitig vor, Schönredner oder Runtermacher zu sein. Dann muss man sich natürlich gegenseitig gar nicht zuhören. Dann fordert man sogar den Kopf des Gegners. Schon in der vergangenen Woche deutete es sich an, dass unser mehr als 30-jähriger Bildungskrieg keineswegs zu Ende ist. Da verlangen CDU-Kultusminister vom internationalen Pisa-Koordinator den ,,Rücktritt", als wäre er ein Politiker. Dabei war sein Einwand ein methodischer über den Vergleich von Daten. Vielleicht war es nicht besonders geschickt von ihm, sich damit vor der Veröffentlichung der Studie mit einem Tagesschau-Interview einzumischen. Versuchen wir nüchtern zu sein. Verschlechtert haben sich die deutschen Schüler in den vergangenen Jahren nicht. Vieles spricht dafür, dass sie zumindest etwas besser geworden sind. In den Naturwissenschaften liegen sie deutlich über dem Durchschnitt, wenn auch für Weltmeisterfantasien kein Grund besteht. Dieses erfreuliche Ergebnis besteht unabhängig davon, ob es einer Steigerung in den vergangenen Jahren geschuldet ist oder ob es damals von der Studie noch nicht erkannt wurde. Nach wie vor muss es zu denken geben, dass in den Naturwissenschaften in Finnland 21 Prozent der Schüler zur höchsten Kompetenzstufe gezählt werden, in Deutschland aber sind es trotz Fortschritten nur 11,8 Prozent. Dass die 15-jährigen Finnen in allen Bereichen den Deutschen um ein oder sogar zwei Schuljahre voraus sind, liegt wohl auch an einer größeren Gelassenheit. Man interessiert sich dort weniger (fast gar nicht) für den Pisa-Rang, und auch in der Schule kommt es kaum auf die Noten an, die es bis zur sechsten Klasse gar nicht gibt. Es geht vielmehr darum, was mit dem einzelnen Schüler los ist. Man könnte sagen: Mehr Sein als Schein. Auch schwach sein dürfen, um Stärken zu

    http://images.zeit.de/text/online/2007/49/pisa-kommentar-dienstag

    05.12.2007

    ZEIT online Pisa Ergebnisse 1

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    Die Zeit - Wissen : Leistungen Mittelmaß, Chancengleichheit schlecht

    Seite 1 von 3

    DIE ZEIT
    Leistungen Mittelmaß, Chancengleichheit schlecht
    Am Dienstag wurden die Ergebnisse der neuen Pisa-Studie zeitgleich auf der ganzen Welt vorgestellt. 57 Länder nahmen teil und Deutschland bleibt Durchschnitt

    Von Reinhard Kahl Nun sind die bestgehüteten und dennoch bereits durchgesickerten Pisa-Zahlen offiziell. Von einer deutlichen Verbesserung der deutschen 15-Jährigen kann keine Rede sein. So jedenfalls liest sich die Bewertung der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), die im Jahr 2006 für ihre dritte Pisa-Studie in 57 Ländern 400.000 Schülerinnen und Schüler getestet hat. In den Naturwissenschaften wird Deutschland erstmals bei einer Pisa-Studie in eine Ländergruppe klar über dem Durchschnitt eingestuft. Der Durchschnitt wird mit 500 Punkten angegeben. 516 Punkte ergeben Platz 13 im Vergleich mit allen Ländern (und Platz 8 unter den 30 OECD-Ländern). Obwohl die OECD die Länder auf Rangplätzen listet, gliedert sie die Nationen in Gruppen. Punktwerte um drei, vier Zähler gehören in den Bereich der statistischen Unschärfe. Um sie, so die OECD, sollte sich niemand streiten. Im Ranking der naturwissenschaftlichen Kompetenzen stehen die Deutschen demnach auf der Skala der Nationen in einer Gruppe zwischen Position 7 und 13. Mehr kann uns die Statistik nicht sagen. Aber über die Bewertung der Ergebnisse in den Naturwissenschaften, das steht jetzt schon fest, wird es Aufregung geben. Denn im Vergleich zur letzen Studie könnte man hier einen Sprung nach vorn ablesen, der zu dieser Bewertung führt: Deutschland holt auf. Diese Einschätzung lieferte bereits vergangene Woche Zündstoff für den von vielen Deutschen so leidenschaftlich betriebenen Kulturkampf um die Bildung. Zunächst die Ergebnisse im Lesen und in Mathematik. Sie sind ernüchternd. 495 Punkte im Lesen sind exakt vier mehr als 2003 (491 Punkte). Man kann gegenüber Pisa 2000 mit 484 Punkten eine aufsteigende Linie ziehen ­ und viele werden darauf bestehen, dass es diese Entwicklung gibt ­, aber die OECD schreibt: ,,Dieser Unterschied von 11 Punkten ist zu gering, um statistisch bedeutsam zu sein." Auch darum wird gestritten und wohl auch polemisiert werden. An den Werten in Mathematik lässt sich gar nichts deuteln. Sie liegen mit 504 Punkten um einen Punkt über den durchschnittlichen Ergebnissen vom letzen Mal. Blicken wir noch mal auf die kontrovers beurteilten Werte in den Sparte Naturwissenschaften. Zum Streit führt die Frage der Vergleichbarkeit mit früheren PisaStudien. Dazu muss man wissen, dass der Pisa-Test jedes Mal ein Feld aus den Gebieten Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften ins Zentrum stellt. In diesem Bereich werden die meisten Aufgaben gestellt. Hier werden auch die differenziertesten Ergebnisse erwartet. Beim ersten Test 2000 stand das Lesen im Zentrum. 2003 war es die Mathematik. Diesmal sind es die Naturwissenschaften. Die anderen Gebiete wurden jeweils weniger intensiv untersucht. Nun wird es leider noch etwas komplizierter. Denn

    http://images.zeit.de/text/online/2007/49/pisa-ergebnisse

    04.12.2007

    Pisa Leistung mittel – Chancengleichheit schlecht

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    Die Zeit - Wissen : Leistungen Mittelmaß, Chancengleichheit schlecht

    Seite 1 von 3

    DIE ZEIT
    Leistungen Mittelmaß, Chancengleichheit schlecht
    Am Dienstag wurden die Ergebnisse der neuen Pisa-Studie zeitgleich auf der ganzen Welt vorgestellt. 57 Länder nahmen teil und Deutschland bleibt Durchschnitt

    Von Reinhard Kahl Nun sind die bestgehüteten und dennoch bereits durchgesickerten Pisa-Zahlen offiziell. Von einer deutlichen Verbesserung der deutschen 15-Jährigen kann keine Rede sein. So jedenfalls liest sich die Bewertung der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), die im Jahr 2006 für ihre dritte Pisa-Studie in 57 Ländern 400.000 Schülerinnen und Schüler getestet hat. In den Naturwissenschaften wird Deutschland erstmals bei einer Pisa-Studie in eine Ländergruppe klar über dem Durchschnitt eingestuft. Der Durchschnitt wird mit 500 Punkten angegeben. 516 Punkte ergeben Platz 13 im Vergleich mit allen Ländern (und Platz 8 unter den 30 OECD-Ländern). Obwohl die OECD die Länder auf Rangplätzen listet, gliedert sie die Nationen in Gruppen. Punktwerte um drei, vier Zähler gehören in den Bereich der statistischen Unschärfe. Um sie, so die OECD, sollte sich niemand streiten. Im Ranking der naturwissenschaftlichen Kompetenzen stehen die Deutschen demnach auf der Skala der Nationen in einer Gruppe zwischen Position 7 und 13. Mehr kann uns die Statistik nicht sagen. Aber über die Bewertung der Ergebnisse in den Naturwissenschaften, das steht jetzt schon fest, wird es Aufregung geben. Denn im Vergleich zur letzen Studie könnte man hier einen Sprung nach vorn ablesen, der zu dieser Bewertung führt: Deutschland holt auf. Diese Einschätzung lieferte bereits vergangene Woche Zündstoff für den von vielen Deutschen so leidenschaftlich betriebenen Kulturkampf um die Bildung. Zunächst die Ergebnisse im Lesen und in Mathematik. Sie sind ernüchternd. 495 Punkte im Lesen sind exakt vier mehr als 2003 (491 Punkte). Man kann gegenüber Pisa 2000 mit 484 Punkten eine aufsteigende Linie ziehen ­ und viele werden darauf bestehen, dass es diese Entwicklung gibt ­, aber die OECD schreibt: ,,Dieser Unterschied von 11 Punkten ist zu gering, um statistisch bedeutsam zu sein." Auch darum wird gestritten und wohl auch polemisiert werden. An den Werten in Mathematik lässt sich gar nichts deuteln. Sie liegen mit 504 Punkten um einen Punkt über den durchschnittlichen Ergebnissen vom letzen Mal. Blicken wir noch mal auf die kontrovers beurteilten Werte in den Sparte Naturwissenschaften. Zum Streit führt die Frage der Vergleichbarkeit mit früheren PisaStudien. Dazu muss man wissen, dass der Pisa-Test jedes Mal ein Feld aus den Gebieten Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften ins Zentrum stellt. In diesem Bereich werden die meisten Aufgaben gestellt. Hier werden auch die differenziertesten Ergebnisse erwartet. Beim ersten Test 2000 stand das Lesen im Zentrum. 2003 war es die Mathematik. Diesmal sind es die Naturwissenschaften. Die anderen Gebiete wurden jeweils weniger intensiv untersucht. Nun wird es leider noch etwas komplizierter. Denn

    http://images.zeit.de/text/online/2007/49/pisa-ergebnisse

    04.12.2007

    ZEIT online Pisa Ergebnis Streit

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    Die Zeit - Wissen : Streit der Experten

    Seite 1 von 2

    DIE ZEIT
    Streit der Experten
    Man könnte meinen, es gäbe nicht eine, sondern mehrere Pisa-Studien. Die OECDWissenschaftler und das deutsche Konsortium sind sich nicht einig, ob deutsche Schüler besser geworden sind

    Von Reinhard Kahl Seufzend und kopfschüttelnd, ratlos und manchmal auch verwirrt kommen die Journalisten aus der Bundespressekonferenz, auf der am Vormittag dieses 4. Dezember die neue Pisa-Studie vorgestellt und interpretiert wurde. Nach den Indiskretionen in der vergangenen Woche und der Bereitstellung der Ergebnisse heute am frühen Morgen durch die OECD kamen nun die Bildungspolitiker und die deutschen Pisa-Wissenschaftler zum Zuge. Man hat zuweilen den Eindruck, es gäbe nicht nur eine Pisa-Studie, sondern verschiedene. Professor Manfred Prenzel, der für das deutsche (wissenschaftliche) Pisa-Konsortium spricht, bewertet die Verbesserungen der deutschen Schüler, die die OECD im Bereich der statistischen Unschärfe sieht, durchaus als bemerkenswert. Die 11 Punkte Zugewinn beim Lesen seit der ersten Studie von 2000 bringe Deutschland zwar nicht über den internationalen Durchschnitt hinaus, aber dieser Drift nach oben ist für ihn signifikant. Dabei verweist Prenzel auf die verbesserten Werte im Ranking. Im Jahr 2000 beim Lesen Platz 21. 2003 Platz 18 und beim jetzt ausgewerteten Test von 2006 Platz 14. Das ist in der Tat imponierend, könnte aber dennoch ein falsches Bild ergeben. Die OECD hält die Unterschiede für statistisch nicht bedeutsam und will die Länder, die zum Teil nahe beieinander liegen, lieber nach Gruppen gewichten, was dann zu einer anderen Optik führt. Ein ähnlich differentes Bild ergibt sich auch bei der Skala der naturwissenschaftlichen Kompetenzen. Von Platz 20 im Jahr 2000 über Platz 15 im Jahr 2003 nun auf den 8. Platz im Vergleich der 30 OECD-Staaten. (Im Vergleich aller teilnehmenden 57 Länder ist das Platz 13). Auch die OECD sieht bei den deutschen Schülern im Bereich Naturwissenschaft erstmals eine Platzierung oberhalb des Durchschnitts, will aber den Vergleich mit den vorherigen Tests aus methodischen Gründen nicht wagen und sieht bei den vergleichbaren Fragen keine Verbesserung. Hinzu kommt, dass natürlich nicht alle Schüler eines Landes getestet werden. Deshalb sind die Rangangaben nur Hochrechnungen. 100-prozentig sicher können sie nie sein. Wie wenig die Zahlen bedeuten, erfährt, wer einen genaueren Blick auf die Tabelle der naturwissenschaftlichen Pisa-Ergebnisse wirft: Dort ist zu lesen, dass sich mit 95prozentiger Wahrscheinlichkeit sagen lässt, dass Deutschland einen der Ränge zehn bis 19 belegt. Für die Bundesrepublik ist der Schwankungsbereich außerdem größer als für die meisten Teilnehmerstaaten. Diese argumentativ nachvollziehbaren Differenzen der Pisa-Wissenschaftler der OECD und im deutschen Konsortium tauchen in den Wertungen der Bildungspolitiker kaum noch auf. Sie werten die Ergebnisse durchweg als positive Entwicklung und als Bestätigung dafür,

    http://images.zeit.de/text/online/2007/49/pisa-oecd-streit

    04.12.2007

    Pisa Streit

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    Die Zeit - Wissen : Streit der Experten

    Seite 1 von 2

    DIE ZEIT
    Streit der Experten
    Man könnte meinen, es gäbe nicht eine, sondern mehrere Pisa-Studien. Die OECDWissenschaftler und das deutsche Konsortium sind sich nicht einig, ob deutsche Schüler besser geworden sind

    Von Reinhard Kahl Seufzend und kopfschüttelnd, ratlos und manchmal auch verwirrt kommen die Journalisten aus der Bundespressekonferenz, auf der am Vormittag dieses 4. Dezember die neue Pisa-Studie vorgestellt und interpretiert wurde. Nach den Indiskretionen in der vergangenen Woche und der Bereitstellung der Ergebnisse heute am frühen Morgen durch die OECD kamen nun die Bildungspolitiker und die deutschen Pisa-Wissenschaftler zum Zuge. Man hat zuweilen den Eindruck, es gäbe nicht nur eine Pisa-Studie, sondern verschiedene. Professor Manfred Prenzel, der für das deutsche (wissenschaftliche) Pisa-Konsortium spricht, bewertet die Verbesserungen der deutschen Schüler, die die OECD im Bereich der statistischen Unschärfe sieht, durchaus als bemerkenswert. Die 11 Punkte Zugewinn beim Lesen seit der ersten Studie von 2000 bringe Deutschland zwar nicht über den internationalen Durchschnitt hinaus, aber dieser Drift nach oben ist für ihn signifikant. Dabei verweist Prenzel auf die verbesserten Werte im Ranking. Im Jahr 2000 beim Lesen Platz 21. 2003 Platz 18 und beim jetzt ausgewerteten Test von 2006 Platz 14. Das ist in der Tat imponierend, könnte aber dennoch ein falsches Bild ergeben. Die OECD hält die Unterschiede für statistisch nicht bedeutsam und will die Länder, die zum Teil nahe beieinander liegen, lieber nach Gruppen gewichten, was dann zu einer anderen Optik führt. Ein ähnlich differentes Bild ergibt sich auch bei der Skala der naturwissenschaftlichen Kompetenzen. Von Platz 20 im Jahr 2000 über Platz 15 im Jahr 2003 nun auf den 8. Platz im Vergleich der 30 OECD-Staaten. (Im Vergleich aller teilnehmenden 57 Länder ist das Platz 13). Auch die OECD sieht bei den deutschen Schülern im Bereich Naturwissenschaft erstmals eine Platzierung oberhalb des Durchschnitts, will aber den Vergleich mit den vorherigen Tests aus methodischen Gründen nicht wagen und sieht bei den vergleichbaren Fragen keine Verbesserung. Hinzu kommt, dass natürlich nicht alle Schüler eines Landes getestet werden. Deshalb sind die Rangangaben nur Hochrechnungen. 100-prozentig sicher können sie nie sein. Wie wenig die Zahlen bedeuten, erfährt, wer einen genaueren Blick auf die Tabelle der naturwissenschaftlichen Pisa-Ergebnisse wirft: Dort ist zu lesen, dass sich mit 95prozentiger Wahrscheinlichkeit sagen lässt, dass Deutschland einen der Ränge zehn bis 19 belegt. Für die Bundesrepublik ist der Schwankungsbereich außerdem größer als für die meisten Teilnehmerstaaten. Diese argumentativ nachvollziehbaren Differenzen der Pisa-Wissenschaftler der OECD und im deutschen Konsortium tauchen in den Wertungen der Bildungspolitiker kaum noch auf. Sie werten die Ergebnisse durchweg als positive Entwicklung und als Bestätigung dafür,

    http://images.zeit.de/text/online/2007/49/pisa-oecd-streit

    04.12.2007

    Pisa Kommentar Sein-Schein

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    Die Zeit - Wissen : Mehr Sein als Schein

    Seite 1 von 2

    DIE ZEIT
    Mehr Sein als Schein
    Der Expertenstreit über die Pisa-Rangplätze erinnert an eine Schulkultur, in der die gute Note wichtiger ist als die gute Leistung. Dabei sind viele unserer Schulen bereits im Umbruch.

    Ein Kommentar von Reinhard Kahl Eine Studie sollte Klarheit bringen. Wir erwarten wie bei einer medizinischen Diagnose erst mal Informationen. Möglichst genaue und auch möglichst viele. Man kann ja nicht wissen, was dabei zutage kommt. Auf Neugier also kommt es an! Liegen die Werte über den untersuchten Körper vor, kann über die Diagnose notfalls gestritten und die Therapie entwickelt werden. Oder der Gesunde wird mit guten Wünschen entlassen. So sollte es doch sein? Was würden wir aber von Medizinern halten, die sich ständig gegenseitig verdächtigen, den Patienten gesundzubeten oder ihn überhaupt erst in die Krankheit hinein interpretiert zu haben? Genau dieser gegenseitige Generalverdacht eines zerstrittenen Consiliums liegt immer noch über deutschen Bildungsdebatten. Dabei hatten viele gehofft, das sei nun endlich vorbei. Nicht zuletzt dank der Pisa-Studien selbst. Aber nein. Man wirft sich gegenseitig vor, Schönredner oder Runtermacher zu sein. Dann muss man sich natürlich gegenseitig gar nicht zuhören. Dann fordert man sogar den Kopf des Gegners. Schon in der vergangenen Woche deutete es sich an, dass unser mehr als 30-jähriger Bildungskrieg keineswegs zu Ende ist. Da verlangen CDU-Kultusminister vom internationalen Pisa-Koordinator den ,,Rücktritt", als wäre er ein Politiker. Dabei war sein Einwand ein methodischer über den Vergleich von Daten. Vielleicht war es nicht besonders geschickt von ihm, sich damit vor der Veröffentlichung der Studie mit einem Tagesschau-Interview einzumischen. Versuchen wir nüchtern zu sein. Verschlechtert haben sich die deutschen Schüler in den vergangenen Jahren nicht. Vieles spricht dafür, dass sie zumindest etwas besser geworden sind. In den Naturwissenschaften liegen sie deutlich über dem Durchschnitt, wenn auch für Weltmeisterfantasien kein Grund besteht. Dieses erfreuliche Ergebnis besteht unabhängig davon, ob es einer Steigerung in den vergangenen Jahren geschuldet ist oder ob es damals von der Studie noch nicht erkannt wurde. Nach wie vor muss es zu denken geben, dass in den Naturwissenschaften in Finnland 21 Prozent der Schüler zur höchsten Kompetenzstufe gezählt werden, in Deutschland aber sind es trotz Fortschritten nur 11,8 Prozent. Dass die 15-jährigen Finnen in allen Bereichen den Deutschen um ein oder sogar zwei Schuljahre voraus sind, liegt wohl auch an einer größeren Gelassenheit. Man interessiert sich dort weniger (fast gar nicht) für den Pisa-Rang, und auch in der Schule kommt es kaum auf die Noten an, die es bis zur sechsten Klasse gar nicht gibt. Es geht vielmehr darum, was mit dem einzelnen Schüler los ist. Man könnte sagen: Mehr Sein als Schein. Auch schwach sein dürfen, um Stärken zu

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    05.12.2007

    Pisa vorschneller Datenerguss

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    Die Zeit - Wissen : Vorschneller Datenerguss

    Seite 1 von 4

    DIE ZEIT
    Vorschneller Datenerguss
    Weitere Ergebnisse der Pisa-Studie sind durchgesickert. Die Reaktionen sind hysterisch und passen zum deutschen Bildungskrieg.

    Von Reinhard Kahl Weitere Pisa-Ergebnisse sind durchgesickert. Es sieht so aus, als habe manch einer in den vergangenen Tagen zu früh Hurra gerufen. Im Lesen und in Mathematik dümpelt Deutschland weiterhin nur im Mittelfeld. 495 Punkte für die deutschen Fünfzehnjährigen im Lesen, das sind zwar vier Punkte mehr als vor drei Jahren, aber der Abstand zur Spitzengruppe hat sich weiter vergrößert. Der internationale Mittelwert ist bei Pisa mit 500 Punkten definiert. In Mathematik werden wie beim letzten Test 503 Punkte erreicht. Das meldet vorab die ,,Stuttgarter Zeitung." Ergebnisse in Naturwissenschaften, die diesmal im Zentrum stehen, sind schon seit Tagen bekannt. Darin erreichen Deutschlands Schüler 510 Punkte. Allerdings weisen die PisaWissenschaftler stets auf unvermeidliche Unschärfen und Fehlermargen hin. Eindeutig ist der Abstand zu den Spitzenländern Finnland und Korea. Die fünfzehnjährigen Schüler haben dort in allen Sparten vor den Deutschen ein bis zwei Schuljahre Vorsprung. Aber Zahlen sind nur Indikatoren. Sie geben Hinweise für den genaueren Blick. Für den braucht man allerdings etwas mehr Gelassenheit als sich die in Sachen Pisa immer so aufgeregten Deutschen zugestehen. Die letzten Tage lieferten dafür wieder einige Beispiele. Es ist zu befürchten, dass das bloß ein Vorspiel zu dem war, was folgt, wenn am kommenden Dienstag, den 4. Dezember, an vielen Orten der Welt die Ergebnisse der dritten internationalen Pisa-Studie über die Kompetenzen der Fünfzehnjährigen von der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) offiziell veröffentlicht werden. Mittwoch zurück liegender Woche ging es mit dem vorschnellen Datenerguss in Spanien los. Eine Lehrerzeitung stellte die Ergebnisse für die Schülerkompetenzen in Naturwissenschaften auf ihre Homepage. Die OECD bestätigte die Echtheit. Demnach ist den Deutschen in dieser Sparte ein Sprung von Platz 18 auf Platz 13 gelungen. Das verführte deutsche Politiker und auch Teile der Medien zu Triumphgefühlen. ,,Deutsche Schüler nähern sich der Weltspitze" titelte die ,,Welt." Der internationale Pisa-Koordinator Andreas Schleicher wies darauf hin, dass sich die aktuellen Ergebnisse im Bereich Naturwissenschaft wegen veränderter Aufgaben mit denen in der vorangegangenen Studie nicht ohne weiteres vergleichen ließen. Darauf hatte er schon mehrfach aufmerksam gemacht. Also könne nicht auf erhebliche Verbesserungen der Deutschen geschlossen werden. Schleicher wurde wegen dieser Relativierung von deutschen Bildungspolitikern als Miesmacher anprangert, dem wohl eine Verbesserung der deutschen Werte nicht in den Kram passe. Die CDU Kultusminister verlangten seine Ablösung in der Pariser OECD Zentrale, wo er die Abteilung für Bildungsindikatoren leitet. Der baden-württembergische Kultusminister Helmut Rau drohte sogar mit dem deutschen Ausstieg aus der internationalen Studie.

    http://images.zeit.de/text/online/2007/49/pisa-kommentar-samstag-kahl

    02.12.2007

    DIE ZEIT PISA Vorzeitiger Datenerguss

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    Die Zeit - Wissen : Vorschneller Datenerguss

    Seite 1 von 4

    DIE ZEIT
    Vorschneller Datenerguss
    Weitere Ergebnisse der Pisa-Studie sind durchgesickert. Die Reaktionen sind hysterisch und passen zum deutschen Bildungskrieg.

    Von Reinhard Kahl Weitere Pisa-Ergebnisse sind durchgesickert. Es sieht so aus, als habe manch einer in den vergangenen Tagen zu früh Hurra gerufen. Im Lesen und in Mathematik dümpelt Deutschland weiterhin nur im Mittelfeld. 495 Punkte für die deutschen Fünfzehnjährigen im Lesen, das sind zwar vier Punkte mehr als vor drei Jahren, aber der Abstand zur Spitzengruppe hat sich weiter vergrößert. Der internationale Mittelwert ist bei Pisa mit 500 Punkten definiert. In Mathematik werden wie beim letzten Test 503 Punkte erreicht. Das meldet vorab die ,,Stuttgarter Zeitung." Ergebnisse in Naturwissenschaften, die diesmal im Zentrum stehen, sind schon seit Tagen bekannt. Darin erreichen Deutschlands Schüler 510 Punkte. Allerdings weisen die PisaWissenschaftler stets auf unvermeidliche Unschärfen und Fehlermargen hin. Eindeutig ist der Abstand zu den Spitzenländern Finnland und Korea. Die fünfzehnjährigen Schüler haben dort in allen Sparten vor den Deutschen ein bis zwei Schuljahre Vorsprung. Aber Zahlen sind nur Indikatoren. Sie geben Hinweise für den genaueren Blick. Für den braucht man allerdings etwas mehr Gelassenheit als sich die in Sachen Pisa immer so aufgeregten Deutschen zugestehen. Die letzten Tage lieferten dafür wieder einige Beispiele. Es ist zu befürchten, dass das bloß ein Vorspiel zu dem war, was folgt, wenn am kommenden Dienstag, den 4. Dezember, an vielen Orten der Welt die Ergebnisse der dritten internationalen Pisa-Studie über die Kompetenzen der Fünfzehnjährigen von der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) offiziell veröffentlicht werden. Mittwoch zurück liegender Woche ging es mit dem vorschnellen Datenerguss in Spanien los. Eine Lehrerzeitung stellte die Ergebnisse für die Schülerkompetenzen in Naturwissenschaften auf ihre Homepage. Die OECD bestätigte die Echtheit. Demnach ist den Deutschen in dieser Sparte ein Sprung von Platz 18 auf Platz 13 gelungen. Das verführte deutsche Politiker und auch Teile der Medien zu Triumphgefühlen. ,,Deutsche Schüler nähern sich der Weltspitze" titelte die ,,Welt." Der internationale Pisa-Koordinator Andreas Schleicher wies darauf hin, dass sich die aktuellen Ergebnisse im Bereich Naturwissenschaft wegen veränderter Aufgaben mit denen in der vorangegangenen Studie nicht ohne weiteres vergleichen ließen. Darauf hatte er schon mehrfach aufmerksam gemacht. Also könne nicht auf erhebliche Verbesserungen der Deutschen geschlossen werden. Schleicher wurde wegen dieser Relativierung von deutschen Bildungspolitikern als Miesmacher anprangert, dem wohl eine Verbesserung der deutschen Werte nicht in den Kram passe. Die CDU Kultusminister verlangten seine Ablösung in der Pariser OECD Zentrale, wo er die Abteilung für Bildungsindikatoren leitet. Der baden-württembergische Kultusminister Helmut Rau drohte sogar mit dem deutschen Ausstieg aus der internationalen Studie.

    http://images.zeit.de/text/online/2007/49/pisa-kommentar-samstag-kahl

    02.12.2007

    PS 12 Aus der Welt gefallen

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    Reinhard Kahls Kolumne

    P. S. Aus der Welt gefallen
    der Fantasie werden ja ständig Lehrer und Mitschüler umgebracht. Aber seit dem ersten Schulmassaker scheint etwas möglich geworden zu sein, das es zuvor nicht gab. Die Bekenntnisse der mörderischen Selbstmörder ­ keiner von ihnen geht ohne Vorwarnung oder Testament ­ lesen sich wie austauschbare Textbausteine. »Ich hasse es, immer das Individuum zu sein, welches als überflüssig erscheint«, schrieb Sebastian B. in seinem Abschiedsbrief. Ein aus der Welt Gefallener war auch Cho Seung Hui in Blacksburg, der beleidigte, moralisierende Manifeste gegen »hinterlistige Scharlatane« und »reiche Kids« verfasst hatte«. PeccaEric, der Finne schrieb: »Hass, ich bin so voll davon, und ich liebe es.

    Ohne Noten…- E & W über den ADZ Kongress

    Ohne Noten, ohne Zeittakt

    Der Bildungsjournalist und Filmemacher Reinhard Kahl und das im Sommer 2007 ins Leben gerufene Netzwerk „Archiv der Zukunft“ (adz) hatten die pädagogische Intelligenz zum Träumen an die Hamburger Hochschule für Musik und Theater eingeladen. Hunderte kamen. Bei dem Treffen in der Hansestadt zählten die positiven Beispiele. Alltagslast und

    -frust hatten zumindest ein Wochenende lang nichts zu melden.

    Am Ende liegt das „Band der Evolution“ noch auf der Wiese an der Außenalster, ein Überbleibsel des Workshops, der sich am sonnigen Vormittag mit Montessori-Pädagogik beschäftigt hatte. Anita Helm blickt darüber hinweg: „Vorher wusste ich nur, was ich nicht möchte – jetzt ist mir klar, was ich will“, sagt die Lehrerin aus Arnstadt. Die Frau aus Thüringen hat mit mehr als 400 Menschen aus allen Bereichen der Pädagogik ein Wochenende darüber diskutiert, wie Schule neu und kreativ gedacht werden könnte.
    An Reinhard Kahl scheiden sich die Geister. Die Stärke des umtriebigen Bildungsreformers ist sein schier unerschütterlicher Werbefeldzug für positive Beispiele aus der Praxis: Wie können Kinder und Jugendliche ihre Lust am Lernen entdecken und ausleben? Und wie können Lehrer diesen Prozess begleiten? Wie ist Schule, wenn sie anders sein darf? Von der Architektur über die Methoden bis hin zur Rollenverteilung von Lehrkräften und Schülern sammelt Kahl bei seinen Streifzügen quer durch Finnland, die Schweiz und Deutschland eindrucksvolle Beispiele dafür, dass es auch ohne Noten, Zwang, Zeittakt und Fächerkorsetts geht. Seine Filme „Treibhäuser der Zukunft“ (2004) und „Kinder“ (2007) werfen Schlaglichter auf reformpädagogische, individuelle Lernorte zwischen Bodensee und Potsdam, Düsseldorf und Hamburg. Kahl zeigt in seinen Filmen Geschichten vom Gelingen als Gegengift zu Freudlosigkeit manch eines tristen Schulalltags, mit Hemmnissen – sei es von Seiten der Politik oder der Kultusbehörde – hält er sich erst gar nicht auf. Schulstrukturdebatte? Eigenverantwortliche Schule? Lehrerarbeitszeitmodell? Inspektion? Fehlanzeige. Lehrerinnen und Lehrer, die über Überlastung stöhnen, gehören nicht zu seiner Zielgruppe. Die, wie er sagt, „Opferdiskurse in den depressiven Zirkeln vieler Lehrerzimmer“ nerven ihn. Für viele, die im Schulalltag um besseren Unterricht, um mehr Kollegialität und Mitbestimmung ringen, sind solche Sätze ein Affront.

    Aufbruch und Alltag
    Für andere nicht. Heinz Kreiselmeyer blickt sich beeindruckt um: „Hier ist Aufbruch.“ Der Franke hat 26 Jahre Erfahrung als Schulaufsichtsbeamter in Bayern und kennt die Verharrungskräfte im staatlichen Schulsystem. „Die Leute haben wohl daheim in den Startlöchern gelauert, dass es endlich losgeht.“ In der Tat sind Hunderte aus der ganzen Republik, der Schweiz und Skandinavien nach Hamburg gereist, um gemeinsam nach den Schnittmengen von Pragmatismus und Visionen zu suchen und nutzen jede Möglichkeit, sich kennen zu lernen und auszutauschen: Wie werden Lernorte zu Lebensorten? Warum brauchen Kinder Herausforderungen? Was bewegt sich, wenn sich eine Schule auf den Weg macht? Wenn Kinder nicht mehr trennen müssen zwischen spielen und lernen? Wenn es mehr Freiräume gibt als gewohnt? Welche Rolle spielen Theater, Tanz und Rituale im Schulalltag? Wie werden Schulen besondere und lernende Organismen? Und wie lässt sich die Aufbruchstimmung einer solchen Tagung in den mitunter doch schwierigen Alltag retten? „Das klappt schon“, meint Jana Karafiat, 29-jährige Studentin aus Potsdam: „Mit der Kraft und den Ideen, die ich hier mitbekomme, halte ich mich über Wasser, wenn ich wieder zuhause bin.“
    Bereits im kommenden Jahr wird der zweite Kongress der Schulerneuerer stattfinden, diesmal am Bodensee. Es wird sich zeigen, ob die Hamburger Euphorie bis dorthin trägt. Ein großes Boot für tausend Menschen hat Reinhard Kahl jedenfalls bereits gebucht.
    Tina Fritsche, freie Journalistin

    „Kinder!“
    „Eigentlich braucht jedes Kind drei Dinge“, sagt der Neurobiologe Prof. Dr. Gerald Hüther in dem Film „Kinder!“: „Es braucht Aufgaben, an denen es wachsen kann, es braucht Vorbilder, an denen es sich orientieren kann, und es braucht Gemeinschaften, in denen es sich aufgehoben fühlt.“
    Der Streifen „Kinder“ des Publizisten und Filmemachers Reinhard Kahl beginnt in Berlin Kreuzberg. Mitten im Kiez gibt es eines der schönsten Häuser für Kinder. Eine Kindertagesstätte, die viel Platz hat. Der Raum selbst ist eine Botschaft: Kommt her! Ihr seid willkommen! Filme über Mädchen und Jungen, die in Kreuzberg beginnen, könnten ganz anders weitergehen als dieser. „Kinder“ nimmt die Spur des Gelingens auf. Kahl hat nach Orten gesucht, an denen die Neugier und der Mut der Kinder herausgefordert werden. Orte, an denen auch die Erwachsenen begreifen können, was Lernen ist. Der Film ist dem Lerngenie der Kinder auf der Spur. Er lädt die Zuschauer zur Entdeckung des Selbstverständlichen ein, das allerdings häufig alles andere als selbstverständlich ist.
    „Kinder!“ Buch und Regie: Reinhard Kahl – 100 Minuten, Produktion: Archiv der Zukunft 2007.
    Der Film ist auf DVD über www.archiv-der-zukunft.de für 15 Euro incl. Verpackung und Transport erhältlich. Bestellungen an:

    PS 11 Schulgründer

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    Reinhard Kahls Kolumne

    P. S. Schulgründer
    der Neubau mit einem Theater im Zentrum, um das herum Labor- und Klassenräume gruppiert werden. Theater und Science, sagte Hartmut von Hentig, würden ihm als Säulen einer Schule reichen. Nun wird es so gemacht. Über Jahre wird die Schule eine Bauhütte sein. Eine Chance, sagen Enja Riegel und ihr Architekt Olaf Hübner, die Schüler mitreden und mitarbeiten zu lassen. Andere würden vielleicht sagen, wie fruchtbar, nun müssen wir auf einer Baustelle lernen bzw. unterrichten. In Problemen den Nukleus neuer Möglichkeiten sehen, das ist eine Haltung, die staatlichen Schulen und ihrem Personal eher fern liegt. Aber ist es nicht ein Geheimnis des Lernens und des Lebens, aus der Problemstarre Lösungsgeschichten zu machen? Diese Geschichten sind immer besonders. Über Antworten auf Widerständiges entwickelt eine Institution ihre Geschichte, man könnte auch sagen, ihre Lernbiografie »Dabei«, sagt Enja Riegel, »könnte doch gerade die staatliche Trägerschaft die größte Chance für pädagogische Freiheit sein.« Oder doch staatlich? Aber das ist vielleicht erst der übernächste Schritt.

    DIE ZEIT Wir gründen eine Schule

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    Die Zeit - Chancen : Wir gründen eine Schule!

    DIE ZEIT
    Wir gründen eine Schule!
    Selbstbewusste Eltern machen ihre eigenen Bildungsreformen

    Von Reinhard Kahl und Jeannette Otto Peter Ferres hat sich einen Traum erfüllt. 20 Jahre lang hatte er als Investmentbanker Fusionen und Börsengänge großer Unternehmen in aller Welt eingefädelt ­ jetzt ist er Lehrer geworden. Er hat sogar eine Schule gegründet, die Metropolitan School Frankfurt am Main. Eine Grundschule, auf die er selbst gern gegangen wäre, international und interkulturell, englischsprachig, kleine Klassen, mit Lehrern aus Sydney, Washington State, Abu Dhabi und Mailand. Sein Büro hat zwölf Quadratmeter und liegt dort, wo Frankfurt weder reich noch schön ist, in einer Sackgasse in Rödelheim. In der Ecke Umzugskartons, im Regal der hessische Rahmenlehrplan für die Grundschule. Das ist jetzt sein Leben. »Uncool« nennen seine früheren Kollegen das. 70 lärmende Kinder jeden Tag? Das Essen an Klapptischen? Und Geld verdient man damit auch nicht? »Ich bekomme jetzt ein Lehrergehalt, und die Schule wird von der Bank finanziert«, sagt Ferres, 48, und schaut erstaunt, als könne er das selbst nicht glauben. Ein Jahr lang ließ er sich an der London University zum Grundschullehrer ausbilden. Tagsüber stand er vor Drittklässlern. Nachts schrieb er Genehmigungsanträge für die hessische Schulbehörde. Wenige Wochen vor Schulbeginn erst zog er zurück nach Deutschland, verwandelte ein leer stehendes Verwaltungsgebäude in eine freundliche Schule, schrubbte die Klassenzimmer. Kinder aus 16 Nationen strömten am ersten Schultag hinein. Der Vater hilft im Sportunterricht aus, der Opa arbeitet als Hausmeister Jede Woche werden in Deutschland ein bis zwei private Schulen gegründet. Während an den öffentlichen Schulen die Zahl der Schüler sinkt und der Staat Schulen schließen muss, kommen jedes Schuljahr 80 bis 100 allgemeinbildende Schulen in privater Trägerschaft hinzu. Die Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken (GLS), die Schulgründern Kredite gewährt, bekommt allein für die süddeutschen Bundesländer alle zehn Tage eine Anfrage von Gründerinitiativen. In Norddeutschland sorgte der Gründungsboom dafür, dass in den vergangenen zwei Jahren mehr private Schulen entstanden als in den zehn Jahren davor. Wer sind diese Schulgründer, und was treibt sie an? Es sind nicht so sehr die Antiautoritären und Alternativen. Mit Wucht tritt eine neue selbstbewusste Bürgerlichkeit auf den Plan. Eltern, die in ihren Berufen ständig Lösungen für unvorhersehbare Probleme finden müssen, aber bei ihren Kindern erleben, wie sie in der Schule noch immer Dienst nach Vorschrift lernen und dabei ihre Neugier verlieren. Es sind Eltern, die nicht mehr daran glauben, dass die staatlichen Schulen vom Belehren zum Lernenlehren umschwenken, bevor ihre Kinder erwachsen sind. Also gründen sie selbst. Dafür kündigen auch Lehrer ihre Jobs, verzichten auf Beamtenzulagen und Privilegien. Sie nehmen sich

    19.10.2007

    ZEIT online Taktisches Lernen

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    Die Zeit - Wissen : Sieg des taktischen Lernens

    Seite 1 von 3

    DIE ZEIT
    Sieg des taktischen Lernens
    Was Zentralabitur und Abiturstandards in Deutschland bewirken

    Von Reinhard Kahl Nun ist es also gescheitert, nicht das Zentralabitur, wie viele Zeitungen schreiben, sondern das Vorhaben eines zentralen Zentralabiturs. Vierzehn von sechzehn Bundesländern haben ihr Zentralabitur nämlich bereits eingeführt. Schleswig-Holstein kommt im nächsten Jahr dazu. Nur Rheinland-Pfalz macht nicht mit. Im Sommer hatte Bundesbildungsministerin Annette Schavan einheitliche Schulbücher verlangt und auch bundeseinheitliche Abiturprüfungen gefordert. Das gab Schlagzeilen. Flugs wurde das Thema auf die Tagesordnung der Kultusministerkonferenz gesetzt. Die konnte sich aber am 17. Oktober auf diesen Vorschlag nicht einigen. Statt des Bundesabiturs mit einheitlichen Aufgaben werden nun die EPA, die ,,Einheitlichen Prüfungsanforderungen", der Kultusministerkonferenz zu Bildungsstandards für das Abitur ausgebaut. Bei diesem Satz dürfte mindestens ein Drittel der Leser sein Interesse verloren haben. Mit EPA und Bildungsstandards sind wir Mitten in der bizarren Eigenwelt der Kultusminister, die mit ihren Ritualen und Fetischen Wichtigkeit inszenieren, tatsächlich aber damit das neu erwachte Interesse an Bildung einschläfern. So viel noch zum Beschluss der Minister. Die Standards sollen vom Schuljahr 2010/2011 an gelten. Solange braucht es zu formulieren, was Abiturienten wissen und können sollten und die Gremien der sechzehn Bundesländer mit viel Papier zu beschäftigen. Bis dahin müssen auch sechzehn um Aufmerksamkeit kämpfende Ministerstimmen synchronisiert werden. So ist es, wenn Berge kreißen und eine Maus gebären. Denn eigentlich ist Zentralabitur oder kein Zentralabitur gar nicht die Frage. Es kommt in der Bildung zumeist nicht so sehr darauf an, was gemacht wird, sondern wie es gemacht wird. Gerade an Prüfungen wird das deutlich. Werden schon die Schulreifetests der Fünfjährigen von der ganzen Familie als erste angstbesetzte Hürde erlebt? Wird das Lernen in der Grundschule von der Entscheidung Gymnasium ja oder nein überschattet? Und erleben die Schüler weitere Prüfungen in der ,,höheren Schule" als die Suche nach den blinden Passagieren, die von Bord sollen? In diesem Umfeld wird am Ende das Zentralabitur ebenfalls Furcht einflößen. Man kann Prüfungen auch ganz anders verstehen, als einen Spiegel, in dem die Schüler sich erkennen. Lernen als Umwandelung des Mangels in Stärken. Aber das geht nicht, wenn Schüler meinen, ihre Schwächen verbergen zu sollen. Wie können also Prüfungen das Engagement fürs Lernen steigern? Können sie dazu beitragen, Lernen zum großen Projekt des eigenen Lebens zu machen? Prüfungen dieser Art gehören nicht zum Kern unserer Tradition. Im Gymnasium sind die Schüler in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr zum taktischen Lernen übergegangen. Die erste Welle ging in den 70er Jahren vom Numerus Clausus aus. Die

    http://images.zeit.de/text/online/2007/43/zentralabitur-bildungskolumne

    19.10.2007

    newsletter adz-netzwerk

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    NEWSLETTER OKTOBER 2007
    Nach seiner Gründung im Frühsommer hat das ,,Archiv der Zukunft - Netzwerk" mit seinem Kongress "Treibhäuser & Co" vom 21. bis 23. September einen wunderbaren Auftakt erlebt. Es war ein sonniges Spätsommerwochenende. Das gilt nicht nur für das Wetter. Es herrschte eine freundliche, wache und neugierige Stimmung. Für Neugier haben wir dank Marco Wehr jetzt ein besseres Wort: Neulust.

    Auf dem Kongress konnte man erleben, was die Abwesenheit der sattsam bekannten Welt von Entweder-oder, ich oder du und all der Rechthabereien und Eiferer bedeutet. Das allein war schon ein Glück und manchmal kaum zu glauben. Das hört sich wohl etwas bitter für diejenigen an, die nicht kommen konnten - die nicht kommen durften, werden sie selbst sagen. Aber Zahl der Teilnehmer war nun mal mit den Plätzen des größten Raums in der Musikhochschule definiert. Es ist andererseits auch so, dass wir von dem großen Interesse, auf das wir natürlich gehofft hatten, auch überrascht wurden. Eine Ankündigung für eine Veranstaltung im September, veröffentlicht nur im Internet und zu einem Zeitpunkt, wo im größten Bundesland bereits die Ferien begonnen hatten, das ließ auch düstere Szenarien zu. Zunächst deshalb diese Nachricht: Wir sind bereits an der Vorbereitung für den zweiten Kongress. Er wird am ersten Oktoberwochenende 2008 (2. bis 5.) stattfinden. Als Ort haben wir eine erogene Zone der mitteleuropäischen Bildungslandschaft ausgesucht, den Bodensee. Am Bodensee gibt es auf deutscher Seite und auf Schweizer Seite interessante Schulen, Kindergärten und einen neue Mischung aus Kindergärten und Primarschulen, zum Beispiele die ,,Primaria" (bisher in Horn, neuerdings in St. Gallen). Es gibt in Romanshorn (Schweiz) das ,,Haus des Lernens" und interessante Einrichtungen, die nach herkömmlicher Einteilung zwischen Berufsausbildung und

    12.10.2007

    PS 10 Der intelligente Körper

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    Mülheim an der Ruhr. Im Park Witthausbusch, der an einen Wald grenzt, wurde ein Glashaus gebaut, die »Lernwerkstatt Natur«, ein »Treibhaus der Zukunft«, wie die Erbauer sagen. Kindergärten kommen dorthin. Jeweils für eine Woche. Die Kleinen machen das erste Forscherpraktikum ihres Lebens. Es beginnt mit dem großen Ausprobieren. Die Kinder ziehen mit einem Bollerwagen voll von Werkzeug in eine Schlucht: Seile, Hammer, Nägel. Sie bringen Taue an Bäumen an, ziehen sich den Abhang hoch oder waten im Bach. Sie hämmern an Wurzeln und schichten Lehm um. Man könnte Angst vor Unfällen haben, aber noch nie ist was passiert. Am liebsten würden die Kinder in der Materie baden.

    Newsletter Archiv der Zukunft – Produktionen

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    Archiv der Zukunft ­ Archiv der Zukunft ­ Newsletter

    Oktober 2007
    Liebe Freunde des Archivs der Zukunft, sehr geehrte Interessenten und Kunden,

    es gibt Neues. Zunächst, wie Sie vielleicht schon wissen, gibt es seit Juli neben dem ,,Archiv der Zukunft ­ Produktionen" das ,,Archiv der Zukunft ­ Netzwerk". Sie finden es auf der neuen Internetseite www.adznetzwerk.de Das Netzwerk ist ein eingetragener und als gemeinnützig anerkannter Verein. Es ist unschwer erkennbar ein Kind des journalistischen Projekts ,,Archiv der Zukunft", allerdings ist es schon ziemlich weit im Prozess des Selbständig- und Erwachsenwerdens.

    In diesem Newsletter lesen Sie von den ,,Archiv der Zukunft ­ Produktionen". Nicht zuletzt durch die Gründung des Netzwerks kann das ,,Archiv der Zukunft ­ Produktionen" sich auf seinen Kern konzentrieren. Das heißt auch, dass die Booklets und DVD Exkurse der bereits länger angekündigten Filme in den nächsten Wochen und Monaten fertig werden. Es war ja so, dass nach dem in diesem Maß unerwarteten Erfolg der ,,Treibhäuser der Zukunft" der

    05.10.2007

    booklet zum Film KINDER!

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    Ob ihr`s glaubt oder nicht, die Evolution hat ein Ziel - Schönheit Joseph Brodsky Der Anfang ist auch ein Gott Platon

    KINDER!

    Ein Film von Reinhard Kahl über das Lerngenie der Kinder

    Über den neuen Film KINDER!

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    DOKUMENTARFILM
    ,,KINDER!" Buch und Regie Reinhard Kahl
    100 Minuten Produktion: Archiv der Zukunft 2007
    Der Film beginnt in Berlin Kreuzberg. Mitten im Kiez gibt es eines der schönsten Häuser für Kinder. Eine Kindertagestätte, die viel Platz hat. Der Raum selbst ist eine Botschaft: Kommt her! Ihr seid willkommen! Lasst uns was zusammen anfangen! Allerdings verdankt sich dieses einmalige Haus einem Planungsfehler. In Kreuzberg wurde ein Parkhaus zu viel gebaut. Erst die Fehlplanung bot die Chance für diese großzügige, schöne Kindertagesstätte.

    Filme über Kinder, die in Kreuzberg beginnen, könnten ganz anders weitergehen. Dieser nimmt die Spur des Gelingens auf. Reinhard Kahl wollte keinen Report über den Alltag von Kindheit in Deutschland heute drehen. Auch das wäre ein wichtiger Film. Aber noch wichtiger als die Schärfung des Wirklichkeitssinns ist heute die Weitung des Möglichkeitssinns. So wurde nach Orten gesucht, an denen die Neugier und der Mut der Kinder herausgefordert werden. Orte, an denen auch die Erwachsenen begreifen können, was Lernen ist.

    Zum Beispiel ein Ausflug der Hamburger Kinderkrippe Tornquiststraße in den Wald. Die Expedition dehnt sich aus. Am Ende sind die kleinen Kinder mehr als sechs Stunden auf den Beinen. Sie sind neugierig und die ganze Zeit hellwach. Der Senior der Gruppe ist gerade mal zwei Jahre und zehn Monate alt. Kindern dieses Alters traute man bisher nicht viel zu. Aber sie können mehr.

    ,,Eigentlich braucht jedes Kind drei Dinge", sagt der Neurobiologe Prof. Dr. Gerald Hüther in KINDER!: ,,Es braucht Aufgaben, an denen es wachsen kann, es braucht Vorbilder, an denen es sich orientieren kann und es braucht Gemeinschaften, in denen es sich aufgehoben fühlt."

    Ein Beispiel für die vom Hirnforscher verlangten Kraftfelder in der Erziehung ist der von Daniel Barenboim initiierte ,,Musikkindergarten Berlin". Musiker verbreiten bei den Kindern eine ansteckende Gesundheit. Der Musikkindergarten ist keine frühe Artistenschule. Wenn 1

    ADZ-Netzwerk Kongress Bericht

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    taz, die tageszeitung

    23.09.2007

    Schul-Konzepte

    "Lernen ist wie Sex"
    Bei einem Kongress in Hamburg arbeiten Schulerneuerer an der Definition des neuen Lernens. Schweizer und Finnen machens vor. Ihr Konzept: Freiarbeit ja, Kuschelpädagogik nein. VON CHRISTIAN FÜLLER

    1968 Essay in dem Buch „Die Revolte“

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    Anfang des Essays Reinhard Kahl Arko und Demo oder Die Göttinger Schülerbewegung

    jetzt (September 2007) erschienen im S. Fischer Verlag

    I. WARTEN Göttingen Mitte der 60er Jahre. Wenn der Schüler Reinhard Kahl einen der Schulvormittage bei ständig steigender Gähnfrequenz hinter sich gebracht und mit seinem Fahrrad den Mittelberg genommen hatte, hielt er es zu Hause nicht lange aus. Nachmittags zwischen vier und fünf zog es ihn wieder in die Stadt. Wer sich zu dieser Zeit nicht am Marktplatz bei Arko einfand, bei einer Tasse Kaffee zu 20 Pfennigen, und anschließend vor Arko herum stand oder bei gutem Wetter

    ADZ-Netzwerk Kongress Interview

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    taz, die tageszeitung

    Seite 1 von 4

    21.09.2007 1 Kommentar

    Reinhard Kahl

    "Kein Bulimielernen"
    Hirnforscher, Lehrer und Philosophen kommen nach Hamburg, um über Schule zu reden. Eingeladen hat Reinhard Kahl, der Lehrmethoden jenseits der "Maschinengrammatik der alten Arbeitswelt" fordert.

    PS 9 Merkwürdiger Föderalismus

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    P. S. Merkwürdiger deutscher Föderalismus
    Die Finnen, die ja immer noch nicht so recht glauben können, wie gut sie abschneiden, interessieren sich vor allem dafür, wie sich ihre Schulen verbessern lassen. So sagten sie sich, sehen wir uns die zehn Schulen an, die am besten abschneiden. Anschließend sollten wir doch wissen, was eine gute und erfolgreiche Schule ausmacht. Aber das Ergebnis kam ganz anders als erwartet. Jede der zehn Schulen war anders. Bei genauer Betrachtung zeigte sich auch warum. Die erfolgreiche Schule in Lappland war die richtige Antwort auf die Schüler dieser Region. Immer diese Finnen Und auch die gute Schule in Linnakyläs Universitätsstadt Jyväskylä, gibt andere Antworten, als sie in einem Stadtteil von Helsinki mit vielen Migrantenkindern von der dort erfolgreichen Schule entwickelt wurden. Kurzum, die eine gute Schule gibt es nicht.

    FR Interview Abschied vom Bulimie-Lernen

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    "Bulimie-Lernen abschaffen!"

    Schule

    "Bulimie-Lernen abschaffen!"
    Politiker füllen mit ihren Vorschlägen Einheitsschulbücher und Zentralabitur das Sommerloch. Bringen sie damit das Bildungssystem weiter? Natürlich nicht. Bildungspolitik kann nur weiterkommen, wenn sie dem wahren Föderalismus eine Chance gibt. Das wäre die Vielfalt von Schulen und die Sammlung der Reform-Ansätze vor Ort. Diese häufig stumme Arbeit müsste zu Wort kommen. Das ist keine Frage der Informationstechnik, sondern der Anerkennung. Vorbild Finnland? Ja. Dort sucht und findet man Antworten auf einzelne Schüler. Man sucht Wege, die Schulen weiter zu verbessern. Kürzlich nahmen die Finnen die zehn vermeintlich besten Schulen des Landes unter die Lupe mit dem Ziel, zu erfahren, was eine gute Schule ausmacht. Das Ergebnis überraschte: Jede der zehn Schulen war anders. Lappland ist eben nicht Helsinki. Erfordert diese Freiheit mehr Vertrauen von "oben"? Genau das aber ist bei uns dünn gesät. Dafür herrscht diese verfluchte deutsche Tradition: Geizen mit Anerkennung und einen gewissen Triumph, andere zu beschämen. Dieser Habitus beginnt "oben" und wird von vielen Schulen zu den Kindern durchgereicht. Die Politik erhofft sich bessere Ergebnisse durch mehr Kontrolle - etwa zentrale Prüfungen. Sie bringen uns nicht weiter, wenn dabei mit dem Knüppel gedroht wird. Warum fallen uns zu Prüfungen nicht eher Untersuchungen wie beim Arzt ein, der helfen will? Bei uns inspizieren die Ministerien die Schulen mit den Lehrern und Schülern, die im Verdacht stehen, dumm und faul zu sein. Kann Vertrauen in einem selektiven System überhaupt reifen? Es behindert auf jeden Fall das Wachsen freundlicher Diagnosen. Wenn stets die Selektionsguillotine droht, finden wir nicht die Antwort auf die Frage, wo das Problem des Patienten liegt. Ist die Abkehr vom mehrgliedrigen Schulsystem die Lösung? Alleine sicher nicht. Viele deutsche Schulen haben sich trotz der existierenden Schulen erfolgreich auf den Weg gemacht. Warum ist das kaum bekannt? Die Handelnden kennen sich nicht. Da forscht etwa an der Universität Köln Gerd Schäfer darüber, wie Kinder mit Natur und Naturwissenschaft umgehen. Doch vom Chemiker Salman Ansari an der OdenwaldSchule in Heppenheim, der etwas Ähnliches gemacht hat, weiß er nichts. Mit unserem "Netzwerk der Schulerneuerer" wollen wir dazu beitragen, dass sich das ändert. Wie kann da der schulübergreifende Austausch gelingen? Wir brauchen einen Anfang. Ich finde es nachvollziehbar, wenn Forscher sagen, wenn fünf Prozent etwas wollen, dann verändert sich die ganze Landschaft. Und wir brauchen eine andere Form der Kommunikation, der Anerkennung und der Bereitschaft, vom anderen zu lernen. Wir brauchen die freundschaftliche Evaluation.

    18.08.2007

    Immer diese Finnen ZEIT online

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    Die Zeit - Wissen : Immer diese Finnen
    Die Zeit, Hamburg, Germany Die Zeit, Hamburg, Germany

    D Radio Kultur Einheit und Vielfalt

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    Deutschlandradio Kultur - Kulturinterview - Plädoyer für die Unterschiede

    31.07.2007 · 09:07 Uhr

    Reinhard Kahl ist für mehr Spielraum und gegen eine "pädagogische LPG" (Bild: AP)

    Plädoyer für die Unterschiede

    Bildungsexperte Reinhard Kahl verteidigt föderale Vielfalt von Schulbüchern
    Moderation: Marie Sagenschneider
    Die Diskussion um einheitliche Schulbücher hat nach Meinung von Bildungsexperte Reinhard Kahl "etwas von einer Gespensterdebatte". Das Schulbuch sei letztlich für das Lernen nur ein Mittel unter vielen. Bundesbildungsministerin Annette Schavan hatte vor zwei Tagen einheitliche Bildungsstandards in Deutschland eingefordert. Marie Sagenschneider: In dem einen Bundesland steht der Wald in Klasse 7 auf dem Lehrplan, in einem anderen ist er erst in der 9. Klasse dran. Tatsächlich gibt es in Deutschland rund 3000 verschiedene Lehrpläne - unterschiedliche Varianten für die Bundesländer, für die Schultypen, für die Fächer und dementsprechend existieren auch zahlreiche Schulbuchversionen. Wer aber einheitliche Bildungsstandards will, der braucht auch einheitliche Schulbücher, sagt Bundesbildungsministerin Annette Schavan. Die Länder sagen etwas ganz Anderes allein schon, weil sie ihre Kulturhoheit verteidigen. Aus Hamburg ist uns nun Reinhard Kahl zugeschaltet. Er hat sich in vielen Artikeln, auch Filmbeiträgen mit dem Thema Bildung befasst. Ich grüße Sie! Reinhard Kahl: Guten Morgen! Sagenschneider: Wie groß sind die Unterschiede in diesen Schulbüchern oder die Standards, die damit vermittelt werden sollen, wie groß sind die tatsächlich? Oder handelt es sich eher um kleinere Abweichungen? Kahl: Es handelt sich wirklich um kleinere Abweichungen. Und ich muss vorweg sagen, diese Debatte seit zwei Tagen hat etwas von einer Gespensterdebatte. Aber bleiben wir bei den Schulbüchern. Es gibt sehr unterschiedliche Schulbücher in ihrer Machart, es gibt auch in bestimmten Bereichen Unterschiede, die ganz bedeutsam sind. Es gibt zum Beispiel verschiedene Strategien oder Methoden, wie das Lesenlernen gelernt wird. Und entsprechend gibt es nach diesen verschiedenen Methoden unterschiedliche Bücher. Die einen haben eine Fibel, die anderen haben erst mal etwas ganz Anderes. Diese Unterschiede sind ein wirklich interessanter und bedeutsamer Teil unseres Schulsystems und darauf hat eigentlich eine Bildungspolitikerin wie Frau Schavan solange sie Kultusministerin in Baden-Württemberg war immer hingewiesen und insistiert. Und wenn wir für jedes Fach, das meint sie nicht, das ist glaube ich jetzt wirklich eine Blase der Debatte seit zwei Tagen, wenn wir für jedes Fach ein einziges, das richtige Schulbuch sozusagen, die Bibel für Mathe, Biologie und Co. hätten, das wäre furchtbar.

    31.07.2007

    Der gute Lehrer ZEIT online

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    Die Zeit - Wissen : Der gute Lehrer
    Die Zeit, Hamburg, Germany Die Zeit, Hamburg, Germany

    DIE WELT Der große Strudel

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    25. Juli 2007, 00:00 Uhr Von Reinhard Kahl Gastkommentar

    Der große Strudel
    Das derzeitig wichtigste Bildungsthema ist die beschleunigte Erosion des gegliederten Schulsystems und die Ratlosigkeit der Gesellschaft. Denn egal, mit welcher Überzeugung man auf die deutsche Bildungslandschaft blickt: Realität und gebräuchliche Interpretationsmuster passen immer weniger zusammen. Das könnte eine Chance sein, die Schulen endlich neu zu denken und sogar aus dem deutschen Hintertreffen einen Vorsprung zu machen. Erosion bedeutet Folgendes: Aus der Hauptschule flüchtet, wer nur irgend kann. Das Gymnasium wird zur real existierenden Gesamtschule, zur Mehrheitsschule mit heterogener Schülerschaft. Damit einher geht die Auflösung seines pädagogischen Profils. Das Gymnasium als Gesamtschule, also als Schule ohne die Kinder mit Schwierigkeiten- ist das eine Schule, die wirklich jemand wollen kann?

    SWR Der Fehler ist das Salz des Lernens

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    SWR Aula 22. Juli 2007 Reinhard Kahl

    Der Fehler ist das Salz des Lernens

    Die grau einfärbten Passagen mussten aus Gründen der Sendelänge gekürzt werden

    ,,Haben Sie heute schon einen Fehler gemacht?" Für Antworten auf diese Frage, liebe Hörerinnen und Hörer, ist es wohl noch etwas früh am Tag. Es geht auch weniger um die Bilanz, als darum wie diese Frage klingt.

    Vielleicht erinnert sich manch einer an seine Kindheit, an gereizte Eltern beim Mittag- oder Abendessen, wenn Hausaufgaben und Klassenarbeiten vorgezeigt wurden: ,,Was hast Du denn da wieder für einen Fehler gemacht?" Den Vormittag schon hatte sich die pädagogische Inquisition an Mathe, Latein und Erdkunde erprobt. Nur nichts falsch machen! Das war hinter all dem Stoff die Botschaft der roten Tinte. Die Gegenreaktion der Schüler: Perfektion vortäuschen. Intelligent gucken, statt angeblich dumme Fragen zu stellen.

    Lehrer als Feinde ZEIT online

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    Die Zeit - Wissen : Lehrer als Feinde
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    PS 7 Selbstorganisation im Wald

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    ReinhardKahlsKolumne

    P.S. Selbstorganisation im Wald
    ten Lübke, der Leiter der Krippe, aber einige, entscheidet er, fahren mit dem Bus. Vor zehn Jahren hat er erstmals eine Wanderung mit Kindern, die gerade Mal laufen konnten, gewagt. Er war überrascht, was die Kinder können. Jedes Jahr traut er ihnen und sich mehr zu. Jedes Mal wird er überrascht. Natürlich hat er im Blick, wem er was zutrauen kann. Nur die Hälfte der Gruppe soll zurücklaufen. Die kleine Antonia, gerade zwei Jahre alt, will nicht in den Bus und besteht auf den Fußweg. Dann also los. Nach sechs Stunden und dreißig Minuten sind die Kinder wieder am Haus. Nun schnell die Windeln wechseln und dann den Mittagsschlaf nachholen. Abends wird gegrillt. Gelassenheit Solche Aktivitäten sind ganz im Sinne von Wolf Singer, dem Direktor im Frankfurter Max-Planck Institut für Hirnforschung.

    St. Galler Tagblatt: Der Lernaufwiegler

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    Freitag, 6. Juli 2007

    www.tagblatt.ch

    Der Lern-Aufwiegler im Haus des Lernens
    In der Horner Privatschule Primaria lernen die Kinder nach eigenem Rhythmus. Das machte auch den deutschen DokumentarfilmerReinhard Kahl hellhörig: Er stattete der Schule für seine Dok-Reihe über alternative Schul- und Lernmethoden einen Besuch ab. Der deutsche Dokumentarfilmer und Autor Reinhard Kahl drehte für seine Reihe «Treibhäuser der Zukunft» in der Primaria im Schloss Horn. Die Primaria ist ein Zweig der von Peter Fratton 1980 gegründeten SBW (Schule für Beruf und Weiterbildung). Zurzeit durchlaufen in diesem «Haus des Lernens» 52 Buben und Mädchen zwischen vier und vierzehn Jahren die Basis- und Grundstufe. Die Kinder entscheiden selbst, wann sie von der einen in die andere Stufe übertreten wollen. Ausser den Fächern Mathematik und Sprachen, die im kantonalen Lehrplan obligatorisch sind, wählt jedes Kind selber, was es wann lernen will.

    Vom toten Pferd absteigen DIE ZEIT online

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    Die Zeit - Wissen : Vom toten Pferd absteigen
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    Die Ja-Aber-Schule ZEIT online

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    Die Zeit - Wissen : Die Ja-Aber-Schule
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    PS 6 Ins Gelingen verliebt

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    Reinhard Kahls Kolumne

    P. S. Herausforderungen
    Aber immer mehr Menschen entdecken, wie viele neue Welten er hervorbringt. Luhmann erinnerte in diesem Zusammenhang an das Kinderspiel »Ich sehe was, was du nicht siehst.« Wenn auch im Alltag Verschiedenheit immer noch eher als eine zu korrigierende Abweichung gesehen und häufig noch verfolgt wird, so dämmert es doch überall: Es ist ein Vorteil, verschieden zu sein. Differenz ist die stärkste Ressource von Individuen und auch ihre Chance auf Schönheit. Es gilt, sie herauszufordern. Dieses Herausfordern des Eigenen, und zwar nicht theoretisch, sondern im Alltag, das Eigene nicht nur zu tolerieren, sondern darauf neugierig zu sein, ist heute die größte Herausforderung für Schulen. Kindergärten sind da oft weiter. In Schulen erreicht der standardisierte und homogenisierte Stoff die meisten Kinder und Jugendlichen gar nicht mehr. Sie erleben das Lernen oft als Überforderung oder Unterforderung, oftmals als beides zugleich. Häufig schwanken die öffentlichen Debatten zwischen diesen Scheinalternativen. Herausforderung wäre etwas Drittes. Sie macht allerdings auch Angst.

    Kinder können mehr ZEITonline

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    Die Zeit - Wissen : Kinder können mehr
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    Wie Schulen voneinander lernen

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    40 Bericht 06/07

    Wie Schulen voneinander lernen
    Die wichtigste Lehrerfortbildung: Der Abschied vom Einzelkämpfer
    wie zu ihren Schülern: Das Richtige wird von oben nach unten abgeseilt. Oben hat recht, Unten soll folgen. Oben hat aber auch schuld. Unten kann man eigentlich nur ausführen. Lernen aber ist, um noch einmal den Nestor der deutschen Pädagogik, Hartmut von Hentig, zu zitieren, das Gegenteil von Belehrtwerden.

    Zauberwort der Bildung ZEIT online

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    Die Zeit - Wissen : Zauberworte der Bildung
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    PS 5 Herr Munoz beschämt die Deutschen

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    P.S. Herr Muñoz beschämt die Deutschen
    stark, so dass die Schulen selbst zu wenig Einfluss auf die Gestaltung des Unterrichts hätten. Insgesamt sei das System zu sehr auf Trennung und zu wenig auf »Einschluss und Beteiligung« angelegt. Dass Flüchtlingskinder, deren Eltern einen ungeklärten Status haben, von schulischer Bildung ausgeschlossen würden, kreidet der Sonderberichterstatter als Verletzung des Rechts der Kinder auf Bildung an. Eine »Politik der Absonderung« führe außerdem dazu, »dass die meisten behinderten Kinder eine Sonderschule besuchen«. Dahinter sieht Muñoz eine Haltung der Deutschen gegenüber Kindern, »die Defizite und nicht das Potential zu betonen«. Konsequenzen »Deutschland muss eine Strukturreform des Bildungswesens durchführen«, heißt es ohne Wenn und Aber. Dazu macht der UN-Sonderberichterstatter sieben Vorschläge.

    Völlig grammatikfrei – Arten des Wissens ZEIT on

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    Die Zeit - Online : Völlig grammatikfrei
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    Angst der Schülerseele – Prüfungswut DIE ZEIT onl

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    Die Zeit - Online : Die Angst der Schülerseele
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    Amok und Schule DIE ZEIT-online

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    Die Zeit - Online : Cho, Robert und zwei Helden
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    DIE WELT Die Hauptschule ist ein Skandal

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    DIE WELT FORUM 20. April 2007 Die Hauptschule ist ein Skandal Von Reinhard Kahl

    ,,Hauptschulen werden gebraucht", argumentierte die hessische Kultusministerin an dieser Stelle, denn ,,das Abschaffen der Hauptschule löst die Probleme der Hauptschüler nicht." Wer sind denn heute ,,die Hauptschüler?" Lang ist's her, dass sie die Mehrheit stellten und sich als die künftigen Handwerker und Facharbeiter sehen konnten. Heute sind es die Kinder mit Schwierigkeiten beim Lernen. Es sind die Lustlosen und früh Beschädigten. Von den deutschen Schülern gehen nur noch zehn Prozent dorthin. In der Frage von Frau Wolff liegt ja bereits der Hinweis auf den Kern der Misere. Hauptschüler sind inzwischen durch ihre Probleme definiert. Aber kann denn Bildung in einer Schule gelingen, auf die die Schüler nicht stolz sein können, die nicht zumindest Normalität verspricht? Die frühere Volksschule wurde Ende der 60iger Jahre just in dem Augenblick umgetauft, als sie aufhörte die ,,Hauptschule" zu sein. Mit der Abkehr von der volkstümlichen Bildung sollte ihre Pädagogik modernisiert und mit einem neuen Namen sollte sie attraktiver werden. Das konnte ihre Erosion nicht aufhalten. Aber sie verlief uneinheitlich. Bezeichnend ist, dass dort, wo sich die Hauptschule noch am längsten als die Schule der Mehrheit gehalten hatte, in Bayern und Baden-Württemberg, die Pisaergebnisse insgesamt am besten waren. Die Gruppe der bei Pisa als ,,Risikoschüler" eingestuften blieb dort kleiner, weil sich Schüler eben im Guten wie im Schlechten gegenseitig anstecken. Die Möglichkeit etwa über berufliche Gymnasien Anschlüsse zu finden, ließ diese Schule nicht zur Sackgasse werden. Nun ist aber bei Kindern ,,Hauptschüler" überall ein Schmähwort geworden. Selbst Hauptschullehrer will keiner mehr sein. So sind von den Referendaren in Baden-Württemberg nur noch drei Prozent überhaupt bereit, dort zu unterrichten. Viele ziehen die Arbeitslosigkeit einem Ort vor, den sie offenbar für eine Art Vorhölle halten. Darf es so eine Schule, die Kinder und Jugendlichen stigmatisiert, geben? Die verordnete Abschaffung der Hauptschule würde vermutlich darauf hinaus laufen, dass nur die Schilder ausgewechselt werden. Wie bei vielen Großreformen könnten sich bald die unbeabsichtigten Nebenfolgen als wirksamer herausstellen als die angestrebten, dann aber häufig verfehlten Ziele. Statt die Hauptschule in die Realschule zu integrieren, könnte die Realschule in den Sog der Verlierer- und Restschule geraten. Diese Frage wird sich Wolffs Kollegin in Hamburg, Alexandra Dinges-Dierig, ebenfalls CDU, stellen müssen. In Hamburg wird es bald ein zweigliedriges Schulsystem geben, bestehend aus der neu erfundenen ,,Stadtteilschule" und dem Gymnasium. Was könnte man tun? Von den guten Hauptschulen lernen! Davon gib es nicht wenige, zum Beispiel die Bodensee - Schule in Friedrichshafen, der Bernhard Bueb attestierte, dort werde ein besserer Unterricht gemacht als im Edelinternat Salem, dem er 30 Jahre vorstand. Aber man wird an der famosen Bodensee Schule keinen Lehrer finden, der die Einrichtung ,,Hauptschule" verteidigt. Warum sollen sich Schüler, Lehrer und Eltern dauernd ein Etikett aufkleben lassen, auf dem ,,drittklassig" steht? Es gibt mehr und mehr Schulen mit Eigensinn. Jede der fünf Schulen, denen Anfang Dezember Bundespräsident Horst Köhler den Deutschen Schulpreis verlieh, hat ihre eigene Geschichte, die allerdings manchmal auch gegen Behörden durchgesetzt wurde. Diese Schulen sind nicht nach einem Modell geklont. Viele von ihnen sind untereinander in Kontakt, haben voneinander gelernt und dadurch manche Ähnlichkeit. Sofort springt an ihnen ,,die Schönheit der individuellen Gestalt" ins Auge, die Hartmut von Hentig ,,dem Ideal der Einheitlichkeit" entgegen setzt. Diese Schulen sind institutionelle

    WDR Das Lerngenie der Kinder

    MUSIK: Kronos QuartetTilliboyo

     

    1. Sprecher

    Deutschland vermisst seine Kinder. Kommt nun zu all den anderen Krisen auch noch die demographische Verfinsterung? Lauter letzte Menschen in einem Land ohne Zukunft?

     

    2. Sprecher

    So spricht die katastrophenverliebte, die panische Stimme. Ein Ton, der den Deutschen liegt, der aber vielen hierzulande langsam über ist.

     

    3. Sprecher

    Ein vollständigeres Bild wäre dieses: Die Kinder werden vermisst und sie werden neu entdeckt: Kinder als geborene Lerner. Säuglinge bereits als Forscher in Windeln.

    Kinder als geniale Anfänger und insofern als Vorbilder für Erwachsene?

    Das sind neue Töne.

    Verändert sich die Gesellschaft selbst mit anderen Bildern von der Kindheit und vom Lernen?

    Das zumindest ist eine Hoffnung, auf die man setzen muss, wenn von Kindern die Rede ist.

     

    Ansage

    Das Lerngenie der Kinder

    Oder: Die Entdeckung der frühen Jahre

    Ein Feature von Reinhard Kahl

     

     

    Archiv : Atmo mit vielen Kindern verblenden mit Musikatmo  Originalmitschnitt / Vogelhändler Staatsoper Berlin (Barenboim)  steht kurz offen

     

    O-Ton Take 1  Daniel Barenboim
    Eine ganz radikale Veränderung der Erziehung, das ist mein Traum und ich glaube, ich habe verdient nach so viel Jahren diesen Traum zu haben.

    Ich möchte, dass wir die Kinder nicht nur zur Musik bringen, sondern durch die Musik zum Leben bringen und über das Leben etwas zeigen und dass dann die gleichen Kindern weiter die Revolution machen, dass sie nach zwei, drei Jahren zur Schule gehen und dass sie dort fragen: Und wo ist die Musik?

     

     

    ENDE Musik Vogelhändler

    1. Sprecher

    Der Dirigent und Pianist Daniel Barenboim hat etwas Großes vor: Ein Bündnis der Musik mit den Kindern. Zusammen mit Wissenschaftlern und Künstlern hat er in Berlin einen Musikkindergarten gegründet. Das wird gefeiert. Der Garten der Deutschen Staatsoper Unter den Linden in Berlin ist voll mit Kindern. Für sie spielt unter der Leitung des Generalmusikdirektors Daniel Barenboim das Staatsorchester Berlin.

     

    Musik wieder offen

     

    O-Ton Take 2  Daniel Barenboim

    Es gibt so viele Dinge, die ich das Glück hatte, über die Musik zu lernen, zum Beispiel, dass es eine andauernde, permanente Verbindung gibt zwischen Inhalt und die Zeit. Manche Dinge brauchen Zeit um reifer zu werden. Andere muss man in einer bestimmen Geschwindigkeit vielleicht eher schnell... Das haben wir alle im Leben gelernt, manchmal durch sehr viel Leiden in persönlichen Begegnungen, in unserer professionellen Arbeit usw. und das lernt man in der Musik in einer Phase.

    Wenn aus dem Kindergarten ein Kind rauskommt, ist es vielleicht nicht in der Lage das so zu artikulieren, wie ich das jetzt artikuliere, aber es hat gelernt, bestimmte Dinge muss man langsamer machen und bestimmte andere Dinge schneller. Das hat es durch die Musik gelernt. Aber wenn man ihm nur lehrt die Tonleiter zu spielen, lauter und leiser, schneller und langsamer, länger und kürzer, wenn das Musikerziehung ist, dann hat es nichts gelernt

     

    Musikatmo Originalmitschnitt Musikraten / Musiker der Staatsoper Berlin in einer Kita – bleibt unter der nächsten Sprecherpassage

     

    3. Sprecher 

    Die Lebendigkeit der Musik und die der Kinder macht sie beide, die Musik und die Kinder für Daniel Barenboim verwandt. Diese Lebendigkeit ist bedroht. 

     

    O-Ton Take 3  Daniel Barenboim

    Was die Musik betrifft, ist die negative Tendenz, dass Musik wird mehr und mehr als spezialisiert gesehen. Mit Spezialsten für Spezialisten. Wir haben sozusagen spezialisierte Arbeiter, sie spielen Oboe und sie spielen Geige. Und das Publikum, was in die Konzerte kommt, ist auch ein Publikum, das spezialisiert ist. Ich meine damit Musik wird als etwas behandelt, womit man die Welt vergessen kann, als Ablenkungsinstrument, das ist es ja auch, aber es ist nicht nur das.

     

     

    3. Sprecher 

    Das gleiche Musikstück ist nie dasselbe. Es bildet sich der Geschmack für die Einmaligkeit und Kostbarkeit der Welt. Jeder Augenblick ist anders. So schärft die Musik auch den Sinn für die Kostbarkeit und die Einmaligkeit eines jeden Menschen.

     

    O-Ton Take 4  Daniel Barenboim

    Warum? Weil Musik ist vielleicht ein bisschen wie eine Religion. Man kommt so an einen Punkt, wo man Dinge nicht mehr trennen kann. In der Musik können sie nicht mehr trennen, was rationell ist, was emotional ist, was sinnlich ist. Die Musik bringt alle diese Elemente zusammen.

     

    Musikatmo Originalmitschnitt Streichquintett / Musiker der Staatsoper Berlin in einer Kita – bleibt unter der nächsten Sprecherpassage

     

    1. Sprecher 

    Musiker der Staatsoper Berlin gehen in Kindergärten. Viele Kinder erleben Menschen, wie sie aus Instrumenten Töne hervorbringen. Vielleicht haben sie auch noch nie einen Handwerker oder einen Künstler bei seiner Arbeit gesehen.

     

     

    3. Sprecher 

    Aber es geht hier nicht nur um Instrumente und Töne, es geht nicht um Lektionen eines auch noch so gelungenen Musikunterrichts für die Allerkleinsten. Wir sind Zeugen eines schwer beschreibbaren Vorgangs, in dem sich Musiker und Kinder gegenseitig mit Leben anstecken. 

     

    Musikatmo Klavier und Raum

     

    1. Sprecher 

    Der chinesische Starpianist Lang Lang und Daniel Barenboim spielen auf einem alten Klavier im Keller des Berliner Pestalozzi-Fröbel-Hauses, einem traditionsreichen Haus für die Ausbildung von Erzieherinnen.

     

    3. Sprecher 

    Hier begann der Musikkindergarten Berlin. Zwei Stars der Konzertsäle in einem Keller mit Kindern?

    Die besten Leute für die Kinder?

     

    O-Ton Take 5 Daniel Barenboim

    Ich möchte, dass wir wirklich radikal neu denken über die Erziehung von Kindern durch Musik, nicht Musikerziehung, Erziehung von Kindern durch Musik.

    Nichts bleibt so wie es ist und jeder Augenblick ist unwiederholbar, das ist die Lehre von der Musik. ////auch wenn wir Platten, Kassetten und Videos haben, das ist ein künstliches Medium, das uns erlaubt was zu halten, das eigentlich nicht zu erhalten ist und hilft uns eine unsere Sehnsucht nach einen Moment zu wiederholen wie ein Foto aber die Musik als solche ist unwiederholbar.

     

    Musikatmo

     

    2. Sprecher 

    Die besten Leute für die Kinder? Und für sie die besten Räume, vielleicht sogar irdische Kathedralen bauen? Das ist gewiss ein sehr schöner, aber doch wohl verstiegener Traum. Unrealistisch. Oder? 

     

    3. Sprecher 

    Nein, die Aufforderung zum Umdenken  kommt heute von einer Seite, von der man es vor kurzem am wenigsten erwartet hätte.

     

    O-Ton Take 5 Jürgen Kluge, McKinsey

    Ich bin davon überzeugt, Bildung, vor allem frühkindliche Bildung ist der Schlüssel zu allem.

     

    1. Sprecher 

    Jürgen Kluge, der langjährige Deutschland Chef von McKinsey kommt zu dieser Schlussfolgerung im Rahmen des Projektes „McKinsey bildet“..

     

     

    O-Ton Take 6 Jürgen Kluge, McKinsey

    Es gibt in unserem Land keine bessere Anlagemöglichkeit als die, in Bildung zu investieren. Ich sage bewusst Investition. Es gibt da viele Langzeitstudien, vor allem aus den USA, die sich auf Vorschulprogramme stützen, und die versprechen von Renditen von 12 Prozent. Die Hochschulausbildung übrigens liegt, wenn man sich die Rendite ansieht, weit dahinter zurück, die Rendite liegt zwischen drei und vier Prozent.

     

    MUSIK Kronos Quartett Escalay

     

    4. Sprecher

    Jeder Euro für die Bildung von Kindern, die noch nicht zur Schule gehen, bringt den Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt eine Rendite von zwölf Prozent.

     

    O-Ton Take 7 Jürgen Kluge, McKinsey

    Kultur, Bildung und Wissenschaft sind das Eigenkapital Deutschlands im Wettbewerb mit der globalen Konkurrenz. Wer diese Standortfaktoren vernachlässigt, führt Deutschland auf den Weg zum geistigen Billiglohnland.

    Machen wir also Schluss mit der Gleichgültigkeit, mit der die Gesellschaft mit ihren Kindern umgeht, hören wir auf die Kinder systematisch zu unterschätzen. Begreifen wir Kinder als vollwertige Menschen.

    Nehmen wir sie doch mit ihren Bedürfnissen ernst. Ein Hauptbedürfnis ist Erkennen, Lernbereitschaft, Lernbegierde. Nehmen wir die doch bei den Kindern an.

     

    2. Sprecher

    Wird Bildung nun etwa nicht mehr als Verursacher von Kosten gesehen? Wenn man die Zeitung aufschlägt, findet man Anderes. Bildung und Sparen sind immer noch ein Duett. Und nun soll Bildung ein Beitrag sein, die Menschen und die Welt reicher zu machen?

     

    3. Sprecher

    Stimmt und stimmt nicht. Die neue Idee von Bildung ist in Deutschland, anders als in manchen anderen Ländern, längst noch nicht Gemeingut. Oft gilt noch das Gegenteil:

     

    O-Ton Take 8 Andreas Schleicher, OECD, Leiter der Pisa Studien

    Deutschland ist ein Land, wo wir heiß darüber diskutieren, ob kognitives Lernen im Kindesalter schädlich sein könnte. Dafür bemühen wir dann den begriff der Schulreife: warten bis die Kinder reif für die Schule sind, die Schule, die wir seit immer haben. Das Ergebnis kennen wir aus der Pisa Studie.

     

    1. Sprecher 

    Andreas Schleicher leitet in der OECD Zentrale in Paris die internationalen Pisa Studien.

     

    O-Ton Take 9 Andreas Schleicher, OECD, Leiter der Pisa Studien

    Was ganz interessant ist, und diese Zahlen kennen sie wahrscheinlich noch nicht, dass die (Schul)Leistungen der 15jährigen mit mehr als einem Jahr Kindergarten in Deutschland eindeutig besser aussehen. Also ein deutlicher Gewinn. Was noch zu sagen ist, dass dieser Gewinn in anderen Ländern noch deutlich stärker ausgeprägt ist.

     

    MUSIK Kronos Quartett Wawshishijay

     

    3. Sprecher

    Die Argumente für einen neuen Blick auf die Kinder sind eindeutig. Ihnen wird kaum noch widersprochen, wenn auch das alltägliche Handeln überwiegend noch von Vorurteilen bestimmt wird.

     

    2. Sprecher

    Etwa von der Vorstellung, Lernen sei doch das, was einem gegen den Strich geht, eher eine bittere Medizin, deren Wirksamkeit mit dem Grad an Bitternis steigt.

     

    Musik Ende

     

    3. Sprecher

    Dann ist es nur folgerichtig, wenn sich Eltern auf dem Spielplatz darauf einigen, ihre Kinder lieber erst ein Jahr später einzuschulen, um ihnen noch ein Jahr kindliches Spiel zu lassen, bevor dann der Ernst des Lebens beginnt.

     

    2. Sprecher

    In der Schule wird dann immer noch mit dem späteren Leben gedroht.

     

    3. Sprecher

    Als seien Schule und Lernen eine Art Vorstrafe darauf.

    Langsam aber ändert sich diese Einstellung den Kindern und dem Lernen gegenüber. Es beginnt damit, sie zum Lernen und ins Leben einzuladen. Lernen als das große, einmalige Projekt des eigenen Lebens anzusehen, eben nicht mehr als Drill und Rekapitulieren, ob nun Tonleitern oder Vokabeln, sondern Lernen als eine Vorlust auf sich selbst.

    Das ist ein neues Denkmuster. Es ist vor allem ein anderes Muster wahrzunehmen und zu empfinden. Und zu staunen.

     

    O-Ton Take10  Hubert Markl, em. Prof. für Biologie und ehemals Präsident der deutschen Forschungsgemeinschaft und der Max-Planck-Gesellschaft

     

    Es gehört zu den kennzeichnendsten Wesensmerkmalen der Biologie unserer Spezies und zugleich zu den bis heute kaum erklärbaren Unglaublichkeiten unserer Natur, dass jedes einigermaßen gesunde Kind in wenigen Jahren zu sprechen und Sprache zu verstehen zu lernen vermag. Von Sanskrit mit 800 Verbformen bis zu den afrikanischen Sprachen mit nicht nur 2 oder 3 sogenannten „Geschlechtern“, sondern Dutzenden von Substantivklassen; vom isolierenden Chinesisch ohne jede Flexion, bis zum „agglutinierenden“ oder „polysynthetischen“ Türkisch oder Eskimo, die in ein ellenlanges zusammengehängtes Wort einen ganzen Komplexsatz fassen können.

     

    1. Sprecher 

    Der Biologe und ehemalige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft Hubert Markl.

     

    3. Sprecher 

    Der berühmte Forscher staunt wie ein Kind darüber, was die Kleinsten können. Auch in der Wissenschaft ändert sich der Blick auf sie, die, von der Kindermedizin abgesehen, noch vor einer Generation kaum ein Thema waren. Das Lernen in den ersten Jahren war wie das Wachsen des Körpers ein nicht weiter erklärungsbedürftiger Naturvorgang.

     

    O-Ton Take11  Hubert Markl

    Dass jeder x-beliebige Dreijährige auf der ganzen Welt, mal Einstein ausgenommen, der war ein Jahr später dran, jede beliebige dieser 7, 8 oder gar 10.000 Sprachen und ungezählte Aussprachedialekte davon, sogar das Altbayerische, geradezu begierig und weitgehend fehlerfrei erlernen, obwohl man später ein halbes Leben lang studieren müsste, um das später nachzulernen, das ist ein ganz unglaubliche Leitung, die wir noch nicht begreifen und würdigen können. 

    Da zudem jedes Kind in dieser höchst sprachgeöffneten Phase seines Lebens die Fähigkeit hat, nicht nur seine Muttersprache, sondern auch eine Zweitsprache, z.B. das Englische, spielerisch mit auf zu nehmen, - jedenfalls unter Sprachbildungsbedingungen, von denen die Spracherziehung heute viel Vernünftiges weiß, - kann die Vor- und Grundschulperiode geistig höchst förderlich zu solchem Mehrspracherwerb genutzt werden, ohne die kleinen Geister zu überlasten. Vergessen wir nicht, dass solche Mehrsprachigkeit bei vielen Mischvölkern der Welt seit Jahrtausenden gang und gäbe ist, und auch nicht, dass schon heute zahlreiche Migrantenkinder unter Bedingungen heranwachsen, die sogar eine Dreisprachigkeit eher alltäglich macht, als eine klassische Sprachmonokultur, die manche von uns für normal halten mögen. Dem kleinen Köpfchen schadet dies nicht, es kommt ihm in seiner Entwicklung, wenn einfühlsam nahe gebracht, nur rundum zugute, damit es auch von früh an zu einem klugen Köpfchen werden kann.

     

    MUSIK Penguin Cafe Orchestra: Yodel2

    3. Sprecher

    Ein ungewöhnliches Bündnis entsteht bei der Entdeckung der frühen Jahre. Künstler wie Daniel Barenboim und Wirtschaftsleute wie Jürgen Kluge, Wissenschafter wie Hubert Markl, also nicht nur die traditionellen Bewohner der Pädagogischen Provinz.

     

    2. Sprecher

    Sind wir etwa Zeugen eines Paradigmenwechsels, eines Umbaus an den grundlegenden Koordinaten des Denkens und Empfindens? Sollten der überhöhte Bildungsgedanke, der an Sonntagen proklamiert wurde und eine gewöhnlich griesgrämige Alltagspraxis in der Lernvollzugsanstalt tatsächlich überwunden werden?

     

    3. Sprecher

    Einen radikalen Blick aufs Lernen eröffnet die moderne Hirnforschung. Sie widerspricht der Vorstellung Lernen sei ein passiver Vorgang. Sie kündigt den Vorrang der Belehrung auf.

     

    O-Ton Take12  Wolf Singer, Direktor Max-Planck-Institut für Hirnforschung Ffm

    Ich glaube eine wichtige Erkenntnis ist, dass das werdende Gehirn in all diesen Reifungsprozessen die Initiative hat. Es ist keinesfalls so, dass da eine Tabula Rasa zur Welt kommt, die sich nun in beliebiger Weise prägen lässt, sondern das sich entwickelnde Gehirn, also der Selbstorganisationsprozess ist so angelegt, dass er sich die benötigten Informationen zum richtigen Zeitpunkt aktiv sucht und holt. Wir haben da ein Wort Neugier oder Spieltrieb.

     

     

     

    1. Sprecher 

    Wolf Singer, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung. Von ihm stammt das Bonmot...

     

    4. Sprecher 

    „Das Gehirn hat keinen Vorstandsvorsitzenden.“

     

    Penguin Cafe Orchestra: Wildlife

    3. Sprecher

    Es braucht keine Anweisungen. Es ist intern auch nicht nach dem Prinzip Kommando und Ausführen, etwa nach dem Modell eines souveränen Ichs konstruiert, das sich selbst gewissermaßen an Marionettenfäden führt,. Es ist ein dauerndes Gespräch der unterschiedlichen Zentren miteinander und die größte Leistung seiner Selbstorganisation ist dabei, all diese Stimmen zu synchronisieren.

     

    O-Ton Take 13 Wolf Singer

    Kinder fangen irgendwann einmal an aufstehen zu wollen und versuchen dann das Gehen zu lernen, indem sie sich mit der Schwerkraft auseinander setzen und mit Objekten in ihrer Umgebung. Das kommt aus einem inneren Antrieb heraus, das tun zu wollen. Kleine Kätzchen spielen mit Wollknäuels, weil die üben wie man Mäuse fängt, das sind genetisch vorgegebene Programme, die sich irgendwann einmal ausdrücken und dafür sorgen, dass durch aktive Interaktion mit der Umwelt die Information aufgenommen wird, die das Gehirn braucht, oder die bestimmte Zentren im Gehirn brauchen um sich entsprechend ausbilden und anpassen zu können. Man tut also gut daran, weil es diese kritischen Phasen und Abfolgen von Lernprozessen gibt, genau hinzuschauen, was ein sich entwickelndes Gehirn wann braucht. Das drücken die meistens dadurch aus, dass sie, wenn man den Informationshunger adäquat stillt, mit Lächeln, Freude und Wohlbefinden antwortet oder mit frustrierten Handlungen, wenn ihnen vorenthalten wird, was sie suchen. Was nicht geht, ist zu versuchen in ein Gehirn irgend etwas hinein zu programmieren mit Nürnberger Trichtern oder Reizüberflutung oder Reizanbietung was, wofür es in dem bestimmten Entwicklungsschritt noch keine offenen Fenster gibt. Dann werden sowohl die Aufmerksamkeitsmechanismen Schwierigkeiten haben sich darauf zu konzentrieren, weil die notwendigen Erwartungen nicht vorstrukturiert sind und wenn die Aufmerksamkeit nicht auf etwas gelegt werden kann, dann kann man auch nichts lernen.

     

    Kronos Quartet: Escalay

     

    3. Sprecher 

    Wenn sich die Ideen eines Daniel Barenboim mit den Erkenntnisse eines Wolf Singer treffen, dann könnte ein Jürgen Kluge zufrieden einer Zukunft entgegen sehen, in der die Investitionen in gute Lern- und Lebensbedingen der Kinder mit 12 Prozent Rendite prämiert werden. Das wäre dann vielleicht tatsächlich eine Wissens-, Bildungs-, oder wie Bundespräsident Horst Köhler sagt, eine Ideengesellschaft.

     

    MUSIK Ende

     

    Zu dem Interessanten und Neuen gehört auch, dass sich dieser Ertrag zwar nachträglich errechnen, aber nicht auf direktem, wirtschaftlichem oder politischem Weg ansteuern lässt. Das ist das Paradoxe. Die 12 Prozent Rendite ist nicht der Endeffekt eines wirtschaftlichen Kalküls, denn in den Fristen von Generationen plant niemand. So langfristig rechnet schon gar kein Politiker. Und kein Mensch macht mit dieser Zahl im Sinn aus einer Kita oder Schule einen schönen, anregenden und herausfordernden Ort. Diese Rendite ist eher die Nebenfolge eines guten Klimas in der Erziehung. Sie zeugt davon, dass Erwachsene die Kinder und die Welt mögen. - Ja, wagen wir das Wort: dass sie die Kinder lieben, so wie Augustinus Liebe definierte:

     

    4. Sprecher

    „Ich will, dass Du seiest!“

     

    Musikakzent  (froh, verspielt, vielleicht Kronos, Piece of Africa Take 3

     

    1. Sprecher 

    Eine Reise zu den Kindern. Zu den Orten, an denen eine Zukunft mit ihnen schon begonnen hat.

     

    3. Sprecher

    Es gibt solche „Schwalben, die vor dem Sommer kommen“, wie der Dichter Friedrich Hölderlin schrieb.

    Zum Beispiel wurde in Berlin am Prenzlauer Berg die Elias Kirche zu einem Mach-Mit-Museum für Kinder umgewandelt.

     

    2. Sprecher

    Im Kirchenschiff Einbauten mit einem Labyrinth von Gängen und Höhlen, durch die Kinder und Eltern krabbeln. Werkstätten, Ecken zum Malen und ein Spiegelzelt. Toberäume, ein vollständige ausrangierte Druckerwerkstatt, und naturwissenschaftliche Exponate zum Anschauung und für Experimente. Auch ein Café für die Eltern.

     

    3. Sprecher

    Das Mach-Mit-Museum ist ein noch ungewöhnlicher, öffentlicher Ort für Kinder und Familien. Eher ein Gesamtkunstwerk als eine so genannte Freizeiteinrichtung. Solche Häuser müsste es eigentlich in jedem Stadtteil geben, vielleicht mit Kindergärten und Schulen verbunden?

    Immerhin planen einige deutsche Bundesländer, Baden-Württemberg und Hamburg voran erste Modelle für eine neuartige Bildungseinrichtung, ein so genantes „Haus des Lernens“ für die drei- bis zehnjährigen, das Kita und Grundschulen zusammenfassen wird.  Und es klingt ja auch hoffnungsvoll, wenn Annette Schavan, die Bildungsministerin bekennt:

     

    MUSIK Ende

     

    2. Sprecher

    „Ich finde, dass in jeder Stadt die Schulen und andere Häuser des Lernens zumindest so aufwendig gebaut und ausgestattet sein sollten, wie die schönste Sparkasse der Stadt.“

    Musik Kronos Quartett Tilliboyo

     

    1.Sprecher

    In Berlin, ein paar Kilometer vom Mach-Mit-Museum entfernt in Kreuzberg wurde ein Parkhaus zum Lern- und Kinderhaus umgebaut. Man hatte versehentlich ein Autohaus zu viel geplant.

    3. Sprecher

    Aus der Ruine wurde eine der schönsten Kitas der Stadt. Sie hat viel Platz für die Kinder. Unter einem Glasdach Palmen und eine offene und dennoch nicht sofort übersichtliche Architektur von Treppen, Räumen und Nebenräumen. Auf dem Dach inmitten des Kiez am Kottbusser Tor ein riesiger Kasten mit Blumen, Kräuterbeeten, Rasenflächen.

    Natürlich sind Erzieher wichtig. Natürlich kommt es auf die Pädagogik an. Aber nicht weniger wichtig ist der Raum. Der Raum ist, wie der italienische Pädagoge Loris Malaguzzi sagt, der dritte Pädagoge. Die ersten Pädagogen sind die anderen Kinder. Der zweite sind die Erwachsenen. Aber ohne einen gelungenen Raum können sich die Menschen nicht entfalten.

     

    2. Sprecher

    Die Beschaffenheit des Raumes erzählt den Kindern, ob sie willkommen sind oder nur geduldet. Schafft man dort viele Gelegenheiten? Investiert man in ihre Talente oder wird immer noch nur betreut und verwahrt? 

     

    1.  Sprecher

    Mülheim an der Ruhr. Hier wurde im Sommer 2006 in den Park Witthausbusch, der an einen Wald grenzt, von der Stadt mit der Unterstützung einer Stiftung ein Glashaus gebaut, eine Lernwerkstatt, in die Gruppen aus Kindergärten zum ersten Forscherpraktikum ihres Lebens kommen.

    Atmo Kinder jubelnd

    Eine Woche lang kommen sie und beginnen mit Expeditionen in den Wald.

    Atmo Kinder springen ins Wasser

    3.  Sprecher

    Die meisten Experimente sind zunächst Selbstversuche. Die Kinder springen in das fußhohe Wasser eines kleinen Bachs. Erzieherinnen und zwei Erziehungswissenschaftlerinnen der Universität Köln, die hier Erkenntnisse über den Forschergeist der Kinder sammeln, haben einen Bollerwagen mit Seilen, Hammer, Nägeln und anderem Werkzeug mitgebracht. Die Kinder setzen sich Grubenlampen auf die Köpfe und betrachten den Boden durch eine Lupe. Im Nu erobern die drei bis sechsjährigen Kinder den Hang einer Schlucht im Wald. Sie bringen die Taue an Bäumen an, ziehen sich den Abhang hoch, springen über den Bach. Sie hämmern an Wurzeln und Steinen und schichten den Lehm um. Man könnte Angst vor Unfällen haben.

     

    O-Ton Take 14 Frau Eden 

    Ich / sehe inzwischen wie gut die Kinder für sich selbst sorgen, das sind keine Selbstmörderkinder, keine Kamikazekids, sondern die gehen, man kann das gut sehen, gerade, Stückchen für Stückchen. Also ganz wichtig ist, dass jemand dabei ist und guckt, was passiert hier. Wenn es kippt, muss er auch ganz schnell da sein und entweder auffangen oder mal stoppen. Aber die Kinder sind unglaublich gut. Wir sind ja jetzt ein dreiviertel Jahr hier im Gelände und wir haben noch nicht einmal, nicht einmal die Erste-Hilfe-Tasche benutzen müssen und das ist für mich so klar wie gut die sind. Natürlich kann man immer mal wieder stolpern. Eben ist so eine ganz Kleine, eine dreijährige so schief gegangen und hier in das Bachbett gefallen, die hat sich unglaublich erschrocken, aber das ist auch eine wichtige Erfahrung. Halt wieder aufstehen, ein bisschen in den Arm genommen werden, jemand hört zu und dann geht es aber wieder weiter. Das war nicht das Drama und es ist nicht schlimm in das Wasser zu fallen.

     

     

     

    2. Sprecher (fortlaufend, durch die Atmo-O-Töne unterbrochen)

    Das Forscherleben beginnt nicht mit Belehrungen auf angeblichem Kinderniveau, sondern mit etwas ganz Ernsthaftem. Die Kinder nennen das übrigens Arbeit.

     

    Atmo: „Hier wird Kleber gemacht. Schleimiger Kleber und fester Kleber. Eine Fabrik.

    Der Sog ist enorm und die meisten Kinder haben keine Angst sich ins Unbekannte vorzuwagen. 

     

    Am liebsten würden sie in der Materie baden.

    Die Kinder wollen die Dinge im Experiment entdecken. Dabei schärfen sie ihre Sinne.

    Atmo Jungen:. Die Erdmännchen suchen wir. Nein wir machen hier eine Baustelle - Das bewegt sich.

    Hallo, ist da jemand..

    Und dann finden sie die vergittern Eingänge eines Kriegsbunkers.

    Atmo Jungen: Da geht man einfach durch die Erde einfach, das ist ganz dunkel da, ein Haus und da sind keine Fenster und keine Türen.

    Mittags bringen sie dann die Ausrüstung zusammen mit der Ausbeute des ersten Expeditionstages zurück ins Basislager. Aus Lehm werden Kugeln geformt und gebrannt. Ein Kind fragt, warum eigentlich der Ofen dabei nicht verbrennt. Große Ratlosigkeit, viele Überlegungen. Bald haben die Kinder ihr Wissen zusammen getragen. Offenbar gibt es Stoffe, die leicht brennen und andere, die schwer oder gar nicht brennen. Die Kinder sind mit dieser Frage nicht fertig. Sie werden hungrig und nicht satt gemacht.  

     

    1. Sprecher

    Die Lernwerkstatt im Mülheimer Park ist auch Lernprojekt des Kölner Erziehungswissenschaftlers Professor Gerd Schäfer. Denn das Lernen der Kinder beginnen die Psychologen, Kognitions- und Hirnforscher eigentlich erst in Konturen zu verstehen.

     

    O-Ton Take 14  Prof Gerd Schäfer, Uni Köln.

    Eine der wichtigsten Einsichten, die wir jetzt zusehends auch durch diese Werkstatt gewinnen, ist, dass der Alltag und die Gestaltung des Alltags für Kinder wichtiger sind als alle speziellen Programme. Nämlich die Wirkung des Alltags, die ist dauerhaft, die hält an.  

     

    3. Sprecher

    Die geringe Nachhaltigkeit ist ja das Hauptproblem des schulmäßig angeeigneten, oft nur äußerlich übergestülpten Wissens. An den kleinen Kindern wollen die Forscher mehr vom Vorgang des Lernens selbst verstehen. Wie wird Neues in das komplexe Gewebe vorhandenen Wissens eingefügt? Wie verhält es sich mit der je verschiedenen Eigenzeit der Kinder und überhaupt mit lernenden Individuen?  

     

    O-Ton Take 15  Prof Gerd Schäfer, Uni Köln

    Diese Sachen / werden für die Kinder immer klarer und präziser / Dadurch entsteht eine Zeitorientierung, die sich am Erleben des Kindes orientiert oder man könnte sagen, die so ähnlich strukturiert ist wie ein Kinderspiel. Das Kind findet hinein, findet eine Phase wo es sich hoch konzentriert und findet dann auch ein Ende wo es sagt, es ist genug.

    Atmo Kinderkurze Unterbrechung des O-Tons

    Wenn sie ein Kind aus seinem vertieften Spiel heraus reißen, ist es meistens ärgerlich. Das heißt, es entsteht da ein Rhythmus des Arbeitens, so würde ich es nennen, der gewissermaßen von der Sache und vom Kind selbst gesteuert ist. / Etwas, das wir bei Kindern immer wieder finden, bis zu den Kleinsten: Sie suchen etwas, was sich lohnt überwunden zu werden. Sie suchen immer eine Herausforderung. Das beginnt schon bei den allerkleinsten in der Wiege, im Bettchen, sie suchen sich, sie gucken regelrecht, sie halten regelrecht Ausschau nach Möglichkeiten, was gibt es Neues, was ist interessant und wenn sie das Interessante erforscht haben, gucken sie sozusagen nach dem Neuen. Also sie sind regelrecht programmiert auf solche Prozesse, darauf etwas zu entdecken und dann heraus zu bekommen, was das denn ist. Das gilt beim Laufen lernen, beim Sprechen lernen ganz genauso.

     Von daher ist es kein Wunder wenn sie das Spiel als Arbeit betrachten, sie betreiben es mit großen Ernst und sie haben auch wirklich ernsthafte Fragen, die dahinter stehen.

    Atmo Kinder – kurze Unterbrechung des O-Tons

    Ich finde es immer das Allerschrecklichste, wenn von den Kindergärten gesagt wird: na ja, die Kinder müssen dies oder jenes lernen und wir können das auch schon im Kindergarten, wir machen es dann halt spielerisch. Das finde ich solch eine Entwürdigung des Spiels, weil es nämlich den ganzen Ernst des Spieles missachtet und das Spiel als wie ein trojanisches Pferd betrachtet. / Das erstaunliche ist, das stellen wir hier immer fest: Die Kinder sind ruhig, sie können sich konzentrieren, selbst zappelige Kinder konzentrieren sich hier und bleiben an ihrer Arbeit, das heißt, sie haben ein Interesse etwas heraus zu kriegen, sie sind uninteressiert an Langeweile. Spannung wollen sie und Spannung, wenn die in der Sache liegt, dann sind sie bereit ihren Kopf zu riskieren.

     

    MUSIK: Pengui Cafe Orchestra: Simmon’s Dream

     

    O-Ton Take 16 Prof. Gisela Lück, Universität Bielefeld

    Ich bin mir ganz sicher, dass jeder, der hier im Raum sitzt, als er fünf Jahre alt war oder sechs Jahre alt war Warum-Fragen gestellt hat, die er heute nicht mehr stellen kann. Und ich vermute, dass je nachdem, welche Resonanz ihre Warum-Fragen bei den Erwachsenen, ihren Bezugspersonen, den Eltern gefunden haben aus ihnen eine naturwissenschaftsinteressierte Person geworden ist oder jemand, für den die Naturwissenschaften nicht so ganz oben auf den Prioritätenlisten stehen.

    1. Sprecher

    Humankapital und Liebe DIE ZEIT online

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    Die Zeit - Online : Humankapital und Liebe
    Die Zeit, Hamburg, Germany Die Zeit, Hamburg, Germany

    WDR 3 Rezension: Hartmut von Hentigs Erinnerungen

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    WDR Gutenbergs Welt / Reinhard Kahl ,,Der Lehrer muss ein Mensch sein"

    Ich will sagen, die Schule, die jungen Menschen hilft erwachsen zu werden, oder ganz konventionell gesprochen, auf das Leben vorbereitet, die gibt's eigentlich gar nicht. Wir bereiten immer das nächste Examen, also auf die nächste Klassenarbeit vor oder auf die Versetzung oder auf einen nächsten Laufbahnschritt vor und um den Rest kümmert man sich sehr wenig. Natürlich gibt es immer wieder Lehrer, die wahrnehmen, was ein Kind da für eine Not hat und dann sind sie nett mit ihm und helfen ihm, aber die Institution ist überhaupt nicht so gedacht. .

    Werdet wie die Kinder DIE ZEIT online

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    Die Zeit - Online : Werdet wie die Kinder
    Die Zeit, Hamburg, Germany Die Zeit, Hamburg, Germany

    Nachlese HH Bildungsdiskurs mit Hartmut von hentig

    Mo 2. April 2007 | Gespräch

    Hamburger Bildungsdiskurs:
    Von der nützlichen Erfahrung,
    nützlich zu sein

    Bewährung statt Belehrung

    Reinhard Kahl sprach im KörberForum mit Hartmut von Hentig über das Abenteuer einer entschulten Schule.

    »Wenn eine Gesellschaft ihre jungen Menschen nicht braucht und sie dies ausdrücklich wissen lässt, indem sie sie an Orten, von denen nichts ausgeht, kaserniert und mit sich selbst beschäftigt, dann zieht sie ihre eigenen Zerstörer groß.« Hartmut von Hentig hat in seiner Kritik am traditionellen Schulsystem nie ein Blatt vor den Mund genommen. Vermittlung von Wissen durch die Schule ist ihm zwar wichtig, aber noch wichtiger ist ihm die Vermittlung des Denkens. Schule hat er früh in unterschiedlichen Formen kennen gelernt. Als Sohn eines Diplomaten wechselte er dreizehn mal die Schule, in fünf Ländern. Vielleicht half dem inzwischen emeritierten Starprofessor der Pädagogik auch die Tatsache, dass er selbst nie Pädagogik studiert hat, um seine eigene Pädagogik zu erfinden. Seine erste Kritik für eine »Erneuerung der Schule« formulierte er Anfang der sechziger Jahre. Im KörberForum stellte er noch einmal seine Ideen für das noch immer vom ihm geforderte pädagogische Umdenken vor.

    Was Hentig an der Schule nicht passt? Zwar entlasse sie ihre Schüler kenntnisreich, aber auch erfahrungsarm und orientierungslos in die Gesellschaft. In seinen Ausführungen im KörberForum skizzierte er ein »Lebensexperiment« für 13- bis 15Jährige. Es sei viel, was Jugendliche in dieser durch die Pubertät geprägten Zeit erfahren würden: Von Gewalt, Mobbing und Ranking bis zur schlechten Ernährung. Handy, Walkman ein exzessiver Hang zu Computerspielen gingen mit einer Verdrängung der Realität einher. Und diese Realität sei ja auch durch viele Konflikte geprägt: Kämpferischer Islamismus, hoher Energieverbrauch, älter werdende Gesellschaft und Nahrungsmangel. Aber angesichts unseres Reichtums und unserer gelebten Gleichgültigkeit kämen Jugendliche mit diesem Verhalten nicht zurecht. Deshalb sei es notwendig, dass sie Wege finden, um sich in dieser schwieriger gewordenen Gesellschaft selbst zu bewähren.

    Von Hentig weiß, dass er durch seine Begrifflichkeit auch leicht missverstanden wird. Deshalb nahm er sich Zeit, seinen Sprachgebrauch zu erklären. Wenn er von »Ehrendienst« spricht, meint er damit ein Pflichtjahr für die Gemeinschaft. Für ihn stehe außer Frage, dass der, der keine Gemeinschaft erfahren habe, auch Gesellschaft nicht richtig denken könne. Es sei die »abhanden gekommene Erfahrung« der Jugendlichen, gebraucht zu werden, weshalb der Pädagoge für diesen Dienst an der Gemeinschaft plädiert. Denn: Die nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein, tue dem Dienenden in erster Linie selber gut.

    Reinhard Kahl (r.) und Hartmut von
    Hentig im Gespräch mit Zuhörern

    Wenn er von »Entschulung der Mittelstufe« spricht, möchte er ein Gegengewicht zur Verschulung bilden. Das natürliche Lernbedürfnis der Jugendlichen müsse wieder hergestellt werden. Er schlägt vor, dafür den Unterricht der Mittelstufe für zwei Jahre außerhalb der Schule zu organisieren. Dann könnten sich Projektgruppen bilden und Jugendliche durch konkrete Bewährung in ihren Lebenszusammenhängen ihre Apathie und Entfremdung in der Gesellschaft überwinden. Die Aufgaben seien schier unerschöpflich: ein verlassenes Bauernhaus für sich bewohnbar machen, Senioren im Gebrauch von Computern unterrichten, Patenschaften für Parks übernehmen, Theater spielen, Projekte mit Ausländern initiieren, eine Pension für Haustiere eröffnen oder ein eigenes Auto bauen. Selbst das Schreiben von Bettelbriefen zur Finanzierung derartiger Projekte gehöre zu den Aufgaben, und »diese Briefe müssten besonders gut geschrieben werden«. Natürlich sei dabei die Anleitung von besonders einfühlsamen Erwachsenen notwendig, aber die Jugendlichen machten letztlich alles selbstverantwortlich. Zudem schlägt von Hentig vor, die Sommerferien auf drei Monate zu verlängern und in diesem gewonnenen Zeitraum Jugendlichen längere Studienfahrten zu ermöglichen.

    Mindestens vier Schulen in einer Stadt seien notwendig, um diese Vision eines sozialen Lernens in einem Pilotprojekt umzusetzen, so von Hentig. Bislang komme in der Erziehung die Erfahrung im Umgang miteinander zu kurz. Jugendliche würden darauf getrimmt, in einer ökonomisierten Gesellschaft »zu funktionieren«. Stattdessen reagierten sie angesichts einer Reizüberflutung und der Lebensunsicherheit der Erwachsenen mit nachlassender Aufmerksamkeit. »Warum erreichen so viele Schüler nicht einmal den Hauptschulabschluss?« fragte von Hentig. »Weil sie nicht erfahren, warum sie das sollen.«

    Seine Vision klinge wie der Neuaufbau nach einer Katastrophe, fragte Reinhard Kahl seinen ehemaligen Lehrer. Zwar laufe es nicht gut, aber es funktioniere ja dennoch, fügte er hinzu. »Es geht uns vermutlich noch nicht schlecht genug«, entgegnete von Hentig. »Ist die Lust zu handeln bei uns einfach zu gering?« wollte Kahl wissen. »Es ist Angst und Bequemlichkeit«; meinte von Hentig. »Der Hafen der Sicherheit ist doch der schönste Hafen, da kommt ganz Hamburg nicht mit.«

    Rütlischwur der Pädagogen DIE ZEIT – online

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    Die Zeit - Online : Ohne Stolz geht es nicht
    Die Zeit, Hamburg, Germany Die Zeit, Hamburg, Germany

    PS 4 Betreuung?

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    Reinhard Kahls Kolumne

    P. S. Betreuung?

    DIE ZEIT Hartmut von Hentig Das ewige Kind

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    © DIE ZEIT, 22.03.2007 Nr. 13

    Das ewige Kind
    Hartmut von Hentig, der große Pädagoge, hat seine Erinnerungen geschrieben. Von

    Reinhard Kahl

    Der junge Hentig im Alter von 17 Jahren in Berlin Foto: privat

    Es beginnt mit der ersten Erinnerung an den Verlust einer Spielzeugente auf hoher See. Die Familie ist auf dem Weg nach San Francisco. Und am Ende des ersten Bandes seiner Memoiren ist der 28-jährige Hartmut von Hentig wieder auf dem Atlantik. Nach dem Studium von Latein und Griechisch, zuletzt in Chicago, frisch promoviert. Er weiß nicht, was aus ihm werden soll. Auf dem Dampfer nach Deutschland gibt er amerikanischen Austauschstudenten einen Sprachkurs. Den muss er mehrmals wiederholen. Er empfiehlt Reiseziele in Deutschland, weist junge Amerikaner, Holländer und Franzosen auf Eigenarten seiner Landsleute hin, lässt sie deutsche Lieder lernen. Am Ende der Überfahrt hat Hentig die Passion seines Lebens entdeckt: Lehrer sein. »Ich spürte, dass man mir Autorität antrug.« Auf den 416 Seiten dazwischen bedenkt und bejaht, wie es im Untertitel des Buches heißt, der 81-jährige Nestor der deutschen Pädagogik sein Leben. Weitere 639 Seiten werden im September im zweiten Band folgen. Mein Leben ­ bedacht und bejaht klingt vielleicht etwas pathetisch. Manch einer wird viel pädagogische Moral befürchten. Tatsächlich werden die Leser Zeugen einer Erzählung von einem gelungenen, ja oft glücklichen Leben. Man erfährt allerdings auch, dass dieses nicht gratis zu haben ist. Gibt es ein Betriebsgeheimnis für das Gelingen? Hentig stellt die Frage nicht, aber vielleicht seine Leser. Die halbe Antwort steht bereits im allerersten Satz. »Was aus den hier beginnenden Aufzeichnungen wird, weiß ich nicht.« Hartmut von Hentig ist ein großer Anfänger. Seine Leidenschaft ist, die Schule neu zu denken. Aber mit dem akademischen Entwurf oder gar mit bloßer Kritik am angestrengten Leerlauf des wenig wirksamen Betriebs hat er sich nie zufriedengegeben. Der Anfänger wurde auch Gründer, weniger, um die Welt zu

    Beschämung ein deutscher Komplex DIE ZEIT oline

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    Beschämung - ein deutscher Komplex
    An deutschen Schulen geht es vor allem um die Fehler der Kinder. Erfolgreicher sind die Finnen, deren höchstes Erziehungsprinzip lautet: Kinder nie beschämen. Von

    Reinhard Kahl

    © Katharina Langer für ZEIT online

    ""Sagt, ist noch ein Land außer Deutschland", fragte Georg Christoph Lichtenberg, ,,wo man die Nase eher rümpfen lernt als putzen?" UN-Sonderberichterstatter Vernor Muñoz rührt an einer deutschen Wunde, der Beschämung und der damit verbundenen Hochnäsigkeit, derer, die meinen noch mal davon gekommen zu sein. Beschämend ist der Bericht selbst. Er legt Deutschland nahe, sich von seinem dreigliedrigen, nimmt man die Sonderschulen dazu, viergliedrigen Schulsystem zu trennen. Das System sei für Kinder aus unteren sozialen Schichten, für Behinderte und vor allem für Einwander- und Flüchtlingskinder diskriminierend. Beschämung verwundet und hinterlässt Narben. Sie sagt, du gehörst nicht wirklich dazu. Du bist nicht würdig, unserer Freund oder unsere Freundin zu sein. Du bist minderwertig. Hauptschüler fühlen sich schon von dem Wort ,,Hauptschüler", das bei Kindern zum Schimpfwort geworden ist, beleidigt und erniedrigt. Sonderschüler verbergen erst recht, zu welcher Schule sie gehen müssen. Sie werden ja, wenn man vom dreigliedrigen Schulsystem spricht, gar nicht mehr dazu gezählt. Dabei ist in keinem Land der Anteil an Sonderschülern so hoch, wie hierzulande, fast fünf Prozent. In Finnland zum Beispiel wurden Sonderschulen von den meisten Kommunen abgeschafft. Allerdings gibt es in der Gemeinschaftsschule, die bis zur 9. Klasse von allen besucht wird, Sonderlehrer. Fast ein Viertel der Kinder erhält zusätzlichen Einzel- oder Kleingruppenunterricht, andere Schüler verlassen dafür zwischendurch die Klasse. Das findet in den ersten Jahren häufig statt, in den höheren Klassen wird Sonderunterricht selten. Bevor ich mich nicht selbst davon überzeugen konnte, habe ich nicht geglaubt, dass Kinder in Finnland diesen Unterricht nicht als diskriminierend empfinden. Das schien mir nicht möglich. Werden diese Kinder, wenn sie aus der Klasse

    DIE ZEIT Extrem selektiv UN-Bericht

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    DIE ZEIT
    »Extrem selektiv«
    UN-Sonderberichterstatter Vernor Muñoz fordert mehr Mut bei der deutschen Bildungsreform

    Tempo, Tempo ZEIT online 2

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    DIE ZEIT
    Tempo, Tempo?
    Oder wie man Zeit gewinnt. Ein Plädoyer für das langsame Lernen, für Intensität statt Fülle

    Von Reinhard Kahl "Wir brauchen mehr Tempo auf Deutschlands Ausbildungswegen. Wir müssen um Jahre schneller werden!" Das sagte vor ein paar Tagen Annette Schavan. Was folgt aus dieser Feststellung der Bundesministerin für Bildung und Forschung? Studiert schneller, liebe Studenten, beeilt euch, ihr Schüler und Lehrer, redet schneller? Nähern wir uns dem vertrackten Thema Zeit ganz langsam und auf Umwegen. Wir starten am Tag nach Neujahr in Norderstedt am Rande von Hamburg. In den Weihnachtsferien kamen jeden Morgen 28 Kinder in ein Freizeitheim zum Forschercamp. Das jüngste Mädchen war vier, der älteste Junge elf Jahre alt. Eine Woche lang beschäftigten sie sich mit nur einem Thema, der Elektrizität. Als sie morgens kamen, war es noch dunkel. Als die Eltern sie abholten, dämmerte es schon wieder, und viele Kinder wollten einfach nicht nach Hause. Sie wollten Müttern und Vätern erst noch zeigen, was sie alles herausgefunden hatten. Am Ende dieser ungewöhnlichen Ferien flossen Tränen. Eingeladen hatte das Team "Kinder entdecken Naturwissenschaften" um die Erziehungswissenschaftlerin Anja Gottwald. Dazu gehören ein Umweltingenieur, eine Biologin, ein Tischlermeister und ein Student - alle naturwissenschaftlich versiert und, was wichtiger ist, begeistert. Die Kinder haben mit den Erwachsenen den ganzen Tag experimentiert, diskutiert, gebaut und gegrübelt. Zwischendrin gingen die Kinder in den Toberaum, halfen bei der Essensvorbereitung oder verzogen sich in Ruhe in die Kinderbibliothek. Sie kamen dahinter, warum ,,sich das Minus zum Plus verwandeln will." Sie haben herausgefunden, warum der Glühfaden sofort durchbrennt, wenn man das Glas drum herum kaputt macht. Sie haben große Leuchttürme und eine Drahtseilbahn gebaut und sich gegenseitig Vorträge über Edison oder Graf von Volta gehalten. Auf die Idee zu den Vorträgen kam der achtjährige Lukas: "Das kann ich in den Weihnachtsferien vorbereiten, das geht mit Wikipedia", meinte er, als er im Dezember vom Forschercamp erfuhr. Wir haben das Tag für Tag gefilmt. Es wird ein Film über das Lerngenie der Kinder. Wir haben das Privileg, ohne Zeitdruck zu drehen - wie einen Tierfilm über Menschen. Insofern waren das Kamerateam, die Kinder und die unpädagogische Pädagogen in den Forscherferien miteinander verwandt. Wir hatten Zeit. Niemand war auf dem Sprung. Alle haben sich in dieser Woche mit Konzentration und Begeisterung angesteckt. Keiner wusste am Ende, war das nun ein Monat oder ein Tag, und niemand hat daran gezweifelt, dass die Kinder in diesen Tagen mehr über Elektrizität gelernt haben, und das auch wirklich verinnerlicht haben, als die meisten Menschen in ihrer ganzen Schulzeit. In der Woche darauf sind wir nach Fulda gefahren. In Hessen waren die Weihnachtsferien besonders lang. In der dortigen Kinderakademie haben Kinder eine Woche von morgens bis abends Mathematik gemacht. Thema war das Pascalsche Dreieck. Wieder erlebten wir diese Mischung aus Theorie, freier Arbeit und dem langsamen Entstehen von Produkten. Die Kinder waren zunächst nur der Schönheit und der Ordnung der Mathematik auf der Spur. Am Ende bauten sie kleine Rechenmaschinen. Man könnte diese Tage in Norderstedt und in Fulda als die gelungensten Beispiele von Tempo und Zeitgewinn ansehen, wenn man sie nur vom Ergebnis her betrachtet. Sie sind allerdings das denkbar größte Gegenteil von Beschleunigung, wenn man sich den Ablauf und die Stimmung dieser Tage ansieht. Jean Jacques Rousseau hatte bereits vor 250 Jahren diese Paradoxie elegant formuliert: ,,Wenn du Zeit gewinnen willst, musst du Zeit verlieren."

    DIE WELT Kinder brauchen Öffentlichkeit

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    DIE WELT

    Dienstag, 13. März 2007

    Neue Einsatzstrategien in Afghanistan / Von Herbert Kremp

    Die Nato darf nicht verlieren
    ie Nato begrüßt den Anflug der Aufklärungs-Tornados auf Afghanistan, deutet das Sondermandat jedoch als Festhalten an dem nationalen Einsatzvorbehalt für Bodentruppen, der jede militärische Operation bei schmalem Truppenbestand mit dem Mangel an schnell mobilisierbaren Reserven belastet. Das Handicap wirkt sich auf die gegenwärtige kleine Offensive gegen Taliban-Kräfte aus, deren Formierung verhindert werden soll. Die kämpfenden Nato-Verbände müssen nicht nur selbst Reserven abzweigen, sondern auch ihr gesamtes Gebiet gegen Guerillaaktivitäten sichern. Auf diese Weise wird die Gefechtslinie ausgedünnt. Jeder kennt und billigt die Theorie, wonach militärisches Vorgehen allein die Befriedung Afghanistans nicht bewerkstelligen kann. Diese Weisheit ist viel älter als der verlorene Sieg im Irak. Die zunehmende Taliban-Aktivität gibt dem idealen militärisch-zivilen Konnex indessen kaum eine gleichzeitige, sondern eher eine sukzessive Chance. ,,So sehr wir Kampftruppen brauchen, die auch den Wiederaufbau absichern können, so wenig können wir uns Wiederaufbauarmeen leisten, die nicht kämpfen" ­ dieser Satz des Nato-Generalsekretärs de Hoop Scheffer, während der Riga-Konferenz im November 2006 an die Deutschen, Franzosen und Italiener in ihren relativ ruhigen Regionen gerichtet, ist in Brüssel nicht vergessen, er kursiert. Dort laufen nach wie vor die Beschwerden der britischen, kanadischen und niederländischen (weniger amerikanischen) Kommandeure aus dem umkämpften Süden Afghanistans ein,

    Es liegt was in der Luft ZEIT-online 1

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    Die Zeit - Online : Es liegt etwas in der Luft

    Seite 1 von 2

    DIE ZEIT
    Es liegt etwas in der Luft
    Der Aktionsrat Bildung ist Teil eines Mentalitätswandels

    Von Reinhard Kahl In der Bildungspolitik möchte man Karl Valentin zitieren. ,,Es ist alles gesagt, nur noch nicht von jedem." Dennoch macht der Aktionsrat Bildung mit seinen Vorschlägen Schlagzeilen. Das Selbstverständliche ist eben hierzulande längst noch nicht selbstverständlich. Diesmal haben sich Bildungsforscher um den Erziehungswissenschaftler und Präsidenten der Freien Universität Berlin Dieter Lenzen zu Wort gemeldet. Schon der Name "Aktionsrat" ist für ein Wissenschaftlergremium ungewöhnlich. Er signalisiert: endlich handeln. Vorgeschlagen wird, Bildung von Anfang an auszubauen. Alle Vierjährigen sollen in den Kindergarten gehen. Spielen und Lernen müssten in eine gute Balance kommen. Die Grundschule wollen die Aktionsrats-Mitglieder bis zum sechsten Schuljahr ausdehnen. So würde dem Lernen der Druck der frühen Auslese genommen. Daran schließen sich eine Sekundarschule und das Gymnasium an. Die Hauptschule, inzwischen eine demoralisierende Anstalt, verschwindet. Die Schulen sollen wirklich selbstständig werden. Das ist der entscheidende Vorschlag. Sie sollen ,,entstaatlicht" werden. Selbstständig könnten sie ebenso in privater wie in kommunaler Trägerschaft sein. Sie würden in jedem Fall keine weisungsgebundenen, nachgeordneten Behörden mehr sein. Schulleiter werden unternehmerischer, und Lehrer sind keine Lebenszeitbeamten mehr. Pädagogen, die sich vom Lernen verabschiedet haben, müssen sich einen anderen Job suchen. Ein weiterer Vorschlag: Die Hochschulen öffnen sich auch für Bewerber ohne Abitur. Sie wählen die Studierenden selbst aus. Das sind Erneuerungen in der Grammatik des Systems. Auch wenn die anstehenden Veränderungen aus den berühmten vielen kleinen Schritten bestehen, so wird das Lernen und Lehren insgesamt neu gedacht. Wenn zum Beispiel in den Schulen nicht mehr restriktiv von Abschlüssen, sondern konstruktiv von Anschlüssen gesprochen würde ­ wie in vielen anderen Ländern ­ dann wäre schon viel gewonnen. Das kann natürlich nicht bloß das Umtaufen des Gleichen, es muss ein Mentalitätswandel sein. Den Schülern nicht mehr signalisieren: ,,Auf Euch haben wir gerade noch gewartet." "Ich wundere mich schon über gar nichts mehr." "Ihr werdet hier noch euer blaues Wunder erleben ..." ­ Man kennt ja diesen Misanthropensound und die Drohungen mit dem späteren Leben. Nein, die Schüler hier und heute zum Leben und zum Lernen einladen, ihnen sagen: ,,Kommt her, wir haben auf euch gewartet. Ihr seid schon ganz gut, aber in euch steckt doch noch viel mehr, lasst uns was draus machen." Dieser Übergang von einem häufig noch beschämenden, lustlosen und langweiligen Bildungssystem zu einem freundlicheren und zugleich ernsthafteren, das Lernen zum großen Projekt des eigenen Lebens macht, liegt heute in der Luft. Von der Öffentlichkeit noch kaum bemerkt, bauen einige Lehrer und Eltern das deutsche


    PS 3 Noch eine Gesundheitsreform?

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    Reinhard Kahls Kolumne

    P. S.

    »... die Schönheit der individuellen Gestalt gegen das Ideal der Einheitlichkeit ...«

    Hartmut von Hentig

    Noch eine Gesundheitsreform?

    Bitte nicht in die Grabenkämpfe um die ihre tatsächliche Lernzeit? Was sonst morgens bis abends ohne Stundenplan Schulstruktur zurückfallen. Lieber den könnte denn individuelle Förderung be- an mathematischen und naturwissenUnterricht verbessern und die Schüler deuten? schaftlichen Projekten gearbeitet haben. individuell fördern. Mit diesen Formeln Wenn man die Hamburger Schul- Sie haben alle experimentiert, sie haversuchten sich die bildungspolitischen senatorin Alexandra Dinges-Dierig ben Rechenmaschinen und andere MoAkteure Ruhe zu verschaffen. Nun will hört, dann klingt es so, als wollte sie delle gebaut. Mit so viel Begeisterung die Hamburger CDU die Schulstruktur den Eltern das Gymnasium ausreden und einem Atem über eine Woche geht doch ändern. Ein Zweisäulensystem und sie für die Stadtteilschule gewin- es nur »handlungsorientiert« ­ wie im aus Stadtteilschule und Gymnasium. nen. Der verspricht sie die Attribute richtigen Labor. Was würde da den Denn die Übertrittsquote zur Haupt- der Gesamtschule. Sie darf alle Schul- Gymnasiasten vorenthalten?

    PS 2 07 „Unterschicht“

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    ReinhardKahlsKolumne

    P.S. Drinnen oder Draußen?
    und draußen zur realen Leitdifferenz wird. Wer draußen ist, gehört eben nicht mehr dazu. Wir erleben eine Verschiebung sozialer Basiskoordinaten. Auch diejenigen, die nicht Gefahr laufen, herauszufallen, erleben soziale Differenzierung weniger nach Mustern von oben und unten als vielmehr in der viel radikaleren Differenz von Zentrum und Rand. Gehörst du dazu oder bist du ein Niemand? Bei den in den Massenmedien ausgetragenen Kämpfen um Prominenz ist diese Verschiebung offensichtlich. Im Lichtkegel stehen oder ins Nichts der Aufmerksamkeit abrutschen, in oder out sein, das wird immer mehr die Frage. Es geht forciert um Inklusion oder Exklusion. Drinnen und draußen Unten in der Gesellschaft konnte es ja durchaus soziale Heimat geben. Würde gab es dort vielleicht mehr als bei denen da oben.

    Nachlese HH Bildungsdiskurs mit Peter Haase

    Mi 24. Januar 2007 | Gespräch

    Hamburger Bildungsdiskurs:
    Welche Bildung braucht die Wirtschaft?

    Die Fakten zum Auftakt des Hamburger Bildungsdiskurses 2007 klangen alarmierend: 15 bis 20 Prozent der Jugendlichen seien nicht mehr ausbildungsfähig, hinsichtlich Sozialverhalten und Leistungsbereitschaft auch nicht mehr integrierbar. Internationale Vergleiche hätten gezeigt, so Dr. Lothar Dittmer, in der Körber-Stiftung für den Bereich Schule und Hochschule verantwortlich: »Das deutsche Bildungssystem ist längst nicht mehr das Maß aller Dinge.«

    Auf der Suche nach Antworten auf die Bildungsmisere höre man seit Jahren »interessante Töne aus Handwerk und Industrie«, so Dittmer weiter. Ganz nach dem Motto: Lieber früh investieren, statt spät reparieren. Wie derartige Investitionen berufsbezogener Bildung heute aussehen, darüber sprach Reinhard Kahl im KörberForum mit seinem Gast Peter Haase, dem langjährigen Geschäftsführer der Volkswagen Coaching GmbH.

    »Wir haben angesichts der heutigen Wissensexplosion gerade mal eine Halbwertszeit von sechs Monaten«, betonte Haase, in der neue Erkenntnisse zum Tragen kämen. Schon heute müsse ein Großteil der Arbeitnehmer ein Viertel seiner Arbeitszeit für Weiterbildung verwenden. Durch Spezialisierung atomisiertes Wissen müsse dann durch neue Formen der Führung und der Zusammenarbeit in den Unternehmen wieder zusammengeführt werden.

    Dabei habe das asymmetrische Modell ausgedient. Alles selber zu machen und Wissen – auch zum Puschen der eigenen Karriere – vorzuenthalten, führe nicht zum Erfolg. Die symmetrischen Strukturen des Zusammenspiels seien heute gefragt, betonte Haase. Schon in den achtziger Jahren hätten die Ausbildungsplaner in der Industrie erkannt, dass wir mehr derartige symmetrische Strukturen brauchen.

    Als einfaches Beispiel verwies Haase auf die »runden Tische« in den Lehrwerkstätten. »Man sieht sich dabei an, und nicht allein in die Ferne.« Dieses fördere die Kommunikation und dadurch auch den Lernprozess. »Jugendliche lernen schneller von ihren Altersgenossen, als vom Lehrer.« Durch derartige Veränderungen seien oftmals die nicht mehr so stark gefragten Ausbilder zum eigentlichen Problem im Ausbildungsprozess geworden.

    Nach seiner »Traumschule« befragt, wünschte sich Haase eine saubere Schule, in der noch gegrüßt wird. Ordnung und Höflichkeit seien Voraussetzungen für entspannendes Lernen. Darüber hinaus solle der Schulleiter mit seinen Lehrern nicht nur symmetrische Strukturen pflegen, es müsse für die Schüler neben der Vermittlung grundlegender Kulturtechniken vor allem viel Raum zum Experimentieren und zum Ausprobieren in der Praxis geben. Doch hier engten die Lehrpläne die Lehrer oft zu sehr ein.

    Abschließend unterstrich Haase noch einmal das durch die Praxis erworbene Erfahrungswissen. »Darauf legt die geschäfts- und arbeitsprozessorientierte Berufsausbildung viel Wert.« Dafür sei eine frühe Integration in die Arbeitswelt nötig. So lerne der Auszubildende Nahtstellen, Zusammenhänge und das Funktionieren von Prozessen kennen. Diese Erfahrung sei eine wichtige Voraussetzung, um anschließend mit der Ausbildung in die Tiefe zu gehen.

    DIe Lust auf Zukunft … NDR & WDR

    NDR Kultur & WDR 3

    Gedanken zur Zeit 13. 1. 2007 19´05

    Die Lust auf Zukunft kommt zurück
    Warum Deutschland seine Kinder vermisst
    Von Reinhard Kahl

    Nun ist zu all den anderen Krisen auch noch die demografische Verfinsterung gekommen. Deutschland vermisst seine Kinder. Lauter letzte Menschen in einem Land ohne Zukunft? So spricht die katastrophenverliebte, die panische Stimme.

    Ein Ton, der den Deutschen liegt, der aber vielen hierzulande langsam über ist.

     

    Zuerst fehlten die Kinder in den Statistiken der Demografen. Heute ziehen 1000 Frauen in Deutschland 670 Töchter groß. Denen folgen 450 Enkelinnen. Und die bringen noch 300 Urenkelinnen zur Welt.

     

    Der Diagnose der Bevölkerungswissenschaftler folgte der Alarm der Rentenpolitiker.

     

    Der Dritte im Bund ist die Wirtschaft: "Die Verfügbarkeit von Humankapital wird sich zusehends verschlechtern und zur Wachstumsbremse", warnte Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft.

     

    So oder so ähnlich klingen die Vermisstenanzeigen für den ausbleibenden Nachwuchs. Fehlen da neben den unterzeichnenden Fachleuten für Demografie, Renten und Wirtschaftswachstum nicht andere Stimmen? Noch bleiben die Personalchefs, Bürgermeister und Statistiker unter sich. Sie drohen, wenn das so weiterginge, müssten bald Schulen, Schwimmbäder, Fabriken und, wer weiß, vielleicht irgendwann auch die Konten der Rentner geschlossen werden. Aber es geht so weiter. Zuletzt verringerten sich die Geburten um weitere 4,2 Prozent, stärker noch als in den Vorjahren.

     

    Nun nutzen die schon länger arbeitslos gewordenen Apokalyptiker ihre Stunde. "Ab in die Wälder - Wölfe treten an die Stelle der Menschen", schrieb der "Spiegel" über die demnächst entvölkerten Regionen. Tatsächlich gelten Teile von Mecklenburg-Vorpommern nach den Normen der EU-Statistik bereits als unbewohnt. Das gleiche Magazin benannte eine Titelgeschichte über Einzelkinder in Restfamilien "Unter Wölfen". Tatsächlich werden Kinder überall zur Minderheit. In allen Regionen. In den meisten Familien. In der Öffentlichkeit.

     

    Aber etwas kommt in diesem Sorgendiskurs einfach nicht vor. Das Interesse an Kindern. Vor allem an den bereits geborenen.

     

    Es ist schon merkwürdig, neben dem gestochen scharfen Katastrophenbild gibt es einen riesigen blinden Fleck. Um ihn zu orten, stelle man sich vor, all die demografischen, renten- und arbeitsmarktpolitischen Probleme wären durch einen politischen Zauber gelöst. Wir bekämen Zuwanderung von tatendurstigen Eliten aus der Dritten Welt, dazu eine wunderbare Geldvermehrung in den Rentenkassen und auch noch intelligente Roboter. Mangel an späteren Arbeitskräften, an Steuer- und Rentenzahlern wäre also nicht mehr zu beklagen. Nur der an Kindern. Aber wem würden sie dann noch fehlen? Wir nähern uns dem Problem.

     

    Den meisten fehlen gar nicht die Kinder, ihnen fehlt einfach die Lust auf sie. Übrigens müssten es ja nicht unbedingt die eigenen sein.

     

    Aber in einer Welt, in der Kinder selten und seltener werden, fühlen sich auch kinderwunschresistente Erwachsene langsam verloren. Ihre Lebenswelt wird alt. Der menschlichen Sterblichkeit fehlt das Gegengewicht, das Hannah Arendt "Natalität" oder auch "Gebürtlichkeit" nannte. Kinder sind eben nicht nur der Nachwuchs für die Subsysteme der Gesellschaft. Um diese am Laufen zu halten, bekommt niemand ein Kind, selbst wenn hohe Gebärprämien ausgesetzt würden. Nochmals: Warum werden die Kinder selbst so wenig vermisst? So wie sie sind. Ohne weitere Gründe, außer dem einen, dass wir sie mögen, ja sogar lieben? Wer singt das schöne Lied: „Wie schön, dass Du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst“?

     

    Ohne Kinderwunsch bleibt das Alarmieren und Drohen unfruchtbar, ja es erweist sich als ein Teil des beklagten Problems.

     

    Gäbe es also nur das demografische Unglück, es sähe wirklich finster aus. Aber da ist auch noch eine andere Seite. Immer mehr Menschen erschrecken darüber, dass sie gar keine Kinder mehr kennen. Manch edle Wohnstraße ist kinderfrei. Viele Menschen wollen lieber von der ungestümen Energie und dem unersättlichen Fragen der nervenden Kleinen verschont bleiben. Gerade sie aber bräuchten Kinder, von denen sie ins Leben hineingezogen werden. Gewiss, Kinder stören. Sie unterbrechen Routinen. Ja, sie sind die genialen Unterbrecher und Neuanfänger. Und genau dieses Unterbrechen und Neuanfangen fehlt der Gesellschaft insgesamt. Wo ist die Unruhe im Uhrwerk? Unterbrechen und Neuanfangen ist ebenso wichtig wie das Weitermachen, dessen Gefährdung so häufig beschrieben wird. Neuanfänge und Kontinuität kann man natürlich so wenig gegeneinander ausspielen wie den Plus- gegen den Minuspol oder wie die Vergangenheit gegen die Zukunft.

     

    Kinder sind die Zukunft in einem doppelten Sinne. Sie sind nicht nur eine Zukunft, die brav in die Fußstapfen der Vergangenheit tritt, eine, über die man genaue Aussagen machen kann, Prognosen exakt bis hinter das Komma, als wäre sie bereits eingetreten.

     

    Kinder sind noch eine ganz andere Zukunft. Eine, die wir nicht kennen. Dieser Möglichkeitssinn für eine offene Zukunft ist in Deutschland schwach. So schwach wie der freundliche, neugierige und erwartungsvolle Blick auf Kinder.

     

    Wenn das Verhältnis zu Kindern so eng mit dem Verhältnis zur Zukunft verflochten ist, dann stellt eine neue Aufmerksamkeit für Kinder, auch wenn sie mit dem Schock über den Kindermangel beginnt, eine enorme Chance dar. Zur demographischen Erregung kommt nun etwas anders: Die Entdeckung der frühen Jahre als  Bildungszeit. Es geht dabei nicht nur darum, dass alle gut qualifiziert sein sollen. Das wäre der Mindesteinsatz, der allerdings in Deutschland einem Viertel der nachwachsenden Generation vorenthalten wird, wie die Pisa-Studien zeigen. Bildung ist das Versprechen, dass all die verschiedenen Individuen ihr Eigenes ins Spiel bringen und mit ihren Talenten wuchern können.

     

    Wie also bekommt das Neue, das Noch-nie-da-gewesene, eine Chance? Die japanische Tradition könnte uns auf die Sprünge helfen. Sie hat gar keinen Begriff, der unserer Konstruktion von Zukunft entspricht. Zukunft ist dort etwas, das sich in Lücken, die man in der Gegenwart für das Unerwartete lässt, einnistet. Das Neue ist ein scheues Geschöpf. Es kommt auf Umwegen. Mit fester Absicht und klarem Ziel kann ja nur etwas hervorgebracht werden, das man bereits kennt, wovon zumindest ein Bild existiert. Auf geraden und eingefahrenen Wegen spaziert nur die Vergangenheit weiter. Die Zukunft ist ein Kind des Hungers und der Vorfreude auf etwas, das sein könnte. In wacher Gegenwart kommt ein Sog auf, der Zukunft schafft. Sie bleibt aus, wenn sie nicht eingeladen wird. Sie braucht Entwicklungsräume, Inkubatoren, gut klimatisierte Treibhäuser. 

     

    Was in der japanischen Tradition die Lücke ist, ist in der abendländischen Tradition die Idee der Unvollkommenheit. Da wird es brenzlig. Sieht man sie als die Erbsünde, also als eine angedrohte Verdammnis, der man dadurch entkommt, dass man versucht, möglichst ein ganz anderer zu werden oder zumindest als ein anderer zu erscheinen? Sucht man also sein Heil in Perfektion und Fehlerverleugnung? Oder wird die Unvollkommenheit als unverzichtbare Bedingung für die Möglichkeit entwicklungsfähiger Wesen gesehen? Weil Menschen unfertig sind, haben sie etwas nicht Festgelegtes vor sich. Und weil alle Menschen auf verschiedene Weise unvollkommen sind, mussten sie sich in ihrer Evolution etwas Gemeinsames schaffen: die Sprache, die Kultur, die Kooperation und die Traditionen. Sie alle sind kein Teil der Naturgeschichte mehr. 

     

    Das alles verdankt sich dem besonderen Handicap der menschlichen Gattung. „Neotenie“ heißt dafür der Schlüsselbegriff. Der Mensch wird zu früh geboren. Eigentlich bräuchte er 21 Monate intrauteriner Reifungszeit. Zeitlebens behält dieses merkwürdige, zudem mit Instinkten schlecht ausgestattete, wenig festgelegte Tier etwas von seiner Jugend. Der Mensch ist eine Paradoxie, ein geschlechtsreif gewordener Affenfötus. Dazu gehören auch die andauernde Fähigkeit zu lernen und die schier endlose Lust am Spiel.

     

    Dass diese Unreife eine durchaus ambivalente Angelegenheit ist, muss man ja nicht extra betonen. Kein Wesen kann so misslingen wie die von unserer Art.

     

    Es sieht nun so aus, als würden der biologischen Neotenie, die Kultur überhaupt erst ermöglicht hat, Schübe einer Neotenie in der Kultur folgen. Zu beobachten ist ein regelrechter Verjüngungsschub bei den Erwachsenen. Wenn man sich zum Beispiel Bilder von der Fußballweltmeisterschaft 1954 ansieht, dann sahen die Spieler damals zumindest eine Generation älter aus als heutige. Da ist etwas in Gang gekommen. Offenbar leistet sich die Kultur den Luxus, die Reifezeit noch weiter zu dehnen. Spätestens hier kommt die Frage auf, ob die Tatsache, dass heute überwiegend „Wunschkinder“ zur Welt kommen, nicht zu dieser neuen Konstellation verlängerter Reifezeit gehört? Eine Bedingung, aus der unweigerlich folgt, dass die Geburtenrate sinkt. Dass sie nicht notweniger Weise so stark sinken muss, wie derzeit in Deutschland, beweisen ja die skandinavischen Länder. Jedenfalls verliert auch das Kinderkriegen seine alte Naturwüchsigkeit. Geburten sind nun auch eine Antwort darauf, ob potentielle Eltern glauben, den erhöhten Anspruch auf Reifung bzw. Bildung erfüllen zu können. Das ist im Kern doch verantwortlich!

     

    Der amerikanische Kulturwissenschaftler Robert P. Harrison sieht bereits den Ursprung Europas in einer „neotenischen Revolution“ vor zweieinhalb tausend Jahren. Mit Sokrates lehnte sich der Lernende, der fragt und der nur weiß, dass er nichts weiß, gegen die Weisheitstradition auf. Diese Position von Frage und Kritik nennt Harrison „Intelligenz“. Platon, so Harrison, hätte diese Intelligenz des Nichtwissens wieder mit den Antworten der Weisheit versöhnt. Auch Christus sei ein neotenischer Rebell. „Werdet wie die Kinder!“ Das Christentum habe dann in das Neue Testament wieder das alte eingemeindet. Stehen heute die ursprünglichen Impulse von Sokrates und Christus erneut auf der Tagesordnung?  Befinden wir uns in einer zweiten neotenischen Revolution?

     

    Das Selbstbild der Menschen verändert sich. „Das Alter ist die radikalste Form der Unfertigkeit,“ schrieb der kürzlich verstorbene Altersforscher Paul Baltes. Ist es ein Zufall, dass die Neuentdeckung des Alters und der Kinder unter diesem neuen Vorzeichen des Unfertigen steht?

     

    Nun dämmert es uns in vielen Zusammenhängen, was der englische Schriftsteller T. S. Eliot schon wusste:  Perfektion bekommt keine Kinder." Sie ist steril.

     

    Blicken wir genauer auf die besondere Unfertigkeit der Kinder, aus der sich ihre ganz besondere Lern- und Entwicklungsfähigkeit ergibt. Unmittelbar nach der Geburt beginnen Säuglinge, die Mimik der Erwachsenen zu imitieren. Sie können bereits verschiedene Sprachen unterscheiden. Sie sind klug. Nicht nur das Rausstrecken der Zunge, das sie bald nachahmen, verbindet sie mit Albert Einstein. Noch vor einer Generation wären Wissenschaftler ausgelacht worden, wenn sie Babys als kleine Wissenschaftler, als „Forscher in Windeln“ oder als „kompetente Säuglinge“ beschrieben hätten, die durch Ausprobieren, Verwerfen und Imitieren ihre ganz besonderen Forschungsprogramme durchführen.

     

    Die Bobachtungen und Theorien der wissenschaftlichen „Babywatcher“ wälzen manche Theorie um und sie vervollständigen unser Wissen. Das wichtigste aber ist wohl, dass sie mit ihrem veränderten Blick auf die Kinder eine andere Ethik in die Gesellschaft hineintragen: Respekt vor den Leistungen und vor dem Eigensinn der Kinder. Bewunderung für das Geniale dieses Lernens, das bisher gar nicht als Lernen, sondern eher als ein Aspekt des natürlichen Wachstums angesehen wurde. Die Kleinsten galten bloß als "lebendiges Gemüse" ohne nennenswerte kognitive Fähigkeiten.

     

    Während die Bevölkerungswissenschaftler dem Land seine demographische Implosion vorrechnen und diese Botschaft auf der empfangsbereiten Frequenz für gefühlte Katastrophen senden – nebenbei, auf diesem Sender liefen noch vor wenigen Jahren Programme über die Bevölkerungsexplosion, die den Planeten zu ruinieren drohte – während also die Nachrichten für  Untergangserregungen überboten werden, hat die Gesellschaft vielleicht die entscheidende Lektion noch vor sich: Die Wiederentdeckung der Kinder und damit das Widergewinnen einer Passion für den Anfang, für die Neugierde, für das Spiel und überhaupt für eine aktivere und optimistischere Position.

    Vielleicht steckt in den Bildern, die eine Kultur von Kindern hat, viel mehr von ihrem Selbstbild, als ein Angehöriger dieser Kultur selbst wissen kann. Die Chancen stehen jedenfalls nicht schlecht, dass uns die Kinder, wenn wir sie denn neu entdecken, auch eines Besseren über uns selbst belehren und die Gesellschaft enorm bereichern werden. Albert Einstein antwortete auf die Frage, wie er sich seine Entdeckungen erkläre, „weil ich immer das ewige Kind geblieben bin.“

    PS 1 Die Intelligenz der Praxis

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    P.S. Ausgezeichnet: Die Intelligenz der Praxis
    Vom Deutschen Schulpreis, der am 11. Dezember in Berlin erstmals verliehen wurde und der nun jährlich von der Robert Bosch Stiftung ausgelobt wird, kann eine enorme Ermutigung für alle Schulen ausgehen. Es ist keineswegs so, dass die Stiftung ihre Lieblinge aus der Reformszene gekürt hat. Sie hat in einem aufwendigen Verfahren 481 Bewerbungen von Gutachtern prüfen und dann eine pluralistisch gemixte Jury entscheiden lassen. Zur Jury gehören der derzeitige Pisa Chef Manfred Prenzel und sein Nachfolger Eckhard Klieme. Der Generalsekretär der Kultusministerkonferenz Erich Thies stimmte ebenso mit ab wie der Chef der niederländischen Schulinspektion Johan van Bruggen.

    SWR Hunger nach Anerkennung

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    SWR 2 - Wissen aktuell 16. 12. 2006

    Hunger nach Anerkennung
    Deutsche Schulen fünf Jahre nach Pisa

    Ein Essay von Reinhard Kahl

    Vor fünf Jahren wurde die erste Pisa-Studie veröffentlicht. Seitdem ist die Beunruhigung darüber, dass die Leistungen deutscher Schüler vergleichsweise schwach sind, nicht mehr verschwunden. Seitdem empört die starke Koppelung von sozialer Herkunft und Schulerfolg viele in diesem Land. Und die Zweifel daran, ob die Art, wie bei uns Schule gemacht wird, tatsächlich dem Lernen bekommt, wachsen. Mitte November brachte eine vertiefte Auswertung von Pisa an den Tag, dass von den 15jährigen, die in Naturwissenschaften und Mathematik getestet worden waren, nahezu die Hälfte bei einem Nachtest ein Jahr später nichts dazu gelernt hat. Mitte November ging in Emsdetten ein schwer bewaffneter ehemaliger Schüler in seine frühere Schule und hatte offenbar ein noch viel größeres Unheil geplant, als er angerichtet hat. Wenige Tage, nachdem Sebastian B. in der Geschwister Scholl Realschule um sich geschossen und sich dann selbst umgebracht hatte, wurde der Unterricht in andere Schulen verlegt. Der Geruch von Rauchbomben hielt sich in den Klassenzimmern und Fluren. An einem Runden Tisch beschlossen Lehrer, Eltern und Vertreter der Stadt die Renovierung der Schule. Sie sei, so hieß es, mit Farbe zu verändern, damit möglichst bald nur noch wenig an den grauenhaften 20. November erinnere. Am gleichen Tag wurde der Abschiedsbrief, den der Täter im Internet hinterlassen hatte, gelöscht. Politiker fordern seitdem, dass Killerspiele verboten werden. In den Feuilletons hat eine Debatte über den Einfluss der Medien begonnen, vor allem über jene Computerspiele, die Gewalt und Hass zelebrieren. Über Sebastian B. weiß die Öffentlichkeit bisher kaum etwas, abgesehen von dem, was er im Internet hinterlassen hat. Was dort einmal verbreitet wurde, lässt sich nicht löschen.

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    DIE ZEIT Deutscher Schulpreis “ Eine Klasse für sich“

     

    DIE ZEIT

     

    Eine Klasse für sich

    Der Deutsche Schulpreis zeichnet fünf Schulen aus, in denen sich die Lehrer nach den Kindern richten

    Ein trüber Dezembermorgen in Dortmund-Nord, einem so genannten Brennpunktviertel. Aber in den Fluren der Grundschule Kleine Kielstraße geht es munter zu. Kinder lassen Luftballons steigen; die herausströmende Luft treibt kleine Propeller an. Die Lehrerin hilft bei der Montage. Andere Kinder lesen oder spielen. Dabei ist es noch nicht einmal acht Uhr.

    Der erste und der zweite Jahrgang werden gemeinsam in einer Klasse unterrichtet. Gute Schulen sehen in der Verschiedenheit der Kinder keinen Nachteil. Im Gegenteil: Mit altersgemischten Gruppen versuchen sie diese noch zu verstärken. Die Lehrerinnen und Lehrer erwarten die Kinder bereits im Klassenzimmer. Sie sind wie Gastgeber. Sie haben sich und den Raum vorbereitet, heißen die Kinder willkommen, und die legen sofort los. Fünf nach acht müssen alle da sein. Lehrerin Julia Herdramm stellt jetzt den Kassettenrecorder an. Die Kinder versammeln sich zum Morgenkreis auf Hockern vor der Tafel, die vollständig von Plakaten verdeckt ist. Unter der Überschrift Luft und Wind stehen Fragen wie »Was kann Luft?«.

    Auch der Morgenkreis ist ein Merkmal der fünf Schulen, die am 11. Dezember aus der Hand von Bundespräsident Horst Köhler den Deutschen Schulpreis erhielten. Die Dortmunder Grundschule Kleine Kielstraße bekam den mit 50000 Euro dotierten ersten Preis.

    Aber davon weiß an diesem Morgen noch niemand etwas. 480 Schulen haben sich beworben. 18 wurden nominiert. Und an fast jeder der 18 nominierten und vielen anderen ließe sich zeigen, wie Schule in Deutschland gelingen kann – trotz der Bildungspolitik, wie man in der Bosch-Stiftung hinter vorgehaltener Hand sagt. Die Stiftung hat den Preis in diesem Jahr zum ersten Mal ausgelobt. Er soll eine Institution werden.

    Im Morgenkreis in der Grundschule Kleine Kielstraße wird der Tagesablauf besprochen. Ein Schüler stellt auf dem Wandkalender das Datum und den Wochentag ein. Eines der vielen Rituale in der Kleinen Kielstraße, die den Tag gliedern – und zugleich eine Übung, denn viele müssen Lesen und Zählen noch lernen.

    Von der Problemschule zur Magnetschule

    Schon beginnt das Brainstorming um Luft und Wind. Es wird gepustet, gepfiffen und berichtet, dass einen so ein Wind sogar umhauen kann. Was ist Luft? Die Lehrerin zündet ein Teelicht an und stürzt ein Wasserglas darüber. Bald geht die Kerze aus. Nimmt sie einen Glaskrug, dauert es länger. Warum? Staunende Gesichter. Den Schülern fallen viele Erklärungen ein, denn die Lehrerin macht sie nicht mit ihren Antworten satt. Ihr Unterricht produziert erst mal Aufmerksamkeit. Gelangweilt guckt niemand. In kleinen Gruppen geht es weiter. Jedes Kind hat seinen Wochenplan, einen individuellen Lehrplan mit besonderen Aufgaben. Einheit schafft das große Thema »Luft und Wind«. An ihm arbeiten alle acht Eingangsklassen der Schule. Das Lehrerteam hat es ausgearbeitet. Jeder Lehrer hat andere Aufgaben oder Experimente vorbereitet. Zum Beispiel wird ein Luftballon unter ein Buch gelegt. Ein Kind bläst ihn auf. Das Buch hebt sich. Ja, Luft ist nicht nichts. Wer von diesen Erst- und Zweitklässlern wollte daran noch zweifeln?

    Zur gleichen Zeit lernen zwei Räume weiter Mütter Deutsch. Damit sie sich konzentrieren können, werden in einem weiteren Raum ihre Kleinkinder betreut. Vier von fünf Kindern der Schule haben Migranten als Eltern. Die Schule hat sich darauf eingestellt. Schulleiterin Gisela Schultebrauks konnte von einer Wohnungsbaugesellschaft 9000 Euro im Jahr für diese Kurse organisieren. Jede zehnte Mutter nimmt das Angebot wahr. Die Eltern werden mit den Kindern schon ein Jahr vor der Einschulung zu einem Test eingeladen. Dann bekommen alle einen Brief mit Angeboten. »Im Grunde ist die Schule eine Antwort auf die Kinder, ein ständiger Dialog«, sagt die Schulleiterin.

    In der ebenfalls prämierten Offenen Schule Kassel-Waldau werden die üblichen sechs Stunden des Schulvormittags auf die Zeit von 8.45 Uhr bis 14.45 Uhr gestreckt. Es gibt viele Pausen. Bereits um 7.30 Uhr kommen die ersten Schüler. Dann sind auch schon einige Lehrer da und können Dinge, die der eine oder andere Schüler nicht verstanden hat, noch einmal genau erklären.

    In Kassel-Waldau wurde die Schule schon Mitte der achtziger Jahre neu erfunden. Damals, erinnert sich die Schulleiterin Bärbel Buchfeld, war diese Gesamtschule ungefähr dort angekommen, wo im Frühjahr 2006 die Berliner Rütli-Schule stand – ganz am Boden. Es war eine dieser an Massentierhaltung erinnernden Gründungen aus den siebziger Jahren. Die hessische FDPLandtagsabgeordnete Ruth Wagner schrieb das Konzept für eine offene Schule. Es sollte die Idee einer Schule für alle gegen die anonymen und häufig verwahrlosten deutschen Gesamtschulfabriken verteidigen. Die Kasseler Schule wurde daraufhin umgebaut und in lauter kleine Schulen aufgeteilt. Jeder Jahrgang eine kleine Schule mit einem Lehrerteam, das sich die Zeit und die Arbeit selbst einteilt. Die Klassenräume wurden um einen atriumähnlichen Innenraum gebaut, von dem auch das Lehrerzimmer abgeht. Die Schule ein Ort, an dem sich die Kinder und Jugendlichen zu Hause fühlen, an dem die Lehrer die Kinder und nicht die Fächer unterrichten. Es gelang.

    Kassel-Waldau besteht vor allem aus Plattenbauten. Jeder Vierte der 6000 Einwohner ist arbeitslos. Diese Schule aber schafft es, dass 60 Prozent der Schüler nach der zehnten Klasse zur Fachoberschule oder in die Oberstufe des Gymnasiums gehen. Bei den ausländischen Kindern – nahezu jeder Zweite an der Schule – ist der Anteil nicht geringer. Etwa die Hälfte der Plätze an der Schule sind Kindern aus dem Stadtteil vorbehalten. Die anderen kommen aus der ganzen Stadt. Zuletzt gab es 700 Bewerber für 70 freie Plätze in den fünften Klassen. Aus der Problemschule wurde die Magnetschule der Stadt.

    Ähnlich sieht es an der ebenfalls preisgekrönten Braunschweiger Gesamtschule Franzsches Feld aus. Auch hier machen nach der zehnten Klasse fast zwei Drittel weiter in Richtung Hochschulreife. Obwohl nur ein Drittel aus der Grundschule die so genannte Gymnasialempfehlung mitbrachte.

    Bis auf die Dortmunder Grundschule, die den ersten Preis gewann, wurden nur Gesamtschulen ausgezeichnet: neben den Schulen aus Kassel und Braunschweig die Jenaplan-Schule Jena und die Max-Brauer-Schule aus Hamburg-Altona. Die Jury, so war zu hören, hat sich sehr bemüht, dass ein Gymnasium dabei ist, aber sie konnte kein hervorragendes finden. Zu den Mitgliedern gehören Pisa-Leiter Manfred Prenzel und der Generalsekretär der Kultusministerkonferenz Erich Thies, der Chef der niederländischen Schulinspektion und Bildungsforscher aus der Schweiz und Österreich. Kein parteiliches Gremium. Haben sie mit den fünf eigenwilligen Preisträgern nicht die Vision einer Schule der Zukunft zusammengestellt? Vieles an diesen Schulen ist ähnlich, doch jede hat ihre Biografie, jede ist eine lernende Organisation. Die Schule in Jena beginnt mit der Vorschule und geht bis zum Abitur, das mehr als die Hälfte der Schüler ablegt. Im Thüringer Zentralabitur bringt sie es auf den Schnitt von 1,5. Im Landesschnitt ist es eine 2,3. Wie macht die Schule das? Die Schüler lernen überwiegend in jahrgangsgemischten Gruppen, den so genannten Stammgruppen, zu denen jeweils drei Altersjahrgänge gehören. Diese Altersmischung hat den Vorteil, dass die Schüler viel voneinander lernen und dass bei Lehrern gar nicht erst die Illusion aufkommen kann, sie könnten im Gleichschritt den Stoff durchziehen. Auch hier gibt es den Wochenplan, den die Schüler mit ihren Lehrern aufstellen. Individualisierung und Gemeinschaft sind das pädagogische Yin und Yang. Jeder Schüler kann nach seinem Tempo arbeiten. Diese Eigenzeit der Kinder ist für die Schulleiterin Gisela John »die wirkliche Demokratisierung der Schule«. Sie findet im Unterricht statt. Oder wenn jeder Schüler zweimal im Jahr seine Leistungen in einem Brief an den Lehrer selbst einschätzt. Dieser antwortet darauf wiederum mit einem Brief. Erst dann schreibt er Noten. Es folgt ein Gespräch mit allen, auch den Eltern. Gisela John schwärmt von der Ehrlichkeit der Schüler sich selbst gegenüber. Die Jungen und Mädchen dürfen Fehler machen, aber möglichst nicht immer die gleichen.

    Im Lernbüro arbeiten die Schüler selbstständig

    Für den Pädagogikprofessor Peter Fauser, Vorsitzender der Jury, ist dies das Betriebsgeheimnis der guten Schulen: »Sie lernen von den Problemen ihrer Schüler.« In der Max-Brauer-Schule in Hamburg-Altona sollen schon in der Grundschule die Kinder Chef ihres Lernens werden. Zum Beispiel stehen in einer zweiten Klasse mit 23 Kindern 23 Körbe mit verschiedenen Aufgaben bereit, in jedem Korb 23 Aufgabenzettel. Für jeden Aufgabenkorb ist ein Kind der Chef, und nur die Chefs besprechen ihre Fragen mit der Lehrerin. Die anderen Kinder gehen erst mal zu den Chefs. Viele Jahre blieben solche Lernformen auf die Grundschule beschränkt. Nun wird die ganze Schule von der Vorschule bis zum Abitur Schritt für Schritt zur Neuen Max-Brauer-Schule umgestaltet.

    Eine Lehrergruppe hat über Jahre ihre »Traumschule« konzipiert. Jetzt wurden für die Schüler der fünften und sechsten Klassen Lernbüros eingerichtet, in denen jeder morgens an etwas anderem arbeitet: Mathe, Schreiben, Lesen. Im Lernbüro arbeiten Elfjährige nun am Vormittag zwei Stunden selbstständig. Dann machen sie sich an Projekte, beschäftigen sich über Wochen mit einem Thema. Am Anfang fürchteten auch die reformfreudigsten unter den Pädagogen, ihre Schüler würden so lange Zeitintervalle gar nicht durchhalten. Aber nach kurzer Zeit kam die Überraschung. Die Stunden reichen nicht. Die Schüler wollen mehr. Und auch die Lehrer verbringen nun mehr Zeit in der Schule. Sie gehen später nach Hause – aber zufriedener.

    DIE ZEIT, 14.12.2006 Nr. 51

    51/2006

    taz Die Einzigartigkeit jedes Schülers

    www.taz.de

    Die Einzigartigkeit jedes Schülers

    Die Gewinner des Schulpreises verordnen keinen Gleichschritt. Ihr erster Maßstab ist die Verschiedenheit der Kinder. Ihre Erfolge erzielen sie im Widerspruch - gegen das gegliederte Schulsystem und gegen die Gesamtschulen als Lernfabriken

    VON REINHARD KAHL

    Die Kultusminister saßen wie gewohnt in der ersten Reihe und demonstrierten föderalen Stolz. Das war das Bild am Anfang der Festveranstaltung. Eingeladen wurden die Minister, weil die fünf Schulen, die aus der Hand von Bundespräsident Horst Köhler am Montag den Deutschen Schulpreis erhielten, sozusagen ihre Landeskinder sind. Aber diese Schulen sind erwachsen geworden. Sie bekommen den Preis nicht wegen, sondern trotz der von den Ministern verantworteten Bildungspolitik. Und als nach der Preisverleihung Feierstimmung bei der versammelten pädagogischen Prominenz aufkam und man sich dazu gratulierte, wie gelungen Schulen in Deutschland doch sein können, trotz alledem, da standen die Kultusminister abseits, wie bestellt und nicht abgeholt. Dieser Tag, der 11. Dezember 2006, könnte sich als ein historisches Datum für die Schulen dieses Landes herausstellen.

    Alle fünf ausgezeichneten Schulen verstehen sich als "Schulen für alle". In der wunderbaren Grundschule Kleine Kielstraße in Dortmund, die den ersten Preis erhielt, bedauern die Lehrer, ihre Kinder nicht über das vierte Schuljahr hinaus weiter gemeinsam unterrichten zu können. Wenn man sieht, welchen Sprung die Kinder in ihrer Arbeitshaltung, in den Leistungen und in ihrem freudigen Selbstbewusstsein von der Eingangsklasse zur dritten Klasse machen, kann man sich vorstellen, wie das weitergehen könnte. "Wir möchten die Kinder länger behalten", sagt Gisela Schultebraucks, die Schulleiterin, bedauernd. Die Kinder aus dem ersten und zweiten Schuljahr lernen zusammen. Manche schaffen den Sprung zur nächsten Stufe, der dritten Klasse, in einem Jahr, andere brauchen dafür drei Jahre, aber alle schaffen ihn.

    Die Altersmischung hat außerdem den großen Vorteil, dass die Neuanfänger nicht am Nullpunkt starten. Sie kommen in eine Community mit ihren Regeln, Ritualen und Revieren. Die Schule ist für sie kein leerer Container, den die Lehrer gegenüber den Kindern erst mühsam definieren müssen. Und noch etwas schafft die Altersmischung. Es lässt sich nicht mehr darüber hinwegsehen, dass jedes Kind anders ist. Die Illusion, dass alle gleich sind, oder - noch verrückter -, dass es die Aufgabe der Schule sei, alle erst mal auf den gleichen Stand zu bringen, um dann nach dem Lehrplan mit der ganzen Klasse im Gleichschritt voranzugehen, wird spätestens an der durch die Altersmischung noch gesteigerten Realität von Verschiedenheit zerschellen.

    Kein Wunder, dass bei der üblichen Gleichschrittspädagogik viele Kinder verloren gehen. Schon wegen der Langeweile. Und die Frage, ob die schnellsten oder die langsamsten das Tempo "diktieren" sollen, ändert nichts daran, dass Einheitstempo immer eine graue, alltägliche Diktatur hervorbringt. Eine Schule, von der bald niemand mehr etwas wissen will. Die Trümmer des deutschen Schulsystems entstehen, wo die Verschiedenheit der Kinder ignoriert wird, wo Fächer und nicht Schüler unterrichtet werden, wo unser viergliedriges System (bei der Rede vom "dreigliedrigen" werden ja bereits die nahezu fünf Prozent Sonderschüler - einmalig in der Welt - ausgebürgert) die Illusion aufbaut, die Verschiedenheit mit der Aufteilung der Kinder in Schultypen bereits gelöst zu haben. "Lernen ist doch das Allerindividuellste auf der ganzen Welt", sagt Hartmut von Hentig, der große Mentor aller pädagogischen Erneuerung, "es ist genauso individuell wie die Liebe."

    In guten Schulen führt der Blick auf die Verschiedenheit der Kinder zur Anerkennung, ja Bewunderung für die Einzigartigkeit jedes Einzelnen. Sie unterscheiden sich von schlechten genau darin: Wird die Verschiedenheit der Kinder und Jugendlichen zumindest respektiert - oder wird sie als Abweichung von einer idealen Norm, gewissermaßen als zu korrigierender Geburtsfehler des Individuums, bekämpft?

    Aber dieser fatale Irrglaube der Industriegesellschaft, dass Menschen gut funktionierende Maschinen sein sollten, verliert seine Anhänger. Es könnte sehr schnell gehen, dass die neuen Schulen mehrheitsfähig werden, wenn sich erst einmal herumspricht, wie weit der Gegenentwurf bereits gediehen ist. Das ist das ernorme Verdienst des Deutschen Schulpreises, diesen gelungenen Schulen Bekanntheit und Ansehen zu verschaffen. Es sind neben der Dortmunder Grundschule allesamt Gesamtschulen der zweiten Generation: Kassel-Waldau, Max-Brauer in Hamburg, Jenaplan in Jena und Franzsches Feld in Braunschweig. Sie haben sich im Widerspruch sowohl gegen das gegliederte deutsche Schulsystem als auch gegen die zuweilen an Lernfabriken erinnernden Gesamtschulen der ersten Generation profiliert. Sie haben übersichtliche Lernräume geschaffen und sich geweigert, die Selektion mit noch ausgefeilterer Differenzierung zu perpetuieren. Ihr Schulklima schafft gute Stimmung und bringt allerbeste Leistungen. Diese Schulen mussten ihre Freiheit oft Zentimeter für Zentimeter gegen Kultusminister, Schulbürokraten und nicht zuletzt gegen eine öffentliche Meinung verteidigen, die in alter deutscher Tradition einfach nicht glauben wollte, dass sich mehr Freude und bessere Leistungen gegenseitig hochschaukeln.

    Diese Schulen sind selber lernende Organisationen. Im Alltag der Grundschule Kleine Kielstraße, in der vier von fünf Kindern aus ausländischen Familien kommen, sieht das so aus: Während die Schulanfänger bereits kleine naturwissenschaftliche Experimente machen, lernen ihr Mütter im Nebenraum Deutsch. Noch einen Raum weiter werden deren Kleinkinder betreut. Schulleiterin Gisela Schultebraucks konnte dafür von einer Wohnungsbaugesellschaft 9.000 Euro im Jahr organisieren. Zehn Prozent der Mütter machen mit. Eltern werden mit den Kindern schon ein Jahr vor der Einschulung zu einem Test eingeladen. Anschließend bekommen sie einen Förderbrief mit Angeboten. Die Reihe solcher Ideen an dieser Schule ist lang. Das Faszinierende ist, wie diese und andere Schulen dabei souverän werden. Sie stilisieren all die kleinen und großen Probleme, die auch bei ihnen nicht aufhören, nicht zu einer Übermacht, die sie selbst zum ohnmächtigen Opfer macht, so in der Art: Bei einer "Belastung" von 80 Prozent Ausländern kann man halt nichts mehr machen, und angesichts großer Klassen, von zu wenig Geld, zu viel alter oder vielleicht auch zu viel junger Lehrer …, da geht doch gar nichts. Und das beweisen wir. Solche Opferdiskurse sind in den depressiven Zirkeln vieler Lehrerzimmer verbreitet. Sie frönen, zuweilen mit kritischer Theorie untermauert, dem traurigen Bild vom handlungsunfähigen Untermieter in der Welt. Und damit kommen sie dann auch noch ihren Schülern. Die lernenden Schulen eignen sich als Erstes die Probleme, unter denen sie leiden, als ihre eigenen an. Egal wodurch sie hervorgebracht worden sind, jetzt sind es ihre Probleme, das heißt, das Rohmaterial ihrer Lösungen. So wird Entfremdung in eigenes Leben umcodiert. "Im Grunde ist die Schule", sagt die Dortmunder Schulleiterin, "eine Antwort auf die Kinder und den Stadtteil, ein ständiger Dialog." Und dann sagt sie noch etwas: "Ohne Liebe ist alles nichts."

    Die Jury, so war zu hören, habe sich sehr darum bemüht, ein Gymnasium bei den Preisträgern zu haben, konnte aber unter den 120 gymnasialen Bewerbungen kein hervorragendes finden. Die meisten Gymnasien wollen immer noch nur gute Exemplare ihrer Gattung, aber keine eigenwilligen Schulen sein. Die Botschaft des Deutschen Schulpreises hingegen heißt: Eine gelungene Schule hat eine Biografie. Sie ist ein Individuum. Und damit kommt man zum nächsten Punkt. Individuen suchen mit anderen Individuen eine Gemeinschaft. Sie müssen sich verständigen. Dafür brauchen sie eine Sprache. Und siehe da: All diese Schulen sind untereinander im Kontakt. Sie lernen voneinander. Aus manchen haben sich die Lehrer schon mehrfach gegenseitig besucht.

    Steht diese Strategie vor dem Durchbruch mehrheitsfähig zu werden? Die Botschaft des Preises, der nun jährlich von der Robert Bosch Stiftung ausgelobt wird, ist die Ermutigung aller Schulen, eigenwilliger zu werden. Das ist keine Marotte einer reformfreundlichen Stiftung. Die pluralistisch gemixte Jury könnte der Deutsche Bildungsrat 2006 sein. Dazu gehören der derzeitige Pisa-Chef Manfred Prenzel und sein Nachfolger Eckhard Klieme. Der Generalsekretär der Kultusministerkonferenz Erich Thies stimmte ebenso über die Preise mit ab wie der Chef der niederländischen Schulinspektion Johan van Bruggen, Jürgen Oelkers aus der Schweiz sowie die gestandenen Schulleiterinnen Enja Riegel und Erika Risse.

    Überzeugend für die Jury war natürlich auch die hervorragende Leistungsbilanz der Schüler in allen Preisträgerschulen. Zum Beispiel in der Jenaplanschule in Jena. Sie beginnt mit der Vorschule und geht bis zum Abitur, das mehr als die Hälfte der Schüler ablegt. Die Schüler bringen es auf den Abischnitt von 1,5. Im Landesschnitt des Thüringer Zentralabiturs werden 2,3 erreicht. Die Schüler lernen meist in jahrgangsgemischten Gruppen, den "Stammgruppen", zu denen jeweils drei Jahrgänge gehören. Kinder entwickeln dort ihre "Eigenzeit". Das ist für die Schulleiterin Gisela John "die wirkliche Demokratisierung der Schule". Sie findet im Unterricht statt. In Jena schätzt sich jeder Schüler zweimal im Jahr in einem Brief selbst ein. Der Lehrer oder die Lehrerin antworten darauf schriftlich, dann folgt ein Gespräch mit allen, auch den Eltern. Erst dann gibt es in den höheren Klassen Noten. Gisela John schwärmt von der Ehrlichkeit der Schüler sich selbst gegenüber.

    Die verbreitete Schülerstrategie, im Unterricht lieber intelligent gucken und bloß keine dummen Fragen stellen, gilt in diesen Schulen nicht. Der Verzicht auf den Bluff kann allerdings nur gelingen, weil die Schüler ihre Schwächen nicht verbergen müssen. Sie dürfen Fehler machen, aber nicht immer die gleichen.

    Langsam muss es sich herumsprechen, dass Schüler diese Offenheit und Lernbereitschaft einfach nicht wagen, solange sie bei schlechten Leistungen fürchten müssen, dass die Schule sie als ungeeignet abstößt. Vielleicht sollte die Gretchenfrage nach dem Schulsystem künftig so lauten: Prämiert eine Schule die Verstellung der Schüler oder bietet sie Anreize, damit jeder Schüler mit sich selbst, den anderen Schülern und den Lehrern ins Gespräch kommt? Mit der Wahrhaftigkeit wird auch die kognitive Potenz gesteigert. Nur in souveränen Schulen können Kinder zu souveränen Menschen erzogen werden! Die Preisträger zeigen Umrisse der Schule der Zukunft. Es gibt sie bereits. Hervorgegangen ist sie aus der Intelligenz der Praxis.

    taz Nr. 8150 vom 13.12.2006, Seite 18, 364 TAZ-Bericht REINHARD KAHL

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    Interview mit R. Kahl im D.Radio Kultur zum Deutschen Schulpreis

    Deutschland Radio Kultur Facit

    http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2006/12/11/dkultur_200612111916.mp3

    Deutschlandfunk Kultur heute 

    http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2006/12/11/dlf_200612111742.mp3

    11.12.2006 · 17:35 Uhr

    Bundespräsident Horst Köhler während einer Rede anlässlich der Verleihung des Deutschen Schulpreises, der erstmalig in diesem Jahr von der Robert-Bosch-Stiftung ausgeschrieben wurde. (Bild: Sandra Steins / Bundesbildstelle) Bundespräsident Horst Köhler während einer Rede anlässlich der Verleihung des Deutschen Schulpreises, der erstmalig in diesem Jahr von der Robert-Bosch-Stiftung ausgeschrieben wurde. (Bild: Sandra Steins / Bundesbildstelle)

    Auf der Suche nach der Qualität im Klassenzimmer

    Der erste deutsche Schulpreis wurde vergeben

    Reinhard Kahl im Gespräch

    Eine Schule, die "pädagogische Leidenschaft mit professionellem Können und modernem Qualitätsmanagement" verbindet - mit diesem strahlenden Lob kürte die Jury des Deutschen Schulpreises die städtische Grundschule Kleine Kielstraße in Dortmund. Wachheit, Aufmerksamkeit und Hunger auf die Welt herstellen, das gelinge der Grundschule mit 80 Prozent Kindern ausländischer Herkunft ausgezeichnet, so Reinhard Kahl.

    Christoph Schmitz : Der Preis wurde zum ersten Mal verliehen. Vergeben wird er von der Robert-Bosch-Stiftung und der Heidehof-Stiftung in Kooperation mit dem Magazin "Stern" und dem ZDF. Fast 500 Schulen bundesweit hatten sich beworben. Bewertet wurden Unterrichtsqualität, Umgang mit multikultureller Vielfalt, Schulklima, Motivationsförderung und Professionalität der Lehrer. Bundespräsident Horst Köhler überreichte die 50.000 Euro heute Vormittag in Berlin der Siegerschule. Bevor wir fragen, was diese Prämierung für das deutsche Schulwesen bedeutet, zuerst einmal die Frage: Was genau zeichnet die prämierte Schule Kleine Kielstraße in Dortmund aus?

    Reinhard Kahl: Erstmal eine wirklich fantastische Atmosphäre, die die Erwachsenen machen, die Lehrer. Die Lehrerinnen, überwiegend Lehrerinnen, sind morgens als erste in der Klasse und warten auf die Schüler. Sie haben etwas von Gastgebern an sich, die sich und den Raum gut vorbereiten, sagen zu den Schülern, gut, dass ihr da seid, und die sagen nicht, auf dich habe ich gerade noch gewartet. Die Lehrer in dieser Schule, eine Schule, in der vier von fünf Kindern ausländischer Herkunft sind, die habe ich dort nicht mit einem Satz sozusagen in diesen Opfer-Klage-Singsang gehört, den man schon häufiger in Schulen hören kann, sondern sie nehmen die Schüler, wie sie sind, und die ganze Schule ist sozusagen eine wirklich dialogische Veranstaltung, und das etwas Wunderbares.

    Schmitz: Das heißt aber auch andrerseits, die inhaltliche Qualität bedarf als Voraussetzung das gute Schulklima, die Motivationsförderung, den sozialen Zusammenhalt, den Sie gerade angedeutet haben, auch möglicherweise die individuelle Aufmerksamkeit gegenüber den Schülern. Also nur wer sich gut fühlt, lernt auch gut?

    Kahl: Ja, oder man könnte sagen, die Schule muss erstmal Wachheit, Aufmerksamkeit, Hunger auf die Welt herstellen. Sie darf nicht zu schnell satt machen, und das schafft diese Schule fantastisch. Ich habe erlebt, wie morgens in der ersten Stunde in einer ersten, zweiten Klasse, das ist da so altersgemischt aus guten Gründen, damit die Verschiedenheit der Schüler zur Geltung kommt, wurden Experimente gemacht mit Luft, und eine Kerze wurde erst mit einem kleineren Glas, dann mit einem größeren Glas zugedeckt, und sie ging dann aus, wir kennen das, und wie gebannt die Schüler da hingeguckt haben, und sie haben weitere Experimente gemacht, das würde jetzt zu weit führen, und nach anderthalb Stunden waren die Schüler so bei der Sache, wie ich das sonst nirgendwo erlebt habe, und da hat man nicht mehr geguckt, sind da jetzt 80 Prozent Ausländer, nein, da waren wache Kinder.

    Schmitz: Ist damit die Diskussion über die Schulformen, also Dreigliedrigkeit oder Gesamtschule, hinfällig geworden, weil es auf den Schultyp gar nicht mehr ankommt, damit gutes Lernen möglich ist, sondern auf den sozialen Schulgeist?

    Kahl: Also es käme dann auf den Schultyp nicht mehr an, wenn man es so macht wie all diese fünf Schulen, die heute ausgezeichnet worden sind. Sie sind alle in ihrer Weise, wie man heute sagt, Schulen für alle. Wenn eine Schule so konstruiert ist, dass einem Teil der Schüler offen oder unterschwellig mitgeteilt wird, wir wollen mal sehen, wer hier zu den blinden Passagieren gehört, wenn eine Schule sich versteht, also wir sind die richtige Schule, aber haben leider so viele falsche Schüler - und das geht ja einher mit unseren problematischen drei-, vier-, fünfgliedrigen Schulsystem -, dann steckt eine Art Gift im System. Aber nichts hindert jede Schule daran so zu verfahren wie diese fünf Schulen, die heute ausgezeichnet worden sind, und zu sagen, ihr seid gut, ihr gehört hierher, wir machen das Beste draus, die das Wort Herausforderung wörtlich nehmen. Also die sind nicht lasch, die fordern etwas heraus, aber wenn man etwas aus jemandem herausfordern will, muss man erstmal daran glauben, dass etwas drin ist.

    Schmitz: Aber das heißt doch auch, dass die Schule etwas übernommen hat, eine Erziehungsaufgabe nämlich, eine ganz prinzipielle Erziehungsaufgabe, die Elternhäuser oder die Gesellschaft im Allgemeinen nicht mehr leistet.

    Kahl: So kann man es sagen. Ich würde einfach sagen, Erziehung wird auch anders definiert. Wenn die Schule interessant und gut ist, wenn sie welthaltig ist, dann sagen dort die Erwachsenen, wir ziehen euch Kinder, Schüler, Jugendliche in unsere Welt hinein, seht mal, das ist doch interessant, man kann etwas machen. Das sind allerdings dann alles Schulen, die verstehen sich nicht als solche der Stoff- oder Lehrplanvermittlung, sondern da wird man auf den Geschmack der Welt gebracht, und der Geschmack der Welt steckt in der Musik und der steckt auch in einem Algorithmus drin.

    Schmitz: Aber dennoch kommt dann der Stoff rüber?

    Kahl: Er kommt nicht dennoch rüber, sondern er kommt deswegen rüber. All diese Schulen, die heute ausgezeichnet worden sind, die sich durch sehr gutes Klima auszeichnen, liegen leistungsmäßig jenseits aller Problematik an der Spitze, zum Beispiel die Jena-Planschule in Jena, eine Gesamtschule, an der man auch das Abitur machen kann, hat ein Abiturdurchschnitt von 1,5. Es gibt ein Zentralabitur in Thüringen, der Landesdurchschnitt ist 2,3. Wenn es eine gute Atmosphäre gibt, wenn die Schüler willkommen sind, dann lässt sich Lernen und gute Leistung gar nicht vermeiden.


    PS 11 Päd. Unternehmer

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    Reinhard Kahls Kolumne

    P. S. Schulgründer
    der Neubau mit einem Theater im Zentrum, um das herum Labor- und Klassenräume gruppiert werden. Theater und Science, sagte Hartmut von Hentig, würden ihm als Säulen einer Schule reichen. Nun wird es so gemacht. Über Jahre wird die Schule eine Bauhütte sein. Eine Chance, sagen Enja Riegel und ihr Architekt Olaf Hübner, die Schüler mitreden und mitarbeiten zu lassen. Andere würden vielleicht sagen, wie fruchtbar, nun müssen wir auf einer Baustelle lernen bzw. unterrichten. In Problemen den Nukleus neuer Möglichkeiten sehen, das ist eine Haltung, die staatlichen Schulen und ihrem Personal eher fern liegt. Aber ist es nicht ein Geheimnis des Lernens und des Lebens, aus der Problemstarre Lösungsgeschichten zu machen? Diese Geschichten sind immer besonders. Über Antworten auf Widerständiges entwickelt eine Institution ihre Geschichte, man könnte auch sagen, ihre Lernbiografie »Dabei«, sagt Enja Riegel, »könnte doch gerade die staatliche Trägerschaft die größte Chance für pädagogische Freiheit sein.« Oder doch staatlich? Aber das ist vielleicht erst der übernächste Schritt.

    taz, Simulation von Politik

    www.taz.de

    DER FALL KEVIN ZEIGT, WIE SINNVOLLE MASSNAHMEN VEREITELT WERDEN

    Simulation von Politik

    Das Wort "Unterschicht" und das Schicksal von Kevin in Bremen verweisen auf eine Verwahrlosung, die nicht nur am Rande der Gesellschaft zunimmt. Schließlich ist der Mensch ein resonanzbedürftiges Tier. Wenn sinnvolle Tätigkeiten und die Aussicht dazuzugehören, schwinden, wenn mit dem Ausbleiben des Weckerklingelns am Morgen auch der Halt, den selbst ein mieser Job noch gibt, wegbricht, dann fallen viele Menschen in sich zusammen, und manche werden zu schrecklichen Tieren.

    In wenigen Tagen schoss dieses Thema an die Spitze der Tagesordnung, die mehr und mehr aus Skandalisierungen besteht. Ein kleines Ereignis, oft nur ein Wort, reicht aus, um etwas, das in der Luft liegt, auskristallisieren zu lassen. Zusammenhänge werden sichtbar. Die Erregung müsste jetzt in Handeln übergehen, also zu Politik werden. Die Symptome müssten endlich zur Kenntnis genommen, eine Diagnose müsste gestellt, ein Therapieplan muss aufgestellt werden, der über Jahre geht und Änderungen der Lebensgewohnheiten verlangt. Aber nein. Kaum kommt etwas Tiefe auf - Ursula von der Leyen insistierte zu Recht darauf, dass neben der Familie öffentliche Orte für die Kindererziehung kultiviert und dass zugleich die Aufmerksamkeit von Hebammen und Pädagogen geschärft werden müsse -, da erobern schon wieder die Flachmänner Stoiber & Co die Schlagzeilen. Ihnen fällt nur Kontrolle durch den starken Staat ein.

    Einige in SPD und CDU wittern Krisengewinne, sie bilden eine große Koalition mit der Frage "Ist Schröder an allem schuld?". Der Streit um Worte ist beliebt. Darf man "Unterschicht" überhaupt sagen? Und ist, wer so spricht, nicht schon ein Komplize? Die Debatte verklumpt, bevor sie richtig begonnen hat. Mit der Suche nach den Schuldigen gelingt jedes Mal die Entthematisierung des gerade zur Sprache Gebrachten. Zum Schluss dann das Halali zur Verbrecherjagd und Notstandsgesetze zur Pflichtuntersuchung von Kindern. Geschwätz und die Simulation von Politik sind wieder obenauf. Die Chance auf Erkenntnis und die Arbeit an der notwendigen Kultivierung von Orten für Kinder ist erfolgreich vereitelt. REINHARD KAHL

    Der Autor ist Publizist und Bildungsexperte in Hamburg

    Hannah Arendt Rundfunkfeature NDR & WDR

     

    Hannah Arendt

     

    NDR Kultur  Kulturforum   10. Oktober 2006

    Die gesamte Sendung steht als mp3-Datei zur Verfügung (55 min, 25mb, speichern mit Rechtsklick).

     

    Liebe zur Welt

     

    Zur Aktualität von Hannah

     

    Arendt, die vor 100 Jahren

     

    geboren wurde

     

    Von Reinhard Kahl

     

     

    Sie hat das Denken – und den Irrtum - gewagt. Sie hat kein System entwickelt. „Jeder Mensch steht an einer Stelle in der Welt, an der noch nie ein anderer vor ihm stand,“ schrieb Hannah Arendt in ihrem Buch „Vita activa“, das sie ursprünglich „Amor Mundi,“ Liebe zur Welt, nennen wollte. Weil jeder Mensch anders ist, braucht er eine Welt, die ihm „ein Heimatsgefühl“ gibt. In der Verlassenheit moderner Menschen sah sie eine Ursache für totalitäre Bewegungen. Das Gegengift zu dieser fortbestehenden Gefahr war für sie Politik. Darunter verstand sie vor allem die Chance, zusammen zu handeln und Neues anzufangen.

     

     

    Sprecherin 1    Hannah Arendt

    Sprecherin 2     Zitate, weiblich / Ansagen/  Informationen

    Sprecher 1        Autorenposition, essayistisch

    Sprecher 2        Chronist / Zitate

    Sprecher 3         Ansagen, Informationen etc 

    O-Ton:  immer Originalton von Hannah Arendt

    MANUSKRIPT VOR EINIGEN KÜRZUNGEN, DIE WEGEN DER LÄNGE NÖTIG WURDEN


    Intro; Montage aus O-Ton, Sprecher und Musik.

    Klaviermusik, klassisch, eigenwillig, temperamentvoll,  z.B. Bachs Goldberg-Variationen von Glenn Gould 

     

    Klaviermusik erst kurz offen, bleibt unter den Textelementen
    – zwischen der Sprache nicht zu kurze Abstände

     

    Sprecherin 1

    Jeder Mensch steht an einer Stelle in der Welt, an der noch nie ein anderer vor ihm stand.

     

    O-Ton   1   ´´5

    Philosophie stand fest, seit meinem 14. Lebensjahr

     

    Sprecherin 1 [[Hinweis für die Regie: Das „sie“ im Zitat bezieht sich nicht auf H.A., sondern auf Rahel Varnhagen über die H.A. schreibt; (aber irgendwie meint sie auch sich selbst) - die Sache löst sich später auf;  es ist also kein Verssehen, dass der Satz von der H.A. Stimme gesprochen wird!!]]

    Worauf es ihr ankam war, sich dem Leben so zu exponieren, dass es sie treffen konnte, wie Wetter ohne Schirm.

     

    O-Ton  2    ´15

    Für mich war das eine Frage, entweder kann ich Philosophie studieren oder ich gehe ins Wasser, sozusagen. Aber nicht weil ich das Leben nicht liebte, sondern dieses Verstehenmüssen, das war sehr früh schon da.

     

    Musik etwas länger offen

     

    Sprecherin 2

    Sie war eine schöne Frau. Bezaubernd. Verführerisch feminin. Das Auffälligste an ihr waren die Augen: leuchtend und funkelnd, verträumt, wenn sie glücklich oder erregt war, aber zugleich tief, dunkel entrückt. Teiche der Innerlichkeit. Es war etwas Unergründliches an Hannah, das in den Tiefen dieser Augen zu liegen schien.

     

    Sprecher 3

    Die Schriftstellerin Mary McCarthy, ihre Freundin

     

    Musik etwas länger offen

     

    Sprecher 2

    Der Anfang ist auch ein Gott, wo er waltet, rettet er alles

     

    Sprecher 3

    Platon

     

    Sprecher 3

    Eines ihrer Lieblingszitate

     

    Ende der Anfangsmontage

     Musik kurz offen, harte Blende, Ansage trocken

     

    Ansage  (SPrecherin 2 / Sprecher 3)                  Bitte nur für

    Liebe zur Welt                                                        DIE WDR-

    Die Aktualität von Hannah Arendt                     FASSUNG

    Eine Sendung von Reinhard Kahl                           PRODUZIEREN!

     

    O-Ton   3    ´30

    Ich habe von Hause aus nicht gewusst, dass ich Jüdin bin. Meine Mutter war gänzlich areligiös, mein Vater ist früh gestorben. Mein Großvater war Präsident der liberalen Gemeinde und Stadtverordneter von Königsberg. Ich komme aus einer alten Königsberger Familie. Das Wort [Jude] ist bei uns nie gefallen als ich ein kleines Kind war. Es wurde mir zuerst entgegengebracht durch antisemitische Bemerkungen von Kindern auf der Straße. Daraufhin wurde ich sozusagen aufgeklärt. 

     

    Sprecher 2   

    Hannah Arendt wurde am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren. In Königsberg wuchs sie auf. Sie war eine überragende Schülerin. Doch gegen Ende wurde es ihr in der Schule langweilig. Die zeitweilige Schwänzerin flog in der 12. Klasse, machte aber in einer Externenprüfung ihr Abitur und hatte so ein Jahr gewonnen. 1922  ging die nicht mal 18jährige Hannah nach Marburg zum Studium der Philosophie, der evangelischen Theologie und des Altgriechischen.

     

    Sprecher 1

    Aber genau genommen ging sie nicht wegen dieser Fächer nach Marburg, sondern wegen Martin Heidegger. In Deutschland hatte sich das Gerücht von ihm als dem Philosophenkönig verbreitet.

     

    O-Ton  4   0´32

    Es lag in diesem Fall nichts vor, worauf der Ruhm sich hätte stützen können, nichts Schriftliches, es seien denn Kollegnachschriften, die von Hand zu Hand gingen; und die Kollegs handelten von Texten, die allgemein bekannt waren, sie enthielten keine Lehre, die man hätte wieder- und weitergeben können. Da war kaum mehr als ein Name, aber der Name reiste durch ganz Deutschland wie das Gerücht vom heimlichen König.

     

    Sprecher 1   

    Hannah Arendt lebte und dachte zunächst in großer Distanz zur Politik. Das Politische stand für sie, wie für ihre Lehrer und Kommilitonen, im Schatten der geistigen Welt. Zu der suchten sie Zugang. Die geistige Welt wollten sie von der mit sich verhedderten akademischen Selbstbezüglichkeit befreien. Vom frischen Fragen und Denken erwarteten sie die Erneuerung des ganzen Lebens. Ort des Geistigen, zumindest Ort der Sehsucht danach, war die Universität.

     

    O-Ton   5   1´00

    Es gab damals, nach dem ersten Weltkrieg, an den deutschen Universitäten zwar keine Rebellen, aber ein weit verbreitetes Unbehagen an dem akademischen Lehr- und Lernbetrieb in all den Fakultäten, die mehr waren als bloße Berufsschulen, und bei all den Studenten, für die das Studium mehr bedeutete als die Vorbereitung auf den Beruf. Philosophie war kein Brotstudium, schon eher das Studium entschlossener Hungerleider, die gerade darum recht anspruchsvoll waren.

    Ihnen stand der Sinn keineswegs nach Welt- oder Lebensweisheit, und wem an der Lösung aller Rätsel gelegen war, dem stand eine reichliche Auswahl in den Angeboten der Weltanschauungen und Weltanschauungsparteien zur Verfügung; um da zu wählen bedurfte es keines Philosophiestudiums. Was sie nun aber wollten, das wussten sie auch nicht.

     

    Sprecher 1

    Sie waren hungrig. Sie hatten Fragen. Sie wollten, wie es Heideggers Lehrer, der Freiburger Philosoph Husserl proklamierte...

     

    O-Ton  6  ´´6

    ...zu den Sachen selbst, das hieß weg von den Theorien, weg von den Büchern...

     

    Sprecher 1

    An den Universitäten war die Stimmung ambivalent. Sie konnte in verschiedene Richtungen ausschlagen. Jedenfalls sollte es so nicht weitergehen. Einen neuen Anfang machen. Aber welchen?

     

    Musikakzent eher kurz

     

    Sprecher 2  

    In Marburg verliebte sich die 18jährige Hannah in ihren 35jährigen Philosophieprofessor Martin Heidegger. Und er verliebte sich in sie. Er nannte sie „die Passion seines Lebens“, wollte sich aber von seiner Frau Elfriede nicht trennen. Heidegger fuhr, von der Liebe inspiriert, auf seine Hütte im Schwarzwald und schrieb „Sein und Zeit,“ sein einflussreichstes Werk. Die Liebe in Distanz, die seine Gedanken aufs Höchste beflügelte, bedrückte ihre Liebe und sie gab auf, setze das Studium in Freiburg bei Husserl und dann bei Jaspers in Heidelberg fort. In Karl Jaspers fand sie einen väterlichen Lehrer und später einen Freund.

     

    Sprecher 1

    Zu Heidegger riss bald der Faden. Anfang der 50iger Jahre traf sie ihn wieder. Über seine Feigheit und notorische Neigung zum Lügen ließ sie sich später in Briefen aus. Dennoch, Heidegger blieb für sie ihr Leben lang ein Genie des philosophischen Fragens und Denkens. Und zugleich wurde er für sie zum Antihelden, zur Warnung vor den Philosophen, denen zu allem etwas einfällt, die sich selbst auf den Leim gehen, denen der Rahmen ihrer Weltbilder wichtiger wird als die Welt selbst.

     

    Das Denken blieb für Hannah Arendt immer etwas Großes, aber sie entdeckte etwas noch Größeres, all das, was nicht in einem Menschen ist, sondern was zwischen den Menschen entsteht: die Welt. Sie wird in diesem Zwischen, also im Sprechen und im gemeinsamen Handeln, überhaupt erst hervorgebracht.

     

    Die Philosophie war ihre erste Liebe. Aus ihr schöpfte sie Wörter und Ideen. Wie ein Perlentaucher, mit dem sie später ihren Freund Walter Benjamin und wohl auch sich selbst verglich, baute sie die besten Funde der in Auflösung befindlichen Tradition in ihre Theorie des Zwischen ein, die sie eine „politische Theorie“ nennen wird.

     

    Sprecher 2

    22 Jahre alt, hatte Hannah 1928 ihre Doktorarbeit über den Liebesbegriff bei Augustinus vorgelegt. Ein Jahr später heiratete sie Günther Stern, der später als Philosoph und Schriftsteller unter dem Namen Günther Anders bekannt wurde. Sie zogen nach Berlin. Dort begann sie mit ihrer Habilitationsschrift über Rahel Varnhagen, eine Berliner Jüdin zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

     

    Sprecherin 1

    Ungebunden, vorurteilslos, gleichsam in der Situation des ersten Menschen, ist sie gezwungen, sich alles so anzueignen, als ob es ihr zum ersten Male begegnete. Worauf es ihr ankam, war, sich dem Leben so zu exponieren, dass es sie treffen konnte wie Wetter ohne Schirm.

     

    Sprecher 1

    So schrieb Hannah Arendt über Rahel Varnhagen – und wiederum zugleich über sich selbst. Diese Arbeit reflektierte ihre Befindlichkeit: Die Wunde, die die abgebrochene Liebe zu Heidegger hinterlassen hatte. Den Schwindel, den die immer stärker erfahrene Fremdheit und Entwurzelung als Jüdin auslöste. Hinter all dem tauchte die menschliche Kondition auf, ein Individuum zu sein, das darauf angewiesen ist, in der Welt zu Hause sein zu können. Die Monographie über Rahel Varnhagen reflektierte aber auch den Horizont einer Lösung: die Sprache, das Sprechen, die Dauer.

     

    Sprecherin 1

    Rahel kennt keine Heimat in der Welt, in die sie sich vor dem Schicksal zurückziehen könnte, sie hat ihm nichts entgegenzusetzen.

    Was ihr zu tun blieb, war, ein Sprachrohr des Geschehenen zu werden, das Geschehene in ein Gesagtes umzuwandeln.

    Es ist ihre große Chance, der Sprache Vertrauen zu schenken. Die Sprache soll bewahren. In ihr soll das Dargestellte bleiben können, länger in der Welt bleiben, als der vergängliche Mensch vermag. Dass sie sprechen kann, gibt ihr ein Asyl in der Welt, lehrt sie, mit Menschen umgehen, denn für und in der Welt hat nur das Bestand, was mitteilbar wird.

     

    Sprecher 2

    Für die Habilitationsschrift über Rahel Varnhagen gab es ein Forschungsstipendium. Die 26jährige hatte das Buch Anfang 1933 bis auf den Schluss fertig. 

     

    Sprecher 1

    Sicher wäre sie bald Hochschullehrerin geworden oder vielleicht doch lieber freie Schriftstellerin und Privatgelehrte wie Walter Benjamin, den sie schon in Berlin kennen gelernt hatte und mit dem sie sich später im Pariser Exil anfreundete.

    Aber sie sagte 1933 der akademischen Karriere und Deutschland ade.

    Erst ein Vierteljahrhundert später erschien die deutsche Ausgabe von

     

    Sprecherin 2

    Rahel Varnhagen – Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik.

     

    Sprecher 2

    Im Klappentext zum Buch wurde Hannah Arendts Text so zitiert:

    Sprecherin 2

    Worauf es ihr ankam, war, sich dem Leben so zu exponieren, dass es nie treffen konnte wie Wetter ohne Schirm.

     

    Sprecher 1

    Aus „sie“ wurde „nie“. Die Veränderung nur eines Buchstabens reichte für die völlige Verdrehung des Sinns. Über mehrere Auflagen hatte offenbar niemand diese kleine Fälschung bemerkt. Dass das Leben „nie treffen konnte wie Wetter ohne Schirm“ schien den Lektoren und Lesern plausibler. So stand es noch in der 10. Auflage von 1995.

    Ein Beispiel, wie radikales Denken unversehens eingemeindet und im allgemeinen Gemurmel stimmlos gemacht wird. Ein Beispiel für die Singularität der lebenshungrigen Denkerin inmitten des wohlfeilen Geraunes.

     

    Sprecherin 1

    Ungebunden, vorurteilslos, gleichsam in der Situation des ersten Menschen, ist sie gezwungen, sich alles so anzueignen, als ob es ihr zum ersten Male begegnete. Worauf es ihr ankam, war, sich dem Leben so zu exponieren, dass es sie treffen konnte wie Wetter ohne Schirm.

     

    MUSIKAKZENT  Bach, s.o. etwas länger, zwischen melancholisch und furios

     

    O-Ton  7  ´44

    Man denkt heute oft, dass der Schock der deutschen Juden `33 sich damit erklärt, dass Hitler die Macht ergriff. Nun, was mich und Menschen meiner Generation betrifft, kann ich sagen, dass das ein kurioses Missverständnis ist. [...] Dass die Nazis unsere Feinde sind – mein Gott, wir brauchten doch, bitteschön, nicht Hitlers Machtergreifung, um das zu wissen! Das war doch seit mindestens vier Jahren jedem Menschen, der nicht schwachsinnig war, völlig evident. Dass ein großer Teil des deutschen Volkes dahinter stand, das wussten wir ja auch.


    Sprecher 1

    Hannah Arendt erlebte 1933 einen anderen Schock. Der versetzte ihrem Weltbild einen Riss. Und dieser Riss gab ihr zeitlebens zu denken.

    Viele der befreundeten Intellektuellen machten ganz freiwillig mit, bevor die verordnete Gleichschaltung griff, sie sehnten sich sogar danach, mitzumachen.

     

    O-Ton  8  1´04

    ...und das hieß, dass die Freunde sich gleichschalteten! [...] Es war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete.
    Nun, ich lebte in einem intellektuellen Milieu, ich kannte aber auch andere Menschen. Und ich konnte feststellen, dass unter den Intellektuellen das [Gleichschaltung] sozusagen die Regel war. Aber unter den anderen nicht. Und das hab ich nie vergessen. Mit einer Sache ging ich aus Deutschland, beherrscht von der Vorstellung – natürlich immer etwas übertreibend –: Nie wieder! Ich rühre nie wieder irgendeine intellektuelle Geschichte an. Ich will mit dieser Gesellschaft nichts zu tun haben. Ich war natürlich nicht der Meinung, dass deutsche Juden und deutschjüdische Intellektuelle, wenn sie in einer anderen Situation gewesen wären, als in der sie waren, sich wesentlich anders verhalten hätten. Der Meinung war ich nicht. Ich war der Meinung, das hängt mit diesem Beruf zusammen.

     

    Sprecher 1

    Wie kam es zu diesem Desaster der Intellektuellen? Was machte die Priester der Wahrheit so verführbar für die größten Lügen und so empfindungslos für den alltäglichen Anstand? Hannah Arendts Verdacht war von Anfang an, dass diese Berufskrankheit ihrer Kaste tief in der abendländischen Tradition verwurzelt ist. Worin könnte sie bestehen? Diese Fragen gaben den Anstoß für ihr Lebensthema.

     

    Warum wurde an die eine Wahrheit geglaubt, für sie erbarmungslos gekämpft, ja gemordet, obgleich sie doch nie erreicht wurde? Und warum wurde der Vielfalt der Menschen und ihren Meinungen zugleich misstraut?

    Sie vermisste an dieser philosophischen Tradition, dass der Vielfalt und dem Raum zwischen den verschiedenen Menschen, so wenig abgewonnen wurde. Zunächst war es noch ihre Intuition, später wurde es ihre ausformulierte Gewissheit, dass nur in diesen Zwischenräumen etwas Neues, noch nie Dagewesenes, zur Welt kommt.

     

    Sprecher 2

    Noch verfügte sie nicht über scharfe Begriffe. Aber sie erlebte mit Staunen und Empörung, wie Intellektuelle, die sich nach den reinen Ideen sehnten und die vor der unreinen Politik flüchteten, sich mit der totalitären Bewegung verstrickten. Hannah Arendt gab diesen totalitären Bewegungen nie das Prädikat „Politik“. Sie analysierte sie als den Versuch, Politik abzuschaffen.

     

    O-Ton  9   ´37

    Dass jemand sich gleichschaltete, weil er für Frau und Kind zu sorgen hatte, das hat nie ein Mensch übel genommen. Das Schlimme war doch, dass die dann wirklich daran glaubten! Für kurze Zeit, manche für sehr kurze Zeit. Das heißt: zu Hitler fiel ihnen was ein; und zum Teil ungeheuer interessante Dinge! Ganz phantastische und interessante und komplizierte und hoch über dem gewöhnlichen Niveau schwebende Dinge! Das habe ich als grotesk empfunden. Sie gingen ihren eigenen Einfällen in die Falle.

     

    Sprecher 2

    Hannah Arendt entschloss sich 1933 zum Handeln. Für die Zionistische Vereinigung sammelte sie antisemitische Äußerungen in deutschen Publikationen. Diese sollten im Ausland veröffentlicht werden. Dabei flog sie auf. Sie wurde inhaftiert.

     

    O-Ton  10   1´09

    Der Kriminalbeamte, der mich verhaftete, mit dem freundete ich mich an. Das war ein reizender Kerl. Der war ursprünglich von der Kriminalpolizei in die politische Abteilung avanciert. Der hatte keine Ahnung, Was sollte er da. Der sagte mir immer, gewöhnlich habe ich da jemanden vor mir sitzen, da sehe ich bloß nach, dann weiß ich schon, was das ist. Der sagte, was tu ich mit ihnen? Das war in Berlin. Ich habe den Mann leider belügen müssen, denn ich durfte ja die Organisation nicht hochgehen lassen und die phantastischsten Geschichten habe ich erzählt. Und er sagte immer, `Ik hab 'se hier reingebracht, ik krieg 'se auch wieder raus'. Nehmen sie keinen Anwalt, die Juden haben doch jetzt kein Geld, sparen sie ihr Geld. Inzwischen hatte die Organisation für mich einen Anwalt besorgt, durch Mitglieder. Und diesen Anwalt schickte ich weg. Weil ich mich auf diesen Mann, der mich verhaftet hatte -  so ein offenes, anständiges Gesicht, ich verließ mich und dachte, dass ist meine viel bessere Chance als irgendein Anwalt, der ja  doch bloß Angst hat.

     

    Sprecher 1

    Auch das Vertrauen in den Polizisten, schon ihre Bereitschaft, sich diese Erfahrung überhaupt zu erlauben, wirkt wie ein Vorgriff auf eine These ihres Werkes.

     

    Sprecher 3

    Politik ist das, was zwischen Menschen entsteht.

    Politik besteht nicht im Exekutieren von angeblichen Wahrheiten, die sich spätestens dann als Ideologien herausstellen.

    Mit jedem Individuum entstehen neue Möglichkeiten.

    Allein, nur auf sich gestellt, ist allerdings jeder ohnmächtig und bleibt unpolitisch.

    Macht entsteht aus dem Zusammenhandeln.

    Jederzeit sind Neuanfänge möglich.

     

    MUSIKAKZENT  / Bach s.o.

     

    O-Ton   11    ´10

    Ich wollte in die praktische Arbeit und – ich wollte in die jüdische Arbeit. Und in diesem Sinne habe ich mich dann in Frankreich orientiert.

    Sprecher 1

    Hannah Arendt hatte 1933, gleich nach der Machtergreifung der NSDAP, Deutschland über Prag nach Paris verlassen. Der Abscheu gegenüber den Intellektuellen und ihr Vorsatz, jetzt nur noch handeln zu wollen, bestimmte die nächsten Jahre.

     

    Sprecher 2

    Von 1933 bis 1941 arbeitete sie im Pariser Exil überwiegend für eine Organisation, die jüdische Kinder und Jugendliche nach Palästina brachte.

     

    O-Ton   12   0´38

    Das habe ich mit Vergnügen gemacht. Es war eine reguläre Sozialarbeit, Erziehungsarbeit. Man hatte große Lager auf dem Lande, wo die Kinder vorbereitet wurden, wo sie auch Stunden hatten, wo sie Landarbeit lernten, wo sie vor allen Dingen zunehmen mussten. Man musste sie von Kopf bis Fuß anziehen. Man musste für die kochen. Man musste vor allen Dingen für sie Papiere beschaffen, man musste mit den Eltern verhandeln – und musste vor allen Dingen auch Geld besorgen. Das blieb mir auch noch weitgehend überlassen. Ich habe mit französischen Frauen zusammengearbeitet. Also das war ungefähr die Tätigkeit.

     

    Sprecher 1

    Die Jahre in Paris, das waren auch politische Diskussionen und  Freundschaften, zum Beispiel mit Walter Benjamin. Unter den Emigranten bildete sich ein geistiges Milieu, wie es sich viele von ihrer Universität erhofft hatten. Irdischer, politischer als in den Hörsälen der 20er Jahre.

     

    Sprecher 2

    In einer ihrer letzten Reden, gehalten 1975 in Kopenhagen, als sie mit dem Sonnig-Preis für herausragende Beiträge zur europäischen Kultur geehrt wurde, schilderte sich Hannah Arendt als...

     

    SprecherIN 1

    ...Jüdin, geboren und erzogen in Deutschland und geprägt von acht langen und eher glücklichen Jahren in Frankreich.

     

    Sprecher 1

    In Paris erfuhr sie das niemals schmerzfreie Glück, sich dem Leben so zu exponieren, dass es sie treffen konnte wie Wetter ohne Schirm. Es regnete in diesen Alltag hinein, aber die Not nahm dank ihres Jobs bei den jüdischen Organisationen nicht überhand. In diesen acht Jahren kam sie auf den Geschmack dessen, was Politik sein könnte, jenes Zwischen, in dem sich Welt bildet, ein Bild, das sich nun durch ihr Denken zieht. Die Pariser Jahre erscheinen nachträglich wie ein Praktikum für die Themen, über die sie nach der Emigration 1942 in die USA schreiben sollte.

     

    Sprecher 3

    das tätige Leben;

    der totalitäre Staat
    und die Chancen des Anfangens, Unterbrechens und Handelns.

     

    Sprecher 2

    Die Ehe mit Günther Stern überstand die Emigration nicht. In Paris lernte sie den deutschen Kommunisten Heinrich Blücher kennen. 1940 heirateten sie. Blücher war schon in Paris auf Distanz zum Marxismus gegangen. 

     

    Sprecherin 1

    "Mein lieber Geliebtester, Einziger, Liebster –

     

    Sprecher 2

    schrieb Hannah am 18. September 1939 an Heinrich:

     

    Sprecherin 1

    ... ich habe immer gewusst - schon als Gör -, dass ich wirklich nur existieren kann in der Liebe. Und hatte gerade darum solche Angst, dass ich einfach verloren gehen könnte. Und nahm mir meine Unabhängigkeit. Und bei der Liebe der anderen, die mich für kalt erklärten, dachte ich immer: habt ihr 'ne Ahnung, wie gefährlich das ist und für mich wäre.

    Und als ich Dich traf, da hatte ich endlich keine Angst mehr... Immer noch scheint es mir unglaubhaft, dass ich beides habe kriegen können, die große Liebe und die Identität der eigenen Person. Ich habe doch das eine erst, seit ich auch das andere habe. Weiß nun endlich auch, was Glück eigentlich ist.

     

     

     

    Sprecher 2

    In Heinrich Blücher fand sie einen unphilosophischen Philosophen, einen, dem die Beziehungen zwischen den Menschen wichtiger waren als alles andere. Blücher war ein Sokrates. Ein Mensch der Gespräche. Er hat nichts Geschriebenes hinterlassen, von Briefen und Vorlesungsmitschriften abgesehen. Später in den USA lehrte dieser faszinierende Autodidakt Philosophie,      

     

    Sprecherin 1

    ...jedes Wort im Kopf, mit einer Konzentration, die die ganze Klasse ergreift...

     

    Sprecher 1

    Die Briefe zwischen Hannah und Heinrich zeugen davon, dass sie die Abkehr von aller Theorie nicht durchstehen konnte. Ihr,

     

    SPRECHERIN 1

     „ich will verstehen“

     

    Sprecher 1

    hörte nicht auf. Ihr Selbstgespräch fand nun in ihrem Mann einen Partner.

     

     Sprecher 2

    Heinrich Blücher kritisierte wie sie die Vorstellung, es gäbe ein absolutes Wissen.

     

    Sprecher 3

    Die Gefahr ist, wenn der Mensch einmal glaubt, ein Absolutes gefunden zu haben – den Kosmos oder das Sein oder Gott – dann kann er nicht mehr aufhören, alles mit diesem einen Absoluten in Verbindung zu bringen.

     

    Sprecher 2

    Gegen das Absolute und die Vorstellungen von Perfektion und Vollkommenheit setzen Hannah Arendt und Heinrich Blücher die – wie sie sagte – Pluralität der Menschen:

    Sprecher 3

    Menschen sind unverbesserliche Beziehungen - Hersteller, geboren zum Verbinden von allem mit allem.

     

    Sprecher 2

    Aus ihrem Widerspruch gegen die Anmaßungen der Intellektuellen entfaltete das Paar ein authentisches Leben – als Intellektuelle –  denn die waren sie nun mal. 

     

    O-Ton  13   ´14

    Mein Beruf – wenn man überhaupt davon sprechen kann – ist die politische Theorie. Ich fühle mich keineswegs als Philosophin. Ich bin auch nicht in den Kreis der Philosophen aufgenommen.

     

    Sprecher 2

     Auch auf die Frage, was sie denn bewirken wolle, die ihr Günther Gaus 1964 in seiner Fernsehsendung „Zur Person“ stellte, reagierte sie unwirsch.

     

    O-Ton  14   0´39

    Wenn ich arbeite, bin ich an Wirkung nicht interessiert.

    [Gaus] Und wenn die Arbeit fertig ist?

    Dann bin ich damit fertig.

    Was für mich wesentlich ist: ich muss verstehen. Jetzt fragen sie nach der Wirkung. Wenn ich ironisch reden darf, das ist eine männliche Frage. Männer wollen immer furchtbar gern wirken. Ich sehe das von außen. Nein, ich will verstehen. Und wenn andere Menschen verstehen, im selbe Sinne wie ich verstanden habe, dann gibt mir das eine Befriedigung wie ein Heimatsgefühl.

     

     

    DIE WELT Hannah Arendt zum 100. Geburtstag

    Würdigung

    VOM WUNDER DES ANFANGENS

    Hannah Arendt zum 100.Geburtstag: Ihre Aktualität ist ungebrochen

    Vor 31 Jahren ist sie gestorben. Am kommenden Samstag wäre sie 100 Jahre alt geworden. Aber immer noch ist es, als würde ihr Denken täglich aktueller. Hannah Arendt hat die geistige Vorarbeit für ein Projekt geleistet, das ansteht: die Politik neu zu erfinden.

    Von Reinhard Kahl

    Vor 31 Jahren ist sie gestorben. Am kommenden Samstag wäre sie 100 geworden. Aber immer noch ist es, als würde ihr Denken täglich aktueller. Hannah Arendt hat die geistige Vorarbeit für ein Projekt geleistet, das ansteht: die Politik neu zu erfinden. Eine Politik jenseits der Ideologien. Eine Politik nicht der Lager, sondern von Personen, die diesen Namen verdienen. Eine Politik nicht der Feindschaft, von der sie nie völlig frei sein wird, sondern der Freundschaft. In ihr sah sie mit dem von ihr verehrten Lessing ein irdisches Glück, um das die Götter uns Sterbliche beneiden. Denn Freundschaft ist eine starke Frucht der menschlichen Schwäche. "Macht", schrieb sie, "kommt von Mögen". In Freundschaft halten wir uns nicht nette Spiegel vor, durch sie bringen wir Welt hervor. Wer absolut zu sein meint, braucht keine Freunde, hat aber viel Anlass, Feinde zu fürchten. Das alles sind für die meisten gewöhnungsbedürftige Gedanken.

    Hannah Arendt hat sich von der alten Philosophie, die das Wesen der Welt in große Worte stopfte, verabschiedet. "Die Welt", sagte sie 1959, als sie in Hamburg den Lessingpreis erhielt, "liegt zwischen den Menschen, und dies Zwischen - viel mehr als, wie man häufig meint, die Menschen oder gar der Mensch - ist heute Gegenstand der größten Sorge und der offenbarsten Erschütterungen in nahezu allen Ländern der Erde".

    Sie hat es abgelehnt, Philosophin genannt zu werden. "Mein Beruf", sagte sie, "ist politische Theorie." Sie hat kein System entwickelt, aber sie hat das Denken - und den Irrtum - gewagt. "Jeder Mensch steht an einer Stelle in der Welt, an der noch nie ein anderer vor ihm stand", schrieb sie in ihrem Buch "Vita activa", das sie ursprünglich "Amor Mundi", Liebe zur Welt, nennen wollte. Weil jeder Mensch anders ist und als Fremdling zur Welt kommt, ist er auf "ein Heimatgefühl" angewiesen. In der Verlassenheit moderner Menschen sah Hannah Arendt eine Ursache für totalitäre Bewegungen. Ist diese Verlassenheit überwunden? Dagegen setzte sie die Lust, zusammen zu handeln und Neues anzufangen. Das war ihre Definition von Politik.

    Für ihr, wie sie sagte, "Selberdenken" war das Jahr 1933 der Wendepunkt. Das Verhalten ihrer intellektuellen Freunde hinterließ einen Riss in ihrem Weltbild. Die bis dahin völlig unpolitische, 27-jährige Frau hatte Philosophie, Theologie und Griechisch bei Heidegger, Husserl und Jaspers studiert und über den Liebesbegriff bei Augustinus promoviert. Das Schockierende war für sie 1933 nicht die Machtergreifung, die sie kommen sah, "es war, dass die Freunde sich gleichschalteten!" Schon damals hatte sie den Verdacht, "das hängt mit diesem Beruf, mit der Intellektualität zusammen". Sie, die Jüdin, war davon überzeugt, dass sich auch deutschjüdische Intellektuelle unter anderen Vorzeichen nicht anders verhalten hätten. Zugleich beobachtete sie, dass die freiwillige Gleichschaltung bei Nichtintellektuellen keineswegs die Regel war.

    Führte also eine Art Berufskrankheit die Intellektuellen dazu, sich selbst auf den Leim zu gehen? Hannah Arendt entschloss sich 1933 zum Handeln. Für die Zionistische Vereinigung dokumentierte sie antisemitische Äußerungen, die im Ausland veröffentlicht werden sollten. Dabei wurde sie erwischt und inhaftiert. Von dem Kriminalbeamten, der sie verhörte, sagte sie später, dass er ein so offenes, anständiges Gesicht hatte. "Mit dem freundete ich mich an. Ich verließ mich auf ihn und dachte, das ist eine viel bessere Chance als irgendeinen Anwalt zu nehmen, der ja doch bloß Angst hat." Sie setzte auf die Person, kam frei und verließ Deutschland Richtung Paris mit der Vorstellung: "Nie wieder rühre ich irgendeine intellektuelle Geschichte an." Der Abscheu gegenüber Intellektuellen verwandelte sich in Fragen nach der Herkunft des abendländischen Denkens mit seinen Absolutheitsansprüchen. Aus ihrem Widerspruch gegen die Intellektuellen entfaltet sich ein authentisches Leben - als eine Intellektuelle, denn die war sie nun mal.

    In Paris erlebte sie "acht lange und glückliche Jahre" in der Sozialarbeit für jüdische Organisationen und vor allem in der kleinen Polis der Emigranten. 1941 musste sie wieder vor den Deutschen flüchten. In New York bekam sie schnell Kontakt. Sie schrieb für die deutsch-jüdische Wochenzeitung "Aufbau". Bald erregten ihre Artikel und Essays Aufsehen. Hier meldete sich eine unverstellte Stimme zu Wort. Aus ihr sprach immer auch Erfahrung. Da ließ sich jemand beim Denken beobachten. Sie agierte immer als Person, die sich exponierte und dabei auch gefährdete. So sehr sie den Absolutheitsanspruch der Wahrheit fürchtete, so sehr bestand sie auf Wahrhaftigkeit. Die strahlte sie aus. Ihr Freundin, die Schriftstellerin Mary McCarthy, sah in Arendts Schönheit einen Wahrheitsbeweis: "Bezaubernd. Verführerisch feminin. Das Auffälligste an ihr waren die Augen: leuchtend und funkelnd, verträumt."

    Fragen nach Zielen und Absichten ihrer Arbeit machten sie hilflos. Ein Ziel? Nein! Aber ein Antrieb. "Ich muss verstehen." Spekulierte sie nicht auf Wirkung? "Das ist eine männliche Frage", antwortete sie. "Männer wollen immer furchtbar gern wirken. Und wenn andere Menschen verstehen, im selben Sinne wie ich verstanden habe, dann gibt mir das eine Befriedigung, wie ein Heimatgefühl." Der Wunsch nach einer Welt, die eine Heimat sein kann, war der Hoffnungssog ihres Denkens. Die Erschütterung darüber, dass die Welt unbewohnbar werden könnte, wenn die Menschen ihre Möglichkeit, frei zu handeln, verlieren, weil sie auf Mittel für Zwecke reduziert werden, trieb sie an.

    Was hat es mit der Verlassenheit auf sich, die mehr und mehr Menschen in der Moderne erleiden? Aus welcher Tradition heraus neigen sie zur Flucht aus der Politik in totalitäre Bewegungen? Hannah Arendt stellte Fragen, die angesichts heutiger Fluchten in Fundamentalismen wieder auf der Tagesordnung stehen. An Adolf Eichmann erkannte sie den Prototypen des feigen Funktionärs und Mitmachers. Ein Typus, der immer zu allem fähig ist. Ist er ausgestorben? In ihrem Hauptwerk "Vita activa - vom tätigen Leben" fragte sie nach den Konditionen gelingenden Lebens. Viel wichtiger als das Denken war für sie längst der Begriff des Handelns geworden: "Handeln, im Unterschied zum Denken und Herstellen, kann man nur mithilfe der anderen. In dem Zusammenhandeln realisiert sich die Freiheit des Anfangenkönnens."

    Totale Herrschaft wurde nur möglich, weil die Massen mit der Aussicht auf ein bald erreichbares Ende der Geschichte, ja mit dem Versprechen auf Erlösung von Geschichte überhaupt vertröstet wurden. Diese Schimäre stellte den Freibrief dafür dar, die Gegenwart dieser vermeintlichen Zukunft zu opfern. Für ein solch großes Ziel schien jedes Mittel recht. Hannah Arendt fand in dieser Mentalität wiederum eine fatale abendländische Spur, die sie zu den Endspielen ihres Jahrhunderts führte. Wird alles zum Mittel ideologischer Ziele, dann wird die Welt zu einem geschlossenen Raum, dann hat das Neue keine Chance mehr. Die Herrschaft der Zwecke über die Mittel war für Hannah Arendt den Sphären der Arbeit und des Herstellens angemessen, nicht aber dem Handeln, das für sie im Grunde gleichbedeutend mit Politik war. Freiem Handeln schien ihr jede Unterordnung unter Zwecke prinzipiell unangemessen. "Eine gute Tat für einen bösen Zweck", notierte sie im Mai 1951 in ihrem Denktagebuch, "fügt der Welt Güte zu; eine böse Tat für einen guten Zweck fügt der Welt Bosheit zu." Im Handeln ist das Wie stärker als jedes Was. Die Art und Weise der Tätigkeit drückt den Inhalten und Zwecken ihren Stempel auf, bringt sie häufig erst hervor. Denn das Handeln setzt einen Anfang, es verfolgt genau genommen gar keine expliziten Ziele, es bringt etwas Neues in Gang.

    "Ungebunden, vorurteilslos, gleichsam in der Situation des ersten Menschen, ist sie gezwungen, sich alles so anzueignen, als ob es ihr zum ersten Male begegnete. Worauf es ihr ankam, war, sich dem Leben so zu exponieren, dass es sie treffen konnte wie Wetter ohne Schirm." So schrieb Hannah Arendt über Rahel Varnhagen, die Berliner Jüdin im 19. Jahrhundert, und zugleich über sich selbst. Im Klappentext des Varnhagen-Buches wurde dieser Satz über viele Auflagen so zitiert: "Worauf es ihr ankam, war, sich dem Leben so zu exponieren, dass es nie treffen konnte wie Wetter ohne Schirm." Aus "sie" wurde "nie". Die Veränderung nur eines Buchstabens reichte für die völlige Verdrehung des Sinns. Ein Beispiel, wie radikales Denken unversehens eingemeindet und im allgemeinen Gemurmel stimmlos gemacht wird. Ein Beispiel für die Singularität der lebenshungrigen Denkerin inmitten des wohlfeilen Geraunes.

    Heute bringen NDR Kultur um 20.15 Uhr und WDR 3 um 22 Uhr die Radio- dokumentation von Reinhard Kahl: "Liebe zur Welt - Zur Aktualität von Hannah Arendt", in der auch ihre Stimme ausführlich zu hören ist.

    Artikel erschienen am 10.10.2006

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    WELT.de 1995 - 2006

    Hannah Arendts Pädagogik

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    Liebe zur Welt
    Hannah Arendt wäre am 14. Oktober 100 Jahre alt geworden ­ ihre Inspiration für die Pädagogik ist erst noch zu entdecken
    Selten wird eine Theorie mit der Zeit nicht grau und grauer, sondern gewinnt an Strahlkraft. Selten tritt die Person, die hinter den Gedanken steht, nach und nach gleichsam erst hervor. Und noch seltener wird eine Frau Philosophin genannt. Das Prädikat Philosophin allerdings lehnte Hannah Arendt entschieden für sich ab. In dieser Ablehnung, bei ihrer gleichzeitigen tiefen Liebe zur Philosophie, liegt vielleicht ein Schlüssel zum Werk und zur Person.

    BEITRAG: 100. GEBURTSTAG VON HANNAH ARENDT

    PS 10 Wo sind die Kinder?

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    P.S.
    Deutschland vermisst seine Kinder. Nun kommt zu all den anderen Krisen auch noch die demographische Verfinsterung. Lauter letzte Menschen in einem Land ohne Zukunft? So spricht die katastrophenverliebte, die panische Stimme. Ein Ton, der den Deutschen liegt, der aber vielen hierzulande langsam über ist. Ein vollständigeres Bild wäre dieses: Deutschland vermisst seine Kinder und die Deutschen beginnen sie neu zu entdecken. Aber erst langsam. Zuerst fehlten die Kinder in den Statistiken der Demographen.

    Hannah Arendt über Erziehung Download zum Bremer Vortrag

    Hannah Arendt

    Vortrag: Die Krise der  Erziehung

      

    Am 13. Mai 1958  hielt Hannah Arendt in der Bremer Böttchergasse den Vortrag, "Krise der Erziehung". Das war eine hellsichtige Rede.

    Nach bald einem halben Jahrhundert  aus dem Archivkeller geholt, hat sie an Aktualität gewonnen, ja etwas Prophetisches bekommen.

     

    Hannah Arendt kritisierte Erwachsene, die Kindern Probleme aufladen, die sie selbst zu lösen sich scheuen.

     

    Der gesamte Vortrag steht als Mitschnitt in zwei Teilen zum Download zur Verfügung: Teil 1 | Teil 2 (mp3, je 17,4 mb, speichern mit Rechtsklick).

    Nachzulesen ist er in dem Buch "Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft" (Serie Piper 1421)

     

    Hier einige Passagen daraus:  

     

     

    Die Autorität ist von den Erwachsenen abgeschafft worden, und dies kann nur eines besagen, nämlich dass die Erwachsenen sich weigern, die Verantwortung für die Welt zu übernehmen, in welche sie die Kinder hineingeboren haben.

     

     

    Deutlicher auf der anderen Seite konnten moderne Menschen ihre Unzufriedenheit mit der Welt, ihr Unbehagen in dem Bestehenden gar nicht äußern, als durch die Weigerung, ihren Kindern gegenüber die Verantwortung für all das zu übernehmen. Es ist, als ob sie ihnen täglich sagten: in dieser Welt sind auch wir nicht sehr verlässlich zu Hause, und wie man sich in ihr bewegen soll, was man dazu wissen und können muss, ist auch uns nicht sehr gut bekannt. Ihr müsst sehen, wie ihr durchkommt; uns jedenfalls sollt ihr nicht zur Verantwortung ziehen können, wir waschen unsere Hände in Unschuld.

     

    Erziehen tun wir im Grunde immer für eine aus den Fugen geratene oder geratende Welt, denn dies ist die menschliche Grundsituation, in welcher die Welt von sterblichen Händen geschaffen ist, um Sterblichen für eine begrenzte Zeit als Heimat zu dienen. Weil die Welt von Sterblichen gemacht ist, nutzt sie sich ab; und weil sie ihre Bewohner dauernd wechselt, ist sie in Gefahr, selbst so sterblich zu werden, wie ihre Bewohner. Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden. Die Frage ist nur, dass wir so erziehen, dass ein Einrenken überhaupt möglich bleibt, wenn es auch natürlich nie gesichert werden kann.

    Unsere Hoffnung hängt immer an dem Neuen, das jede Generation bringt; aber gerade weil wir nur hierauf unsere Hoffnung setzen können, verderben wir alles, wenn wir versuchen, das Neue so in die Hand zu bekommen, dass wir, die Alten bestimmen können, wie es aussehen wird.

     

    Gerade um des Neuen und des Revolutionären willen in jedem Kinde muss die Erziehung konservativ sein; dies Neue muss sie bewahren und als Neues in eine alte Welt einführen, die, wie revolutionär sie sich auch gebärden mag, doch im Sinne der nächsten Generation immer schon überaltert ist und nahe dem Verderben.

     

    In der Erziehung entscheidet sich, ob wir die Welt genug lieben, um die Verantwortung für sie zu übernehmen und sie gleichzeitig  vor dem Ruin zu retten, der ohne  Erneuerung, ohne  die Ankunft von Neuen und Jungen, unaufhaltsam wäre. Und in der Erziehung entscheidet sich auch, ob wir unsere Kinder genug lieben um ihnen ihre Chance, etwas Neues, von uns nicht Erwartetes zu unternehmen, aus der Hand zu schlagen, sondern sie für ihre Aufgabe der Erneuerung der Welt vorzubereiten.

     

    Um Missverständnisse zu vermeiden, meine Damen und Herren: Das Konservative im Sinne des Konservierenden liegt im Wesen der erzieherischen Tätigkeit selbst, deren Aufgabe es immer ist, etwas zu hegen und zu schützen - das Kind gegen die Welt, die Welt gegen das Kind, das Neue gegen das Alte und das Alte gegen das Neue. Auch die Pauschalverantwortung, die dabei für die Welt übernommen wird, liegt natürlich im Sinne einer konservativen Haltung. Aber all dies scheint mir, gilt nur für den Bereich der Erziehung oder vielmehr für die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern, und nicht für den Bereich des Politischen, wo wir uns mit und unter Erwachsenen und unseresgleichen bewegen.

    Im Politischen kann die konservative Haltung, die die Welt, so wie sie ist, akzeptiert, und nur danach strebt, sie in ihrem Status quo zu erhalten, nur ins Verderben führen, weil die Welt im ganzen wie alle einzelnen Dinge in ihr unabänderlich dem Ruin der Zeit überantwortet ist, wenn die Menschen sich nicht entschließen, einzugreifen, zu ändern, Neues zu schaffen.

     

     

     

    DIE ZEIT „Erwachsen werden..“ Rezension von Hentig & Bueb

    DIE ZEIT 40 / 2006  - Literaturbeilage

     

    Reinhard Kahl

    Erwachsen werden

    ...Oder die Entdeckung der Erziehung

     

    Hartmut von Hentig und Bernhard Bueb haben mit ihren neuen Büchern ihr pädagogisches Testament vorgelegt

     

     

    In Hamburg-St. Pauli proben 85 Grundschüler mit englischen Choreographen, darunter Royston Maldoom, bekannt aus dem Film „Rhythm Is It!“. Schon nach ein paar Tagen mussten die verblüfften Lehrer eingestehen, so viel Selbstbeherrschung hätten sie bei den Kindern noch nie erlebt.

     

    In Bremen fahren Migrantenkinder ins Sommercamp. Drei Wochen haben sie jeden Tag zwei Stunden Deutsch und dann zwei Stunden Theater. Anschließend Freizeit und Abenteuer. Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat den Lernforschritt dieser Wochen gemessen. Er übersteigt den eines Schuljahrs.

     

    In den Kindern steckt mehr als die meisten Erwachsenen glauben. Fehlt also die Herausforderung? Und worin könnte sie bestehen? Darüber kommt eine neue Bildungsdebatte auf. Eine zweite nach Pisa. Bücher dazu haben Hartmut von Hentig, der Nestor der deutschen Pädagogik und Bernhard Bueb, Hentigs ehemaliger Assistent beim Aufbau der Laborschule in Bielefeld, geschrieben. Bueb hat dann 30 Jahre das Internat Salem geleitet.

     

    Beide Autoren stellen Gemeinschaft und Erziehung in den Mittelpunkt. Dafür müssen sie eine Woge von Missverständnissen in Kauf nehmen. Will Hentig etwa einen Arbeitsdienst? Und wohin will Bueb zurück, wenn er die Disziplin lobt? Gemach.

     

    Hartmut von Hentig macht zwei Vorschläge. In der Pubertät, also in den Klassen 7 bis 9 will er die Schule so weit wie möglich „entschulen.“ Jugendlichen sanieren zum Beispiel ein Bauernhaus. Sie gehen auf große Fahrt, lernen eine Fremdsprache im Ausland – aber nicht als Gastschüler. Sie machen naturwissenschaftliche Experimente oder sie leisten soziale Arbeit. Die Schule wird zum Basislager für ihre Expeditionen und zum Rückzugsort für Übungen in den Kulturtechniken.

     

    Hentigs zweiter Vorschlag: Nach dem Ende der Schulzeit ein verpflichtendes soziales Jahr für alle. „Ich wünsche, dass junge Menschen erfahren, was eine Gemeinschaft ist,“ schreibt er und führt diese Idee in seinem Manifest „Bewährung“ aus. Er hat den Entwurf vor einem Jahr zu seinem 80. Geburtstag mit Freunden diskutiert. Es ist sein pädagogisches Testament. Er bringt seine Vorbehalte gegen die Schule und seine Passionen für sie auf den Punkt: Zumeist werden Kinder und Jugendliche über 10 oder 13 Jahre bloß zu Schülern gemacht und infantilisiert. Seine Hoffnung allerdings ist nicht klein zu kriegen. Die Schule sollte eine Polis werden, in der Kinder Lust darauf bekommen erwachsen zu werden. Sie sollen „die nützliche Erfahrung, nützlich zu sein“ machen. Lernen von Deutsch oder Mathematik ließe sich dann kaum noch verhindern. Übrigens im Bremer Sommercamp haben die Kinder gefragt, wo denn die Mathematik bleibe?

     

    Lust aufs Erwachsenwerden, dieses eigentlich selbstverständliche erste Ziel verfehlen die Bildungseinrichtungen am weitesten. Hartmut von Hentig fürchtet, nach Pisa hätten sie sich davon noch mehr entfernt. Die Kompetenzen schulen? Schön und gut. Aber was wird aus den Personen? „Ich erlebe“, schreibt er, „dass sie zu Funktionären des System werden, erst in der Schule, dann im Erwerbsleben.“ Gegen diese Entfremdung setzt er „Gemeinsinn“. Er macht pragmatische Vorschläge für eine radikale Praxis und weist erste Schritte, wie Städte und Regionen sein Konzept erproben könnten. Natürlich soll der Versuch „evaluiert“ werden. Vielleicht wird man sich über die Ergebnisse ebenso wundern, wie Jürgen Baumert, der Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, der die phantastischen Zahlen übers Bremer Sommercamp zuerst nicht glauben konnte.

     

    Bernhard Bueb hat ebenfalls sein pädagogisches Testament geschrieben. Der Leiter der „Schulen Schloss Salem“ ging vor einem Jahr in den Ruhestand und machte sich ans Bilanzieren. In einem Essay für die FAZ schrieb er vom „Recht der Jugend auf Disziplin.“ Selten soll es einen solchen Sturm an positiven Reaktionen gegeben haben. Das gab den Ausschlag das Buch zu schreiben und wohl auch die Disziplin ganz nach vorne zu stellen. Prompt druckte die Bildzeitung fünf Tage hintereinander Ausschnitte ab. Weil auch dort die Leserreaktion alle Erwartungen übertraf, stand Bueb in Riesenlettern auf Seite 1: „Deutschlands strengster Lehrer.“

     

    Worum geht es? „Die Kunst der Erziehung haben wir verlernt,“ schreibt Bueb. Das liege daran, dass die Erwachsenen nicht an sich selbst glaubten. In der Tat. Erinnern nicht viele Lehrer, Eltern und Kita-Erzieher an Gastgeber, die bei einem Fest so tun, als wären sie gar nicht da? „Ihr wisst ja wo der Kühlschrank steht,“ sagen sie an der Tür. Das war’s. Keine Begrüßung. Wenig Form. Kaum ein Ritual. Und natürlich geben solche nicht erwachsen gewordenen Erwachsenen ihren Kindern oder Schülern zu verstehen: Seht zu wie ihr durch kommt, vielleicht wisst ihr besser, wie man lebt. Erwartet von uns nichts.

     

    Bueb will „Mut zur Erziehung“ machen. Damit meint er, die Erwachsenen sollen sich nicht verstecken. Sie schuldeten den Kindern Lebensformen und Herausforderungen. Sie mögen doch bitte für das, was sie für richtig halten, einstehen. Bueb will „die Würde der Erwachsenen wieder herstellen.“

     

    Royston Maldoom, der englische Choreograph ist ganz nach Buebs Geschmack und einer seiner Helden. Er sagt den Kindern, ihr seit besser als ihr glaubt, und das will ich auch sehen. Er sagt: „Geht aus euch heraus“, und er verlangt, dass alle zuhören, wenn er oder ein anderer spricht. Er sagt: „Ich bin sehr streng,“ und noch nie haben die meisten Kinder so viel Zutrauen erfahren, wie bei ihm. Und tatsächlich sind die Proben ein Kampf um Disziplin und Form. Die Kinder sind dankbar für die Struktur und für den Spielraum, den sie dadurch erhalten. Dieses Yin und Yang der Pädagogik, viel geben und viel verlangen, wird nun im Entweder-oder-Land langsam entdeckt.

     

    Doch manchmal ist es, als würde Bueb seine Entdeckung gleich wieder verdecken. Je weiter er sich von der Selbstreflexion der Erwachsenen entfernt, desto häufiger klingen seine Appelle, als sei die Würde der Erwachsenen von den Kindern bedroht. Dann scheint es, Barbaren seien zu bändigen. Der Dialog zwischen Kindern und Erwachsenen, den heute bereits die Säuglingsforschung als den Kern der Entwicklung und auch des Lernens herausarbeitet – nichts davon bei Bueb. Er fordert Respekt der Kinder vor den Erwachsenen. Aber Respekt kann man schwer verlangen. Respekt, das sagt schon das Wort, ist die Art, wie zurück geblickt wird. Wenn Bueb anfängt Disziplin und Gehorsam zu predigen, riecht es zuweilen nach dem Pulverqualm im Generationenkrieg. Seine Preisungen des Spiels als stärkstem Bildungsmedium und die Mahnung, dass kein Lernen gelingt, wenn Kindern die Selbstachtung fehlt, stehen als ganz andere Predigten daneben.

     

    Bueb setzt auf Autorität. Aber was ist, wenn die Autorität weder in der Person des Erwachsenen fundiert, noch einer Tradition verwurzelt ist? Sie dann trotzdem und um so mehr proklamieren? Diese Frage stellte bereits Hannah Arendt 1958 in ihrem visionären Vortrag „Krise der Erziehung.“ „Die Autorität ist von den Erwachsenen abgeschafft worden, und dies kann nur eines besagen, nämlich dass die Erwachsenen sich weigern, die Verantwortung für die Welt zu übernehmen, in welche sie die Kinder hineingeboren haben.“

     

    Dann, so meinte sie, greifen alle Wertedebatten zu kurz, dann stehen Neugründungen an. Dann muss man, wie Hartmut von Hentig, wieder und wieder über den Umbau der Institutionen nachdenken. Bueb ist hier weniger eindeutig. Wenn er an Salem denkt, setzt er auf  Disziplin und Gehorsam. Sieht er sich in der Bildungslandschaft um, entdeckt er in Schulgründern und Umgründern wie Enja Riegel aus Wiesbaden und Alfred Hinz von der Bodensee Schule in Friedrichshafen Verbündete.  Sie haben mit Theater und viel selbständiger Arbeit der Schüler jenseits aller Ingenieurspädagogik neue Formen und Rituale des Lernens schaffen und dabei die allerbesten Ergebnisse eingefahren .

     

    Nach Pisa ist die geschwollene deutsche Rede über Bildung kleinlaut geworden und auf den Kompetenzbegriff geschrumpft.  Das war erst mal ganz gut so. Jetzt lernt man das Wort Erziehung neu zu buchstabieren. Dabei geht es vor allem um die Erwachsenen. In welche Welt wollen sie die nächste Generation hinein ziehen?

     

         

    Hartmut von Hentig, Bewährung – Von der nützliche Erfahrung, nützlich zu sein

    Hanser Verlag,  München 2006,  gebunden, 108 Seiten, 12.50 Euro

     

    Bernhard Bueb,  Lob der Disziplin – Eine Streitschrift

    List Verlag, München 2006,  Gebunden 174 Seiten;, 18 Euro  

     

    Hannah Arendt, Die Krise der Erziehung  In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft,
    Piper Verlag (Serie Piper Nr. 1421), München 2000, broschiert, 448 Seiten; 18.90 Euro

     

     

    Porträt Bernhard Bueb DIE WELT 25. 9. 2006

    Bildung

    Ein Pädagoge, der Disziplin lobt und für Strafen plädiert

    31 Jahre hat Bernhard Bueb die Schule Schloss Salem geleitet. Im Sommer 2005 ist der jetzt 67-Jährige ausgeschieden. Sein Plan: andere Schulen beraten und endlich schreiben. Bueb will keinen großen Wirbel, aber den hat er nun. Denn er hat ein Tabu gebrochen: Er plädiert für Erziehung. Was ist das für ein Mann?

    Von Reinhard Kahl

    Er wirkt selbst so, wie er andere erzogen haben möchte. Zurückhaltend, entschlossen und humorvoll. Aristokratisch; eher englisch als deutsch. Würde für eine Fernsehserie der Leiter eines Edelinternats gesucht, dann müsste die Besetzung ungefähr so aussehen wie Bernhard Bueb aus Überlingen am Bodensee.

    „Der Bildungsnotstand in Deutschland ist eine Folge des Erziehungsnotstandes", schreibt er und bestreitet, dass es ein Maßstab für Demokratie sei, mit Kindern stundenlang darüber zu diskutieren, ob der Papierkorb sofort geleert wird oder vielleicht doch erst übermorgen. Sein Buch „Lob der Disziplin. Eine Streitschrift" ist schon wenige Tage nach Erscheinen ein Bestseller.

    Es begann vor mehr als einem Jahr mit einer gewagten Überschrift im Feuilleton der "FAZ": „Recht der Jugend auf Disziplin". Kopien des Artikels wurden wie ein Samisdat weitergereicht. Als die stille Post zu Loki Schmidt, der Frau des Ex-Kanzlers, nach Hamburg kam, meinte sie, das gehöre unters Volk und bot dem ihr noch nicht bekannten Herrn aus Salem an, ihn in die „Bild" zu bringen. Dazu ist es nun gekommen.

    Fünf Tage hintereinander hat „Bild" aus dem neuen Buch zitiert. Und wieder folgte eine Woge positiver Leserreaktionen. Am zweiten Tag war Buebs Foto auf der ersten Seite. Daneben stand in fetten Lettern: „Deutschlands strengster Lehrer".

    Wer ist dieser Bernhard Bueb? Seine Bescheidenheit ist nicht gespielt, und sicher ist er nie Deutschlands strengster Lehrer gewesen. „Fragen Sie meine Töchter!" Er lacht. „Und wenn mein Hund lesen könnte, er würde sich totlachen." Er kennt Selbstironie und Zweifel und weiß damit umzugehen. Selbsterziehung? Ja, auch. Aber über allem steht seine Überzeugung, dass jeder Mensch andere braucht, die an ihn glauben. Vor allem Kinder sind auf diesen Glauben angewiesen. Er ist ihr Lebensmittel.

    Der Schüler Bernhard hatte kurz nach dem Krieg in Schwäbisch Hall nicht an sich geglaubt. Man hielt ihn für dumm und er sich auch. Eine Empfehlung fürs Gymnasium bekam er nicht. Aber das Kind aus dem Großbürgertum wurde mit Ach und Krach durch die höheren Anstalten geschleust. Sein Großvater, ein bedeutender Chemiker, war Mitbegründer der Leunawerke und später im Vorstand der IG Farben. Seine Mutter stammte aus dem schwäbischen Bildungsbürgertum. Ihr Bruder war der Verleger Ernst Klett. Nach dem Bankrott ihres Mannes unterstützte Klett die Familie und wurde Bernhard Buebs „zweiter Vater".

    Bueb spricht über all das ganz offen. „Ich war ein klassischer Schulversager, hatte immer Angst." Bis er seine Lehrerin fand. „Sie glaubte einfach an mich." Das beflügelte ihn. Die eigenen Erfahrungen nicht zu verleugnen, ist Buebs großes Kapital. Ein ungewöhnliches, das die meisten, zumal die Ideologen, vergeuden. Auch im Weiteren ist seine Biografie nicht gradlinig verlaufen. Das sollten diejenigen bedenken, die aus Buebs zugespitzter Argumentation ein Erziehungspassepartout für stromlinienförmige Biografien basteln wollen und im „Lob der Disziplin" das Handbuch für die Hundeschule sehen.

    Erziehung ist, traditionell formuliert, auch eine Prüfung für die Erwachsenen. Debatten um den Papierkorb sind eher ein Symptom für deren Schwäche. Diese Schwäche ist das eigentliche Thema. Moderner ausgedrückt, Erziehung ist nötig, um Komplexität zu reduzieren, um also nicht dauernd am Nullpunkt mit den Themen Alkohol, Fernsehen oder Papierkorb neu zu starten. Was alle nervt.

    Deshalb setzt Bueb auf Regeln und Rituale. Die müssen gelebt werden. Zuallererst von den Erwachsenen. Denn für eines haben Kinder und Jugendliche die allerfeinsten Antennen: Große Reden über den moralischen Vorteil, mutig zu sein, gehalten von Feiglingen, können sie nicht leiden. Zu Recht. Ein Komplex, der im Buch ein bisschen zu kurz kommt. Bueb nennt sich Missionar und verfällt leicht ins Predigen des Prinzipiellen. Das liegt ja immer dann nahe, wenn sich ein Autor mühsam zu neuen Einsichten durchgerungen hat. Nun sollen es alle wissen.

    Bernhard Bueb vergleicht sich mit dem Schiffer, einer Figur Thomas Manns, der gegensteuert, wenn sein Kahn Schlagseite hat. Er sucht in seinem Buch die Zuspitzung, um wahrgenommen zu werden und will doch eigentlich den Ausgleich. Erziehung sieht er zwischen Liebe und Autorität, zwischen Selbstständigkeit und Gehorsam. Die Neigung in Deutschland, nach dem Muster von Entweder-oder zu polarisieren – und das bedeutete in den vergangenen 40 Jahren häufig, ganz auf Erziehung verzichten zu wollen, ja das Wort selbst schon als Programm von Kinderunterdrückung zu brandmarken –, dieser Entzweiung will Bueb entkommen. Aber das Buch wird von skandalisierungssüchtigen Medien in dieser alten Schlachtordnung aufgestellt. Spielt Bueb da mit?

    Er plädiert auch für Strafen, wenn verbindliche Regeln gebrochen werden. Das sei wie im Straßenverkehr. Allein aus Achtung vor den Menschen würde er in Überlingen auch nicht 50 km/h fahren, aber aus Furcht vor dem Blitzer und der Geldstrafe schon. Das ist ein pragmatisches Plädoyer für alltägliche Regeln, die im Bereich der Erziehung in Deutschland so wenig selbstverständlich sind, weil sie mit der Perversion von Zucht und Ordnung durch die Nazis zutiefst diskreditiert worden sind.

    „Wir dürfen nicht hinnehmen", schreibt Bueb, „dass der Nationalsozialismus weiterhin unsere pädagogische Kultur beschädigt." Neigen nicht immer noch viele Erwachsene dazu, lieber Opfer sein zu wollen, aus Angst, sie könnten als Handelnde in die Nähe von Tätern geraten? Viele Lehrer tun tatsächlich so, als seien sie gar keine Erwachsenen, sondern ein generativer Zwitter. Bueb bemängelt an den Erwachsenen ihr mangelndes Selbstbewusstsein, ihr Verzicht darauf zu gestalten.

    Er will gestalten. Und das heißt gegenüber den Jugendlichen: „Ich möchte etwas von Euch!" Und dann fügt er, auch nach Abschluss des Buchmanuskripts immer weiter über das Thema nachdenkend, hinzu, „das ist doch das Leiden der Jugendlichen, dass die Erwachsenen so wenig von ihnen wollen".

    Von den Kindern etwas zu wollen, sie herauszufordern, Erziehung als die Lust zu verstehen, sie in die Welt hineinzuziehen, das verbindet ihn seit mehr als 50 Jahren mit Hartmut von Hentig. Der war damals noch Lehrer seines Vetters Michael Klett am Internat Birklehof und wurde vom Altverleger Ernst Klett protegiert. Da war Bueb noch Schüler. Nach seinem Studium der Philosophie und Katholischen Theologie wurde er Hartmut von Hentigs Assistent beim Aufbau der Laborschule Bielefeld. Dort entdeckte Bueb, dass er von Pädagogik, zumindest von ihrer Praxis, keine Ahnung hatte und wurde deshalb Lehrer und Erzieher am reformpädagogischen Internat Odenwaldschule, das sich damals Deutschlands erste Gesamtschule nannte. Dann folgte 1974 überraschend aus Salem das Angebot, dort Leiter zu werden.

    Langsam Pädagoge geworden zu sein, nennt Bueb eine Leidensgeschichte. Seine Versuche mit progressiver Erziehung, die die Selbstbestimmung der Kinder und Jugendlichen ins Zentrum stellte und auf Autorität verzichten wollte, misslangen. Diese Umwege brachten ihm seine Reifung. Auch darin ist Bueb ein Zeitgenosse, dass für heutige Menschen dieser Prozess zuweilen eine dramatische und endlose Autodidaktik ist.

    Von all dem erzählt das Buch, zumal, wenn man zwischen Zeilen liest. Es ist ein Bericht von der Herstellung und allmählichen Neubegründung von Autorität. Eine fatale Verführung könnte darin bestehen, dass Leser glauben, selbst von diesem Prozess durch dieses Substrat an Erfahrungen und Reflexion suspendiert zu werden. Dann hätte man es nicht verstanden. Nach der Investition von viel Zeit in die genaue Lektüre hat man allerdings auch viel Zeit gespart, weil man ja nicht jeden Irrtum selbst machen muss. Nun kommen neue, andere Irrtümer. Bueb wäre der Letzte, der das nur bedauert. Man muss sich Sisyphos eben als glücklichen Menschen vorstellen.

    Artikel erschienen am 25.09.2006

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    WELT.de 1995 - 2006

    Nachlese Hamburger Bildungsdiskurs 11.9. 06

    11. September 2006 | Gespräch

    Hamburger Bildungsdiskurs
    mit Reinhard Kahl

    Baustelle Schule

    »Wir müssen in der Schule nicht nur Wissen, sondern auch Kompetenzen und Werte vermitteln. Schüler brauchen ein Umfeld, in dem sie sich ausprobieren und individuelle Lösungen für konkrete Probleme erarbeiten.« Mit diesen Worten leitete Dr. Lothar Dittmer, verantwortlich für den Bereich Schule und Hochschule in der Körber-Stiftung, den fünften Hamburger Bildungsdiskurs zum Thema »Baustelle Schule« ein. Zu Gast war der Schweizer Reformpädagoge, Lernberater und Besitzer des Instituts Beatenberg Andreas Müller.

    »Kinder müssen Schule als Ort begreifen, an dem man erfolgreich sein kann. Wenn das nicht gelingt, werden diese Orte außerhalb der Schule gesucht. Erst wenn das Lernen zur eigenen Sache wird, hört man auf, die Verantwortung für den Lernerfolg an Andere abzugeben.« Andreas Müller, der das Institut Beatenberg zu einer der innovativsten Reformschulen der Schweiz entwickelt hat, gab als Internatsdirektor schon vor Jahren den traditionellen Unterricht auf. Statt dessen setzten die Schweizer sehr erfolgreich auf selbstorganisiertes Lernen, individuelle Förderung, gezielte Arbeitsplanung und aktive Freizeitgestaltung. Das herkömmliche Klassenzimmer ist zugunsten großzügiger Lernoasen verschwunden. Gezielt wird in Niveaugruppen für das Basiswissen gearbeitet und jeder Schüler von einem persönlichen Coach begleitet.

    »Der Vergleich mit sich selbst ist viel motivierender als ein System, dass unterschiedlich begabte Schüler untereinander vergleicht.« Andreas Müller kritisiert das traditionelle Notensystem und den Hang der Lehrenden zu Tests und Wissensabfragen. »Was ist das für ein System, in dem die Durchschnittsnoten der Zukunft schon feststehen, obwohl man die Kinder noch gar nicht kennt?« In Beatenberg versucht man über klar verständliche Kompetenzraster einen objektiveren Vergleichsmaßstab zu formulieren: Neben jedem Arbeitsplatz befindet sich ein Baustellenschild, das die angestrebten Lernziele und die Entwicklung der persönlichen Stärken und Schwächen jederzeit sichtbar macht.

    Für Schulen und Lehrer, die den konsequenten Umbau nicht wagen, hat Andreas Müller auch ganz praktische Empfehlungen. »Fragen Sie sich immer, was bei einer konkreten Reform im schlimmsten Fall passieren könnte. Das erleichtert häufig die Entscheidungsfindung. Und beziehen Sie die Eltern schon bei den Vorüberlegungen zur Lösung eines Problems ein, nicht erst, wenn die Entscheidungen schon gefallen sind!«

    »Lernen steckt an« heißt ein Buch von Andreas Müller. Beim fünften Hamburger Bildungsdiskurs war es eine Freude, als Zuhörer infiziert zu werden.

    Nachlese: Werkstatt Neue Schule

    1. September 2006 | Workshop

    Kultur in die Schule!

    Wie Kultur in die Schule kommt, dafür bot die Werkstatt Neue Schule, moderiert von Reinhard Kahl, vielfältige Beispiele. »Kunst macht Spaß aber auch eine Menge Arbeit«, so eine Schülerin im Film einer Medienklasse zur TuSch-Kooperation der Schule Fährstraße und des Ballet-Zentrum-John Neumeier. »Die Erfahrung zeigt, dass die Motivation der Schüler im Spannungsfeld zwischen Schule und dem anderen Ort, dem Theater, wächst,« ergänzte Gunter Mieruch aus der Projektleitung von TuSch – Theater und Schule Hamburg. Damit derartige Projekte gelingen, ist eine gute Zusammenarbeit zwischen den Pädagogen und den professionellen Kreativen erforderlich, in der der Arbeitsprozess ebenso wichtig sein sollte wie das Produkt. »Die gesamte Schule muss das Projekt tragen, ein Lehrer oder eine Lehrerin reicht da nicht aus« ergänzte Angelika Fiedler, Schulleiterin der Clara-Grunwald-Schule, und weist gleichzeitig auf die positive Einbindung der Elternschaft hin. Mit zusätzlichen Familienangeboten wirkt das Tusch-Projekt identitätsstiftend über die verschiedenen Kulturen hinaus.

    Auch die Julius-Leber-Schule hat sich mit dem Angebot eines erweiterten Musikunterrichts (EMU) in Richtung kultureller Bildung auf den Weg gemacht. »Menschen, die Musik machen, gehen anders miteinander um«, berichtete Udo Petersen, Geschäftsführer des Arbeitskreises für Schulmusik, »neben der musikalischen Ausdrucksfähigkeit werden die sozialen Fähigkeiten und die Fähigkeit zu verantwortlichem Handeln gestärkt. « Im Erweiterten Musik-Unterricht wird jeder Schülerin und jedem Schüler der 5. und 6. Klasse ein musikpraktisches Angebot gemacht. 350 von 1400 Kindern und Jugendlichen der Gesamtschule spielen derzeit ein Instrument, die Hälfte der Schülerschaft ist im Chor musikalisch aktiv. Petersen ist an der nachhaltigen Arbeit und Betreuung der Schüler gelegen und daran, dass – über die obligatorischen zwei Musikstunden hinaus – EMU ein offenes Angebot ist, denn: »Zum fröhlichen Singen lässt sich nur schwerlich zwingen!«

    Im zweiten Teil der Veranstaltung präsentierten zwei von drei »Pilotschulen Kultur« ihren derzeitigen Schulentwicklungsprozess. Dabei handelt es sich um ein Pilotprojekt, das von der Kulturbehörde mit jährlich 10.000 Euro pro Schule unterstützt wird, unter der Auflage, den gleichen Betrag selbstorganisiert aus anderen Quellen einzuwerben. Das Lehrerkollegium der Gesamtschule Harburg stellte die vielfältigen Aktivitäten in den unterschiedlichen Fächern vor: von der Historikergruppe, die mit dem Helms-Museum zusammenarbeitet, über das Improvisationstheater der 10. Klasse bis zu »hot schrott«, einer weitgehend selbstorganisierten Rhythmusgruppe der 5. Jahrgangsstufe. Für das Ganztagsgymnasium Klosterschule erläuterte Uwe Sirsch eine ganze Reihe von Projekten, die sich zuletzt bei einem großen Kulturfest im Juni präsentiert hatten: die Themenabende, das Paintbusprojekt, das Wandbildprojekt St. Georg, die Kooperation mit der Geschichtswerkstatt zum 100-jährigen Geburtstag des Hauptbahnhofs. Beide Schulen waren sich einig, dass die Kulturarbeit auch jenseits der einzelnen Projekte einen großen Einfluss auf die Lern- und Lebenskultur des Schulalltags hat.

    Dennoch bleibt viel zu tun: Die Verdichtung auf 12 Jahre Regelschulzeit bis zum Abitur, die knappen finanziellen und personellen Ressourcen sind äußere Hemmnisse. Nicht zu unterschätzen ist aber auch die Überzeugungsarbeit, die innerhalb der Kollegien für solche Modellprojekte zu leisten ist. So lauteten auch die zentralen Fragen, wie der Schritt von den vielen einzelnen Aktivitäten zum Umbau einer ganzen Schule gelingen kann und wie aus den Modellprojekten einen Bewegung werden kann, die das ganze Schulsystem erfasst. Matthias Mayer, Projektleiter in der Körber-Stiftung, ist immerhin sicher: »Durch Modelle wie diese, die wir heute hier gesehen haben, werden Fakten geschaffen. Die Kultur nimmt auf diese Weise Raum ein und prägt das Profil bestimmter Schulen, die gerade deshalb attraktiv werden!«

    Vortrag in Forchheim

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    Forchheim 2

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    Fränkischer Tag Forchheim, 7.10.2006

    DIE WELT Kinder vermisst

    Was der Gesellschaft fehlt, wenn die Kinder fehlen

    Heute ziehen 1000 Frauen in Deutschland 670 Töchter groß. Denen folgen 450 Enkelinnen. Und die bringen noch 300 Urenkelinnen zur Welt. Der Diagnose der Bevölkerungswissenschaftler folgt der Alarm der Rentenpolitiker. Ein paar Gedankenspiele.

    Von Reinhard Kahl

    Deutschland vermisst seine Kinder. Nun kommt zu all den anderen Krisen auch noch die demografische Verfinsterung. Lauter letzte Menschen in einem Land ohne Zukunft? So spricht die katastrophenverliebte, die panische Stimme.

    Ein Ton, der den Deutschen liegt, der aber vielen hierzulande langsam über ist. Zuerst fehlten die Kinder in den Statistiken der Demografen. Heute ziehen 1000 Frauen in Deutschland 670 Töchter groß. Denen folgen 450 Enkelinnen. Und die bringen noch 300 Urenkelinnen zur Welt. Der Diagnose der Bevölkerungswissenschaftler folgt der Alarm der Rentenpolitiker. Der Dritte im Bund ist die Wirtschaft: "Die Verfügbarkeit von Humankapital wird sich zusehends verschlechtern und zur Wachstumsbremse", warnt Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft.

    So oder so ähnlich klingen die Vermisstenanzeigen für den ausbleibenden Nachwuchs. Fehlen da neben den unterzeichnenden Fachleuten für Demografie, Renten und Wirtschaftswachstum nicht andere Stimmen? Noch bleiben die Personalchefs, Bürgermeister und Statistiker unter sich und drohen, wenn das so weiterginge, müssten bald Schulen, Schwimmbäder, Fabriken und, wer weiß, vielleicht irgendwann auch die Konten der Rentner geschlossen werden. Aber es geht so weiter. Im Jahr 2005 verringerten sich die Geburten um weitere 4,2 Prozent, stärker noch als in den Vorjahren, obwohl der große Alarm nun schon einige Zeit anhält. Im europäischen Vergleich lag Deutschland im Jahr 2005 mit 8,5 Geburten je 1000 Einwohner auf dem letzten Platz.

    Nun nutzen die schon länger arbeitslos gewordenen Apokalyptiker ihre Stunde. "Ab in die Wälder - Wölfe treten an die Stelle der Menschen", schrieb der "Spiegel" über die demnächst entvölkerten Regionen. Tatsächlich gelten Teile von Mecklenburg-Vorpommern nach den Normen der EU-Statistik bereits als unbewohnt. Das gleiche Magazin benannte eine Titelgeschichte über Einzelkinder in Restfamilien "Unter Wölfen". Tatsächlich werden Kinder überall zur Minderheit. In allen Regionen. In den meisten Familien. In der Öffentlichkeit. Aber etwas kommt in diesem Sorgendiskurs einfach nicht vor. Die Kinder. Wo ist das Interesse an ihnen? Vor allem das an den bereits geborenen?

    Ist es vielleicht nur folgerichtig, dass sich der Nachwuchs rarmacht, wenn lediglich diese Instanzen, die sich bisher zu Wort gemeldet haben, ihm vorwerfen, nicht zahlreich genug zu erscheinen? Es ist schon merkwürdig, neben dem gestochen scharfen Katastrophenbild gibt es einen riesigen blinden Fleck. Um ihn zu orten, stelle man sich vor, all die demografischen, renten- und arbeitsmarktpolitischen Probleme wären durch einen politischen Zauber gelöst. Wir bekämen Zuwanderung von tatendurstigen Eliten aus der Dritten Welt, dazu eine wunderbare Geldvermehrung in den Rentenkassen und auch noch intelligente Roboter. Mangel an späteren Arbeitskräften, an Steuer- und Rentenzahlern wäre also nicht mehr zu beklagen. Nur der an Kindern. Aber wem würden sie dann noch fehlen? Wir nähern uns langsam dem Problem.

    Noch ein Gedankenspiel. Man stelle sich eine Welt ohne Kinder im Alltag vor. Sich einfach eine Welt ohne Kinder vor Augen führen. Dann sehen wir, den meisten fehlen gar nicht die Kinder, ihnen fehlt einfach die Lust auf sie. Aber in einer Welt, in der Kinder selten und seltener werden, fühlen sich auch kinderwunschresistente Erwachsene langsam verloren. Ihre Lebenswelt wird alt. Der menschlichen Sterblichkeit fehlt das Gegengewicht, das Hannah Arendt "Natalität" oder auch "Gebürtlichkeit" nannte. Kinder sind eben nicht nur der Nachwuchs für die Subsysteme der Gesellschaft. Um diese am Laufen zu halten, bekommt niemand ein Kind, selbst wenn hohe Gebärprämien ausgesetzt würden. Nochmals: Warum werden die Kinder selbst so wenig vermisst? So wie sie sind. Wie sie einfach da sind. Hier und heute. Ohne weitere Gründe, außer dem einen, dass wir sie mögen. Ohne Kinderwunsch bleibt das Alarmieren und Drohen unfruchtbar, ja es erweist sich als ein Teil des beklagten Problems.

    Kinder stören. Sie unterbrechen Routinen. Sie sind geniale Unterbrecher und Neuanfänger. Und genau dieses Unterbrechen und Neuanfangen fehlt der Gesellschaft insgesamt. Wo ist die Unruhe im Uhrwerk? Unterbrechen und Neuanfangen ist ebenso wichtig wie das Weitermachen, dessen Gefährdung so häufig beschrieben wird. Dieser Sinn für eine offene, nicht limitierte Zukunft, für Kontingenz und Unverfügbarkeit ist in Deutschland schwach. So schwach wie der freundliche, neugierige und erwartungsvolle Blick auf Kinder jenseits von Demografie, Rente & Co.

    Der Autor ist Journalist und Filmemacher

    Artikel erschienen am Thu, 7. September 2006

    PS 9 Ein schöner Sommer

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    P.S.
    So eine Atmosphäre wie während der Fußballweltmeisterschaft hatten wir wohl noch nie. Schillersche Euphorie lag in der Luft. Aber »Freude schöner Götterfunken« kann man natürlich nicht mehr sagen. Uns fehlten die Worte. »Wahnsinn« hörte man täglich mehrmals. Irgendwie erinnerte die Stimmung an das Kinderlied »Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst.« Freude Freundlichkeit, der Stolz, dabei zu sein und dazuzugehören, wehten durch die Städte. Ein Stolz ohne die böse Krücke von Verachtung und Feindessucht. Eher Liebe, wie sie Augustinus definierte: »Ich will, dass Du seiest.« Spiel und Schönheit standen im Mittelpunkt. Die Klassiker konnten so was in wenigen Worten sagen. Immanuel Kant zum Beispiel: »Schönheit ist Zweckmäßigkeit ohne Zweck.«

    Das Absolute ist tödlich – Archiv der Zukunft Blog zur Rechtschreibdebatte

    Das Absolute ist tödlich
     
    Der deutsche Rechtschreibkrieg und kein Ende
    VON REINHARD KAHL
    Nun endlich, dachte man, könnte doch Schluss sein mit dieser merkwürdigsten Politikposse der letzten Jahre, mit dem deutschen Rechtschreibkrieg. Aber nein. Die beiden jetzt auf den Markt gekommen Wörterbücher bieten genug Anstöße, dass die Scharmützel weiter gehen. Erschienen sind der gute, alte Duden, jetzt noch neuer und der Wörterbuch-Newcomer mit dem schönen Namen „Wahrig“, „Ideal auch für den Schulgebrauch,“ so die Eigenwerbung. Der Duden ist seit gut 10 Jahren um ein Drittel auf  1200 Seiten aufgedunsen. Vor zwei Jahren habe ich mir den damals als ultimativ angepriesenen Duden mit der allerneusten Rechtschreibung und allen Finessen gekauft. Aber den soll man jetzt schon wieder wegschmeißen. 
    Es kam vor einem Jahr nämlich was dazwischen. Kurz vor Inkrafttreten der neuen Rechtschreibung am 1. August 2005 – genauer: kurz vor dem Ende der Übergangsfrist, in der beide Rechtschreibungen, die alte und die neue koexistieren durften, vor einem Jahr also machten die Ministerpräsidenten der Unionsländer noch mal das Fass auf. So kam es zum deutschen Rechtschreibrat mit seinen Kompromissen, vielen „Kann-Empfehlungen.“ Die stehen nun in den neuen Wörterbücher und blähen sie auf. O.K. Warum nicht? Aber die neuen Kann-Spielräume sind nun der Stein des Anstoßes. Die FAZ kritisiert; „Noch nie war der Variantenreichtum der Rechtschreibung so groß.“ Was ist denn eigentlich gegen das Anwachsen von Varianten, wenn sie plausibel sind, zu sagen? Der Duden wählt aus der neuen Varianz der Möglichkeiten seine Empfehlung. Die sind gelb hervorgehoben. Viele von diese werden ihm nun den Ober-Ober-Lehrern rot unterstrichen. Fehler, Fehler, Fehler. 

    Es scheint als verspürten die Deutschen ein starkes Heimatgefühl im Kleinkrieg. Der Kulturkampf um die Bildung, der letzte Religionskrieg, der ihnen geblieben ist, mündet in bildungspolitischem Pragmatismus. Da konnte sich viel überschüssige Energie an solche Fragen binden, wie der, ob man Stängel oder Stengel schreibt? Quäntchen oder Quentchen? Hat man nun einer Wortstammregel zu folgen, oder einfach der Konvention? Preisfrage. Wie viele s und f braucht die Flussschifffahrt? Und natürlich dass oder daß? Immer wieder diese Lust am Entweder-oder. Mal im Ernst. Wer morgens die FAZ liest, mit der alten Rechtschreibung, die dort geheimnisvoll die “bewährte” genannt wird, und dann zu anderen Zeitungen greift, mit ihren nach eigenen Redaktionsregeln modifizierten neuen Rechtschreibungen, fällt dem überhaupt was auf? Ob “achtmal” nun mit oder ohne Bindestrich geschrieben wird, groß oder klein, ist das wichtig?

    Entscheidend ist etwas ganz anderes. Vor und hinter den Bühnen der Rechthaber hat sich längst ein buntes Sowohl-als-Auch durchgesetzt. Tatsächlich hat die Doppelherrschaft von alter und neuer Rechtschreibung in den vergangenen Jahren ganz unbeabsichtigt einen enormen Zivilisationsgewinn gebracht. Die alte Leitdifferenz von “richtig - falsch”, die immer nur eine Möglichkeit durchgehen lässt, wird nun im Alltag von der überlegenen Unterscheidung “möglich - nicht möglich” durchsetzt und langsam ersetzt.
    “Möglich - nicht möglich”, das ist etwas ganz anderes als die befürchtete Beliebigkeit, gar Anarchie im Schreiben! Nicht alles geht. Aber mit “möglich - nicht möglich” kehren in die Schrift wieder jene Spielräume zurück, die die gesprochene Sprache auszeichnen. Da gibt es zwischen dem mecklenburger und dem bayrischen Sound doch viel Platz! Wäre die Liquidation der Varianten ein Gewinn? Man stelle sich vor, es gäbe eine Rechtsprechkommission? Der erste Nebeneffekt wäre, dass viele glaubten, ohne Rückversicherung keine rechten Sätze mehr bilden zu können.

    Der Regelperfektionismus, in dem sich die Anhänger der einen richtigen alten und der allein richtigen neuen Schreibweise nur so übertreffen, produziert nur bei den Schriftgelehrten Probleme. Nach der einen Dogmatik sollen wir belämmert mit ä schreiben, nach der anderen “belemmert” mit e. Dass Regeln, sobald es mehr als eine gibt, sich aneinander stoßen und nie wirklich aufgehen, ist tatsächlich ein Glück für jede Evolution. Wenn die Dinge nicht ganz aufgehen, dann gehen sie weiter. Das wissen wir ja von Ulrich Beck und den Theoretikern der Zweiten Moderne: Die Vielfalt unbeabsichtigter Nebeneffekte siegt über die braven Ziele.
    Kaum vorstellbar, dass es vor 1901 keine staatlich erlassene Rechtschreibung gab. Damals wucherten barocke Ungetüme, zu denen auch noch unsere Großschreibung von Substantiven gehört. Jacob Grimm, der große Wörter- und Geschichtensammler schrieb klein. Ein Individuum konnte sich entscheiden. Vielfalt war möglich. Goethe hatte regelrecht Lust daran, gleiche Wörter verschieden zu schreiben, selbst seinen Namen mit h oder ohne, mal mit ö oder mit oe. Dann nahm Duden dem Regierungsrath in Preußen sein h und viele Beamte sahen ihre Autorität und Würde bedroht. Bismarck drohte seinen Staatsdienern und Diplomaten Strafen an, wenn sie die neue Mode mitmachten.

    Doch bald hatte Duden, dessen Maxime ja hieß, “schreib wie du sprichst”, etwas anderes bewirkt als das Beabsichtigte. Der Vereinfachungsversuch öffnet der großen Normierung der Schrift Tor und Tür. Das passte hervorragend ins DIN-Zeitalter der ersten industriellen Moderne, in der die Deutschen Weltmeister wurden. Die durchregulierte Rechtschreibung, zumal in ihrer engen und ängDochstlichen Auslegung, sozialisierte für die Massenproduktion. Sie braucht strikte Normen, die unbedingt einzuhalten sind. Kreativität und Ideen hingegen brauchen Spielräume. Fehlertoleranz ist der wichtigste Begriff in Theorien über lernende Organisationen. Die industrielle Moral der Ausführenden, Anwender und Kopisten ist obsolet. Eine eng ausgelegte Rechtschreibung, egal welche, initiierte in eine reduzierte Denk- und Handlungsgrammatik. Also halten wir es künftig mit dem Meister aus Weimar. Goethe schrieb: “Ihr seht schon ganz manierlich aus, kommt mir nur nicht absolut nach Haus.” Das Absolute ist tödlich. Es hat, wie jede andere Perfektion, keine Zukunft.

    Präsenz – H. U. Gumbrecht im Gespräch über Sport und Bildung

    Präsenz!

    Ein Gespräch mit Hans Ulrich Gumbrecht über Fußball, Schönheit und Bildung

    von Reinhard Kahl

     

    Nur noch Sonntagsreden erinnern an den gemeinsamen Ursprung von Sport und Bildung bei den Griechen. Es wird Zeit diesen Zusammenhang nach vorne zu denken. Vielleicht hilft dieser Versuch auch die überraschende Heiterkeit in Deutschland zu klären. Oder ist die Freude der Menschen am Fußball und an sich selbst doch nur ein Sommertagstraum? Ob die neue Spiellaune in Deutschland weiter geht, könnte sich daran erweisen, ob die Begeisterung am Sport auf ein verwandtes Metier überspringt, die Bildung.

    Der deutsche Romanist Hans Ulrich Gumbrecht ist seit 1989 Professor am Department of Comparative Literature der Stanford University. Das folgende Gespräch geht auf eine Veranstaltung des Stuttgarter Bildungsdiskurses im dortigen Literaturhaus zurück.

     

    Schönheit ist Zweckmäßigkeit ohne Zweck.“ Dieser Satz von Immanuel Kant durchzieht Ihr Buch „Lob des Sports.“ Er könnte inzwischen ja  fast das Motto der Weltmeisterschaft sein.

    Was die Fans anzieht ist ästhetische Erfahrung. Aber man redet so nicht darüber, bisher wenigstens nicht. Wenn Sie dem Fan auf Schalke sagen würden, Du gehst da hin wegen der ästhetischen Erfahrung, dann sagt der wat, ne, wir unterstützen die Junges.

    Aber plötzlich überraschen die Fans alle Welt mit einem Fest, dessen Leichtigkeit im Verzicht auf jeden höheren Zweck besteht. Sie feiern einfach, dass sie da sind.

    Nicht nur bei den Fans hat sich was getan. Sie schlagen die Zeitung auf, was lesen Sie: Ein wunderschönes Spiel und nicht etwa, Argentinien hat gegenüber der Elfenbeinküste seine Favoritenrolle bestätigt. Das ist vor allem für Intellektuelle ungewohnt. Sie glaubten, ihre Hauptaufgabe liege darin „krittisch“ zu sein. Ich schreibe das Wort manchmal mit Doppel-t. Nur nichts loben. Das war ein schlechter Elitismus in der deutschen Nachkriegstradition. Ästhetische Erfahrung macht man mit Jackson Pollack oder mit französischen Impressionisten. Aber kann im Ernst der Fan auf Schalke ästhetische Erfahrungen machen? Er ist doch das Opfer, sagten wir uns, das wir befreien müssen.

    So galt Fußball als Opium fürs Volk. Eine Ersatzidentität.

    Oder als Kompensation. Es gibt in Amerika diesen berühmten Aufsatz "Can the Subaltern Speak?"* Natürlich muss die Antwort darauf heißen „nein“.

    Das „Lob des Sports“ soll also einen neuen Ton ins Theoriespiel bringen?

    Die Arbeit am ganzen Buch hat nur Spaß gemacht. Es ist ja angenehm zu loben. Englisch heißt das  Buch “In Praise of Athletic Beauty,” schwer zu übersetzen, „das Preisen von sportlicher Schönheit.“

    Wie bei Pindar...

    ...genau, Pindar habe ich gemeint und Sappho. Die beiden ältesten Dichter der europäischen Tradition haben schöne Körper gepriesen, weibliche aus weiblicher Perspektive oder männliche aus männlicher Perspektive. Damit fängt die europäische Lyrik an. Es wird Zeit, Kritik wieder als Unterscheidungsfähigkeit zu begreifen. Dazu gehört zu loben, ja auch zu preisen – und natürlich das Gegenteil.

    Sie sind häufig in Stadien, besitzen sogar eine Dauerkarte.

    Mehrere. Eine für American Football, eine für College Basketball. Beim American Football und Basketball gibt es immer auch die College Versionen, die sind genauso populär und haben genauso viele Zuschauer wie die Profis. Und ich habe auch Season Tickets für Eishockey. Ich sehe zu meinen großen Stolz zwischen fünfundzwanzig und dreißig Eishockeyspiele im Jahr – und sagen wir mal zwanzig Spiele Basketball und zwölf Football – live.

    Das sind alles Mannschaftsspiele. Keine Leichtathletik?

    Wir haben nach Stanford zuletzt mehr Olympia-Medaillen geholt als ganz Italien oder Frankreich. Aber wenn Sie im Stadion bei Leitathletik zuschauen, stehen sie dort allein mit den Athleten und den Trainern. Populär sind nur Mannschaftssportarten.

    Wie kommt das?

    Das ist eigentlich erst seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts so. In der griechischen Tradition gab es keinen Mannschaftssport. Es hat in englischen Colleges während der 1840er Jahre angefangen. Die Zuschauerzahlen sind vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1930 von fünftausend pro Spiel auf ihr heutiges Volumen angestiegen. Niemand weiß genau warum. Zum ersten WM-Finale 1930 kamen schon fast hunderttausend Zuschauer.

    Aber ein bisschen wissen Sie es schon.

    Ich habe eine ästhetische Beschreibung und nenne das Schöne im Mannschaftsspiel Epiphanie der Form. Ein schöner Spielzug ereignet sich plötzlich. Den können sie nicht voraussehen. Er zeigt sich. Aber von dem Augenblick an, wo Sie erkennen, dass ein schöner Spielzug zustande kommt, beginnt er schon zu verschwinden. Deswegen rede ich von einer verzeitlichten Form. Zur Epiphanie der schönen Form gehört ihre Flüchtigkeit. Das ist es, was alle fasziniert.

    Nicht der Sieg?

    Auch. Aber nicht in erster Linie. Es gibt eine Befragung, welches das beste Spiel war, das die deutsche Nationalmannschaft je gespielt hat. Da nennen knapp Dreiviertel der etwas Älteren der deutschen Fußballfans das Halbfinale der Weltmeisterschaft 1970 gegen Italien, das Deutschland in der Verlängerung 4:3 verloren hat. Da konnte man noch nicht auswechseln. Damals hat der junge Beckenbauer mit gebrochenem Arm bis zum Ende gespielt. Ein großartiges Spiel. Dafür wurde im Aztekenstadion in Mexiko-City eine Gedenktafel angebracht.

    Daniel Barenboim hat in Berlin gerade einen Musikkindergarten gegründet, damit Kinder mit der Musik die Kostbarkeit und Einmaligkeit von Zeit erleben. So sollen sie auf den Geschmack des Lebens kommen.

    Das ist es. Es gibt wohl eine enge Verwandtschaft zwischen Musik und Mannschaftssport. Husserl nannte solche Phänomene „Zeitobjekte im eigentlichen Sinn.“

    Das müssen Sie erklären.

    Sport, also Bewegung, braucht Zeit, um sich zu entfalten, wie der Ton. Nur wenn man sich im genauen Sinn dieser Worte Zeit läßt, gelingen die Dinge oder man wird Zeuge des Gelingens. Natürlich können Sie, was ja sehr schön ist, klassische Musik auf CD oder einen sehr schönen Spielzug auf Video reproduzieren. Aber dieses erste Mal lässt sich nicht wiederholen. Das ist die Intensität, die ich beim Fußball genauso liebe, wie in der Musik oder in einem guten Seminar. Das sind die Momente von Intensität, die vor allem das Leben für mich lebenswert machen.

    Wach und ganz gewärtig zu sein, gehört zum klassischen Bildungsideal. Viele sehen es bedroht. Aber bekommt es von dieser WM nicht unerwartete Flanken zugespielt?

    Darauf will ich hinaus. Es geht um Präsenz. „Präesse“ heißt im Lateinischen vor jemandem stehen. Wir sind wechselseitig berührbar. Bei ästhetischer Erfahrung ist seit dem siebzehnten Jahrhundert immer eine Komponente von Präsenz dabei. Das galt zuerst für die Musik. Sie berührt nicht nur das Trommelfell, sondern den ganzen Körper, egal ob ich Mozart oder Janis Joplin höre. Seit dem siebzehnten Jahrhundert heißt aber der gegenläufige Zentralsatz in unserer Kultur „cogito ergo sum,“ ich denke, deshalb bin ich. Diese Kultur lief immer Gefahr, alles Körperliche auszuklammern. Deswegen liegt mir so sehr daran, dass Präsenz eine Komponente des Bildungsbegriffes bleibt.

    Präsenz macht offenbar die Faszination des amerikanischen College aus. An deutschen Hochschulen wollen Professoren wie Studenten, wenn die Lehrveranstaltung vorbei ist, schnell weg. Die Hochschule ist nicht gerade eine erogene Zone der Gesellschaft.

    In mancher Hinsicht schon. Aber es stimmt. Ein deutscher Professor arbeitet zu Hause und kommt nur zu seinen acht Semesterstunden und um Sprechstunden abzuhalten. Das ging mir nicht anders. Und als ich 1989 das erste Jahr in Stanford war, habe ich so weiter gemacht und mich gefragt, was nur die Amis so lange auf dem Campus machen. Heute verbringe ich tatsächlich den ganzen Tag auf dem Campus. Das produziert eine Art von Intensität, die sehr schwer zu erklären ist. 

    Vielleicht geht es auch hier um eine Art Epiphanie? Gedanken im Zusammenspiel zum Erscheinen bringen?

    Genau. Aber das alles geht nicht ohne körperliche Präsenz im Raum. Wir werden diese Magie der Präsenz für die Universitäten bald bis aufs Messer verteidigen müssen.

    Warum?

    Weil einen gut bezahlten Professor und zwanzig Studenten an einem Tisch zu versammeln eine Menge Geld kostet. Diskussion per E-Mail und Vorlesungen im Netz wären natürlich viel billiger. Prognosen für die Universität sagen, dass reine Wissensvermittlung in den nächsten zwanzig, dreißig Jahren fast ausschließlich elektronisch laufen wird. Es wird Zeit sich zu sorgen, dass all das, was man nicht elektronisch ersetzen kann, nicht mitgerissen wird. Dafür braucht man starke Argumente.

    Was unterscheidet denn das Gespräch unter Anwesenden von E-Mails oder einem Chat? 

    Ein Beispiel. In der frühen E-Mailphase wollte der französische Philosoph, der das Wort postmodern in Zirkulation gesetzt hat, Jean-François Lyotard, ein E-Mail-Seminar mit einer Reihe hochprominenter französischer Intellektueller führen, unter anderen mit Jacques Derrida und Michel Foucault. Dabei ist rein gar nichts entstanden. Ich habe die drei allerdings einmal auf einem Podium erlebt, das war umwerfend produktiv.

    Waran liegt das?

    Ich denke, was belebend ist, ja was Menschsein bedeutet, hat immer Eros. Nicht bloß Sex. Ich meine die Präsenz von Körpern. Die meisten von uns laufen im Alltag ja so herum als sei der Körper eine evolutionäre Notwendigkeit gewesen, die wir jetzt nicht schnell genug loswerden können. Geht es Ihnen nicht auch so, wenn Sie jemanden treffen, mit dem sie viel E-Mail haben, scheint es ganz überflüssig, dass die Person ein Gesicht hat, das ist fast lästig.

    Sie wollen die Universität als bedeutsamen Ort retten oder erneuern?

    Heidegger hat das Wort Existenz durch das Wort Dasein ersetzt. Bei Dasein ist immer der Raum angesprochen, zusammen mit Bedeutsamkeit.

    Liegt darin ein Geheimnis von Stanford? 

    Das ist die unsere Geschäftsgrundlage. Stanford kostet nächstes Jahr für die Familie eines Studenten etwa fünfzigtausend Dollar –  pro Jahr. Nicht für alle, es gibt für junge Leute aus nicht so wohlhabenden Familien Stipendien. Dafür garantieren wir den Studierenden, die mit achtzehn ins College kommen, in den ersten beiden Jahren je ein Kleingruppenseminar bei den besten Professoren, nicht wenige davon mit einem Nobelpreis. Die Erwartung im College ist nicht, dass am Ende der vier Jahre College eine Berufsausbildung steht. Selbst wenn Sie Ihren BA in Electrical Engneering machen, dann sind Sie kein ausgebildeter Computeringenieur, auch wenn Sie das Fach in den letzen beiden Jahren vertieft haben. Wissenschaftliche Exzellenz kommt im Masterstudium. Die Erwartung ans College ist tatsächlich reine Bildungserwartung. 

    Wäre das nicht wieder die kantsche „Zweckmäßigkeit ohne Zweck?“

    Könnte man wohl sagen.

    In Deutschland misstraut man dieser Absichtslosigkeit und glaubt häufig nicht, welche Erfahrung von Wirksamkeit dabei erzeugt wird. Im englischen kann man so schön unterscheiden zwischen efficay und efficiency, also zwischen Wirksamkeit und Effizienz.

    Dabei kommt doch der schönste Text zu diesem Thema aus Berlin. Wilhelm von Humboldt nannte in seiner Denkschrift zur Gründung einer Universität 1810 als ihre wichtigste Funktion die Produktion neuer Probleme, offener Fragen.

    Das hätte auch Niklas Luhmann sagen können.

    Das ist auch Luhmann wörtlich. Die Institution, die Lösungen weiter gibt, ist für Humboldt die sekundäre Bildungsinstitution, das Gymnasium. In den Seminaren und Laboren der Universität hingegen soll der unterschiedliche Enthusiasmus verschiedener Generationen aufeinander treffen und sich wechselseitig inspirieren. Studenten haben, gerade dann wenn sie naiv sind, Ideen, die der Professor gar nicht haben kann. Auf der anderen Seite steht die Erfahrung des Professors. In solcher Wechselseitigkeit liegt intellektuelle Produktivität. Die kann keiner für sich allein haben.

    Das klingt für deutsche Ohren im Jahr 2006 luxuriös. Ganz unwirklich.

    Ist aber enorm praktisch. Wer einmal diese Intensität erlebt hat, kann jedes praxisrelevante Wissen ganz schnell nachlernen. Aber erst mal kommt, wie man bei uns sagt,  „broadening your mind.”

    Wie finden sie, dass die deutsche Übersetzung von Bachelor jetzt „ein erster berufsqualifizierenden Abschluss“ heißt?

    Das treibt einem Tränen der Rührung ins Auge. Wozu braucht ein Land mit einer so langen , eigenen und glorreichen  akademischen Tradition wie Deutschland den fremden BA-Titel? Es ist natürlich ein Treppenwitz, der BA ist genau der Titel, den man im englischen oder amerikanischen College für eine Prise Bildung bekommt, eben nicht für eine Ausbildung.

     

    Und die Wirtschaft verlangt in Kalifornien keine Fachleute?

     

    Im Silicon Valley sind Absolventen mit geisteswissenschaftlichen Schwerpunkten begehrt. Die entsprechende Fachausbildung erfolgt dann im Training on the job. Nicht zuletzt weil sich die Anforderungen der Wirtschaft an ihre Mitarbeiter schnell ändern. Die Unis würden ihren Studenten veraltete Fähigkeiten beibringen. "We have to unteach them", heißt es, wenn die Unis Studenten mit derartigem Fachwissen kommen. Also die Frage nach der Berufsrelevanz stellt sich in Stanford kaum.

    Aber man muss doch weltweit Antworten darauf finden, dass heute im Durchschnitt der OECD, also der Industrieländer, fünfundvierzig Prozent der jungen Leute studieren.

    Natürlich gibt es keine Chance mehr für die Universität wie Humboldt sie sich vorgestellt hat, wenn sie überhaupt je so existiert hat. Bestehen sollten wir aber doch darauf, dass diese Erfahrung, die Humboldt vorschwebte und die man in Stanford tatsächlich macht, in kleinerem Rahmen und für kürzere Zeit für sehr viele möglich wird.

    Wie soll das gehen?

    Man müsste vielen die Gelegenheit zumindest für ein halbes Jahr geben, sich in Situationen zu begeben, wie sie Humboldt beschrieben hat. Das wäre heute die Chance, auf die es ankommt. Ich würde nur sie Bildung nennen. Mein Ideal ist gar nicht elitär, meine Angst ist, dass diese Erfahrung für alle verloren geht. Viel von dem, was heute die Universität als Berufsausbildung treibt, kann effizienter und kostensparender direkt in Betrieben vermittelt werden. Die japanische Universität ist nicht gerade der Traum meiner schlaflosen Nächte. Aber man geht in Japan davon aus, dass das für den zukünftigen Beruf spezifische Wissen in Betrieben weiter gegeben wird.

    Aber so viele Nobelpreisträger und Starprofessoren a la Stanford für die einschlägigen Bildungserfahrungen gibt es doch gar nicht.

    Braucht man auch nicht, um Momente intellektueller Intensität zu erfahren. Ich komme noch mal zum Sport. In Amerika gibt es diese DVDs mit den siebenhundert schönsten Basketball- oder Footballspielzügen der Geschichte. Darum geht es gerade nicht. Es geht um Beteiligung, die man auch als Beobachter erfährt, es geht um Präsenz, um die Möglichkeit zum Gespräch und sogar auch um eine gewisse Naivität.

    Es gibt doch diese schöne Antwort von Albert Einstein, auf die Frage, wie er sich seine Leistungen erklärt. Er hat gesagt: „Dass ich das ewige Kind geblieben bin.“

    Ja, es geht auch um Möglichkeiten zum Spielen. Da gibt es eine Ähnlichkeit von Jazz, Mannschaftssport und Bildung: Seinen Einsatz finden, die anderen anspielen, auf Möglichkeiten lauern. In der Theoriesprache heißt das Kontingenz nutzen. Es gibt viele Möglichkeiten – und vor allem keine Garantie dafür, dass eine Sache gelingt.

    Wenn von der Gesellschaft, nicht zuletzt von Unternehmen, dieser Sog nach Spielräumen, nach Kreativität ausgeht, dann könnten Sie doch zuversichtlicher sein.

    Vielleicht ist es so, dass diese Intensität bloß an den Universitäten, so wie sie geworden sind, heute kaum noch Chancen hat. Dann wird aus dieser Einrichtung, die man weiterhin Universität nennen wird, etwas anderes als ihre Tradition und die Intensität von Bildung entsteht an anderer Stelle.

    Was ist denn Bildung?

    Mein Versuch einer Definition: Bildung ist das, was uns instand setzt, riskant zu denken. Das ist die Art eines Denkens, die man sich in den meisten Alltagssituationen nicht leisten kann. Bildung heißt also nicht viel gelesen oder viel Musik gehört zu haben, sondern in Alternativen denken können. Das muss gar nicht einmal immer gegen den Strom sein.

    Aber man studiert auch wegen der Karriere.

    Ob es eine große Karriere wird, kann man nicht wissen. Ich werde sehr oft von jungen Kollegen nach meinem eigenen „Career-Management“ gefragt. Meine Standardantwort ist immer die gleiche und nur scheinbar banal: Try to have as much fun as you can. Was nicht bedeutet, dass man nicht viel arbeiten soll. Man soll die Sachen machen, die einen interessieren. Man soll verfolgen, was einen fasziniert. Das ist die Sprungfeder für riskantes Denken.

    Könnte das nicht etwas monomanisch, fast autistisch werden?

    Gesprächs- und Irritationsbereitschaft müssen zu dieser Faszination hinzu kommen. Eine Forschungsgruppe in Cambridge hat versucht heraus zu bekommen, worin die Genese des Autismus liegt. Sie haben viele Interaktionen in den ersten Wochen zwischen kleinen Kindern und Müttern beobachtet. Sie fanden den Hauptgrund für Autismus darin, dass Erwachsene mit dem neugeborenen Kind bestimmte Bewegungssequenzen nicht vollziehen, die denen eines Gesprächs entsprechen.

    Liegt nicht auch in den gelungen und misslungenen Zügen eines Spiels gewissermaßen eine Gesprächsstruktur?

    Ich verwende dafür gerne eine Metapher, die aus dem American Football kommt, Interception. Ein Pass wird von einem gegnerischen Spieler abgefangen. Der Meister der Interception war Siegmund Freud, weil er über seine eigene Kindheit und über das problematische Verhältnis zu seinen ehemaligen Schülern nachgedacht hat. Das alles wurde produktiv, weil er nicht nur zielgerichtet darüber gedacht hat, sondern weil er sich diese schwebende Aufmerksamkeit gestattet hat.

    Diese schwebende Aufmerksamkeit bewundert man auch bei Ballack und Klose, wenn sie blitzschnell abgeben und den Ball  zum Tor verwandeln.

    Verwandeln, das ist das Wort für unser nächstes Gespräch. Ganz geistesgegenwärtig sein, egal ob es um eine Idee, eine Chance oder um den Ball geht, den man zum Schluss natürlich ins Tor setzen will.



    * Gayatri Chakravorty Spivak, 1988

    PS 7 Schlechte Noten…

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    Schlechte Noten für die Noten
    Noten ­ ein altes Lied, eines zum Mitsingen. Bisher waren sie für Reformer die Erbsünde einer entfremdeten Schule. Berichtszeugnisse sollten Erlösung bringen. Für ihre Verteidiger galten Zensuren als Garanten des Realitätsprinzips. Verbale Berichte ließen bei ihnen den Verdacht aufkommen, dem Kuscheln in der pädagogischen Provinz Vorschub zu leisten. Nun hat eine Gruppe um den Siegener Erziehungswissenschaftler Hans Brügelmann zusammengetragen, was Studien bisher zu den Noten herausgefunden haben. Auftrageber ist der Grundschulverband. Lehrer Gauß Gehen wir zurück zum Start: 1949 gab der Deutschdidaktiker Robert Ulshöfer einen Abituraufsatz an 42 Lehrer zur Korrektur. Deren Noten verteilten sich sage und schreibe über das ganze Spektrum von 1 bis 6. Wenn es gilt, die Leistungsstreuung einer Klasse zu erklären, muss die Gaußsche Normalverteilung oft als eine Art Naturgesetz herhalten.

    DIE ZEIT Schlechte Zensur für die Noten

    DIE ZEIT, 14.06.2006 

    Schlechte Zensur für Noten / Eine neue Studie zeigt, wie unzuverlässig Schulnoten sind. Schriftliche Beurteilungen allerdings sind es auch

    Der Siegener Erziehungswissenschaftler Hans Brügelmann und seine Mitarbeiter haben in einer neuen Studie derlei bekannte und überraschende Erkenntnisse aus der Schulnoten-Forschung zusammengetragen. Auftraggeber ist der Grundschulverband, der die Studie am 14. Juni veröffentlichte. Das Ergebnis muss den Glauben an Ziffernnoten erschüttern: Besonders wenn Lehrer über die Leistungsstreuung einer Klasse sprechen, muss die Gaußsche Normalverteilung häufig als eine Art Naturgesetz herhalten. Wie stark jedoch die Zensurengeber selbst zu dieser Glockenkurve beitragen, klammern die meisten lieber aus.

    Dieselbe Mathearbeit bekommt einmal eine Eins, einmal eine Fünf

    Verteidiger der Ziffernnoten wenden gern ein, Deutschaufsätze zu beurteilen sei nun einmal subjektiv. Doch auch Studien über die Notengebung in anderen Fächern, selbst in Mathematik, bringen Streuungen der Zensuren von 1 bis 5 an den Tag. Auch die häufigste Alternative in Deutschland, die so genannten Berichtszeugnisse oder Verbalbeurteilungen, kommt kaum besser weg in Brügelmanns Studie. Auch die Verbalbeurteilungen tragen kaum zu besseren Leistungen oder zu mehr Lernfreude bei. Sie sind zuweilen eher »Verbalverurteilungen«, wie ein Kind sie nannte, das in einer großen Studie der Grundschulpädagogin Renate Valtin befragt wurde. Ein Versprecher und doch treffend. So warnen die Forscher vor einfachen Lösungen, etwa wegen der erwiesenen Ungenauigkeit und Ungerechtigkeit von Ziffernoten schematisch auf Berichte umzuschwenken. Auch standardisierte Tests haben ihren blinden Fleck und bringen häufig andere ungewollte Nebenwirkungen mit sich, etwa wenn Lehrer anfangen, für den Test zu unterrichten. Kurz, all diese Methoden können nicht das erfüllen, was die meisten Deutschen von Noten immer noch erwarten: ein klares und eindeutiges Urteil darüber, was ein Schüler kann, wo er steht, und womöglich auch noch eine Prognose darüber abgeben, was aus ihm wird.

    Ist also die Notengläubigkeit das Problem? Steht wieder einmal die deutsche Schulkultur am Pranger? Die zusammengetragenen Ergebnisse weisen durchweg in diese Richtung. Schüler in den USA schreiben den Noten weniger Bedeutung zu. In der kanadischen Provinz Ontario sind Noten nur eine Form der Rückmeldung neben Gesprächen, Berichten, Auswertungen von Portfoliomappen und vor allem Selbstbeurteilungen der Schüler. In Schweden gibt es Noten erst von Klasse acht an, auch in Finnland sind sie bis zur vierten Klasse untersagt, aber von der siebten Klasse an verbindlich. Hellhörig werden Deutsche, wenn sie von Schulen in der italienischen Provinz Südtirol hören. Dort haben sie eine Art Währungsreform der Notengebung gewagt. In Zeugnissen werden Kinder nicht mehr mit anderen, sondern nur noch mit sich selbst verglichen. Bei der Pisa-Studie 2003 waren die Südtiroler plötzlich an der Weltspitze, beim Lesen noch vor den famosen Finnen.

    Streng kausale Erklärungen sind bei solchen Ergebnissen niemals möglich, aber die Plausibilität zwingt dazu, solche Entwicklungen von Schulkulturen genauer zu erforschen. Die neue Zensurenstudie, die den Stand des Wissens und der Interpretationen zusammenträgt, kann solch eine Frage nicht beantworten, aber sie stellt sie präziser als jemals zuvor.

    Bisher waren Noten für Reformer die Erbsünde einer entfremdeten Schule. Berichtszeugnisse sollten Erlösung bringen. Für ihre Verteidiger waren Zensuren Garanten des Realitätsprinzips. Verbale Berichte ließen den Verdacht auf Kuscheln in der pädagogischen Provinz aufkommen. Vielleicht könnte man sich in Deutschland auf nächste Schritte einigen: Lernen und Leistungsbeurteilung sollten entzerrt werden. Wenn ständig zensiert, beurteilt und verglichen wird, dann behindert die Fixierung auf ein von außen gesetztes Ergebnis den Lernprozess und schwächt die »intrinsische« Motivation, auf die es in einer Wissens- oder Ideengesellschaft ankommen wird.

    Allerdings wird es neben dem inneren Antrieb immer auch äußere Ansprüche geben. Selbst hier weist ein Vorschlag der Studie den Weg zur Veränderung. Wenn verschiedene Formen der Rückmeldung wie in Kanada kombiniert werden, dann wird Druck aus dem System genommen und der Mythos abgebaut, die Zensur sei eine Art Gottesurteil.

    In Potsdams Montessori-Schule gibt es Wissensmessen statt Noten

    Wie das geht, zeigte gerade die Montessori- Gesamtschule in Potsdam. Die Schüler der zehnten Klassen verwandelten einen Teil des Gebäudes in eine Wissensmesse und präsentierten Jahresarbeiten und alles, was sie sonst noch können. Mehr als 1000 Menschen sahen sich die Ausstellung an. Da kam Leistungsstolz auf. Jeder Schüler wollte etwas präsentieren und musste sich außerdem bei einer ganz traditionellen Prüfung auf den Zahn fühlen lassen. Noten? Seien doch nicht so wichtig, sagten die Schüler und wiesen darauf hin, dass Sergey Brin und Larry Page, die beiden Google-Gründer, auf eine Montessori-Schule gingen, in der es nie Noten gab. Ihrer Kreativität geschadet hat das nicht. Ihrer Leistung offenbar ebenso wenig

    Abschied vom Lernvollzugsbeamten

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    Magazin
    Titelthema

    Abschied vom Lernvollzugsbea
    Es liegt etwas in der Luft über den Tälern und Höhen der deutschen Bildungslandschaft. Von der Öffentlic bauen Lehrer und Eltern das deutsche Schulsystem um.

    PS 6 Faszination Maldoom

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    Faszination Maldoom
    »Noch nie«, sagt Royston Maldoom, »habe ich jemanden getroffen, der nicht tanzen kann.« Seit 30 Jahren arbeitet er als Choreograph mit Kindern und Jugendlichen. Berühmt wurde er durch den Film »Rhythm Is It«. Ob Straßenkinder in Äthiopien, traumatisierte Jugendliche aus Bosnien oder behütete Schüler in Mitteleuropa, ganz egal, sagt er, »jeder hat das Potenzial zum Künstler.« Wenn er eine neue Gruppe trifft, ist er sich ganz sicher: »Sie werden gemeinsam mit mir großartiges Theater schaffen.« Ein Zauberer? Ein Originalgenie? Gar ein Verführer? Nein. Wir erleben etwas Selbstverständliches, etwas, woran allerdings viele Erwachsene, leider auch manche Lehrer, nicht so recht glauben: Dass jedes Individuum ein einmaliges Potential hat. Dass es dieses herauszulocken gilt.

    PS 5 Es liegt was in der Luft

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    P.S.
    Von der Öffentlichkeit noch gar nicht richtig bemerkt, bauen Lehrer und Eltern das Schulsystem um. Nehmen wir Hamburg. Hier geht ein halbes Duzend freier, privater Bürgerschulen an den Start und mindestens ebenso viele staatliche Schulen erneuern sich aus eigenem Antrieb nachhaltiger, als es die Reformen von oben bisher vermochten. Sie fangen zum Beispiel mit jahrgangsübergreifenden Klassen an. Manche Kinder können bei der Einschulung ja bereits schreiben. Andere werden Zeit brauchen und einige der Nachzügler machen plötzlich einen großen Sprung. Das Programm all dieser Gründungen und Umgründungen in einem Satz: Nicht mehr Fächer, sondern Schüler unterrichten. Lernbüros In der Max-Brauer-Schule im Stadtteil Altona, eine der Schulen aus der neuen Umgründer- und Gründerszene hat eine Lehrergruppe über Jahre ihre »Traumschule« konzipiert und vor einem Jahr die Schulkonferenz hinter sich gebracht. Jetzt wurden für die Schüler der fünften Klassen Lernbüros eingerichtet, in denen jeder morgens an etwas anderem arbeitet: Mathe, Schreiben, Lesen. Die Lehrpläne wurden in »Kompetenzraster« umformuliert.

    Laufen, sprechen, tanzen

    Laufen, sprechen, tanzen

    Gastkommentar - Menschenfreundliche Bildung

    von Reinhard Kahl

    Die deutsche Pädagogik hat einen Star. Er könnte in diesem Land der Bildungskriege sogar mehrheitsfähig werden. Kein Zufall allerdings, daß er weder Pädagoge noch Deutscher ist. Es ist der britische Choreograph Royston Maldoom. Nach dem Film "Rhythm Is It", in dem die Tanzproben zu Strawinskys "Sacre du Printemps" mit Berliner Schülern dokumentiert werden, kann er sich vor Einladungen aus Schulen, zu Workshop oder Diskussionen im Kino kaum retten. Anschließend stehen Menschentrauben um ihn und wollen ihm das Geheimnis seines Erfolgs bei den jungen Leuten entlocken. Seine Formel: Vertrauen und Herausforderung. Das wichtigste Wort in diesem Satz ist das Wörtchen "und". Das wird von den Heroen des Entweder-Oder leicht übersehen.

    Seit 30 Jahren arbeitet Maldoom mit Straßenkindern in Äthiopien, traumatisierten Jugendlichen aus Bosnien oder behüteten Schülern in Mitteleuropa. "Noch nie habe ich jemanden getroffen, der nicht tanzen kann." Wenn der Choreograph eine neue Gruppe trifft, ist er sich ganz sicher: "Sie werden gemeinsam mit mir großartiges Theater schaffen." So war es jetzt auch wieder in Berlin, wo er im Rahmen des Education Project der Berliner Philharmoniker mit Kindern, Jugendlichen und Alten den Tanz für "Carmina Burana" einstudierte. Die Karten für die Aufführungen waren innerhalb von zwei Stunden ausverkauft.

    Ein Zauberer? Ein Originalgenie? Gar ein Verführer? Nein. Wir erleben etwas Selbstverständliches, woran allerdings viele Erwachsene, leider auch Lehrer, nicht so recht glauben: daß jedes Individuum ein einmaliges Potential hat. Daß jeder, so wie er laufen und sprechen gelernt hat, auch tanzen kann. Und zwar auf seine besondere Weise. "Sie tanzen graziös", sagt Maldoom, "wenn es gelungen ist, die Blockaden zu beseitigen." Diejenigen, die bei solch schönen Worten den Kopf schütteln, finden in ihrem Alltag ständig ihre Gegenbeweise. Schwärmereien, meinen sie, vielleicht etwas für aufwendige Vorzeigeprojekte, aber nichts für den Alltag. Nach Aufführungen mit ihren Schülern kommen diese skeptischen Pädagogen und Eltern häufig zu Maldoom und können gar nicht fassen, was ihre Kinder alles können. "Das hätten wir nie geglaubt", sagen sie ihm. Sein lakonischer Kommentar: "Jetzt wissen Sie ja, wo die eigentliche Ursache liegt."

    Im Film "Rhythm Is It" gibt es eine Schlüsselszene. Maldoom empfiehlt einigen der Hauptschüler, mit denen er arbeitet, auf einer Ballettschule weiterzumachen. Sie hätten das Zeug dazu. Da mischt sich deren freundliche, aber grundbesorgte Lehrerin ein. Abends im Dunklen, fragt sie im Klageton, alleine mit der S-Bahn noch nach Wilmersdorf? Senden Pädagogen solch kleinherzige Botschaften oder sagen sie wie Maldoom, kommt her, ihr seid gut, in euch steckt viel mehr, als ihr selbst glaubt, das wollen wir herausholen? Ob Lehrer die Potentiale ihrer Schüler zynisch in Abrede stellen oder ob sie ihnen eine verquaste Opfergemeinschaft gegen die Zumutungen der Welt anbieten, macht letztlich keinen Unterschied. Eigentlich ist es einfach. Man kann aus Menschen, zumal jungen, nur das herausfordern, von dem man glaubt, daß sie es in sich tragen.

    "Sobald man den Raum betritt, wissen die jungen Leute, ob sie einem vertrauen können oder nicht", sagt Maldoom. Vertrauen verwandelt. Er erlebt es an sich selbst, "wie diszipliniert und konzentriert ich dann sein kann und wie die Kids mir darin folgen". Für Vertrauen haben sie feinste Sensoren. "Aber fühlen sie nur einen Augenblick, daß man nicht an ihr Potential glaubt, so wird man ein Teil der Welt, die sie nicht respektiert, und sie fallen sofort auf ihre Meinung zurück, Versager zu sein."

    "Ich bin sehr streng." Auch dieser Satz gehört zur Begrüßung, mit der Maldoom einen Kurs beginnt. Es gelten klare Regeln. Disziplin muß sein. Aber niemals ohne Leidenschaft. Deshalb spricht er ungern von Bildung, sondern von Erwachsenen, die ihre Leidenschaft und ihre Erfahrung mit Kindern teilen. Er schlägt vor, Künstler an Schulen zu holen, und fügt gleich hinzu, auch Tischler oder Geschäftsleute, "egal, ob es um Mathematik oder Geographie geht, Kommunikation läuft über Leidenschaft".

    Kinder und Jugendliche erleben Maldoom als Botschafter aus der tätigen Welt. Nach der haben sie die allergrößte Sehnsucht.

    Der Autor, Journalist und Filmemacher ("Treibhäuser der Zukunft") lebt in Hamburg. In der kommenden Woche erscheint seine Doppel-DVD "Die Entdeckung der frühen Jahre", auf der auch Royston Maldoom zu sehen ist. www.archiv-der-zukunft.de

    Artikel erschienen am Fr, 12. Mai 2006

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    © WELT.de 1995 - 2006

    Schulen, die gelingen

    Schulen, die gelingen

    Von Reinhard Kahl

     

    Nun sollen die Schulen selbstständig werden. Manch einer sagt „eigenständig“. Alle sind dafür. Wie schön. Aber was versteht man eigentlich darunter? Jeder etwas anderes. Die nun fällige Diskussion, was denn wohl eine selbstständige Schule sein soll, ist noch nicht entbrannt. Stattdessen wird im Apparat wieder der Krebsgang geübt, eine Fortbewegungsform, auf die man sich dort versteht. So muss der Schulleiterverband in Niedersachsen feststellen: „Wir können nicht erkennen, worin die größeren Kompetenzen der Schulleiter und der einzelnen Schule bestehen sollen.“ Denn in pädagogischen Dingen, etwa der Frage, von welchem Alter an es Zensuren geben sollte oder ob alle Klassen genauso groß sein müssen oder ob es vielleicht im Ergebnis ein Vorteil sein könnte mehr Theater zu spielen und weniger Fachunterricht zu geben, wie es die legendäre Pisa-Siegerin, die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden vormacht, an diesen interessanten und entscheidenden Punkten endet die groß angekündigte Selbstständigkeit. Zu Recht fragen sich die Schulleiter, worin denn eigentlich das „Selbst“ in dem Wort Selbstständigkeit bestehen soll?

     

    Wenn Selbstständigkeit nur bedeutet, dass jetzt die alten Gäule, die bisher die pädagogischen Kutschen gezogen haben, durch den zivilisationsüblichen Ottomotor ersetzt werden, dann ist das natürlich ein Fortschritt. Es gibt bestimmt mehr PS. Aber die Frage, die langsam auf den Nägeln brennt, ist doch, wer lenkt den Wagen? Wohin soll es denn gehen? Haben wir überhaupt aktuelle Landkarten, auf denen Wege in die Wissensgesellschaft schon eingezeichnet sind? Oder braucht man so was in der Lehrplanwirtschaft gar nicht? 

     

    Es sieht wieder mal so aus, als würde der Mut der Kultusminister nur bis zur technokratischen Prozesserneuerung reichen. Schulen erledigen ihre Bürokratie nun selbst. Nicht mehr jeder Radiergummi muss beantragt werden. Diese Art von Pseudoeigenständigkeit empfindet man in den Schulen als Täuschung. So steigt der Unmut. Misstrauen nimmt noch zu. Leider häufig auch der Rückzug. Wirkliche Selbstständigkeit, wie es die schulisch erfolgreichen Ländern von Neuseeland über Kanada bis nach Finnland vormachen, setzt ja vor allem Vertrauen in die Schulen voraus. Daran scheint es bei uns zu fehlen.

     

    In Finnland wurde die Schulaufsicht völlig abgeschafft. Regelmäßige Tests, weniger der Schüler als der Schule, sagen ihr, wo sie steht. In Schweden wurde die Aufsichtbehörde Ende der 80er Jahre, wie man dort sagt, geschlachtet. Jede Schule hat ihren Etat, stellt Lehrer ein und handelt Gehälter aus. 

     

    Auch in deutschen Schulen tut sich mehr als irgendwann in den vergangenen Jahrzehnten. Eine Umgründer- und Gründerszene, von der Öffentlichkeit noch gar nicht richtig wahrgenommen, wächst. Bei den Umgründern sind es mehr die Lehrer, bei den Gründern mehr die Eltern. Nehmen wir Hamburg als Beispiel. Hier geht ein halbes Duzend freier, privater Bürgerschulen an den Start. Sie fangen mit  jahrgangsübergreifenden Klassen an, weil es eben Kinder gibt, die bei der Einschulung schon schreiben können und andere, die Zeit brauchen werden und dann vielleicht plötzlich einen Sprung machen. Man erinnere sich, Einstein gehörte zu den wenigen Kindern, die mit Drei noch nicht sprechen konnten.

     

    Überall in Deutschland sind neue Schulen im Aufbau und eine ganze Reihe staatlicher Schulen ist in Umgründung. Sie alle wollen einen Ort kultivieren, an dem das Lernen für die Kinder und Jugendlichen eine Vorfreude auf sie selbst wird. Sie wollen eine Atmosphäre schaffen, in der Lernen als das große Projekt des eigenen Lebens gewagt werden kann. Sie brechen mit dem Status nur Untermieter im System zu sein. In einer Schule, die sich als lernende Organisation versteht, wird man die Parole der Infantilgesellschaft, „das hat meine Mutter nun davon, wenn ich friere“ endlich aufgeben. Wie viele Schüler und auch Lehrer betrachten doch das, was sie in der Schule machen, gar nicht als die eigene Sache? Die Lust und die Souveränität, selbst lernen zu wollen, geht ihnen dort verloren. Dann geht man zur Schule wie zum Zahnarzt. Hitzefrei wird bald die beste Nachricht. 

     

    Wenn diese Schulmüdigkeit auch noch verbreitet ist, so gibt es mehr und mehr Schulen, die gelingen. Sie nehmen für sich in Anspruch, woran sie keine Bürokratie mehr hindern kann: Eine eigene Biographie zu haben. An der eigenen Geschichte anzuknüpfen. Eigene Probleme zu haben, die man selber lösen will, gewiss manchmal mit fremder Hilfe. Eigentlich beginnt der Prozess der Selbstständigkeit genau damit: Seine Probleme als die eigenen zu betrachten! Aus Schwierigkeiten den Funken von Ideen und Visionen zu schlagen! Probleme sind ein biographisches Kapital. „Problems are our friends,” sagt Michael Fullan, Erziehungswissenschaftler und Change-Theoretiker aus Toronto. Damit wies er den überaus erfolgreichen kanadischen Schulen den Weg. Dort kann man auch lernen, dass Selbstständigkeit Gegengewichte braucht. Vertrauen, Freundlichkeit, Zusammenarbeit und viel Austausch, vor allem ein fehlerfreundliches Klima. Denn so ist es nun mal, gelingen kann nur das, was auch schief gehen darf.

     

    Wer’s nicht glaubt, soll es machen wie die Stipendiaten der Friedrich-Naumann-Stiftung, die Anfang des Jahres gelungene Schulen besucht haben. Die ansteckende Gesundheit, die von solchen Schulen ausgeht, hat sie alle infiziert und einer will jetzt eine Schule gründen.

    Royston Maldoom – Botschafter aus der tätigen Welt

    Royston Maldoom – ein Botschafter aus der tätigen Welt 

    Von Reinhard Kahl

     

    Noch nie,“ sagt Royston Maldoom, „habe ich jemanden getroffen, der nicht tanzen kann.“ Seit 30 Jahren arbeitet er mit Kindern und Jugendlichen. Ob Straßenkinder in
    Äthiopien, traumatisierte Jugendliche aus Bosnien oder behütete Schüler in Mitteleuropa, ganz egal, sagt er, „jeder hat das Potenzial zum Künstler.“ Wenn der Choreograph eine neue Gruppe trifft, ist er sich ganz sicher: „Sie werden gemeinsam mit mir großartiges Theater schaffen.

    Ein Zauberer? Ein Originalgenie? Gar ein Verführer? Nein. Wir erleben etwas Selbstverständliches, etwas woran allerdings viele Erwachsene, leider auch Lehrer, nicht so recht glauben: Dass jedes Individuum ein einmaliges Potential hat. Dass es dieses herauszulocken gilt. Dass jeder, so wie er laufen und sprechen gelernt hat, auch tanzen kann. Und zwar auf seine besondere Weise. „Sie tanzen graziös,“ sagt Maldoom, „wenn es gelungen ist, die Blockaden zu beseitigen.“ Diejenigen, die bei solchen Worten den Kopf schütteln, finden in ihrem Alltag ständig Gegenbeweise. Schöne Schwärmereien, meinen sie, vielleicht etwas für aufwendige Vorzeigeprojekte, aber nichts für uns. Nach Aufführungen mit ihren Schülern kommen diese skeptischen Pädagogen häufig zu Maldoom und können gar nicht fassen, was ihre Schüler alles können. „Das hätten wir nie geglaubt,“ sagen sie ihm. Sein lakonische Kommentar: “Jetzt wissen Sie ja, wo die eigentliche Ursache liegt.“

    Maldooms Geheimnis ist keine ausgetüftelte Methode. Natürlich muss der Choreograph ein Meister seiner Kunst sein. Das Entscheide ist etwas anderes: „Sobald man den Raum betritt, wissen die jungen Leute, ob sie einem vertrauen können oder nicht.“ Vertrauen verwandelt. Nicht nur die Kinder und Jugendlichen. Maldoom erlebt es an sich selbst, „wie diszipliniert und konzentriert man dann sein kann und wie weit die Kids einem darin folgen.“ Für Vertrauen haben sie feinste Sensoren. „Fühlen sie nur einen Augenblick, dass man nicht an ihr Potenzial glaubt, so wird man ein Teil der Welt, die sie nicht respektiert und sie fallen sofort auf ihre Meinung zurück, Versager zu sein.“  Viele Erwachsene, ergänzt er, dächten genauso schlecht von sich.

    Ob Vertrauen oder Misstrauen dominiert, prägt eine Kultur in ihrem Kern. Nirgendwo wird das so offensichtlich wie im Verhältnis der Generationen. Wie kommt es bloß, dass es hierzulande immer noch selbstverständlich zu sein scheint, dass Schüler ihre Lehrer als Feinde ansehen? Warum suchen viele Lehrer bei ihren Schülern weniger nach Talenten als nach denjenigen, die angeblich nicht in ihre jeweilige Schulform passen? Wieso hält sich die Unsitte, Kindern mit dem späteren Leben zu drohen, statt sie jetzt dazu einzuladen?

    Nach dem Erfolg des Films „Rhythm Is It!“ kann sich Royston Maldoom vor Einladungen aus Schulen kaum retten. Es ist als hätten viele nur darauf gewartet, dass jemand ein paar der positiven Gedanken ausspricht, mit denen sie hadern. Im Film gibt es dafür eine Schlüsselszene. Maldoom empfiehlt einigen der Hauptschüler, mit denen er arbeitet, auf einer Ballettschule weiterzumachen. Sie hätten das Zeug dazu. Da mischt sich deren freundliche, aber grundbesorgte Lehrerin ein. „Abends im Dunklen“, fragt sie,  „alleine mit der S-Bahn noch nach Wilmersdorf?“ Senden Pädagogen solch kleinherzige Botschaften oder sagen sie, kommt her, ihr seid gut, in Euch steckt viel mehr als ihr selbst glaubt, das wollen wir herausholen? Ob Lehrer Potentiale ihrer Schüler zynisch in Abrede stellen, oder ob sie ihnen eine Opfergemeinschaft gegen die Zumutungen der Welt anbieten, macht vielleicht nur einen kleinen Unterschied.

    Ich bin sehr streng.“ Auch dieser Satz gehört zur Begrüßung mit der Maldoom einen Kurs beginnt. Nun wird der Tanz das allerwichtigste. Es gelten klare Regeln. Der Tanz ist wie eine Sprache. Sie öffnet eine neue Welt, aber nur in dem Maße, wie diese Sprache gelernt und beherrscht wird. Disziplin muss sein. Aber nicht ohne Leidenschaft. „Ich spreche nicht von Bildung, sondern von Erwachsenen, die ihre Leidenschaft und ihre Erfahrung mit Kindern teilen.“ Deshalb ist Royston Maldoom dafür, Künstler an Schulen zu holen und fügt gleich hinzu, „auch Tischler oder Geschäftsleute, egal ob es um Geografie oder Mathematik geht, Kommunikation läuft über Leidenschaft.“

    Kinder und Jugendliche, mit denen Royston Maldoom arbeitet, erleben ihn als Botschafter aus der tätigen Welt. Nach der haben sie die allergrößte Sehnsucht.

    Alle Zitate von Royston Maldoom stammen aus einem Vortrag, den er am 25. Oktober 2005 beim McKinsey Bildungskongress in der Staatsoper Unter den Linden gehalten hat. Eine Videodokumentation seines Vortrags gibt es auf der DVD „Die Entdeckung der frühen Jahre – Die Initiative McKinsey bildet. Zur frühkindlichen Bildung.“ 2 DVDs und 120 Seiten Booklet. 26 €. Zu beziehen über www.archiv-der-zukunft.de oder im Buchhandel über den Beltz Verlag.


    Schüler brauchen Sicherheit

    Schüler brauchen Sicherheit

     

     

    Was macht die Haut so empfindlich, dass ein Mückenstich zu riesigen Schwellungen führt? Der Mückenstich war in diesem Fall der Hilferuf aus der Rütli-Schule in Berlin. Es ist ja nicht neu, dass Lehrer in Hauptschulen am Rande des Kollaps agieren. Wieso dann tagelang die Schlagzeilen? Die übliche Skandalisierungsgier der Medien reicht nicht als Erklärung. Schließlich mieden sie jahrelang das Thema Schule als sei es eine Androhung zum Nachsitzen für Erwachsene. Seit Pisa schnellt die Aufmerksamkeit für Bildung nach oben. Da wird, um im Bild zu bleiben, eine Hautschicht um den Gesellschaftskörper hoch sensitiv. Nicht nur in Deutschland.

     

    In Frankreich ging eine ganze Generation auf die Straße. Auch dort war es im Grunde ein kleiner Stich, der diese völlig unerwartete Erregung auslöste. Ein Gesetzentwurf definierte die ersten zwei Berufsjahre zur Probezeit. Jederzeit kündbar. Das wurde als Zeichen verstanden.

     

    Offenbar versucht in beiden Ländern die Öffentlichkeit mit diesen großen Erregungen Themenfelder neu zu vermessen. Was ist das für ein Leben, fragt man in Frankreich, wenn ein Teil, vielleicht sogar ein Großteil der jungen Generation abgehängt wird? In Deutschland dringt ins Bewusstsein, auf was für eine Katastrophe es hinaus läuft, wenn das Schulsys-tem fast ein Viertel des Jugendlichen zu „Risikokandidaten“ stempelt, wie es die Pisa-Studie formuliert. Fünfzehnjährige, die nur die Kompetenzen von Viertklässlern erreichen, und oft nicht mal die. Da kommt auch die Angst davor auf, dass sich die Deklassierten Parallelwelten schaffen werden. So sprang die Aufmerksamkeit für die Rütli-Schule hin und her zwischen der Schulmisere und der befürchteten Gewalttätigkeit zumal von Jugendlichen aus Zuwandererfamilien.

     

    Die französische Gesellschaft wurde schon Monate zuvor von Gewaltexzessen in den Vorstädten verstört. Nun meldeten sich die vergleichsweise privilegierten Jugendlichen aus den Hochschulen und Gymnasien zu Wort. Auch sie sind sich offenbar nicht mehr sicher, in der Gesellschaft heil anzukommen. Das zumindest ist die gefühlte Wirklichkeit vieler jungen Franzosen. Das Gesetz wurde verhindert, aber die Ratlosigkeit blieb.

    Ratlosigkeit auch in Deutschland. Der Maßnahmen-Aktionismus, mit dem auf den Rütli-Skandal reagiert wurde, konnte ein paar Tage die Medien füttern. Erst schickte man Polizisten vor die Schule, dann sollen Sozialpädagogen hinein und etwas mehr Geld für Brennpunktschulen wurde halbherzig in Aussicht gestellt. Wird das helfen? Gewiss, für die Rütli-Schulen unseres Landes ist erste Hilfe nötig. Aber steht nicht so etwas wie die Formulierung eines zeitgemäßen Rütli-Schwurs an? Die meisten kennen diesen Gründungsmythos der Schweiz aus Schillers Wilhelm Tell: „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern...“  Ziehen wir das Pathos ab. Wird es nicht darauf ankommen, der nächsten Generation ein prinzipielles Versprechen von Zugehörigkeit zu geben?

     

    Die Politik kann Arbeitsplätze zwar fördern, sie aber nicht beschließen. Die Welt der Maßnahmen ist eng. Die hoch Qualifizierten stehen in scharfer internationaler Konkurrenz. Auch wer reüssiert, weiß, wie schell er draußen sein kann. Gering Qualifizierte sind bald außer Konkurrenz. Muss die Gesellschaft nicht schon deshalb alle Kraft und Phantasie für ihre Bildungseinrichtungen mobilisieren, um hier Orte zu kultivieren, die qualifizieren, von denen aber auch Sicherheit und Zugehörigkeit ausgeht? Das ist nicht die deutsche Tradition. Wir denken nur an Räume für Unterricht und Betreuung, aus denen sich mittags Lehrer wie Schüler schnell davon machen. Nein, wir müssten uns in Kitas, Schulen und Hochschulen tatsächliche die Kathedralen der Gesellschaft vorstellen. Jede besser als die schönste Sparkasse der Stadt. Das Wort Schule hieß bei den alten Griechen „frei sein von Geschäften“.

     

    Gute Schulen und Kitas in Deutschland zeigen schon wie es geht. Ihre Botschaft heißt, jeder gehört dazu, keiner wird beschämt, ihr könnt alle viel mehr als ihr glaubt. Je mehr Theater gespielt wird desto besser die Pisa-Ergebnisse. Das glauben viele nicht. Bildungseinrichtungen müssen das Gedächtnis der Gesellschaft sein. Heute kommt es darauf an, dass sie auch unsere Zukunftswerkstätten werden. Dazu gehört natürlich, dass das zerklüftete deutsche Sytem aus Haupt-,

    Real- und Sonderschule mit dem über allem schwebenden heiligen Gymnasium überwunden wird. Denn die Botschaft dieses Systems, auch an viele, die es schaffen, ist eine vergiftete: Es ist fraglich, ob Du überhaupt dazu gehörst.

    PS 4 Das System anhalten

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    P.S.
    »Überprüfung, Entwicklung und Normierung von Standards«, nannte die Präsidentin der KMK als Beispiel für Projekte der Länder nach der Föderalismusreform. Sie kündigte das auf derselben Pressekonferenz an, auf der auch »Desi« vorgestellt wurde. Nach dieser Studie liegen die Leistungen von zehn bis fünfzehn Prozent der Schüler in Deutsch und Englisch weit über den »Anforderungen der Lehrpläne«. Das registrierten die Minister mit Erleichterung. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Bereitschaft, sich so leicht zufrieden zu geben, und dem Denken in diesen Substantiven: Überprüfung, Entwicklung, Normierung, Standards ... ? Ich behaupte, ja! Ein Blick auf die Automobilindustrie, ausgerechnet auf sie, öffnet die Augen. Wir folgen dem McKinsey Berater Christian Malorny.* Bis Mitte der achtziger Jahre waren in Deutschland bei Daimler Benz, VW und BMW um die 25 000 Qualitätsprüfer beschäftigt. Das schien auch unbedingt nötig, denn 40 Prozent der Autos kamen mit Mängeln aus der Fabrik und warteten zur Nachbesserung auf dem Parkplatz. Die Arbeiter am Band kümmerte das wenig. »Qualität wurde an Spezialisten delegiert, das ist ein typisch deutsches Qualitätsverständnis«, sagt der McKinsey-Mann. »Wir assoziieren zu Qualität, was am Ende rauskommt.« 1985 verbreitet eine amerikanische Studie über die Automobilrevolution bei Toyota Zweifel am europäisch-amerikanischen Arbeitssystem, in dem Menschen wie Maschinen funktionieren. Qualität Toyota hingegen gelang die weitaus bessere Qualität, ohne nur einen Qualitätsprüfer zu beschäftigen. Christian Malorny berichtet schier Unglaubliches: »In Japan kann jeder Arbeiter an der Maschine, wenn es ihm nötig scheint, eine Fabrik anhalten. Er hat sogar die Pflicht dazu. Eine Produktionsstraße mit Hunderten von Arbeitern bleibt dann stehen, bis das jeweilige Problem
    PÄDAGOGIK 4/06


    DIE ZEIT Fehler machen lohnt sich doch

    DIE ZEIT  Nr. 15  2006   /  6. April 2006

     

     

    Fehler machen lohnt sich doch

     

    Nach einem Bericht des »Spiegels« steht das freie Schreiben in Grundschulen unter Generalverdacht - zu Unrecht, sagen Experten   Von Reinhard Kahl

     

    Freies Schreiben in der Grundschule soll verboten werden!« - »Was, verboten?« - »Ja, steht im Spiegel.« Das Gerücht verbreitete sich in Windeseile in Lehrerzimmern und bei besorgten Eltern. Machen die Kinder nun alles falsch, wenn sie freie Texte schreiben? »Das ist eine Ente«, sagt Renate Valtin, die das Verbot verlangt haben soll. Die Professorin, die an der Humboldt-Universität die Abteilung für Grundschulpädagogik leitet, gehört zu den Leseforschern von internationalem Rang. Ihr Wort hat Gewicht, so führte der Spiegel-Artikel zu großer Verwirrung.

     

    Dabei hatte sich der alte Streit über die richtige Methode beim Lesen- und Schreibenlernen gelegt. Ob Ganzheitsfibeln, »Lesen durch Schreiben« oder Lautieren, der Lesekrieg ist in den vergangenen Jahren der Einsicht gewichen, dass es die eine perfekte Methode gar nicht gibt. Wieso wieder dieser Schlachtenlärm?

     

    Angefangen hatte es vor Wochen mit dem Lehrerhasserbuch, das so differenziert ist wie sein Titel. Da wird die Schulwelt monochrom auf den einen Effekt hin frisiert, dass sie eine Vorhölle ist mit den Lehrern als arroganten Teufeln. In einem Kapitel wird die Lehrerin zur naiven Priesterin von schwarzen Messen des Fehlerkults stilisiert. »Mus ma fela machen döfen?« Dass beim freien Schreiben die Kinder am Ende der Grundschule angeblich nicht rechtschreiben können, wurde in der Presse weidlich ausgeschlachtet. Das »freie Schreiben« in Gänze wurde unter Generalverdacht gestellt. Nach dieser Methode dürfen Kinder in der Tat erst einmal ebenso Fehler machen, wie sie es beim Sprechen- und Laufenlernen getan haben. Es gibt allerdings Varianten beim Erfinden eigener Texte, die Valtin kritisiert. Sie findet es falsch, wenn das Lesen gegenüber dem Schreiben zu kurz kommt oder im ersten Jahr ganz vermieden wird. Aber im Spiegel (12/06, Seite 154) wurde sie mit einem Satz zitiert, der, wie sie sagt, frei erfunden ist: »Renate Valtin hat den Bildungssenator der Hauptstadt aufgefordert, das freie Schreiben in seinem Machtbereich zu unterbinden.« Quatsch, sagt die Professorin, sie habe bereits 1986 in dem Buch Schreiben ist wichtig die Vorteile des freien Schreibens herausgearbeitet. Auf Nachfrage räumt der Spiegel ein, Renate Valtins Kritik übermäßig verallgemeinert zu haben.

    Doch nun ist die Aufregung bei Eltern und Lehrern groß. Viele sind nach Pisa & Co. verunsichert. Vergleichsarbeiten und Schul-TÜV werden zum Teil enger interpretiert, als sie gemeint sind: Bitte keine Fehler machen. Im Zweifel lieber bluffen. Dabei herrscht bei der Mehrheit der Wissenschaftler Konsens: »Freies Schreiben« ist ein Vorteil. Differenzen gibt es über das Maß. Fehler sind das Salz des Lernens. Versalzte Gerichte sind natürlich auch nicht bekömmlich.

    Manche Studien ergaben, dass Kinder, die nicht bereits zu Hause angeregt worden sind, beim freien Schreiben ins Schwimmen geraten, wenn kein Leselehrgang Ausgleich schafft. Das ist auch Valtins Kritik. Ihr Kollege Hans Brügelmann von der Uni Siegen hingegen verweist auf Erfolge bei einem großen Anteil »freien Schreibens« in Südtirol. Die Provinz war bei einer Lesestudie Anfang der neunziger Jahre noch Mittelmaß. Bei der letzten Pisa-Studie toppte sie sogar Finnland.

    taz Wir können auch anders (zu Rütli & Co.)

    www.taz.de

    Wir können auch anders

    Siehe Bodensee-Schule. Kein Lehrer hier verteidigt das deutsche System. Trotzdem machten sie aus ihrer Schule das Beste

    VON REINHARD KAHL

    Zunächst muss man wohl immer wieder klarstellen, dass die Lehrer der Rütli-Schule weder Polizeischutz angefordert noch ihre Schließung verlangt haben. Sie klagen "eine neue Schulform" ein. Vielleicht sollte man das Wort Form endlich ernst nehmen. Zum Beispiel so: Es ist noch keine acht Uhr. Der Lehrer ist morgens als Erster in der Klasse. Wie ein Gastgeber bereitet er den Raum vor. Die meisten Schüler kommen ebenfalls vor Unterrichtsbeginn. Sie holen ihr Material aus den üppig bestückten Regalen und legen los. Einfach so, ohne Klingelzeichen, als wäre das Lernen ihre ureigene Sache.

    Jeder Schüler macht etwas anderes. Der eine Geometrie, die andere schreibt, dort wird irgendetwas besprochen. Man traut seinen Augen nicht. Eine Idylle? Nein, wir sind in einer Schule. Nicht in Finnland, sondern in der Bodensee-Schule in Friedrichshafen. Eine katholische Grund- und Hauptschule, an der die Hälfte der Schüler in einer eigens oben aufgesetzten 10. Klasse, der "Werkrealschule," den Realschulabschluss schafft.

    Gehen wir wieder in den Unterricht. Es ist eine siebte Klasse. Die Schüler in der Pubertät. Das sei eigentlich der Tiefpunkt, hört man überall, 7. Klasse Hauptschule, oh je. Aber vom pädagogischen Lazarett ist hier nichts zu spüren. Woran liegt das? Die Fächer wurden abgeschafft. An ihre Stelle treten Freiarbeit, vernetzter Unterricht und Projekte. Jeden Morgen drei Stunden Freie Arbeit in dieser schier unglaublichen Atmosphäre.

    Die Grundschule beginnt hier "jahrgangsübergreifend". In einer Klasse sind Kinder aus dem ersten, zweiten und dritten Schuljahr. Diese Mischung soll gar nicht erst die Illusion aufkommen lassen, die Kinder ließen sich alle auf den gleichen Stand bringen, um dann im Gleichschritt voranzumarschieren. Und das alles mündet dann in einer Hauptschule? Es gibt an der Bodensee-Schule wohl keinen Lehrer, der das zergliederte deutsche Schulsystem verteidigt. Aber das hat sie nicht dran gehindert, ihre Schule so gut wie möglich zu machen. Viele Eltern schicken ihre Kinder nach der vierten Klasse dennoch ins Gymnasium. Darunter leidet die Schule. Aber es ist ihr gelungen, eine Kultur zu entwickeln, in der das Stigma, Hauptschüler zu sein, gering ist.

    Gewiss, die Bodensee-Schule hat als vom Staat finanzierte katholische Schule seit 30 Jahren einen größeren Spielraum, ihre eigene Pädagogik zu erfinden. Sie hat bereits viele Schulen, gerade im Südwesten angesteckt. Aber das Entscheidende ist, dass sie diesen Spielraum nutzt.

    Am Wochenende sprachen bei einem Pädagogenworkshop in Wiesbaden auch die beiden so mutigen wie erfolgreichen Schulleiterinnen Enja Riegel und Ulrike Kegler. Enja Riegel hat die dortige Helene-Lange-Schule zu einer Schule gemacht, die mit viel Projektarbeit und wochenlangen Theaterspielen dennoch oder gerade deshalb beste Pisa-Ergebnisse einfuhr. Ulrike Kegler ist im Potsdamer Plattenbau ein ähnliches Kunststück gelungen. Beide konnten berichten, dass sie beim Umbau der Schule zum Lebensort für Schüler und Lehrer nie ernsthaft von Behörden gehindert wurden, was viele LehrerInnen viel lieber gehört hätten. Die Neigung lieber Opfergemeinschaften zu bilden, als sich endlich auf zu machen, ist bei deutschen Pädagogen noch verbreitet. Aber wer wollte jetzt nach der Rütli-Eruption ein Lehrerkollegium ernstlich daran hindern, erwachsen zu werden?

    Das wäre der Rütlischwur der Pädagogen: Sich das Recht zu nehmen, für ihre Schule den richtigen Weg zu finden. Solche erwachsen gewordenen Schulen fragen nicht mehr, was dürfen wir, sie finden heraus, was sie wollen. Natürlich gehört zu dieser Selbstständigkeit, dass sie ihre Arbeit öffentlich verantworten. Der Staat hätte die Pflicht zur Evaluation. Über Maßstäbe für gelungene Schulen wäre zu streiten, und die Politik hätte diese dann zu definieren. Aber diejenigen, die Schule machen, müssen souverän werden - von innen und von außen!

    Immer mehr Lehrer und Eltern bauen das Schulsystem längst um. Nehmen wir Hamburg. Hier geht ein halbes Duzend freier, privater Bürgerschulen an den Start, und mindestens ebenso viele staatliche Schulen tun mit. Sie fangen alle mit jahrgangsübergreifenden Klassen an und kommen nicht auf die Idee Schüler nach der vierten oder sechsten Klasse in Hauptschüler oder Gymnasiasten einzuteilen. Ihr Programm in einem Satz: nicht mehr Fächer, sondern Schüler unterrichten.

    In der Max-Brauer-Schule im Stadtteil Altona, wo viele Migrantenfamilien leben, hat eine Lehrergruppe über Jahre ihre "Traumschule" konzipiert. Nach den vergangenen Sommerferien wurden für die Schüler der fünften Klassen Lernbüros eingerichtet, in denen jeder morgens an etwas anderem arbeitet: Mathe, Schreiben, Lesen. Die Lehrpläne wurden in "Kompetenzraster" umformuliert. Darüber sprechen die Lehrer - teaching by walking around - mit ihren Schülern und sagen stolz: Nie mehr Dompteur sein! Neben Lernbüros gibt es Projekte zum Beispiel in Naturwissenschaften. Eine dritte Säule neu entworfenen Schule sind Werkstätten für musische Fächer.

    Am Anfang fürchteten auch die reformfreudigsten unter den Pädagogen, ihre Schüler würden so lange Zeitintervalle vielleicht gar nicht durchhalten. Im Lernbüro arbeiten Elfjährige nun morgens zwei Stunden selbstständig. Dann machen sie sich an Projekte, mit einem Thema, das über Wochen läuft. Aber schon nach kurzer Zeit kam die Überraschung. Die Stunden reichen ihnen nicht. Die Schüler wollen mehr. Und auch die Lehrer gehen später und zufriedener, wenn auch manchmal erschöpft nach Hause. Aber sie sind nicht mehr so genervt und kaum noch, wie sonst so häufig, leer mangels Resonanz.

    Ein anderes Beispiel für eine Schule, die sich ihre Biografie selbst erfunden hat, ist in Berlin Kreuzberg die Freiligrath-Schule. Bereits Ende der 80er-Jahre lag sie so erschöpft am Boden, wie heute die Rütli-Schule und viele andere. Nichts schien mehr zu gehen. Verweigerung und Zerstörungen, mehr Waffen als Bücher wurden damals an der Schule gezählt. Heute gehört sie zu den interessantesten in Deutschland. Künstler, Handwerker, Artisten, auch Schriftsteller und Computerfachleute wurden an diese Schule geholt. Man nennt sie die "Dritten". Sie verbreiten Lust am Handeln, Vertrauen, sich etwas zutrauen und die Bereitschaft, sich zu exponieren.

    Auch der Spreewaldschule, einer Grundschule im Schöneberger Kietz, ist eine ähnliche Verwandlung gelungen. Zusammen mit Schauspielern haben die Lehrer hier eine "Kulturschule" aufgebaut und dadurch auch wieder eine Schülermischung zurückgewonnen. Waren in den ersten Klassen über Jahre ausschließlich Migrantenkinder, so ist die Schule jetzt wieder so attraktiv für deutsche Familien, dass diese die Hälfte bei Schulanfängern stellen.

    taz Nr. 7938 vom 3.4.2006, Seite 3, 185 TAZ-Bericht REINHARD KAHL

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    BR alpha Fernsehinterview mit Reinhard Kahl


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    Sendetag: 21.03.2006, 20.15 Uhr
    Reinhard Kahl
    Journalist
    im Gespräch mit Klaus Kastan
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    Kastan:
    Herzlich willkommen zu alpha-forum. Über unseren heutigen Gast habe ich folgendes Zitat gefunden: "Im Zentrum seiner Arbeit stehen die Lust am Denken und Lernen, die Zumutung belehrt zu werden und die endlosen Dramen des Erwachsenwerdens." Ich begrüße sehr herzlich bei uns Reinhard Kahl. Sie sind von Beruf Journalist: Das ist wohl das Umfassendste, Sie sind aber auch Autor, Regisseur und Produzent von vielen, vielen Fernsehfilmen. All die Produkte, die Sie gemacht haben, haben vor allem immer mit einem Thema zu tun, nämlich mit Pädagogik.
    Kahl:
    Oder mit Bildung. Denn das sind ja alles so Wörter, die quasi wie Kieselsteine im Bauch rasseln. Aber ich finde wirklich, dass in diesem Thema, im Lernen, im Erwachsenwerden sehr viel Spannendes liegt: wegen der Menschen, die man dabei beobachten kann, die man dabei kennen lernt. Das ist aber auch so ein bisschen die ganze Welt bzw. Gesellschaft in einer Nussschale. Das ist die Stelle, an der die Gesellschaft sozusagen ihren kulturellen Code weitergibt und offenbart und an dem man ihn beobachten kann.
    Kastan:
    Sie sind Bildungsexperte. Das ist auch so ein Wort, so ein Etikett, das Sie nicht so gerne mögen.
    Kahl:
    Ich mag das Wort "Experte" wirklich nicht so gerne, weil nämlich in vielen Dingen die Laien klüger sind als die Experten. Gut, Expertenwissen ist schon gut, aber es gibt ja leider auch eine Expertendummheit, wie man weiß.
    Kastan:
    Gehen wir doch mal das Zitat, das ich am Anfang gebracht habe, der Reihe nach durch. Das steht also: "Im Zentrum seiner Arbeit stehen die Lust am Denken und Lernen." Ist das so?
    Kahl:
    Ja, das ist so. Ja, denken...
    Kastan:
    ... manchmal auch anstrengend.
    Kahl:
    Ja, schon, aber es gibt dieses wunderbare Zitat von Plato über das Denken. Er hat einst gesagt: "Denken ist das Gespräch zwischen mir und mir selbst." Und dieses Denken geht eben nur, wenn Unterschiede da sind, wenn man also in sich selbst Unterschiede hat und diese Unterschiede dann ins Gespräch miteinander bringt. Und vielleicht steckt darin auch als ein gemeinsamer Nenner von all dem, was Sie vorhin angedeutet haben, so ein gewisser Widerspruch gegen den herrschenden konformistischen Sog bzw. gegen den Perfektionssog oder gegen die Fehlervermeidung oder...
    Kastan:
    ... oder dagegen, dass es immer nur eine Antwort gibt.
    Kahl:
    Ja, das ist auch so etwas Furchtbares.
    Kastan:
    Es gibt also oft mehrere Antworten.
    Kahl:
    Ja, es gibt immer mehrere Antworten. Und es gibt manchmal sogar mehrere richtige Antworten oder mehrere mögliche Antworten.
    Kastan:
    Der andere Teil des Zitates handelte von den "Zumutungen, belehrt zu werden". Jeder von uns ist schon einmal belehrt worden, auch schon mal mit dem berühmten Zeigefinger.
    Kahl:
    Lernen ist etwas extrem Dialogisches. Das kann man bereits bei den kleinsten Kindern beobachten. In der so genannten Säuglingsforschung gibt es z. B. ein sehr schönes Experiment. Da wird die Mutter aufgefordert, wenn ihr Kind guckt, ein starres, steifes Gesicht zu machen. Und dann kann man beobachten, was passiert: Das Kind fängt an, mit seinem Blick um die Mutter zu werben. Und wenn die Mutter darauf nicht eingeht, dann wird es eklig. Das ist der Anfang eines dialogischen Spiels. Lernen heißt also nicht, darauf zu verzichten, dass einem jemand anderes etwas Interessantes erzählen kann. Selbstverständlich heißt es das nicht. Aber dieses Belehren ist schlimm, wenn es heißt: "Du weißt erst einmal gar nichts! Du bist ein weißes Blatt Papier und ich beschreibe dich jetzt!" Das kennt jeder von sich: Das ist etwas, das so eine Art von geistiger Immunabwehr hervorruft. Das ist ein Teil des Problems unserer Schulen, an denen zu viel belehrt und zu wenig gelernt wird.
    Kastan:
    Das letzte Stichwort dieser Aufreihung im Zitat handelte von den "endlosen Dramen des Erwachsenwerdens".
    Kahl:
    Ja, die hören nie auf.
    Kastan:
    Man wird wohl auch als Erwachsener noch erwachsen.
    Kahl:
    Man hat jedenfalls die Chance, immer wieder ein Anfänger werden zu können, vielleicht sogar auf einem jeweils etwas höheren Niveau. Es wäre furchtbar, wenn man das Erwachsenwerden zu vermeiden versuchte, z. B. durch so einen ewigen Jugendlichkeitsgestus, der irgendwann nur noch peinlich ist. Aber das Übernehmen von Verantwortung, das Konsolidieren des Erwachsenwerdens steht immer auch in einer Spannung dazu, ein Anfänger und auch ein bisschen ein Kind zu bleiben. Das sind jedenfalls ganz normale und alltägliche menschliche Geschichten.
    Kastan:
    Sie sind Jahrgang 1948, sind also in den fünfziger Jahren in die Schule gekommen. Denken Sie gerne an Ihre Schulzeit zurück?
    Kahl:
    Ich denke mit gemischten Gefühlen daran. Es gab vor allem einen Lehrer, der für mich sehr prägend gewesen ist: Er war wirklich ein Vorbild für mich, dieser Deutsch- und Gemeinschaftskundelehrer. Er hat mich für vieles von dem, was mich heute immer noch interessiert und beschäftigt, begeistern können. Aber es gab auch viele, die einen etwas vor den Kopf gestoßen oder sogar abgestoßen haben.
    Kastan:
    Was hat dieser Lehrer gemacht, dass er Sie für bestimmte Dinge begeistern konnte?
    Kahl:
    Er war selbst hungrig! Er war einer, der uns viel erzählt, der uns aber nicht in dem Sinne belehrt hat. Ich bin in Göttingen aufgewachsen: Er hat abends Kurse an der Volkshochschule gegeben. Zusammen mit anderen Schülern sind wir da abends noch zu Volkshochschulkursen von ihm gegangen, weil uns das interessiert hat.
    Kastan:
    Weil er selbst immer noch weiter nach neuen Antworten gesucht hat?
    Kahl:
    Ja, weil er einfach nicht so ein fertiger Mensch gewesen und stattdessen hungrig geblieben ist. Es ist ja immer so: Wenn jemand forscht und an etwas arbeitet, dann findet er mit jeder Antwort drei neue interessante Fragen!
    Kastan:
    Sie haben ja die klassische Schulausbildung gemacht...
    Kahl:
    Tja, das geht ja nicht anders.
    Kastan:
    Grundschule, Gymnasium, Abitur, Studium. Sie haben Erziehungswissenschaften, Soziologie und Philosophie studiert. Mit Mathematik konnten Sie offensichtlich nicht viel anfangen.
    Kahl:
    Ja, leider, mit Mathematik konnte ich nur wenig anfangen.
    Kastan:
    Warum?
    Kahl:
    Das weiß ich auch nicht. Ich glaube, viele aus meiner Generation – aber das wird bei späteren Generationen wohl noch genauso sein – haben die Mathematik lediglich als eine dauernde Prüfung kennen gelernt. Sie haben sie auch als etwas Buchhalterisches kennen gelernt. Ich kann mich noch recht gut daran erinnern, als wir in der Schule das Pascalsche Dreieck durchnahmen. Das fand ich enorm interessant: Das war so eine ästhetische Figur, da gab es etwas zu entdecken, da konnte man lange daran herumrechnen. Aber all die anderen Dinge, die an der Mathematik so interessant sind, die Relationen, die Formen usw., standen einfach nicht so im Zentrum unseres Mathematikunterrichts. Für uns war die Mathematik damals meistens nur ein Fach, in das sehr stark diese krude "Richtig-Falsch-Welt" eingeschrieben war. Wenn ich heute jedoch mit irgendwelchen tollen Mathematikern spreche, dann erzählen sie mir, dass auf 2000 Fehler von ihnen eine Entdeckung kommt. Diese Fehler muss man also machen dürfen, damit man eine Entdeckung macht! Ich glaube daher, die Mathematik ist vor allem an der Schule häufig noch so eine Art Initiationsritual in das Keine-Fehler-machen-Dürfen. Wenn man jedoch keine Fehler machen darf, dann wird das mit dem Lernen schwierig.
    Kastan:
    Sie haben vorhin gesagt, es gibt nicht immer nur eine Antwort. In der Mathematik ist das jedoch sehr wohl so. War das vielleicht auch Ihr Problem mit der Mathematik?
    Kahl:
    Nein, das stimmt ja gar nicht: In der Mathematik gibt es häufig sehr viele richtige Antworten.
    Kastan:
    Ja, schon, aber eins und eins ist zwei.
    Kahl:
    Ja, aber nur dann, wenn eins und eins identisch sind. Nehmen Sie nur einmal zwei Wellen, die aufeinanderstoßen: Es hängt dann vom Winkel dieser Wellen ab, ob sie sich entweder ganz sauber zu zwei addieren oder ob sie sich zu null auslöschen oder ob sie sich vielleicht potenzieren. Wenn einem das jemand erzählt, wenn einem erklärt wird, dass "1 + 1 = 2" lediglich ein Sonderfall von identischen Elementen oder Kräften ist, dann wird es interessant. Wenn man all das, was um diesen Sonderfall herum möglich ist, mit im Auge hat, dann ist das eine enorme Entdeckung.
    Kastan:
    Die Naturwissenschaften waren jedenfalls damals nicht so interessant für Sie, dass Sie gesagt hätten: "Das will ich studieren!" Stattdessen haben Sie sich für die Geisteswissenschaften entschieden.
    Kahl:
    Ja, für diese 68-er-Diskussionswissenschaft.
    Kastan:
    Waren Sie denn ein richtiger 68er?
    Kahl:
    Ja.
    Kastan:
    Voll dabei?
    Kahl:
    Ja, schon als Schüler. Ich hatte noch als Schüler in Göttingen das große Glück – das war wirklich prägend für mein späteres Leben, denn er wurde ein wirklicher Lehrer für mich – einen jungen Professor der Erziehungswissenschaften kennen zu lernen. Dieser Mann war Hartmut von Hentig, der uns rebellischen Schülern freundlich und kritisch zugehört und mit uns gesprochen hat. Das war etwas, das mich dann später vor so manchen absolut rechthaberisch-dummen, dogmatisierenden Verirrungen dieser Bewegung bewahrt hat.
    Kastan:
    Mit Hartmut von Hentig haben Sie bis heute Kontakt.
    Kahl:
    Ja, ich war vor zwei Monaten bei seinem 80. Geburtstag eingeladen.
    Kastan:
    Sie haben ihm auch das hier gewidmet: "Treibhäuser der Zukunft. Wie in Deutschland Schulen gelingen." Ich zeige das mal kurz in die Kamera: Das ist eigentlich gar kein richtiges Buch, sondern...
    Kahl:
    Das ist auch ein Buch.
    Kastan:
    Ja, es ist auch ein Buch, aber es sind vor allem DVDs drinnen. Einen Ausschnitt aus einer der DVDs, wie sich Schule verändern kann, schauen wir uns jetzt an. (Filmeinblendung)
    Kastan:
    Das war ein Ausschnitt aus "Treibhäuser der Zukunft. Wie in Deutschland Schulen gelingen". Der Titel hört sich ja doch etwas verquer an.
    Kahl:
    Finden Sie? Vielleicht kann ich da an das anknüpfen, was wir vor diesem Filmausschnitt besprochen haben: Mit der 68er-Generation verbinden sich ja solche Begriffe wie Kritik, kritische Haltung usw. Für mich ist es jedoch im Laufe meines Lebens mehr und mehr wichtig geworden, mich für das zu interessieren, was gelingt. Was alles nicht gelingt, kann man ja sehr genau beschreiben, und darauf soll und darf man auch nicht verzichten. Aber ich glaube, ein Teil des deutschen Problems besteht in mancherlei Hinsicht und nicht nur im Hinblick auf die Bildung wirklich darin, dass wir zu wenig Bilder – und damit meine ich jetzt keine Fernsehbilder oder Photos, sondern mentale Muster – von dem haben, was gelingt. Und "gelingen" bedeutet für mich auch einen wesentlichen Unterschied zu dieser ganzen Welt des "Richtig-Machens", des "Richtig-Ausführens". Ich bin überzeugt davon, dass nur das wirklich gelingen kann, was auch schief gehen darf – nicht schief gehen soll, sondern schief gehen darf. Ich finde, das ist ganz analog zur Biographie eines Menschen.
    Kastan:
    Aber die Bezeichnung der Schulen als Treibhäuser? Wie ist das zu verstehen?
    Kahl:
    Mit "Treibhäuser" sind natürlich nicht diese Glasgebäude gemeint, in denen die holländischen Tomaten gezogen werden. Nein, damit meine ich einen atmosphärisch gut temperierten Raum.
    Kastan:
    In dem etwas gedeiht.
    Kahl:
    Ja, in dem etwas gedeiht und in dem man weiß, dass diese, wenn man so will, atmosphärischen Bedingungen die entscheidenden Bedingungen sind, weil alles weitere davon abhängt. Man kann also eine noch so gute Schule machen, wenn die Menschen sich jedoch nicht mögen und anerkennen, dann wird es auch mit den Ergebnissen, Ergebnisse, die z. B. mit der PISA-Studie messbar sind, nicht gut aussehen.
    Kastan:
    Eine Ihrer Grundthesen gleich am Anfang dieser DVDs lautet, dass unsere Schulen im Umbau sind und der in vollem Gange ist. Das Fundament müsse aber neu gesetzt werden, behaupten Sie. Meine Frage daraufhin lautet: Ist die Schule, so wie wir sie kennen und erlebt haben, tot? Oder sollte sie tot sein?
    Kahl:
    Nun, sie hat schon etwas Tödliches an sich und sie lebt dennoch. Das ist wie mit den Zombies: Das sind ja auch die Untoten, die in meist schlechten Hollywood-Filmen immer irgendwo durch die Gegend laufen. Nein, die Schulen in Deutschland sind nicht tot, sie sind in vielerlei Hinsicht nicht tot. Sie sind ohnehin nicht mausetot, sondern...
    Kastan:
    Ich hatte ja auch ein "sollte" nachgeschoben.
    Kahl:
    Sie sind schon sehr widerspenstig. Unsere Schulen haben in der Tat sehr vieles an sich, das aus einer wirklich vergangenen Zeit stammt. Sie haben sehr viel Starres, sie haben sehr wenig Bewegung. Wenn man in eine normale Schule kommt, dann nimmt man mit seinem aus der Evolution stammenden Reptilhirn häufig genug wahr, dass das etwas sehr, sehr Enges ist. Jedes Architekturbüro, jeder kleine Palast, in dem heutzutage Autos verkauft werden, hat mehr Licht, mehr Bewegungsfreiheit, lädt einen eher dazu ein, dass man den Kopf aufrichtet und tief einatmet, während man beim Betreten der Schule den Kopf einzieht und nur noch ganz flach atmet. Es stimmt, das gilt nicht für alle Schulen, das gilt nicht generell, aber das ist noch ein ganz, ganz starker Zug unserer Schulen. Ich glaube, die meisten Schulen sind immer noch nicht der Ort, an dem man sozusagen Menschen einlädt, ins Leben zu kommen. Das sind leider im Gegenteil immer noch Orte, an denen man mit dem späteren Leben droht. Ich finde, das kann man an der bloßen Betonung eines Satzes sehr gut erkennen. Man kann an einer Schule sagen: "Wir haben auf euch gewartet!" Man kann das mit der Betonung sagen: "In euch steckt viel mehr drin, als ihr vielleicht glaubt. Kommt her, wir haben auf euch gewartet!" Oder man sagt: "Auf dich habe ich gerade noch gewartet!" Und mit der Betonung drückt man aus: "Hier wirst du dein blaues Wunder erleben!" Damit meine ich dieses Misstrauisch-Misanthropische an unseren Schulen. Von diesem Gift steckt wirklich noch viel in den Schulen. Aber ich glaube, es wird mehr und mehr als solches wahrgenommen und abgebaut.
    Kastan:
    Einen Begriff habe ich wirklich neu gelernt, als ich mir diese DVDs angesehen habe: Das ist der Begriff "Fragen entwickelnder Unterricht". Für Pädagogen ist das vermutlich ein feststehender Begriff.
    Kahl:
    Ja, allerdings heißt dieser Begriff "fragend-entwickelnder Unterricht". Das sollte ursprünglich eigentlich mal so etwas Sokratisches sein.
    Kastan:
    Das heißt, man führt dabei mit Fragen die Schüler an ein bestimmtes Ziel.
    Kahl:
    Ja, und das ist, wenn es gelingt, auch wunderbar. Meistens läuft das aber so ab, dass andere Pädagogen diesen Unterrichtsstil "Osterhasen-Pädagogik" nennen: Der Lehrer hat das Wissen irgendwo versteckt und die Schüler sollen es jetzt suchen! Das ist also eigentlich ein abgekartetes Spiel, bei dem gerade keine Neugier aufkommt. Jürgen Baumert, der Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und bei der ersten PISA-Studie in Deutschland sozusagen der Chef, sagte einmal: "In diesem fragend-entwickelnden Unterricht stören immer zwei Typen von Schülern, die intelligenten und die abweichenden." Das sind also diejenigen Schüler, die Fehler machen oder die eine ungewöhnliche Frage stellen. Diese Osterhasen-Pädagogik ist etwas, das man in deutschen Schulen in der Tat etwas häufiger findet als z. B. in amerikanischen oder skandinavischen Schulen.
    Kastan:
    Machen Sie es sich damit nicht vielleicht doch zu leicht? Ich versetze mich mal in die Position eines Lehrers: "Ja, Sie können leicht reden. Ich habe meinen Lehrplan durchzubringen, ich muss Rechenschaft ablegen, was meine Schüler im Laufe eines Jahres gelernt haben. Da bin ich dann eben u. U. sogar angewiesen auf diese so genannte Osterhasen-Pädagogik."
    Kahl:
    Nein, das ist er nicht, denn so ein Lehrer könnte leicht wissen, dass ein anderer Unterricht viel wirksamer ist.
    Kastan:
    Aber der Lehrplan gibt doch sehr viel vor.
    Kahl:
    Inzwischen sind die meisten Lehrpläne liberaler als die meisten Lehrer unterstellen.
    Kastan:
    Das heißt, Sie meinen, dass sich viele Lehrer oft auch nur hinter dem Lehrplan verstecken.
    Kahl:
    Ja. Das hat ja auch etwas mit der Berufsausbildung zu tun. In Deutschland studieren Lehrer ein Fach, zumal gymnasiale Lehrer. Während des Studiums lernen sie dann noch ein bisschen pädagogische Theorie. Sie lernen gewöhnlich weder die Kinder, die Schüler, die Jugendlichen kennen, noch lernen sie sich selbst als Lehrer kennen, was z. B. in Finnland ein zentrales Element ist. Und dann kommen sie in die Schule und sind sozusagen Novizen im Schule-Machen und hängen immer noch an den Bildern von Schule, die sie als Schüler in ihrer eigenen Schulzeit mitbekommen haben. Das andere, das neu Gelernte ist meistens sehr verstandesmäßig angeeignet: In einer kritischen Situation fallen sie dann meistens sofort in die alten Muster zurück. In diesen Bildern, in diesen Vorstellungen ist einfach nur sehr wenig Raum für die Abenteuer und Umwege des Lernens. Das Ganze ist sehr viel Stoffvermittlung. Aber jeder weiß doch, dass das nicht gut funktioniert.
    Kastan:
    Aber die Stoffvermittlung muss doch sein, denn der Lehrplan muss eingehalten werden. Und letztendlich muss der Lehrer ja auch Noten geben.
    Kahl:
    Muss er das? Wie ist das mit dem Einhalten von Lehrplänen? Ich erzähle Ihnen eine wahre Geschichte. Wir haben ja vorhin in dem Filmausschnitt den Manfred Spitzer gesehen: Hirnforscher, Psychiater, Lernforscher. Er wendet in seinen Vorträgen immer einen kleinen Trick an und zu seinen Vorträgen kommen Tausende von Leuten. Er sagt nämlich mitten im Vortrag: "So, jetzt unterbrechen wir eine Viertelstunde und verteilen an jeden ein weißes Din-A-4-Blatt. In dieser Viertelstunde schreiben Sie bitte all das auf, was Sie von der Mathematik Ihrer Schulzeit vor allem aus den letzten Schuljahren noch wissen!" Das sagt er so ernst, dass die Leute wirklich erschrecken. Erst nach einer Weile fängt er dann an zu grinsen – und im Vortragssaal entsteht ein befreiendes Lachen, weil doch alle wissen, dass sie dazu keine Viertelstunde und auch kein Din-A-4-Blatt gebraucht hätten. Da hätten quasi eine Streichholzschachtel und eine Minute auch schon gereicht. Das heißt, jeder weiß doch eigentlich, dass von diesem "Lehrplanstoff-Rüberschieben" häufig so gut wie nichts übrig bleibt. Das ist etwas, das mich immer so ein wenig an die Pubertätskrankheit Bulimie erinnert. Spitzer macht einen Vorschlag, den ich wirklich hervorragend finde. Er sagt: "Man kann in der Schule alles prüfen, nur nicht den Stoff der letzten zwei Monate!" Auf diese Weise würde man sich – durchaus in einem wohlverstandenen Sinne von Lehrplanerfüllung – mit dem beschäftigen, was von den Schülerinnen und Schülern wirklich verinnerlicht worden ist, was hängen geblieben ist, was sie anwenden können, was sie in ihr Denksystem eingebaut haben, nicht aber mit dem, mit dem die "Festplatte" schnell vollgeschrieben worden ist, um sie anschließend noch schneller wieder zu löschen. Dass so schnell Gespeichertes ebenso schnell wieder gelöscht wird, wissen eigentlich alle. Aber man zieht daraus so gut wie keine Konsequenzen, und genau das finde ich skandalös.
    Kastan:
    Sie zeigen in diesem Film auch eine schwedische Lehrerin. Diese schwedische Lehrerin ist einmal gefragt worden: "Hast du denn früher in der Schule auch geschummelt? Hast du auch abgeschrieben?" Wir in Bayern nennen das ja "Unterschleif". Sie wurde also gefragt, ob sie sich als Schülerin auch mal eine gute Note quasi hintenherum besorgt hat. Die Lehrerin erzählt dann in Ihrem Film, dass sie diese Frage damals gar nicht so richtig verstanden habe, denn so etwas hat es bei ihr in Schweden in ihrer Schulzeit gar nicht gegeben.
    Kahl:
    Ja, das stimmt. Sie lebt aber jetzt mittlerweile in Deutschland...
    Kastan:
    ... und ist Lehrerin.
    Kahl:
    Ja, inzwischen ist sie sogar Schulleiterin. Bei ihren Kindern ist aber genau das eines der wichtigsten Themen! Was geht da bei Schülern an Energie verloren mit diesem Bluffen, mit diesem Unterschleif, mit diesem So-tun-als-Ob!
    Kastan:
    Ich selbst habe früher immer gelernt durch das Spickzettelschreiben.
    Kahl:
    Sehen Sie.
    Kastan:
    Meistens habe ich dann den Spickzettel gar nicht gebraucht. Manchmal allerdings doch. Was müsste sich denn an den Schulen ändern, um diesen Idealzustand herstellen zu können? Bräuchten wir dafür nicht vor allem auch andere Lehrer?
    Kahl:
    Nun, ich würde erst einmal der Forderung nach einem Idealzustand widersprechen. Denn da denkt man ja meistens: "Na, das sind halt diese hohen Ideale, über die kann man gut reden...
    Kastan:
    ... aber man muss nichts machen!"
    Kahl:
    Ja, weil die meisten Menschen dann denken, das ginge ja doch nicht. Ich finde, dass es an den Schulen zuerst einmal darum gehen müsste, das normale Zivilisationsniveau eines guten Büros herzustellen, eines Büros, in dem man mit einer gewissen Grundfreude arbeitet, in dem man seine Sachen macht und in dem es nicht so ist, wie das häufig an den Schulen der Fall ist, dass mittags die Lehrer schneller in ihrem Golf sind als die Schüler auf ihrem Fahrrad. Gut, das stimmt natürlich auch nicht immer. Es ginge mir jedenfalls darum, dass die Schule zu einem Ort wird, an dem man freiwillig und gerne einen interessanten Teil des eigenen Lebens verbringt. Das ist meiner Meinung nach kein Ideal, sondern das ist das Mindeste, was man verlangen darf. Und in guten Schulen gelingt das ja auch, in manchen Ländern gelingt das sogar häufiger als in Deutschland. Das alles gehört eben auch zu den so genannten PISA-Irritationen. Eine weitere Irritation bei der PISA-Studie war ja für manche, dass Bayern so viel besser dasteht als Bremen. Das hat – wie auch immer das hergestellt wird in Bayern -- etwas zu tun mit einem geringeren Verwahrlosungslevel hier in Bayern.
    Kastan:
    Auf der anderen Seite sind aber die bayerischen Schulen schon tendenziell eher Schulen, wie es sie früher gegeben hat. Bayern ist nicht gerade die Heimstätte moderner Pädagogik.
    Kahl:
    Nein, wirklich nicht, in manchen Schulen aber schon.
    Kastan:
    In Bayern muss jedenfalls sehr viel gelernt und gebüffelt werden und es gibt regelmäßig sehr strenge Leistungskontrollen. Ich glaube, es gibt auch kein anderes Bundesland, in dem es prozentual weniger Abiturienten gibt als in Bayern.
    Kahl:
    Das birgt natürlich verschiedene Aspekte. Es ist ja so, dass wir überall in Deutschland dieses drei- bzw. viergliedrige Schulsystem haben – gegen das ich doch einiges Kritische einwenden würde. In den Ländern aber, um das mal beim Namen zu nennen, in den sozialdemokratisch regierten Ländern, die früher mal die Gesamtschule wollten und sie dann später meistens wieder abgeschafft haben, in denen der Zug ganz stark in Richtung Gymnasium geht, herrscht eine Struktur, in der diejenigen, die dann nicht ins Gymnasium gehen, sich bereits während ihrer Schulzeit als Verlierer fühlen: Wer dort zur Hauptschule geht, ist bereits ein Outcast. Und diejenigen, die aufs Gymnasium gehen, bekommen z. T. – auch aufgrund der Struktur ihrer Schule – immer wieder das Gefühl vermittelt: "Na, ob du wirklich hierher gehörst, ist ja doch fraglich!" Das heißt, sehr viele Schüler sind in ihrer Schule nicht selbstverständlich da. In Bayern ist zumal auf dem Land die ständische Tradition – die übrigens nicht unsere Zukunft ist! – noch intakter. Es ist in Bayern nicht unbedingt eine Schande – in manchen Gegenden Münchens schon, aber sonst nicht – Hauptschüler zu sein. Man könnte daher auch sagen, dass in Bayern vielen Schülern das Gymnasium als eine Schule erspart bleibt, in der sehr stark Fächer unterrichtet werden und nicht unbedingt die Schüler. So könnte man das in der Tat nämlich auch sehen.

    Kastan:
    Würden Sie sagen, Bayern sei ein Modell?
    Kahl:
    Nein, aber man kann viel von Bayern lernen.
    Kastan:
    Wo läuft es denn nicht gut in Bayern? Wo sehen Sie Defizite, wenn Sie sich die bayerischen Schulen anschauen?
    Kahl:
    Zum Beispiel ist es ein Drama, von dem alle Leute erzählen können, wenn sich nach der vierten Klasse die Frage stellt, wie es nun weitergeht: Das zerstört bereits viel Lernen in der Grundschule. Und es bleibt ja auch Bayern diese Entwicklung nicht erspart, dass niemand mehr zur Hauptschule will. Bis jetzt gab es ja diese Tradition, dass man auch zuerst zur Hauptschule gehen und dann durchstarten kann. Bis jetzt kommen ja auch in Bayern – und in Baden-Württemberg ist das ähnlich – 30 Prozent von denjenigen, die letztlich die Studienberechtigung erlangen, über die Haupt- und Realschule. Das muss man einfach so sehen.
    Kastan:
    Das geht dann über die Fachoberschule, das Fachabitur usw.
    Kahl:
    Ja, natürlich. Das könnte ja auch ein Weg sein: Warum eigentlich nicht? Nur ist es eben auch in Bayern so, dass es für die meisten Leute eine Art von Schande darstellt, den Schritt zum Gymnasium nach der vierten Klasse nicht zu schaffen.
    Kastan:
    Die Hauptschule wird dann, wie Sie vorhin sinngemäß gesagt haben, oft zur Schule der Verlierer.
    Kahl:
    Ja, und wenn man sich selbst als Verlierer fühlt, dann wird es sehr schwierig, mit sich selbst zufrieden zu sein und etwas Gutes zu leisten.
    Kastan:
    Die Schulkontrolle, die über die einzelnen Schulen vom Kultusministerium ausgeübt wird, ist etwas, das Ihnen, wenn ich Sie bei meinen Recherchen richtig verstanden habe, auch nicht gerade gut gefällt.
    Kahl:
    Das stimmt, das müsste nämlich nicht so sein. In Holland gibt es keine Schulaufsicht, aber eine Schulinspektion. Viele Leute sagen bei uns: "Wenn es dort eine Schulinspektion gibt, dann hat die doch auch so etwas wie eine Aufsichtsfunktion." Nein, so ist es nicht: Die Inspektion schaut sozusagen wohlwollend-kritisch von der Seite rein – und eben nicht von oben. Sie versucht nicht, das Schulsystem quasi an seine Marionettenschnürchen zu nehmen. Finnland hat die Schulaufsicht komplett abgeschafft, aber die Schulen tragen dort auch Verantwortung und Verantwortung heißt, dass man antworten muss: Das ist also kein Laissez-faire.
    Kastan:
    Es gibt ja auch bei uns Schulen, die Sie in dieser Reihe, die Sie soeben herausgegeben haben, vorstellen und in denen das alles wirklich anders abläuft. Da sind die Schüler beteiligt...
    Kahl:
    Ja, das gibt es auch in Bayern, das sind diese Modus 21 Schulen usw.
    Kastan:
    Das gibt es eben inzwischen alles. Dabei haben die einzelnen Schulen mehr Freiräume und können Modelle ausprobieren: natürlich immer auch in Rücksprache mit dem Kultusministerium, aber immerhin haben sie diese Möglichkeiten. Sind das Entwicklungen in die richtige Richtung?
    Kahl:
    Ja! Das ist etwas, das in der ganzen Gesellschaft läuft. Der Begriff der "lernenden Organisation" hat ja seinen Siegeszug zuerst durch die Unternehmen gemacht und kommt nun erst so langsam bei den Schulen und Universitäten und öffentlich-rechtlichen Anstalten an. Das ist also eine Entwicklung, die letztlich unvermeidlich ist.
    Kastan:
    Sie wollen, dass die Schulen und die Klassenzimmer Lernwerkstätten werden. Was ist darunter zu verstehen?
    Kahl:
    Dass nicht alle zur gleichen Zeit dasselbe machen! Die Individualität der Schülerinnen und Schüler, die Tatsache, dass wir unterschiedlich sind, ist sozusagen das Potential unseres Landes. Ein einfaches Beispiel: Unter den Kindern, die in die erste Klasse kommen, gibt es welche, die können bereits Lesen und Schreiben, während andere wiederum dafür erst noch zwei Jahre brauchen. Dem muss man Rechnung tragen. Wenn nun aber alle im Gleichschritt das Gleiche machen sollen, dann wird das für die einen zu viel und für die anderen zu wenig sein.
    Kastan:
    Lassen Sie uns noch einen Ausschnitt aus Ihrem Film "Treibhäuser der Zukunft" anschauen.
    Kahl:
    Nein, dieser Ausschnitt stammt jetzt nicht daraus. Das ist der Beginn eines neuen Projekts, in dem es um die Seite der Kinder geht.
    Kastan:
    Das zeigt dieser Ausschnitt auch: Man muss Kinder gerne haben, man muss sie als Pädagogin und Pädagoge annehmen können.
    Kahl:
    Ja, das ist das Wichtigste. (Filmeinblendung)
    Kastan:
    Ein schöner Ausschnitt aus Ihrem nächsten Film, der den Arbeitstitel "Kinder" trägt. Kinder muss man annehmen können, Kinder muss man gern haben können. Man müsste doch eigentlich von jedem Pädagogen erwarten können, dass er Kinder mag. Aber das ist wohl nicht immer so.
    Kahl:
    Eben, und es geht auch gar nicht nur um die Pädagogen. Wenn man mal die Situation ein wenig weitet, dann kann man doch Folgendes feststellen: Unsere Situation heute ist eine des Übergangs. Das sind zunächst einmal nur Klischeewörter, ich meine damit aber, wir sind im Übergang zwischen einer Produktions- oder Industriegesellschaft und einer Wissens- oder Ideengesellschaft. Wenn man das zur Kenntnis nimmt, dann erkennt man eben auch, dass das eine Gesellschaft ist, in der die Kreativität – wieder so ein Wort! – nur dann möglich ist, wenn Menschen stärker akzeptieren, dass sie unvollkommen sind, dass sie auch geistigen Hunger haben, dass sie nicht fix und fertig angezogen auf die Welt gekommen sind. Einstein wurde einmal gefragt, welchem Umstand er verdanke, was er leisten konnte. Er sagte daraufhin: "Dass ich das ewige Kind geblieben bin!" Diese Dimension – und nicht nur die wirklichen Kinder von einem bis meinetwegen acht Jahren – von Zartheit, von Schwäche, die dem Menschen eigen ist und aus der ganz besondere Stärken entstehen können, ist etwas, das meiner Meinung nach wiederentdeckt werden muss. Diese Entdeckung liegt meiner Ansicht nach auch tatsächlich in der Luft.
    Kastan:
    Lassen Sie uns mal eine Schule aufbauen, wie Sie sich eine Schule vorstellen, auch anhand der Modelle, die Sie bei uns hier im Inland, die Sie aber auch im Ausland wie z. B. in Finnland kennen gelernt haben. Meine erste Frage dazu: Wäre diese Schule eine Ganztagsschule?
    Kahl:
    Ja, wobei "Ganztag" sich ja auch schon wieder wie so eine Drohung anhört: als müsste man da bis abends um neun Uhr bleiben. Nein, eine Ganztagsschule in den skandinavischen Ländern ist eine Schule, die bis 15.00 Uhr oder 15.30 Uhr geht. Häufig gibt es dort allerdings auch die Möglichkeit, dass die Kinder länger bleiben können.
    Kastan:
    Und z. B. noch freiwillig irgendwelche Gruppen besuchen.
    Kahl:
    Ja, und dass es auch für die kleineren Kinder anschließend noch eine Betreuung gibt, die teilweise eben auch Geld kostet. Die Schule ist dort jedenfalls zunächst einmal ein verlässlicher, interessanter Ort, an dem einem beim Betreten andere Sachen ins Auge springen als in Schulen bei uns. In Finnland oder Schweden ist das ganz auffällig: Da sind neben den Klassenräumen so kleine Räume, die wie Teeküchen eingerichtet sind. Dort wird zwischendurch Milch warm gemacht oder das Knäckebrot geholt usw. Als Deutscher denkt man da zuerst einmal: "Was ist denn hier los? Die essen ja alle andauernd!" Aber dann merkt man, dass das vor allem für die kleineren Kinder ein Ausdruck dieser dauernden Care ist, also dieser dauernden Sorge bzw. Umsorgung. Ich habe vor einiger Zeit mal Mats Ekholm gesprochen, lange Zeit Generaldirektor der schwedischen Bildungsagentur Skolverket: Das ist sozusagen die schwedische Evaluationsaufsichtsorganisation. Als er durch Deutschland gefahren ist, habe ich ihn einmal gefragt: "Was ist für Sie der größte Unterschied bei den Schulen zwischen Deutschland und Schweden?" Er sagte mir: "Dass die Schüler in Deutschland nichts zu essen bekommen!" Ich hatte mir zuerst einmal eigentlich eine andere Antwort erwartet. Aber das war bei mir wie so ein Witz, der erst nach zwei Tagen zündet. Denn das ist in der Tat ein Ausdruck für das Gefühl, das man dort den Kindern vermittelt, nämlich das Gefühl: "Ihr seid willkommen! Eure grundlegenden Bedürfnisse gelten hier etwas und dann schauen wir weiter." Dort in den Schulen herrscht wirklich eine fast wohnliche Atmosphäre: Auch die Erwachsenen ziehen sich dort zuerst einmal die Schuhe aus und zwischendrin steht hier mal ein Sofa und dort mal ein Schrank usw. Man ist wirklich gerne in diesen Gebäuden. Das ist schon mal das Erste.
    Kastan:
    Welche Funktion haben denn die Lehrer an einer solchen Schule?
    Kahl:
    Das sind die Erwachsenen. Und das sind Erwachsene, die möglichst nicht sagen: "Ich muss das jetzt durchnehmen, weil es im Lehrplan steht, denn eigentlich würde ich gerne etwas anderes machen." Stattdessen sind das Erwachsene, die sagen: "Das ist jetzt wichtig, das ist interessant!" Natürlich sagen sie den Kindern auch mal, dass sie bestimmte Sachen jetzt lernen müssen, aber sie stehen mit ihrer ganzen Person viel stärker dafür ein. Ich glaube, das ist ganz wichtig, denn es ist wohl wirklich nur eine gezinkte Karte, die Lehrer den Schülern geben, wenn sie sagen, "Wir müssen das jetzt machen!", und das an sich gar nicht vertreten und auch nicht dafür einstehen. Viele Deutsche sind ja erstaunt, wenn sie hören, dass in Finnland auf einen Studienplatz für Lehrer je nach Universität zwischen sieben und zehn Bewerber kommen.
    Kastan:
    Obwohl die Gehälter noch nicht einmal besonders gut sind.
    Kahl:
    Nein, sie sind sogar deutlich geringer als bei uns. Wenn deren Gehälter höher wären, dann wüssten wir natürlich alle gleich, woran das liegt, oder? Nein, sie sind sogar deutlich geringer als bei uns. Aber der Lehrerberuf ist dort aufgrund seiner Tradition nun einmal sehr angesehen. Dieser Beruf ist auch durch und durch ein Lehrerberuf in dem Sinne, dass der Lehrer oder die Lehrerin eine Person ist, die mit den Kindern und Jugendlichen etwas macht, lernt, arrangiert und ermöglicht. Ein Mensch in diesem Beruf ist nicht jemand, der sagt: "Ich als Historiker muss Ihnen dazu Folgendes sagen..." Das ist einfach eine andere Einstellung dort.
    Kastan:
    Der eine oder andere unserer Zuschauer wird jetzt vielleicht denken: "Ja, aber wie ist das dort denn mit der Leistungskontrolle? Irgendwie müssen die Kinder doch auch mal zeigen können, was sie gelernt haben."
    Kahl:
    Ja, und das wollen die Kinder doch auch von sich aus.
    Kastan:
    Wie steht es also mit der Bewertung und der Benotung in Ihrer Schule der Zukunft?
    Kahl:
    Wir werden doch am Ende unseres Gespräches wissen, ob es ganz gut oder doch nicht so ganz gut gelaufen ist. Und vielleicht wissen wir auch, warum. Wir müssen uns aber nachher keine Noten geben. Ich muss Ihnen nicht sagen: "Sie bekommen von mir als Moderator eine Eins minus oder eine Zwei plus usw." Stattdessen könnte ich Ihnen meine Einschätzung mit ganz verschiedenen Worten und Ausdrücken mitteilen. Bei den Zuschauern wird das ähnlich sein. Das heißt, wir brauchen keine Noten, um anschließend bewerten zu können, was wir gemacht haben. Wir machen das im Übrigen ohnehin andauernd: Bereits jetzt, während wir sprechen, überlegen wir uns doch ständig, ob das, was man gesagt hat, auch klar geworden ist, oder ob man unverständlich geblieben ist usw. Dies ist doch eigentlich eine absolute Selbstverständlichkeit.
    Kastan:
    Sie plädieren also für eine andere Art der Bewertung.
    Kahl:
    Ja, natürlich.
    Kastan:
    Also keine von eins bis sechs.
    Kahl:
    Ich bin für eine Art der Bewertungen, die unvermeidlich ist, die man auch selbst so haben möchte. Vor allem geschieht bei der klassischen Benotung ja oft Folgendes: Wenn man auf die Note spekuliert, dann kommt es leicht vor, dass man das, worum es eigentlich geht, nämlich die Sache selbst, aus den Augen verliert. Wenn uns also jemand nach diesem Gespräch hier eine Note geben würde, dann überlegen wir natürlich schon vor und während des Gesprächs andauernd, wie wir eine gute Note bekommen könnten – und nicht, wie wir ein gutes Gespräch führen. Aber es reicht doch eigentlich, ein gutes Gespräch zu führen.
    Kastan:
    Inzwischen sollen ja auch Studenten ihre Professoren bewerten und an den Schulen sollen die Schüler ihre Lehrer bewerten.
    Kahl:
    Sie sollen eine Rückmeldung geben.
    Kastan:
    Sie würden jedenfalls sagen, dass diese reine Notengebung von eins bis sechs das falsche Kriterium ist.
    Kahl:
    Ach, man kann das ruhig auch mal in dieser Weise machen – wenn die Note nicht so wichtig ist, wenn sich die Note also nicht verselbständigt. Man kann also durchaus auch mal eine Bewertung in der Weise abgeben, da muss man ja nicht puristisch sein. Aber wenn das Ganze dazu führt, dass man in der Tat für diese "Notenwährung" lernt und quasi alles in diese "Währung" ummünzt und die Dinge selbst dadurch entwertet werden, dann hat man sich damit keinen großen Dienst erwiesen. Häufig genug wird das ja tatsächlich immer noch so gemacht, das hat eben auch etwas mit einem bestimmten Menschenbild zu tun, nämlich mit der Vorstellung, dass man glaubt, die Kinder und Jugendlichen würden das freiwillig ja nie lernen, sie würden freiwillig gar nicht gut sein wollen.
    Kastan:
    Aber ist nicht genau das der Punkt, dass wir alle schon so stark programmiert sind auf Noten? Ich kenne z. B. die These, dass wir bei PISA nicht so gut abgeschnitten haben, weil sich unsere Schüler einfach nicht wirklich anstrengen, wenn es dafür keine Noten gibt. Das hat man jetzt ja auch partiell verändert, aber vor allem beim ersten PISA-Test, der dann so viele Schlagzeilen verursacht hat, kann ich mir vorstellen, dass das so gewesen ist. Ich kann mich daran erinnern, dass auch wir selbst damals solche Prüfungen hatten, bei denen es hieß, es gäbe darauf keine Noten. Und wie haben wir reagiert? Wir sagten uns: "Na, da müssen wir uns nicht groß anstrengen."
    Kahl:
    Sehen Sie, das ist doch bereits ein Teil der Verwahrlosung.
    Kastan:
    Na klar.
    Kahl:
    Dass man das in so einem Augenblick nicht mehr für wichtig erachtet. Aber ganz konkret dazu eine Anmerkung. Das Max-Planck-Institut hat während der PISA-Studie Folgendes gemacht: Sie haben einem Teil der Schüler gesagt, der Test würde benotet werden, einem anderen Teil, er würde nicht benotet werden. Sie haben einigen gesagt: "Wenn ihr gut seid, dann bekommt ihr zehn Euro!" Anderen haben sie das jedoch nicht versprochen. Es gab keinerlei Unterschiede in den Ergebnissen.
    Kastan:
    Das kann also nicht der Grund gewesen sein für das schlechte Abschneiden bei PISA.
    Kahl:
    Zumindest nicht in dieser Studie. Natürlich sind wir auch manchmal etwas zu schnell Studien-gläubig, aber das sind ja nun wirklich seriöse Leute, die diese Studien gemacht haben.
    Kastan:
    Wie machen denn die Finnen das mit der Benotung?
    Kahl:
    In Finnland ist es so, dass es bis zum vierten Schuljahr generell keine Noten gibt. Ab der siebten Klasse muss es Noten geben. In der fünften und sechsten Klasse können die Schulen selbst entscheiden, ob sie Noten geben oder nicht. Dadurch ist jedenfalls schon mal ein wichtiger Grund dafür gelegt, dass die Noten einfach nicht so wichtig sind.
    Kastan:
    Es gibt also auch dort Noten, aber deren Bedeutung ist eine andere.
    Kahl:
    Ja, die Bedeutung ist eine andere und diese Bedeutung wird immer noch weiter reduziert.
    Kastan:
    Aber irgendwann muss doch jemand die Entscheidung fällen: "Du darfst aufs Gymnasium bzw. du darfst auf die Universität nach der Schule!" Das muss man doch irgendwie an Noten festmachen können.
    Kahl:
    Ja, schon, aber das ist dort nicht so restriktiv. Sehen Sie, jedes Jahr im September bringt ja die OECD eine neue internationale Bildungsstatistik heraus. In jedem September beginnen in Finnland, und nicht nur in Finnland, denn in Neuseeland, in Kanada, in Schweden sind diese Zahlen ähnlich, 73 Prozent der jungen Leute ein Studium. Da denkt man hier bei uns zuerst einmal, man hätte sich verhört oder das sein Druckfehler. Dort herrscht aber ganz einfach sehr stark im Bildungssystem die Vorstellung: "Wir versuchen so viele wie möglich hochzubringen! Und diejenigen, die das nicht schaffen, sind unsere Sorgenkinder." Wir in Deutschland hingegen fragen sehr schnell – so, wie Sie das jetzt auch gefragt haben und wie ich bis vor einiger Zeit möglicherweise auch noch gefragt hätte –, ob wir denn so viele junge Leute an der Universität wirklich brauchen: "Man muss doch darauf achten, wer wirklich ins Gymnasium gehört, wer wirklich studieren soll." Wenn die jungen Leute dann bei uns an die Hochschule kommen, dann hören sie in den "härteren" Fächern zuerst einmal: "50 Prozent von Ihnen gehören nicht hierher! Und spätestens bei der Zwischenprüfung werden Sie das merken!"
    Kastan:
    Das hat man auch schon zu meiner Zeit immer gesagt.
    Kahl:
    Und was sind wir? Wir sind Weltmeister bei den Studienabbrechern! Und nun schauen wir auf Länder, in denen das anders ist. Gut, ich gebe zu, in diesen Ländern ist manches ohnehin ganz anders organisiert und deswegen lässt sich das nur schwer vergleichen. In den USA muss z. B. auch eine Krankenschwester studieren. Aber deswegen ist sie dann auch in der Hierarchie im Krankenhaus gegenüber dem Arzt etwas anders positioniert als eine Krankenschwester bei uns. In Australien ist das Ganze sogar modularisiert worden: Wer dort – ich vergröbere das etwas – als Krankenpfleger seinen Bachelor gemacht hat, der kann später weitermachen und Arzt werden. Das System versucht dort also stärker Anschlüsse zu schaffen.
    Kastan:
    Es will möglichst vielen die Möglichkeit eröffnen, nach oben zu kommen, wenn sie wollen.
    Kahl:
    Ja, genau so ist es.
    Kastan:
    Hier in Deutschland gibt es aber teilweise genau die gegenteilige Diskussion: Bei uns wird gesagt, wir müssten stärker auf die Elite setzen.
    Kahl:
    Ach ja. Wenn Sie hier jemand vom Deutschen Sportbund als Gast sitzen hätten, dann würde der Ihnen doch Folgendes sagen: "Um Spitzensport zu bekommen, müssen wir Breitensport machen! Das ist die beste Investition in den Spitzensport, denn wie soll man denn sonst die Talente finden. Dass außerdem alle ein bisschen sportlich sind und daher gesund bleiben, ist uns auch wichtig." Ich idealisiere das jetzt natürlich, aber so ähnlich würde doch jemand aus dem Sportbereich argumentieren. Warum argumentieren wir in der Bildung nicht auch so? Ich glaube, wir haben immer noch sehr viel Misstrauen gegenüber den Menschen, ob sie wirklich gut sind, ob sie nicht vielleicht doch allesamt nur Schummler sind. Das betrifft aber nicht nur den Bildungsbereich, sondern viele andere Bereiche auch. Bei uns herrscht jedenfalls im Bildungsbereich immer noch das Misstrauen, ob an unseren Schulen nicht möglicherweise 50 Prozent blinde Passagiere mitreisen, die wir finden und rauswerfen müssen. Eine bestimmte Zahl macht das sehr deutlich. Das amerikanische Meinungsforschungsinstitut Gallup hat in, wenn ich mich nicht täusche, 40 Ländern Menschen eine Liste von 19 Institutionen vorgelegt und zu ihnen gesagt, sie sollten doch bitte ankreuzen, welche Institution diejenige ihres größten Vertrauens ist. International wird dabei immer an erster Stelle die jeweilige Bildungsinstitution genannt. In Deutschland liegen die Bildungsinstitutionen jedoch auf dem 13. Platz.

    Gespr. mit Hans Brügelmann /Schreiben wie sie wollen?

    Quelle: www.grundschulverband.de  [Abruf ab 24.2.2006]

     

     

    Dürfen Kinder schreiben, wie sie wollen?

     

    Reinhard Kahl im Gespräch mit Hans Brügelmann

    über freies Schreiben im Anfangsunterricht

     

     

    Kahl:

    Herr Brügelmann, Ihre Kollegin Renate Valtin hat angeblich[1] den Berliner Schulsenator aufgefordert, die Methode „Lesen durch Schreiben“ in den Grundschulen zu verbieten. Sind Sie einverstanden?

     

    Brügelmann:

    Gar nicht. Und ich hoffe sehr, dass Frau Valtin sich vorsichtiger ausgedrückt hat, als in der Presse zu lesen war. Aber Ihre Frage zeigt schon ein Problem: Reden wir darüber, dass Kinder vom ersten Schultag an ihre eigenen Wörter lauttreu verschriften dürfen, oder reden wir über eine sehr spezifische Methode, diese Idee umzusetzen. Wie Jürgen Reichen, [der Urheber der Methode „Lesen durch Schreiben“] und viele andere – ich dachte eigentlich auch Frau Valtin – sehe ich im Übersetzen der eigenen Aussprache in Buchstaben den Schlüssel für Kinder, um unser Schriftsystem zu verstehen. Diese wichtige Funktion des freien Schreibens ist übrigens auch in den großen Forschungsüberblicken in den USA mehrfach und einhellig bestätigt worden.. Anders als Reichen bin ich allerdings dafür, dass Schulanfänger sich auch mit der Orthographie als der „Buchschrift“ oder der „Erwachsenenschrift“ auseinander setzen.

     

    Kahl:

    Es wird ja kritisiert, durch diese Methode gewöhnten sich die Kinder ihre Fehler an.

     

    Brügelmann:

    Wie beim Sprechenlernen  sind Fehler überhaupt nicht schlimm. Über ein beiläufiges korrektes Wiederholen des Gesprochenen lernen die Kinder nach und nach den richtigen Gebrauch der Sprache.

    Darüber hinaus aber finde ich wichtig, dass sie auch auf ihre Weise anfangen in Büchern zu lesen. Man darf die produktive Idee des „Lesens durch Schreiben“ nicht dogmatisieren und Kindern andere Zugänge  vorenthalten. Ein solcher „Spracherfahrungsansatz“, in dem das selbstständige Lesen und Schreiben der Kinder im Vordergrund steht und von ihren Lehrern individuell gefördert und begleitet wird, bildet die Basis für die Entwicklung zu (auch orthographisch) kompetentem Lesen und Schreiben.

     

    Kahl:

    Sie sind also auch dafür, die Reichen-Methode zu verbieten, wenn der Unterricht ganz aufs Schreiben reduziert wird?

     

    Brügelmann:

    Nein, das bin ich keinesfalls, obwohl ich eine andere Vorstellung als Reichen vertrete. Wie ich auch viele andere Ansätze nicht verbieten würde, die ich nicht teile. Ich kenne erfolgreiche Lehrer, die ihren Unterricht ganz unterschiedlich gestalten. Und für jede Methode, jedes Lehrwerk werden Sie einige finden, die erfolgreich sind, und andere, die damit nicht so gut zurecht kommen. Auch Kinder lernen unterschiedlich, sind keine Lernmaschinen die man alle nach einer Methode programmieren könnte.

     

    Kahl:

    Aber es ist doch nicht egal, wie man unterrichtet. Kritiker der Methode „Lesen durch Schreiben“ weisen darauf hin, dass leistungsschwache Kinder beim freien Schreiben Probleme haben und mehr Halt brauchen.

     

    Brügelmann:

    Vorsicht, so einfach ist das nicht! Die Daten muss man sehr sorgfältig lesen und behutsam interpretieren. Wenn Sie sich zum Beispiel die Ergebnisse der aktuell viel zitierten Merkens-Studie in Berlin in einer Tabelle zusammenstellen, dann bekommen Sie ein ganz unübersichtliches Bild, nach welchem Ansatz welche Kinder zu welchem Zeitpunkt die Nase vorn haben. Und außerdem könnte ich Ihnen andere Studien entgegenhalten, die umgekehrt zu „beweisen“ scheinen, dass freies Schreiben erfolgreicher ist als ein lehrgangsgebundener Unterricht. Im Schreibvergleich Bundesrepublik - DDR vor 15 Jahren zum Beispiel war die Rechtschreibung in den Deutschschweizer Reichen-Klassen am Ende der ersten Klasse deutlich besser als in den westdeutschen Fibelklassen. Im freien Text waren sie sogar besser als die DDR-Klassen, die nur im geübten Diktat orthographisch sicher waren.

     

    Kahl: Gut, aber noch einmal: werden die leistungsschwächeren Schüler nicht überfordert?

     

    Brügelmann: Sicher gibt es – wie in jedem Unterricht – auch hier Kinder, die mehr Schwierigkeiten haben. Aber, auch die Streuung war in unseren „Lesen durch Schreiben“-Klassen war nicht nur der Durchschnitt besser, sondern auch die Streuung war geringer, d. h. die langsamen Lerner wurden nicht abgehängt. Das hat auch mein Kollege Falko Peschel in einer sehr sorgfältigen Studie der Lernverläufe seiner Schüler über vier Jahre hinweg zeigen können. Und Erika Brinkmann hat in Schwäbisch Gmünd eine sehr erfolgreiche Förderung schwacher Schulanfänger nach dem Spracherfahrungsansatz praktiziert. Die Evaluation durch das ZNL von Spitzer in Ulm wird demnächst publiziert.

    Nur: Solche Ergebnisse geben keine Garantie, wie auch die positiven Ergebnisse von Metzes „Lollipop“ in Hessen keine Garantie dafür sind, dass alle Kinder lesen und rechtschreiben lernen. Lernen ist kein mechanisch planbarer Prozess und Unterricht kein Programm, das man wie die Produktion von Autos optimieren könnte.

     

    Kahl:

    Wo ist dann der Kern des Problems? Bei der Methode, bei den Lehrern?

     

    Brügelmann:

    In der Pädagogik spielt immer auch das Menschenbild, spielen Werte und persönliche Einstellungen eine wichtige Rolle: Ist mir nur wichtig, dass die Kinder fachliches Wissen und Können möglichst effektiv erwerben, oder auch, wie sie es erwerben. Genau da sehe ich das große Verdienst von Jürgen Reichen. Wie Montessori,  Freinet und andere schon vor dem zweiten Weltkrieg hat er gezeigt, dass man Kinder nicht abrichten muss, damit sie lesen und schreiben lernen, sondern dass sie sich die Schrift selbstständig als Sprache aneignen können, um selbstständig ihre Gedanken und Erfahrungen anderen mitzuteilen. Reichens Problem ist, dass manche Lehrer seine Konzeption als Technik missverstehen. Das ist leider allen großen Pädagoginnen passiert. Und dann sind wir bei dem, was wir auch bei jeder Fibel und jedem Mathebuch erleben: Ideen werden zum Rezept. Was als Hypothese für den eigenen Unterricht hilfreich sein könnte, wird als die „richtige Methode“ und fertige Lösung  missverstanden.

     

    Kahl:

    Aber wenn viele Lehrer so ein Korsett brauchen, ist dann ein guter Lehrgang nicht doch besser als ein gutes Konzept?

     

    Brügelmann:

    Nein, nein! Mit einer Fibel können sie genau so viel Unheil anrichten. Als erstes muss die Schule zum Entwicklungsraum werden, in dem die Kinder als eigenständige Persönlichkeiten respektiert werden. Dazu gehören dann unbedingt auch Lernmöglichkeiten, die sie selbstständig wahrnehmen können. Man muss ja auch sehen, dass Kinder schon mit sehr breit streuenden Schrifterfahrungen in die Schule kommen. Das entspricht Entwicklungsunterschieden von mehreren Jahren. Und da ist freies Schreiben optimal: Die Kinder bestimmen inhaltlich, worüber sie schreiben, sie schreiben auf dem Niveau, das sie beherrschen, und sie bekommen in einer funktionalen Schreibsituation Rückmeldungen, wie sie sich besser verständlich machen könnten. Das ist eine optimale Passung, sozusagen eine Individualisierung "von unten" – die kriegt eine Lehrerin als Differenzierung „von oben“ so nie hin.

     

    Kahl:

    Klingt gut, was aber, wenn die Freiheit in Verwahrlosung umkippt?

     

     

    Brügelmann:

    Verzichten wir auf medizinischen Fortschritt, nur weil es auch schlafmützige oder inkompetente Ärzte gibt? Aber Sie haben Recht: Lehrer brauchen Unterstützung. Ohne eine umfassende, auf Jahre angelegte Fortbildung, ohne Zusammenarbeit in den Kollegien, ohne organisatorische Veränderungen des Schultags, ohne außerschulische Begleitung, z. B. ein reiches Bibliotheksangebot, klappt das in der Breite nicht.

     

    Kahl:

    Und wie wollen Sie diese Maßnahmen der Politik verkaufen, die sehen muss, wie sie ihre Haushalte auch nur für das Alltagsgeschäft einigermaßen zusammen bekommt?

     

    Brügelmann:

    Indem ich auf die italienische Provinz Südtirol verweise. Diese deutschsprachige Region war bei der IEA-Lesestudie Anfang der 1990er Jahre Mittelmaß, bei PISA-2003 ist sie im Lesen sogar einen Punkt besser als der internationale Spitzenreiter Finnland – und viel besser als das wegen seines „leistungsorientierten“ Unterrichts so gerühmte Bayern oder Baden-Württemberg. Und das, obwohl Italien insgesamt mit 476 Punkten im Mittel noch deutlich schwächer abgeschnitten hat als Deutschland. Meine Kollegin Erika Brinkmann,  ich selbst und weitere Kollegen, die auch „freies Schreiben von Anfang an“ als Teil eines übergreifenden Konzepts vertreten, machen dort seit vielen Jahren systematisch Fortbildung. Diese wiederum ist in ein umfassendes Reformkonzept für den Unterricht insgesamt eingebunden. Das ist keine kleine Studie mit zehn oder zwanzig Klassen, sondern ein sozusagen natürliches Experiment. Und es zeigt: Freies Schreiben ist auch in fachlicher Hinsicht erfolgreich – wenn die Randbedingungen stimmen.


    [1]    Diese vom Berliner TAGESSPIEGEL (2.2.2006) und vom SPIEGEL (12/2006) verbreitete Meldung ist inzwischen von Renate Valtin als „Zeitungsente“ und ihr unverständliches Gerücht zurückgewiesen worden.

    Deutschlandfunk Kultur heute Föderalismusstreit

    Fruchtbarer Wettbewerb oder Schaden für die Bildung?

    Reinhard Kahl über die Föderalismusreform

    Moderation: Karin Fischer

    Die Föderalismusreform stellt die größte Verfassungsänderung in der Geschichte der Bundesrepublik seit 1949 dar. Doch besonders die geplante Zuständigkeit der Länder für die Bildung stößt auf Widerstand. Bildungsexperte Reinhard Kahl befürchtet, dass die Zersplitterung und die schwierige Selbstorganisation verstärkt werden. Vor allem aber in der Forschung sei eine Provinzialisierung zu befürchten, betonte Kahl.

    Karin Fischer: Die Föderalismusreform war und ist ein Kraftakt, möglich gemacht nur durch die große Koalition. Die wird die Reform, um die jahrelang gekämpft wurde, am Freitag ins Parlament einbringen. Was uns daran interessiert, sind die Auswirkungen auf Kultur und Bildung, und diese Frage geht an meinen Kollegen Reinhard Kahl, was soll sich konkret im Bildungsbereich ändern?

    Kahl: Ach, es wird sich so viel gar nicht ändern. Es wird eine bestimmte Sache festgeschrieben:. wir haben ja den Föderalismus in der Bildung, das heißt die Bundesländer entscheiden. Und es gibt gewisse Rahmenkompetenzen für den Bund, die werden jetzt zurückgegeben an die Länder.

    Fischer: ...was konkret heißt, der soll sich bitteschön nicht mehr so viel einmischen.

    Kahl: Der soll sich bitte nicht so viel einmischen. Das kommt ja aus einer Zeit, da waren die Länder entweder eher CDU und der Bund war SPD - oder umgekehrt, und die haben sich gegenseitig blockiert. Und das hat sozusagen diesen deutschen Kleinkrieg gebracht. Der soll nun beruhigt werden. Aber man kann nicht sagen, dass es hier eine tragende Idee gibt. Es ist im Grunde ein Kuhhandel. Die Länder sollen die Bundesgesetze nicht mehr so blockieren können wie bisher. Dafür kriegen die Länder in der Bildung die volle Kompetenz. Also was es bisher gab, dass der Bund für die Universitäten eine Rahmgesetzgebung machen konnte, fällt weg. Was es bisher gab, dass über so genannte Modellversuche der Bund zum Beispiel ein Programm für Ganztagsschulen machen konnte, das fällt weg. Und es fällt eine Perspektive weg, dass wir uns in eine Richtung entwickeln, wie die etwas glücklicheren Länder in der Bildung, Kanada, Finnland oder Schweden. also der Weg, dass im Grunde die Zentrale moderiert und dass die Schulen, die Gemeinden entscheiden. Das - wenn man so will - Mittelmanagement, die Länder wird nun gestärkt. Und die Frage ist, braucht die Bildung die Länder oder brauchen die Länder die Bildung?

    Fischer: Ich wollte noch einmal etwas konkreter werden. Also es gibt keine gemeinsame Bildungsplanung mehr von Bund und Ländern. Die Länder werden gestärkt - das haben Sie gesagt - auch in ihren Entscheidungen. Führt das denn zu mehr Eigenständigkeit auch der Institutionen selbst, was ja zu begrüßen wäre, oder eher zu einer Zersplitterung der Bildungslandschaft, die wir in Teilen heute schon haben, die sich aber eventuell verstärken könnte, wenn der Student aus Bayern nicht mehr in Niedersachsen studieren kann, weil er deren Eingangsvoraussetzungen nicht erfüllt?

    Kahl: Naja gut, das ist eine politische Frage und die ist offen. Also auch verquere Entscheidungen können am Ende zur positiven Entwicklung führen. Das kann man nicht wissen. Aber es sieht zunächst doch so aus, dass die Zersplitterung und die schwierige Selbstorganisation verstärkt werden. Also wir haben 16 Länder. Die müssen über die Kultusministerkonferenz sich einigen. In der Kultusministerkonferenz gibt es ein Vetorecht. Das heißt, wenn ein Land nein sagt, findet eine Sache nicht statt. Es sieht sehr nach Blockade aus.

    Fischer: Und nach Pisa hatte ich den Eindruck, dass die Diskussion darauf zuläuft, dass man doch eher eine etwas allgemeinere, allen gemeinsame Politik der sozusagen gleicheren Zustände bevorzugen würde.

    Kahl: Ja, das wäre auch eine Option. Und da könnte man sich an Ländern orientieren, die es machen. Man muss sehen, dass die skandinavischen Länder zum Beispiel in den letzten 15 Jahren im Grunde die politische Zentrale eher etwas entmachtet haben. Aber sie haben nicht so etwas wie die Länder, sie haben den Kommunen, den einzelnen Schulen, den einzelnen Universitäten sehr viel Autonomie gegeben. Die Zentrale sorgt für die Ressourcen und die Zentrale sorgt für einen, na sagen wir mal, konsensorientierten Diskurs. Und daneben gibt es ein drittes Element, das nennt man Evaluation, dass von der Seite freundlich in Schulen und Hochschulen reingeguckt wird, was wirklich passiert. So ein klares Modell würde uns weiterbringen. Jetzt haben wir Folgeprobleme von Folgeproblemen, denn niemand hat die Föderalismusreform ja gemacht, um etwas an der Bildung zu ändern, sondern man hat es gemacht, um die Machtbalance zwischen Bund und Ländern auszutarieren.

    Fischer: Ein Problem, das wir vor allem in der Kultur haben, ist ein eher symbolisches, nämlich das der Repräsentanz in Richtung Brüssel, in Richtung Europa. Wird sich da etwas ändern? Oder wird da eventuell auch ein Problem verschärft?

    Kahl: Ach, ich weiß nicht, ob es bei der Repräsentation so viele Probleme gibt. Aber bei den Universitäten, bei der Forschung gibt es Probleme, weil da geht es immer häufigr um sehr große internationale Projekte, und wie wird Deutschland da repräsentiert? Wenn es von der Kultusministerkonferenz repräsentiert wird, wo jedes Jahr das Präsidium wechselt, dann sitzt da in jedem Jahr ein anderer. Da kommt gar keine richtige Verhandlungskompetenz auf. Da braucht man Spezialisten, die eine Perspektive von fünf, sechs, zehn oder vielleicht auch 20 Jahren haben. Also das, was von vielen Leuten auch jenseits des politischen Hickhacks kritisiert wird, wie zum Beispiel heute von Herrn Landfried, der lange Rektor war einer Universität und Präsident der Rektorenkonferenz, dass das ganze auf Provinzialisierung hinausläuft, das muss man befürchten.

    Hamburger Bildungsdiskurs mit Bernhard Bueb

    Jugendliche brauchen Gemeinschaft«
    Bernhard Bueb (li.) im Gespräch mit Reinhard Kahl
    Bernhard Bueb (li.) im Gespräch mit Reinhard Kahl

    Manche jener Schüler, die er mit dem Abitur am liebsten »zum Mond geschossen hätte«, seien später »fabelhafte Menschen« geworden, erinnerte sich Bernhard Bueb beim Gespräch mit Reinhard Kahl im KörberForum. Und viele der vermeintlichen Hoffnungsträger hätten sich in den späteren Jahren »eher langweilig« entwickelt. Auch er, so Bueb, habe sich eher als klassischer Schulversager empfunden, aber gelernt, sich andere zum Abschreiben der Hausaufgaben gefällig zu machen - eine Fähigkeit, die ihm später, als Leiter der Internatsschule Schloss Salem bei der Einwerbung von Geldern durchaus geholfen hätte.

    Bernhard BuebBeide Diskutanten begaben sich »auf die Suche nach der guten Schule« und kamen rasch überein, dass dieses ein Ort ist, an dem sich Lehrer um die Schüler kümmern und ihnen über die Schulerfahrung hinaus vor allem viel Lebenserfahrung bieten. Dazu gehöre auch die Vermittlung solcher Werte wie Zivilcourage und Nächstenliebe, so Bueb, Lernziele, die nicht im Lehrplan stünden, aber von den Lehrern vorgelebt werden sollten. Dieses sei natürlich eher durch das ganztägige Zusammensein an Internaten möglich. Bueb unterstrich seine Auffassung mit einem Zitat des Pädagogen Friedrich Fröbel, den Gründer der Kindergärten, für den »Erziehung Liebe und Vorbild war und sonst nichts«.

    Gemessen an dieser Idealvorstellung bot der reale Schulalltag viel Anlass zur Kritik. Es sei erstaunlich, wie viel Unterrichtsstoff durch die Schüler einfach hindurchriesele, so Kahl, und wie wenig die Schulen sich bei ihrer Vermittlung selbstkritisch beobachteten. Schüler hätten eine »Sehnsucht nach Autorität und Disziplin« betonte Bueb, aber: »Beides geben wir ihnen nicht.« Für den ehemaligen Leiter der Schule Schloss Salem führt der Weg zur Selbstdisziplin über die diese Disziplin. Sein Vorwurf: »Wir leiden unter einer zu starken Psychologisierung der Pädagogik. Vieles würde leichter, wenn wir zu mehr Disziplin zurückfinden.«

    Bernhard Bueb (li.) im Gespräch mit Reinhard KahlAls weiteres großes Defizit für Jugendliche nannte Bueb die fehlende Gemeinschaft. Hier müssten Schulreformen Abhilfe schaffen, doch in Deutschland würde immer erst über Bildungsstandards diskutiert, aber nicht an den Personen gearbeitet. Dass es auch anders geht, illustrierte Bueb mit Beispielen aus seiner Internats-Praxis. Hier wird nicht nur Engagement in Bereichen außerhalb des Unterrichts erwartet, 14 Tage gemeinsame Erfahrungen mit der Klasse »in der Wildnis« gehörten ebenso zum Pflichtprogramm. »Je anstrengender, desto begeisterter kamen die Schüler zurück.«

    »Der Königsweg der Bildung geht über das Spiel«, betonte Bueb weiter. Sport, Theater, Musik und Tanz förderten viele jener menschlichen Fähigkeiten, die auch sonst im Leben wichtig seien. Doch die Schüler seien bis heute noch nicht aus ihrem akademischen Gefängnis befreit worden. Eine »gute Schule« sei erst erreicht, »wenn sich Lehrer wohl fühlen und erfolgreich arbeiten können und wenn die Schüler das Gleiche sagen«.

    PS 3 WC Pädagogik

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    P.S.
    Sieben Milliarden Euro, rechnete Anfang des Jahres das Institut der deutschen Wirtschaft vor, gehen im deutschen Bildungssystem so offensichtlich durch den Schornstein, dass sich der Weg des Qualms genau verfolgen lässt. Mit 3,7 Mrd. Euro schlägt zu Buche, dass Schüler keinen Schulabschluss erreichen und oder sitzen bleiben. Durch diesen Schornstein verpuffen sieben Prozent aller staatlichen Ausgaben für die berufliche und allgemeine Bildung. Außerdem gehen 3,4 Mrd. durch die Schlote fragwürdiger nachschulischer Reparaturmaßnamen. Häufig wird dort nur die Stigmatisierungskerbe vertieft. Je später die kompensatorischen Bemühungen, desto wirkungsloser bleiben sie. Im Berufsvorbereitungsjahr beträgt die Abbrecherquote 43 Prozent. Von allen Jugendlichen, die eine berufliche Schule verlassen, bleibt ein Fünftel ohne Abschluss. Folgeprobleme und Folgen der Folgen belasten das ganze schlecht eingefädelte System. Was könnte man mit dem Geld alles bewirken, wenn es nicht spät für Reparaturen verschwendet, sondern in die frühe Förderung investiert würde? Weicher Faktor hat Folgen Die Studie des Instituts der Arbeitgeber sieht den Grund für die Effizienzmängel in der »mangelnden Förderkultur im deutschen Schulsystem.« Eine bemerkenswerte Feststellung. Jetzt nimmt auch die betriebswirtschaftliche Fraktion die harten Folgen eines weichen Faktors zur Kenntnis. Man beginnt zu verstehen, dass das exakt bezifferbare, ökonomische Problem nicht nach ökonomischen Parametern gelöst werden kann.

    DRadio Politisches Feuilleton: Lehrer

    Reinhard Kahl – DRadio Kultur – Politisches Feuilleton

    Die Besten sollten Lehrer werden!

       

    Wer verstehen will, welcher Wandel sich für unsere Schulen andeutet, muss ins Kino gehen. Da sind Lehrer seit einiger Zeit Helden. Nichts mehr von wegen Pauker. Leidenschaftliche Erwachsene. Keine Unterrichtsbeamten.

     

    Es begann mit dem französischen Dokumentarfilm „Sein und Haben“ über den Dorfschulelehrer Monsieur Lopez, der Kinder und nicht Fächer unterrichtet.

     Nach diesem verblüffenden Renner in den Kinos kam aus den Studios jenseits des Rheins der Spielfilm: „Die Kinder des Monsieur Mathieu“. Der neue Lehrer verwandelt das deformierte Internat von einem Kriegsschauplatz im Kampf der Generationen in einen wunderbaren Chor.

     

     In Schweden haben von den 8 Millionen Einwohnern mehr als zwei Millionen den Film „Wie im Himmel“ gesehen. Auch der läuft bei uns seit Monaten. Hier geht es um einen Lehrer auf den zweiten Blick. Der weltberühmte Dirigent Daniel Dareus erleidet auf der Bühne einen Zusammenbruch, steigt aus, mietet in seinem Heimatdorf die Alte Schule und übernimmt den Kirchenchor. Die Geschichte dieses Films läuft auf eine Formel vom gelungenen Leben hinaus: Jeder soll seinen besonderen, einzigartigen Ton finden und mit anderen zusammen singen! Individualität und Gemeinschaft!

     

    Und auch in Deutschland werden Filme gedreht, die das große Publikum mit einer anderen Idee von Bildung erreichen und berühren. Der Dokumentarfilm „Rhythm Is It“ läuft und läuft in den Kinos. Wieder  – und das kann jetzt kein Zufall mehr sein – sind Musik und Bewegung das Metier zwischen den Schülern und einem ansteckenden Lehrer. Der Lehrer ist hier ein Choreograph. Er heißt Royston Maldoom, ist Engländer und kann sich derzeit in Deutschland gar nicht vor Einladungen retten.

     

    Der Film „Rhythm Is It“ zeigt Ballettproben mit Teenagern für eine Aufführung der Berliner Philharmoniker von Stravinskis „Le Sacre du Printemps“. Der Fokus liegt auf einer Gruppe von Hauptschülern, Jugendlichen also, denen man gemeinhin wenig zutraut. Da gibt es eine Schlüsselszene. Der Choreograph empfiehlt einigen dieser Schüler auf einer Ballettschule weiter zu machen. Sie hätten das Zeug dazu. Daneben steht deren freundliche, aber grundbesorgte Lehrerin und interveniert: abends noch allein, im Dunklen mit der S-Bahn nach Wilmersdorf?

    Plötzlich wird deutlich, welchen Unterschied es macht, ob ein Lehrer wie dieser Choreograph die Botschaft sendet, „Kommt, ihr seid gut, in Euch steckt viel mehr als ihr selbst glaubt; diese Talente wollen wir herausfordern!“ Oder ob die Lehrperson, dieses Potential eher anzweifelt, und den Schülern eine Art Opfergemeinschaft gegen die Welt anbietet, sie eben nicht heraus-fordert. Sind defensive Lehrer den Zynikern, die Schülern ihre Potentiale absprechen und Kinder beschämen, nicht verwandter als man denkt?

     

    Dagegen die Botschaft eines Royston Maldoom. Er sagt: Ich habe in 30 Jahren noch nie, sei es bei traumatisierten Kindern in Bosnien, bei Grundschülern in London oder in einem Jugendgefängnis jemanden getroffen, der nicht tanzen kann. Kürzlich fügte er bei einem Vortrag auf einem Bildungskongress hinzu: Sollte es Lehrer geben, die nicht glauben, dass jeder ihrer Schüler lernen will und kann, dann sollten diese Erwachsenen die Schwelle zum Klassenraum nicht übertreten. Ein Satz der sitzt. Aber alles hängt davon ab, ob er von einem Royston Maldoom ausgesprochen wird oder in einem Lehrer-Hasser-Buch steht, in dem die notwendige Kritik an Lehrern den Zirkel von  Entwertung und Beschämung weiter ziehen.

     

    Die Frage lautet heute doch: Wie kann man diesen Zirkel verlassen? Das ist auch die Frage danach, wer wird eigentlich Lehrer? Wie werden die Lehrerinnen und Lehrer vorbereitet? Wie sehen wir, die Gesellschaft, die Lehrer? Wie schaffen wir es, dass auch bei uns nicht die Ratlosen, sondern die Besten und vor allem die Leidenschaftlichen diesen Beruf ergreifen? Dass dieses möglich ist, zeigen die Finnen, wo - je nach Hochschule - zwischen sieben und zehn Bewerber auf einen Studienplatz für das Lehrerstudium kommen, obwohl die Pädagogen viel schlechter bezahlt werden als bei uns. Aber der Beruf ist respektiert und die Schüler habe eine Schule in Erinnerung, in der sie ihrerseits respektiert worden sind. Dieser Zirkel bildet eine Aufwärtsspirale.

    Wir bewegen uns in Deutschland heute dazwischen. Auf der einen Seite die bekannten Abwärtsspiralen, wenn sich Lehrer, Schüler und auch Eltern wie Feinde behandeln. Auf der anderen Seite verbreiten sich jetzt Bilder aus solchen Filmen wie „Rhythm  Is It“ wie eine ansteckende Gesundheit. Dass diese Erreger des Gelingens wirken, zeigen Schulen, die sich erneuern. Die nicht nur Methoden auffrischen. Das Gelingen ist vielleicht immer noch der größte Skandal in Deutschland. Aber wenn die Ideen, ja die Haltung eines Royston Maldoom junge Menschen infizieren und genau diese sich entschließen Lehrer zu werden -  das wäre doch schon mal was. Man dürfte sogar das Wort Vorbild – ganz vorsichtig - wieder gebrauchen.

    SWR 2 Über allen Wipfeln ist Jauch…

    Über allen Wipfeln ist Jauch....

    Was steckt hinter dem Boom von Quiz-Shows im Fernsehen
    Von Reinhard Kahl

     SWR Matinee

     

    Kein Tag mehr ohne Fernsehquiz. Auf irgendeinem Kanal wird an jedem Abend gefragt, geantwortet oder geraten. Wer hätte das vor ein paar Jahren gedacht?  Quiz? Das schien doch ein Überbleibsel aus der schwarz-weißen Gründerzeit des Mediums! Heute ist es der Quotenbringer.

     

    Was reizt das Publikum daran? Und worin besteht eigentlich das Programm hinter diesem Programm? Ist es Nostalgie? Geht es um Reminiszenzen ans alte Fernsehen, als bei Frankenfelds, Rosenthals und Kuhlenkampfs ein halbwegs übersichtlicher Wissenskanon abgefragt und damit auch rituell bestätigt wurde?

     

    Oder wird ein neues Ritual der aufziehenden Wissensgesellschaft zelebriert, in der jeder etwas anders weiß und in der es darauf ankommt, sich und sein Wissen so teuer wie möglich zu verkaufen?

     

    Diese These klingt bestechend. Die Konjunktur der Wissensshows im Fernsehen signalisiere eine mentale Wende: Das Ende der Spaßgesellschaft. Nun werde es ernst. Es gehe wieder um was. Wissen sei die harte Währung für künftige Lebensunternehmer. Der neue Rohstoff. Und so weiter. Dieter Hildebrandt lästert: „Über allen Wipfeln ist Jauch, warte nur, bald jauchest Du auch." Günther Jauch hält demnach den Feldgottesdienst vor dem Börsengang, der in der Wissensgesellschaft für Jedermann obligatorisch wird. Man setzt, was in der Birne ist, ein, um damit zu spekulieren. Bluffen ist erlaubt, auch raten oder mal den Joker ziehen. Aber am Ende wird abgerechnet oder der IQ wird direkt gemessen, wie beim bekannten deutschen Intelligenzsender RTL schon mehrfach geschehen. Jeder dritte Apparat war da zuweilen eingeschaltet.

     

    Man muss sich die Inszenierung dieser Sendungen genau ansehen. Alle Akteure blicken in die Tiefe des Flachbildschirms. Nichts mehr von den wechselnden Kulissen eines laufenden Bandes wie einst zum Beispiel bei Rudi Carell. Die heutigen Szenen erinnern an eine Prüfung. Aber es ist eine Prüfung ohne Prüfer. Denn so streng das Setting in der Arena auch ist, so versöhnlich gibt sich der Talkmeister. Es ist der Magier einer besänftigenden Botschaft: „Ist ja alles nur halb so schlimm.“ Er tut keineswegs allwissend. Er ist beileibe kein Oberlehrer, den allerdings auch im alten Quiz ein Hans-Joachim Kuhlenkampf nur augenzwinkernd spielte. Bei Günter Jauch hat man den Eindruck, als müsse er ständig seinen Drang bändigen, die Kandidaten an die Hand zu nehmen, um sie zur richtigen Antwort zu führen.

     

    Jauchs Kollege Jörg Pilawa spielt die Kumpelrolle vollends aus. Ist Jauch der ideale Schwiegersohn, so ist Pilawa der nette Junge von nebenan. Immer einen  Schalk um den Mund. Die Parteilichkeit für den Kandidaten geht bei ihm noch weiter. Am liebsten würde er ständig vorsagen. Im Trailer zu einer seiner Sendungen sagt er zu einer Kandidatin, „am liebsten hätte ich für Sie die Spielregeln geändert.“ Aber über die Regeln ist niemand im Studio mächtig. Das Format ist das Gesetz. Das Format ist nicht nur eine Spielregel. Das Format repräsentiert die Unerbittlichkeit der Welt, in der man gewinnen kann, aber gewöhnlich irgendwann scheitert. Der Moderator setzt gegen diese unsichtbare Macht den tröstenden Kontrapunkt: „Hätte ich vielleicht auch nicht gewusst.“

     

    Am Ende zählt weniger das Wissen als die Performance. Gewiss, für die Kandidaten ist das Wissen wichtig und natürlich geht es auch um den erhofften Geldgewinn. Doch der Wunsch nach Anerkennung und der Kampf um die knappe Ressource Aufmerksamkeit ist die oberste Instanz. Sie liegt über dem Wunsch als Wissensbesitzer zu glänzen oder als Geldbesitzer nach Hause zu gehen.

     

    Der moderne Mensch will nicht mehr in den Himmel kommen, sondern ins Fernsehen,“ sagt der Philosoph Odo Marquard. Die Wissensshow ist eine Himmelspforte. Das demokratische Versprechen lautet: Auch wer nicht prominent ist, hat Zugang. Aber erst mal wird jeder auf sein Wissen hin geprüft. 

     

    Nur, was wird unter Wissen verstanden? Wie wird es hier definiert? Der so genannte Wissenskanon, das also, was man wissen sollte, war in der Frühzeit des Fernsehens fester gefasst. Heute ist im Prinzip jede Frage möglich, ja ihr Gegenstand ist im Grunde irrelevant. Es kommt auf den Schwierigkeitsgrad an. In der ersten Quizkonjunktur kamen die Fragen noch aus einem verbindlichen und Menschen verbindenden Inventar. Über ihm  hätte die Überschrift stehen können: „Was wichtig ist“. Eine Sendung hieß auch, „Was man weiß, was man wissen sollte.“

     

    Ein gutes Beispiel ist Hans Joachim Kuhlenkampfs Show „EWG“.  Sie startete 1964. EWG war zugleich die Abkürzung für die Sendung „Einer wird gewinnen“ und für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Das zusammenwachsende Europa war gewissermaßen das Curriculum, der Lehrplan dieser Sendung. Fernsehen war immer schon Unterhaltung. Aber wie Kunst am Bau gehörten ein paar Prozent Bildungskanon dazu. Am abzufragenden Wissen klebte noch der Stundenplan. Geografie, inklusive Land und Leute, war das Hauptfach. Manchmal ging es sogar noch um die Hauptstadt von Irgendwo. Unter „ferner liefen“ rangierten die Naturwissenschaften. Häufiger kamen Fragen aus Literatur, Theater, Oper und Operette dran. Ein mehr oder weniger fest umrissenes Weltwissen gab den Rahmen.

     

    Und heute? Das Wissen ist eher amorph, tatsächlich ein Rohstoff. „Was ist eine Mansure“?  So klingen letzte Fragen, wenn es zum Schluss um sehr viel Geld geht. Mansure ist dafür geeignet, weil sie praktisch niemand kennt. Die Funktion der Frage liegt nicht mehr im Verbindenden und Verbindlichen des Kanons, sondern im Trennenden. Mit dem Trennenden wird offenbar ein modernes Erfahrungsmuster getroffen. Kandidaten müssen sich – in der Show wie im richtigen Leben - als Betriebswirtschaftler ihrer selbst zu Markte tragen. Sie müssen sich unterscheiden. Dabei agieren sie in der Nähe des Scheiterns. Das ist – psychoanalytisch gesprochen – die Szene, die im Studio, bzw auf dem Bildschirm, immer wieder durchgearbeitet wird. Solch unbewusste Material ist für endlose Serienformate natürlich höchst willkommen – nur noch übertroffen vom Thema der Themen, von der Liebe. Und wer an die Langzeitwirkung dieses Durcharbeitens nicht glaubt, bekommt sofort milde Worte en masse vom Moderator.

     

    Die auf den Wissensmärkten umher Getriebenen finden am Flackern des elektronischen Kamins zu Hause ihr Beruhigungsritual. In diesen Sendungen jedenfalls ist keine Morgendämmerung einer neuen Wissensgesellschaft in Sicht. Am fröstelnden Abend der Industriegesellschaft lässt man Sicherheit und Besitz noch mal hochleben. 

     

    Tatsächlich wird das Wissen in der so genannten „Wissensgesellschaft" unsicherer, aber auch flüssiger und interessanter. Wissen über Atomkraft oder Klimawandel ist nicht eindeutig. Schon deshalb beunruhigt es. Und im Alltag machen uns Gebrauchsanweisungen etwa für das neue Telefon oder für den Bordcomputer im Auto ständig wieder zu Anfängern.

     

    In einer stabilen – oder vermeintlich stabilen Wissenslandschaft leben die Zeitgenossen nicht. Der Soziologe Nico Stehr, einer der Erfinder der Terminus "Wissensgesellschaft" spricht aus diesem Grund inzwischen lieber von einer "zerbrechlichen Gesellschaft“. Seine Analysen zeigen, wie das Wissen seine ihm lange Zeit zugeschriebene Eindeutigkeit und Autorität, die ihm im Quiz noch mal ohne Einschränkungen zuwachsen, im Alttag ebenso verliert, wie in der Politik, in der Wissenschaft, auch in der Wirtschaft.

     

    Keine große Wahrheit spannt sich mehr wie ein Zelt über die Dinge. Wissenselemente werden nicht mehr von oben nach unten abgeseilt. Das Wissen verliert seinen dinglichen Charakter. Dabei zeigt sich auch, dass das feste Wissen häufig ein Prothese war. Das zerbrechliche Wissen ähnelt nun mehr Knoten in unseren Handlungssträngen. Wir knüpfen sie selber. Dass dieses Wissen weniger Halt gibt, ist ambivalent. Jeder muss mehr inneren Halt entwickeln und ist auf mehr Vertrauen anderer angewiesen. Nico Stehr spricht deshalb auch von der „Stagnation der Macht“ und von den „Chancen des Individuums“.

     

    Eine Wissensshow, die diese aufregende neue Konstellation abbildet, haben wir noch nicht gesehen – und dabei wird es wohl auch bleiben.

    WDR 3 Gutenbergs Welt, Über Lehrer & Co.

    Die Wiederentdeckung des starken Kindes

    Von Reinhard Kahl

     

    WDR 3

     

    Besprechung der Bücher:

     

    Lotte Kühn, Das Lehrerhasserbuch / Eine Mutter rechnet ab

    Knauer Taschenbuch, München 2005

    220 Seiten  6.95 EUR

     

    Fee Czisch, Kinder können mehr / Anders lernen in der Grundschule

    Verlag Antje Kunstmann, München 2005

    334 Seiten    xxxx EUR

     

    Donata Elschenbroich, Weltwunder / Kinder als Naturforscher  

     

    Wieder mal schien die Wirklichkeit bestätigen zu wollen, was im Buch gelesen häufig übertrieben klingt. Lehrer sind so schnell dabei Schüler zu beschämen. Die Szene: Eine Lehrerin hält vor ihre Klasse ein Zeitungsfoto hoch und sagt zu einem Kind, das ist doch Deine Mutter. Die Mutter des Schülers hatte sich von hinten fotografieren lassen. Sie ist Buchautorin, wählte aber in diesem Fall ein Pseudonym, denn sie packt aus, was sie mit den Lehrern ihrer vier Kinder erlebt hat. Sie klagt an. Sie polemisiert. Sie ist ungerecht. Die Autorin hat offenbar auch nichts dagegen, dass ihr Manuskript unter dem reißerischen Titel “Das Lehrerhasser Buch“ in einer Reihe mit dem Bahnhasser- und Posthasserbuch erscheint. Dennoch: das Buch bildet vieles aus einem Schulalltag ab, der häufig schrecklich ist. Das Reißerische ist abstoßend. Aber hier ist etwas Besonderes im Spiel. Flugs finden wir uns in der Inszenierung nach einem Skript, das immer noch nicht antiquarisch ist: Der deutsche Bildungskrieg.    

     

    Ein Lehrerfunktionär wollte das Buch erst beim Verlag verhindern, jetzt schreibt er in der Tageszeitung „Die Welt“ von der „Mami“, die wohl glaubt über Lehrer schreiben zu müssen, nur weil sie vier Kinder hat. Auch hier wieder dieser Ton. Das klein machen. Das Beschämen. Für viele Menschen ist dieser misanthropische Sound gleichbedeutend mit Schule. „Auf dich haben wir gerade noch gewartet... Du wirst Dich noch wundern... Ich wundere mich schon über gar nichts mehr...“.

     

    Aber das Lehrerhasserbuch spielt selbst auf der Klaviatur des Ehrabschneidens. Es verzichtet auf Ambivalenz. Gerlinde Unverzagt, das von ihr selbst gelüftete Pseudonym ist Lotte Kühn, hat Ressentiment und Erkenntnis gemischt und dem deutschen Bildungskriege selbst einen weiteren Abschnitt hinzu gefügt. Lehrer sind in dem Buch monochrom Leute mit ausgebeulten Cordhosen, schlechtem Atem und arrogantem Grinsen. Aber es wird auch treffend beschrieben, wie zynische Lehrer mit sicherem Gespür für die Schwächen ihrer Schüler die Leistungslatte so hoch hängen, dass niemand drüber kommt. Andere Lehrer bilden mit ihren Schülern Opfergemeinschaften gegen die schlechte Welt. Auch sie trauen den Kindern und Jugendlichen nicht viel zu, nicht weil sie von ihnen zu viel, sondern weil sie von ihnen zu wenig oder gar nichts verlangen.

     

    Vom Kleinkrieg in der Schule verabschiedet hat sich die Münchner Lehrerin Fee Czisch. Aber man merkt ihrem Buch noch die Kriegsspuren an. Sie hat sich von einer Schule frei gemacht, deren anfängliche Beschreibung derjenigen der Lehrerhasserin gar nicht so unähnlich ist. Fee Czisch, die nach 30 Jahren Schuldienst inzwischen an der Münchner Universität Lehrerstudenten ausbildet, präsentiert zunächst ein ziemlich geschlossenes Weltbild. „Die Schule,“ schreibt sie „scheitert an allen Kindern.“ Wirklich an allen? Kann eine Institution so total sein? Der Schule als einer – wie sie schreibt - „Zwangsanstalt“ setzt sie zunächst große Parolen entgegen: „Erfahrung statt Belehrung“. Aber bald kommt die Autorin zur Beschreibung ihrer ganz persönlichen Schulreform in der Klasse mit ihren Schülern. Dann wird es spannend.

     

    Sie entdeckt, wie die Schüler über Fehler mit sich selbst in Gespräch kommen. Man versteht jetzt genauer, wie der Geist der Perfektion die Institution Schule samt Lehrkörper und Schülern vergiftet. Dann werden in der Schule häufig nur die Fächer, nicht aber die Kinder unterrichtet. Dabei wird das Lernen der Kinder behindert. Auch die Lehrer verhärten. Bald stellt sich dem Leser eine Frage, die beim Gebelle der Lehrerhasserin nicht auf kommen soll. Wie kann man aus diesen zirkulären Prozessen aussteigen?

     

    Fee Czisch hat es versucht und es ist ihr gelungen. Ein Beispiel. Die Lehrerin muss Hofaufsicht führen. Vorher muss sie warten bis ihre Kinder den Klassenraum verlassen haben. Nächste Stunde ist Sport. Sie muss den Raum abschließen. Sie drängelt. Irgendwann entschließt sie sich einem ihrer Schüler den Schlüssel anzuvertrauen. Und zwar immer einem so genannten schwierigen Kind. Der Schlüssel, Teil des großen Abschließsystems ist immerhin 1000 Euro wert. Enttäuscht wurde sie von den Kindern nie. Vertrauen, das gegeben wird, verändert.

     

    Kinder niemals bloß stellen, sie nicht überfordern, das sind Fee Czischs Maximen. Schüler nicht nur unterrichten, möchte man sagen, sondern auch aufrichten. Und dann passiert, woran viele Lehrer nicht glauben. Czisch schreibt: „Hat man stehen gelernt, will man laufen. Kann man sicher laufen, will man Rad fahren. Kann man Rad fahren, will man schnell fahren und sich in die Kurven legen. Schließlich will man freihändig fahren oder zu zweit – Schulkinder lernen so, wenn es sich lohnt.“

     

    Aber dass Menschen lernen wollen, dass sie eigentlich gar nicht anders können, dass man sie dazu so wenig „motivieren“ muss, wie man ihnen nicht beibringen muss, Appetit zu haben, das können viele nicht glauben. Misstrauen in Kinder ist eine noch unzureichend erkannte Hypothek unserer Tradition.

     

    Diese Tradition bricht. Kinder werden als Genies im Lernen entdeckt. Eine Pionierin dieser Entdeckung ist Donata Elschenbroich. Ihr vor Jahren erschienenes Buch über das „Weltwissen der Siebenjährigen“ hat die Sicht vieler Menschen verändert. Auch die von Bundesbildungsministerin Annnette Schavan, die dieses Buch kürzlich als Auslöser für ihren neuen Blick auf Kinder nannte. Das aktuelle Buch von Donata Elschenbroich heißt „Weltwunder – Kinder als Naturforscher“. 

     

    Es knüpft an die aufregenden Erkenntnisse der Säuglingsforschung an. Kinder sind Forscher. Große Naturwissenschaftler wie zum Beispiel der Nobelpreisträger Ilya Prigogyne kennen diese Verwandtschaft. Er schrieb: „Der Wissenschaftler tritt ab. Es tritt das Kind auf.“ Lernen bedeutet ja nicht etwas zu kopieren, sondern zu unterscheiden. Das ist kein passiver Vorgang. Kinder vergleichen ihre Strategien mit den Ergebnissen. Sie bilden Hypothesen. Das zeigt Donata Elschenbroich und – das gefällt so sehr an ihren Büchern – sie liefert ein Protokoll ihrer Recherchen. Beobachtungen vor Ort. Exkurse zu Akteuren der pädagogischen Szene. Erinnerungen an die Kindheit von Naturforschern. Es entsteht ein facettenreiches Bild. Kein perfektes, abgedichtetes System, in dem die Begriffe über die Phänomene herrschen. Auch darin sind die Kinder ja den Forschern verwandt. Sie sind radikale Empiriker und Phänomenologen. Vielleicht ist das etwas, das vielen Lehrern fehlt? Zu häufig präsentieren sie eine fertige Welt. Das löst eher Abwehr im geistigen Immunsystem aus.

     

    Die Bücher von Fee Czisch und Donata Elschenbroich sind sehr persönliche Bücher.  Im Lehrerhasserbuch gibt es zwar häufig das empörte Ich, aber keines das bereit ist sich zu ändern. Wer so bleiben will wie er ist, braucht Feinde. Wer lernt oder gar andere ins Lernen hineinziehen will, braucht Liebe, muss Menschen zumindest mögen. Sonst wird das nichts.                  

     

    NDR Kultur Pisa-Masochismus?

    Reinhard Kahl  NDR Kultur - Pisa-Masochismus?

     

    Pisa war in Deutschland der BSE-Fall für die Bildung. BSE heißt hier: Bildungs-Skandal-Erreger. Die Aufregung hielt lange an. Schließlich sitzt dieser Erreger ja nicht in den Hirnen einiger Rinder, die man schlachten und verbrennen kann. Befallen war und ist das kulturelle Gedächtnis, gewissermaßen das Hirn der Gesellschaft.

     

    Aber nun klingt diese Erregung ab und das ist auch gut so. Es kommt jetzt auf eine andere Haltung an, auf einen – sagen wir - subversiven Konstruktivismus. Und da tut sich einiges in den Schulen. Wenn sich auch die Bildungspolitik häufig in ihrem Standardtanz „Einen Schritt vor und zwei zurück“ übt, so gibt es geradezu eine Gründer- und Umgründer - Stimmung in der Schulszene. Gewiss nicht in allen Schulen.

     

    Und da kommt nun was dazwischen – oder kommt es gerade recht?

    Der UN-Kommissars Vernor Muñoz, hat seinen  Besuch angekündigt. Er überprüft die Menschenrechte in Schulen. Aber, wie gesagt, der Besuch ist erst angekündigt, noch war der Professor aus Lateinamerika gar nicht da, es gibt keinen Bericht, aber schon wieder flackert der deutsche Bildungskrieg auf, der letzte Religionskrieg, der uns geblieben ist. 

     

    Bundesbildungsministerin Annette Schavan spricht von einem Paradigmenwechsel in der Bildung und dass sich das deutsche Bildungswesen in seiner tief greifendsten Reform seit 50 Jahren befände. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft beharrt darauf, dass Chancengleichheit in kaum einem Land so sträflich verletzt würde, wie bei uns. So kann man natürlich hin und her hacken, wo doch beides stimmt, die Diagnose des Skandals und seine beunruhigende und verändernde, am Ende sogar konstruktive Wirkung.

     

    Aber nein. Das geliebte Entweder-oder-Spiel wollen viele nicht lassen. Dass etwas auch in Deutschland gelingen könnte, das ist für manch einen der allergrößte Skandal und zuweilen eine Anfechtung für stabile Weltbilder, in denen die Probleme unsere engsten Freunde geworden sind und man ohne sie einfach fruchtbar einsam wäre. Dieses: Das „Geht doch sowie nicht“ löst innigste Déjà-vu-Gefühle aus. Eine gewisse Misanthropie ist der Kern der deutschen Bildungskrise. Schüler kennen das. Dieses klein machen. Das Beschämen. Für viele Menschen ist der misanthropische Sound gleichbedeutend mit Schule. „Auf dich haben wir gerade noch gewartet... Du wirst Dich noch wundern... Ich wundere mich schon über gar nichts mehr...“.

     

    Könnte es denn sein, dass dieses Kleinmachen bei manch einem ein Verhältnis zu sich selbst geworden ist? Mancher Kommentar klingt irgendwie erwartungsvoll, als solle uns der UN Kommissars das Attest bringen, dass unserer Schulen unheilbar krank sind – bitte alles ganz eindeutig und wehe, wehe, da wird noch etwas anderes entdeckt. 

     

    Kann es denn sein, dass es manchen gar nicht schlecht genug kommen kann, wenn die miese Diagnose wenigstens dazu verhilft Recht zu behalten?  Soll die notwendige Pisa-Erregung nun in einem Anfall von Pisa-Masochismus auf Dauer gestellt werden? 

     

     

    Das Problem ist doch: Wir werden in Deutschland solange nicht viel mehr gute Schulen haben, wie wir sie uns gar nicht vorstellen können. Es wird Zeit etwas mehr ins Gelingen verliebt zu sein. Warum nur fällt uns das so schwer?

     

     

     

     

    Eine Frage des Tons DIE WELT 14.2. 06

    Essay: Eine Frage des Tons

    In Deutschland gehen Schüler in die Schule als müßten sie zum Zahnarzt, hier sind Lehrer die Feinde und Lernbegierige gelten als "Streber"

    von Reinhard Kahl

    Auf euch haben wir gewartet." Klingen diese 23 Buchstaben nach einer Einladung? Etwa so: "Ihr seid schon ganz gut, vielleicht steckt aber noch viel mehr in euch. Laßt uns etwas daraus machen." Oder senden die gleichen Buchstaben, nur anders betont, eine ganz andere Botschaft: "Auf euch haben wir gerade noch gewartet ... Ihr fehlt mir noch ... Ich wundere mich schon gar nicht mehr ... Ihr werdet noch euer blaues Wunder erleben ..." Man kennt diesen misanthropischen Ton.

    Natürlich ist diese Gegenüberstellung allzu schwarz-weiß gezeichnet. Aber die Grundfrage ist doch, ob Kinder freudig begrüßt oder mißbilligend gemustert werden. Ist Erziehung eine Einladung an die nächste Generation, oder wird mit dem sogenannten späteren Leben gedroht und zudem noch behauptet, die Gegenwart sei erst ein Vorspiel?

    In der Bildung und der Erziehung geht es immer auch um das Verhältnis, das die Erwachsenen zu sich selbst und zu ihrer Welt haben. Die Diskurse über Bildung und Erziehung sind zugleich Selbstgespräche der Gesellschaft. Wo kommen wir her? Wo wollen wir hin? Sucht man nach den Talenten der Schüler, glaubt man daran, wie Georg Christoph Lichtenberg sprach, daß "jeder des Jahres wenigstens einmal ein Genie ist", oder sucht man in den Schulen nach den blinden Passagieren, die dort nicht hingehören? Werden Lehrer von ihren Schülern geachtet oder bekriegt? Wie kommt es, daß es in Deutschland immer noch selbstverständlich ist, wenn Schüler die Lehrer als ihre Feinde ansehen? Und warum ist hierzulande eine Figur allzu vertraut, der "Streber"? So als stünden Schülerinnen und Schüler, die ganz einfach nur gut sein wollen, im Verdacht der Kollaboration mit dem Feind.

    Warum gehen in Deutschland viele Kinder zur Schule wie zum Zahnarzt? Andererseits: Warum unterrichten viele Lehrer lieber Fächer statt Kinder, und warum frönen sie immer noch der sogenannten "Osterhasenpädagogik", bei der sie das Wissen verstecken? Warum nur interessieren sich Lehrer häufig so sehr für die Fehler der Schüler und nicht, damit diese daraus lernen, sondern um sie ihnen anzukreiden?

    Apropos Fehler. Auch hier hängt wieder alles von einem scheinbar kleinen Betonungsunterschied ab. "Hast du heute schon wieder Fehler gemacht?" Gereizte Fragen der Eltern. Den Vormittag schon hatte sich die pädagogische Inquisition an Mathe, Latein und Erdkunde erprobt. Nur nichts falsch machen. Das war hinter all dem Stoff die Botschaft der roten Tinte. Die Gegenreaktion der Schüler: Perfektion vortäuschen. Intelligent gucken, statt angeblich dumme Fragen zu stellen. Aber was sind eigentlich dumme Fragen, wenn man lernen will? "Hast du heute schon wieder einen Fehler gemacht?" Die gleiche Frage, nur ganz anders betont, empfehlen Unternehmensberater neuerdings als eine Art Mittagsmeditation. Der Fehler gilt nicht mehr als Sünde, sondern als Auszeichnung, denn am Fehlversuch geben sich Grenzgänger zu erkennen. Wer Neuland betritt, macht Fehler, unweigerlich. Wer keine gemacht hat, der hat sich nicht bewegt. Das ist gewissermaßen ein neues pädagogisches Testament: Der Fehler ist das Salz des Lernens, ja, des Lebens. Man stelle sich vor, die Einzeller hätten einen perfekten Schutz gegen Kopierfehler bei ihrer Vermehrung entwickeln können? Es würde uns nicht geben. Nur die Mutation ermöglicht die Evolution, und nur Fehler ermöglichen das Lernen. Beim Laufenlernen der Kinder kann man es am besten beobachten: Laufen ist aufgefangenes Fallen. Schritt für Schritt. Das bleibt ein Leben lang so. Ein Wechsel von Stabilität und Instabilität. Dem verdanken wir sogar den aufrechten Gang.

    Das Verhältnis zum Fehler läßt heute ablesen, wo wir im Übergang von der Industriegesellschaft zu einer Wissensgesellschaft, oder wie Bundespräsident Horst Köhler sagt, zu einer Ideengesellschaft, stehen. "Macht mehr Fehler und macht sie früher!" Parolen wie diese füllen dem Management-Guru Tom Peters in den USA die allergrößten Hallen. Vorstände der mächtigsten Konzerne zahlen Riesensummen, um sich privatissime von ihm irritieren zu lassen. Irritation ist kostbar. Der verstorbene Meister der Paradoxien und der Systemtheorie, Niklas Luhmann, meinte sogar, Irritationsfähigkeit sei die wesentliche Voraussetzung dafür, Neues lernen zu können. "Ich ernähre mich von meinen Fehlern", meinte Joseph Beuys.

    Noch ein dritter Satz, dessen Sinn sich mit einer anderen Betonung in sein Gegenteil verkehrt. Ein Lehrer sagt über seine Schüler: "Die machen, was sie wollen." Spricht er herablassend oder voller Achtung? Liegt Wollen auf seiner semantischen Karte in der Nähe von Beliebigkeit, Anarchie und Chaos oder in der Nachbarschaft von Staunen, Wünschen und Denken?

    Diese drei großen Unterschiede, die sich aus kleinen Unterschieden - Unterschieden nicht einmal des Wortlauts, sondern nur der Betonung - ergeben, sollen darauf hinweisen, wie sehr es auf Atmosphäre ankommt. Wie wird etwas gesagt oder gemacht? Nicht nur, was wird gesagt oder getan. "Die Welt liegt zwischen den Menschen, und dies Zwischen ist heute Gegenstand der größten Sorge und der offenbarsten Erschütterungen in nahezu allen Ländern der Erde." Das sagte Hannah Arendt, als sie sich am 28. September 1959 in Hamburg für den Lessing-Preis bedankte. Das Wie, das Zwischen, die Atmosphäre, das Vertrauen und das Selbstvertrauen, all das sind Wörter, die für die weichen Faktoren stehen, Wörter, die man in den Präambelsätzen und Leitbildern gern beschwört, denen man aber im Zweifelsfall doch nicht so ganz traut. Immer noch nicht.

    Der Journalist, Autor und Filmemacher ("Wie Schule gelingen kann") lebt in Hamburg

    Artikel erschienen am Di, 14. Februar 2006

    PS 2 Das zerklüftete System

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    Das zerklüftete System

    Auf Euch haben wir (gerade noch) gewartet“

    VORTRAG BEIM KONGRESS

    KINDER ZUM OLYMP

    erscheint jetzt in der Dokumentation des Kongresses

    http://www.kinderzumolymp.de/

     

    15        Vortrag / Lecture

     

    Auf Euch haben wir (gerade noch) gewartet

     

    Reinhard Kahl

    Journalist und Filmemacher, Hamburg, Deutschland / Germany

     

     

    Der Kongreßvortrag wurde frei gehalten. Die Rede wurde mit Ausschnitten aus verschiedenen filmischen Dokumentationen kombiniert. Das geschriebene Manuskript behält den Montagestil bei. Schwerpunkte wurden leicht verändert.

     

    I. Drei Betonungsübungen

     

    In der Bildung hängt vieles von kleinen Unterschieden ab. Zum Beispiel von der Betonung dieses Satzes: „Auf Euch haben wir gewartet.“ Klingen diese 23 Buchstaben nach einer Einladung? Etwa so: „Hey, kommt her! Ihr seid schon ganz gut, vielleicht steckt in Euch aber noch viel mehr als Ihr denkt. Laßt uns was draus machen.“ Oder senden die gleichen Buchstaben, nur anders betont, eine ganz andere Botschaft: „Auf Euch haben wir gerade noch gewartet... Ihr fehlt mir noch... Ich wundere mich schon gar nicht mehr... Ihr werdet noch Euer blaues Wunder erleben...“ Man kennt diesen misanthropischen Sound. Manch einem ist er vertrauter als die freudige Aufforderung zum Zusammenleben.

     

    Natürlich ist diese Gegenüberstellung etwas schwarz-weiß. Die Wirklichkeit spielt sich in Zwischentönen ab. Aber die Grundfrage ist doch, ob Kinder freudig begrüßt oder mißbilligend gemustert werden. Ist Erziehung eine Einladung an die nächste Generation, oder wird mit dem sogenannten späteren Leben gedroht und dabei zudem noch behauptet, die Gegenwart sei erst ein Vorspiel? Die Basis von Bildung sollte das Versprechen von Zugehörigkeit sein und nicht etwa Ausgrenzung, Abwertung und negative Zuschreibung.

     

    Wollen Erwachsene die Kinder und Jugendlichen in ihre Welt hineinziehen? Verstehen sie das unter Erziehung? Oder suchen sie erst mal nach Fehlern? Steht hinter den Handlungen der Erwachsenen diese Geste: „Seht her, das ist unsere Welt“? Dieser Ton verlangt allerdings einen gewissen Stolz der Erwachsenen.

     

    Man ahnt es schon: In der Bildung und der Erziehung geht es immer auch um das Verhältnis, das die Erwachsenen zu sich selbst und zu ihrer Welt haben. Die Diskurse über Bildung und Erziehung sind zugleich Selbstgespräche der Gesellschaft. Wo kommen wir her? Wo wollen wir hin? Was ist derzeit Stand der Dinge?

     

    „Im Grunde ist Bildung doch nichts anderes als das Generationenverhältnis,“ sagt Hartmut von Hentig. Sucht man nach den Talenten der Schüler, glaubt man daran, wie Georg Christoph Lichtenberg sagt, daß „jeder des Jahres wenigstens einmal ein Genie ist“, oder sucht man in den Schulen nach den blinden Passagieren, die dort nicht hingehören? Werden Lehrer von ihren Schülern geachtet oder bekriegt? Wie kommt es bloß, daß es in Deutschland immer noch irgendwie selbstverständlich zu sein scheint, daß Schüler die Lehrer als ihre Feinde ansehen?

     

    Und warum ist hierzulande eine Figur allzu vertraut, für die man anderswo zuweilen ein Lehnwort aus dem Deutschen benutzt – der „Streber“? Als stünden Schülerinnen und Schüler, die viel wissen und die in der Schule ganz einfach gut sein wollen, im Verdacht der Kollaboration mit dem Feind.

     

    Warum gehen in Deutschland viele Kinder zur Schule wie zum Zahnarzt? Andererseits: Warum unterrichten viele Lehrer lieber Fächer statt Kinder und Jugendliche, und warum frönen sie immer noch der sogenannten „Osterhasenpädagogik“, bei der sie das Wissen verstecken, um ihre Schüler danach suchen zu lassen? Warum nur interessieren sich Lehrer häufig so sehr für die Fehler der Schüler, und zwar nicht, damit diese daraus lernen, sondern um sie ihnen anzukreiden?

     

    Apropos Fehler. Auch hier hängt wieder alles von einem scheinbar kleinen Betonungsunterschied ab. „Hast Du heute schon wieder Fehler gemacht?“ Vielleicht haben Sie ähnliche Erinnerungen? Gereizte Fragen der Eltern beim Mittagessen. Den Vormittag schon hatte sich die pädagogische Inquisition an Mathe, Latein und Erdkunde erprobt. Nur nichts falsch machen! Das war hinter all dem Stoff die Botschaft der roten Tinte. Die Gegenreaktion der Schüler: Perfektion vortäuschen. Intelligent gucken, statt angeblich dumme Fragen zu stellen. Aber was sind eigentlich dumme Fragen beim Lernen?

     

    „Hast Du heute schon einen Fehler gemacht?" Die gleiche Frage, nur ganz anders betont, empfehlen Unternehmensberater neuerdings als eine Art Mittagsmeditation. Sie dient nun einer ganz anders temperierten Selbsterforschung. Habe ich schon etwas gewagt? Der Fehler gilt nicht mehr als Sünde, sondern als Auszeichnung, denn am Fehlversuch geben sich Grenzgänger zu erkennen. Wer Neuland betritt, macht Fehler, unweigerlich. Wer keine gemacht hat, der hat sich nicht bewegt. Diese Eintragungen von Fehlern im mentalen Paß sind für Scouts kein Makel. Wer in diesem Paß keine Antragung hat, der hat schlechte Karten. Das ist gewissermaßen ein neues pädagogisches Testament: Der Fehler ist das Salz des Lernens, ja, des Lebens. Man stelle sich vor, die Einzeller hätten einen perfekten Schutz gegen Kopierfehler bei ihrer Vermehrung entwickeln können? Es würde uns nicht geben. Nur die Mutation ermöglicht die Evolution und nur Fehler ermöglichen das Lernen. Beim Laufenlernen der Kinder kann man es am besten beobachten: Laufen ist aufgefangenes Fallen. Schritt für Schritt. Das bleibt ein Leben lang so. Ein Wechsel von Stabilität und Instabilität. Dem verdanken wir sogar den aufrechten Gang.

     

    Das Verhältnis zum Fehler läßt heute ablesen, wo wir im Übergang von der Industriegesellschaft zu einer Wissensgesellschaft, oder wie Bundespräsident Horst Köhler sagt, zu einer Ideengesellschaft, stehen. „Macht mehr Fehler und macht sie früher!“ Solche Parolen füllen dem Management-Guru Tom Peters in den USA die allergrößten Hallen. Vorstände der mächtigsten Konzerne zahlen Mordshonorare, um sich privatissime von ihm irritieren zu lassen. Irritation ist kostbar. Der verstorbene Meister der Paradoxien und der Systemtheorie, Niklas Luhmann, meinte sogar, Irritationsfähigkeit sei die wesentliche Voraussetzung dafür, Neues lernen zu können.

     

    „Macht mehr Fehler und macht sie früher!“ Daß dieser Ruf heute von den Feldherrenhügeln im Unternehmerlager, gewiß nicht aus jedem Betrieb, kommt, das hätten wir uns damals in der Schule nicht träumen lassen – und wir haben viel geträumt im Unterricht. Aber es liegt ja auf der Hand. Wenn es darum geht, eine Atmosphäre für Kreativität zu schaffen, wenn die Hürden vor dem Wagnis, selber zu denken, genommen werden sollen, dann muß die Angst vor dem Fehler abgebaut werden. Denn nur was schief gehen darf, das kann gelingen. Natürlich geht es nicht darum, alte dumme Fehler zu wiederholen, sondern neue, intelligente Fehler zu wagen. „Ich ernähre mich von meinen Fehlern“, sagte Joseph Beuys.

     

    Noch ein dritter Satz, dessen Sinn sich mit einer anderen Betonung in sein Gegenteil verkehrt. Ein Lehrer sagt über seine Schüler, „die machen, was sie wollen.“ Spricht er herablassend oder voller Achtung? Liegt Wollen auf seiner semantischen Karte in der Nähe von Beliebigkeit, Anarchie und Chaos oder in der Nachbarschaft von Staunen, Wünschen und Denken, also in einer Landschaft, wo Differenzen als interessant und wertvoll geschätzt werden, wo Ideen gedeihen, weil jede Nuance wertvoll ist, weil sie folgenreich sein könnte.

     

    Diese drei großen Unterschiede, die sich aus kleinen Unterschieden – Unterschieden nicht mal des Wortlauts, sondern nur der Betonung – ergeben, sollen darauf hinweisen, wie sehr es auf die Atmosphäre ankommt. Wie wird etwas gesagt oder gemacht? Nicht nur, was wird gesagt oder getan. Dinge entstehen zwischen den Menschen und zwischen ihren Interessen und den Objekten des Interesses. "Die Welt liegt zwischen den Menschen, und dies Zwischen – viel mehr als, wie man häufig meint, die Menschen oder gar der Mensch – ist heute Gegenstand der größten Sorge und der offenbarsten Erschütterungen in nahezu allen Ländern der Erde.“ Das sagte Hannah Arendt, als sie sich am 28. September 1959 in Hamburg für den Lessing Preis bedankte. Das Wie, das Zwischen, die Atmosphäre, das Vertrauen und das Selbstvertrauen, das alles sind Wörter, die für die weichen Faktoren stehen, Wörter, die man in den Präambelsätzen und Leitbildern gern beschwört, denen man aber im Zweifelsfall doch nicht so ganz traut. Ich werde diese Gedanken mit Hannah Arendts Hilfe noch einmal aufnehmen. Aber zuvor eine erste Exkursion in den Alltag einer gelungenen Schule. Wenn sie auch noch nicht in der Mehrheit sind – es gibt sie, die gelungenen Schulen.

     

     

    II. Exkursion zum Bodensee

     

    Wir suchen bei unserer Expedition ins pädagogische Neuland nach einer Schule, die nicht im Verdacht steht, von den Verhältnissen verwöhnt zu werden. Keine Vorzeige- oder Ausnahmeschule. Vielleicht auch eine Hauptschule, die gelingt. In den Großstädten ist sie die Restschule der Bildungsverlierer. Aber auch in Süddeutschland, wo auf dem Land noch die Hälfte der Kinder nach der vierten Klasse auf der Hauptschule bleibt, wie man bezeichnender Weise sagt, ist sie längst nicht mehr die Hauptschule.

     

    Wir fahren zur Bodensee-Schule in Friedrichshafen. Eine katholische Grund- und Hauptschule, an der die Hälfte der Schüler in einer oben draufgesetzten 10. Klasse, der „Werkrealschule,“ den Realschulabschluß schafft. Aber lassen wir diese Heraldik des zerklüfteten deutschen Bildungssystems. Gehen wir gleich in den Unterricht.

     

    Der Lehrer ist morgens als erster in der Klasse. Wie ein Gastgeber bereitet er sich und den Raum vor. Die meisten Schüler kommen ebenfalls vor Unterrichtsbeginn und legen los. Einfach so, ohne Gong, als wäre das Lernen ihre ureigene Sache. Eine Idylle? Nein. Es ist der Alltag in der Klasse von Lehrer Franz Gresser. Wir erleben hier das ganz normale Zivilisationsniveau eines Büros. Aber wir sind in einer Schule, und die Besucher trauen ihren Augen nicht. Denn wir sind in einer siebten Klasse, die Schüler in der Pubertät. Das sei eigentlich der Tiefpunkt, hört man überall – 7. Klasse Hauptschule, oh je! Aber vom pädagogischen Lazarett ist hier nichts zu spüren. Woran liegt das? „Wenn du merkst, daß du auf einem toten Pferd sitzt, steig ab!“ Mit dieser Weisheit der Dakotaindianer hat sich Alfred Hinz Mut gemacht. Hinz war bis zum Sommer 2005 der Schulleiter. Nun verbreitet er als Pensionär seine Ideen. Die Fächer wurden an der Bodensee-Schule abgeschafft. An ihre Stelle treten Freiarbeit, vernetzter Unterricht und Projekte. Freiheit und Struktur sind das Yin und Yang dieser Schule. Die Grundidee heißt vorbereitete Umgebung. Die Wände in den Klassen sind voller Regale mit Arbeitsmaterial, aus dem sich die Schüler bedienen. Die ersten drei Stunden sind jeden Tag FSA, Freie Stillarbeit. Jeder Schüler macht in dieser Zeit etwas anderes. Der eine Deutsch, der andere Geometrie. Und alle arbeiten auf unterschiedlichem Niveau. Jeder hat seinen eigenen Lehrplan. Den hat keine Zentrale geschrieben. Er entsteht im Dialog des Lehrers mit seinen Schülern, wie eine aus lauter Dominosteinen zusammengelegte Figur. Die Steine sind bei allen Schülern die gleichen, aber es entstehen andere Figuren. Wer sich mit bestimmten Aufgaben lange schwer tat, erledigt vielleicht ein Jahr später im gleichen Metier ein großes Pensum mit links. Oder er bleibt langsam. Lernprozesse sind alles andere als linear. Also lernt jeder Schüler auf seine Weise. Das leuchtet ein. Aber wie wird das pädagogische Babylon verhindert, wenn jeder macht, was er will?

    Lehrer Gresser schmunzelt nachsichtig. Solche Fragen hört er dauernd. Wie schaffen sie nur diese Ruhe in der Klasse, wenn jeder etwas anderes macht? „Eben“, sagt er. „weil jeder seine Sache macht. Jeder weiß, er macht das Richtige für sich und ist dann auch zufrieden und weiß, daß ich mich um ihn kümmere.“ Auf jedem Tisch liegt ein Strecker, ein linealgroßes Holz mit dem Namen des Schülers. Wer Gressers Hilfe braucht stellt den Strecker aufrecht.

     

    Wenn es für die alte Schule typisch war, daß die Schüler den Lehrer verstehen sollten, so ist es für diese Art Schule typisch zu machen, daß der Lehrer versucht, seine Schüler zu verstehen. Das ist mehr als eine pädagogische Methode. Es geht um das Eigene der Schüler, es geht darum, ihre Eigenzeit zu finden, ihre besonderen Fähigkeiten auszuloten und an ihren Schwächen zu arbeiten. Respekt vor dem Eigensinn scheitert im normalen Unterricht oft schon dran, daß er als Quelle möglicher Störungen vorsorglich bekämpft wird. Das ist für Alfred Hinz das Grundübel der alten Schule. „Ich kann doch nicht morgens einen Einheitsbrei über die Kinder gießen und sagen: jetzt lernt euch! – würde man im Ruhrgebiet sagen.“ Dort ist Hinz im katholischen Milieu aufgewachsen. Die Quelle seiner pädagogischen Inspiration ist durchaus religiös. Kinder sind Funken Gottes. Individualität ist etwas Göttliches. Es ist ein Vorteil, verschieden zu sein. Die Unterschiede sind keine Abweichungen von der Norm oder vom großen Ideal. Sie sind keine Gestalten der Erbsünde, wie eine andere Interpretation des Christentums nahelegt. „Das Entscheidende“ sagt Hinz, „ist, daß wir kapiert haben, daß jedes Kind für sich einmalig ist und nicht noch einmal auf der Welt existiert.“

     

    Unlängst kam Bernhard Bueb, Leiter des Edelinternats Salem, das keine 30 Kilometer entfernt hinter den Hügeln liegt, für zwei Tage zum Hospitieren an die Bodensee-Schule. „Die machen viel besseren Unterricht als wir“, attestierte er und fährt fort: „Was ich an der Bodensee-Schule erlebt habe, ist Begeisterung von Kindern, Arbeitshaltung, Konzentration – alles Eigenschaften, die selten sind in der Schule.“ Die Lehrer arbeiten dort allerdings mehr, aber „mit mehr Freude,“ hat Bueb beobachtet, „sie empfinden die Schule nicht als Belastung.“

    Lehrer Gresser führt die siebte Klasse schon zwei Jahre und wird sie noch zwei Jahre behalten. Das Unterrichtsmaterial in den Regalen hat er mit seinen Kollegen selbst erstellt. Ohne Austausch mit den Kollegen in der Schule ließe sich diese „vorbereitete Umgebung“ gar nicht bauen. Es gibt Arbeitsplätze für Lehrer und einen Raum voller Ordner mit Unterrichtsvorbereitungen. Darin, so Alfred Hinz, lagere das Gedächtnis der Schule. Sie ist mit anderen, ähnlich arbeitenden Schulen im Austausch. Dem Konzept der Bodensee-Schule folgen inzwischen mehr als 20 katholische Schulen im Südwesten, darunter auch Gymnasien, die sich allerdings mit diesen neuen pädagogischen Ideen etwas schwerer tun. Marchtaler Plan heißt das Konzept, benannt nach einer Tagungsstätte.

     

    Der Besucher verläßt die Schule in Friedrichshafen mit gemischten Gefühlen. Ist da nicht noch ein Geheimnis? Man hat einen sozialen Organismus erlebt, der auf seine Weise ein Individuum ist. Die Schule, schon Anfang der siebziger Jahre von Eltern gegründet, hat ihre Biographie. Sie läßt sich nicht in Blaupausen für soziales Engineering übersetzen, ohne daß dabei etwas Entscheidendes verlorengeht. Die Hoffnung, daß es den Stein der Weisen für die richtige Schule geben könnte, muß man enttäuschen. Gelungene Organisationen zu kopieren, wäre so etwas wie das Klonen von Individuen. Es ist nicht nur ethisch fragwürdig, es wird dank der unvermeidlichen Kopierfehler gar nicht gelingen, vor allem aber entspringt schon die Absicht dem fatalen Wunsch, das Wagnis der eigenen Biographie zu vermeiden. Das gilt für Personen wie für Organisationen.

     

     

    III. Hannah Arendt: Ein Jemand sein

     

    Hannah Arendt geht es um das Wagnis, ein Jemand zu sein, nicht nur eine Rolle zu spielen oder zu funktionieren. Denn „jeder Mensch steht an einer Stelle in der Welt, an der noch nie ein anderer vor ihm stand,“ schrieb sie in ihrem Buch Vita activa, das sie ursprünglich Amor Mundi, Liebe zur Welt, nennen wollte. Erst aus dieser nicht weiter reduzierbaren Verschiedenheit und Eigenheit eines jeden, Hannah Arendt nannte sie die Pluralität der Menschen, ergibt sich die Möglichkeit zu Verständigung. Wenn alle identisch wären oder sein sollten, wäre Verständigung weder nötig noch denkbar. Der Preis von Pluralität allerdings ist eine ursprüngliche Fremdheit: „Das Risiko, als ein Jemand im Miteinander in Erscheinung zu treten, kann nur auf sich nehmen, wer bereit ist, im Miteinander unter seinesgleichen sich zu bewegen, Aufschluß zu geben, wer er ist und auf die ursprüngliche Fremdheit dessen, der durch Geburt als Neuankömmling in die Welt gekommen ist, zu verzichten.“

     

    Auf seine ursprüngliche Fremdheit verzichten! Ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke. Im Gegensatz zu unserer Tradition sagt er, am Anfang war kein Paradies! Aber mit dem Aufbau einer gemeinsamen Welt läßt sich diese ursprüngliche Fremdheit überwinden! Der Misanthrop allerdings ist ein Mensch, der nicht auf seine Fremdheit verzichten mag. Er flüchtet aus der offenen Welt und sucht Unterschlupf, häufig leider in den beschützenden Werkstätten der Erziehungsinstitutionen. Auch dort bleibt er ein Vereinzelter und Fremder, er wird wehleidig und treibt sein menschenverachtendes Unwesen. In ihrer Lessing-Rede charakterisierte sie den Misanthropen als einen, „der niemanden findet, mit dem er die Welt teilen möchte, daß er niemanden gleichsam für würdig erachtet, sich mit ihm an der Welt und der Natur und dem Kosmos zu erfreuen.“

     

    Personen, also Menschen, die es wagen, ein Jemand zu sein und sich mit anderen anzufreunden, treffen nicht unvermittelt aufeinander. Sie spielen ihre Bälle über Bande. Mit Hannah Arendt möchte man sagen, über Freundschaftsbande. Denn, man muß diesen großen Satz aus ihrer Lessing- Rede wiederholen, "die Welt liegt zwischen den Menschen, und dieses Zwischen –  viel mehr als, wie man häufig meint, die Menschen oder gar der Mensch, ist heute Gegenstand der größten Sorge." Das Zwischen ist der Raum, in dem die gemeinsame Welt gebildet wird. Das Zwischen verlangt Differenz, weder einheitlich noch das Dogma der einen und einzigen Wahrheit." Jede Wahrheit, ob sie nun den Menschen ein Heil oder ein Unheil bringen mag, ist unmenschlich im wörtlichsten Sinne, weil sie zur Folge haben könnte, daß alle Menschen sich plötzlich auf eine einzige Meinung einigten, so daß aus vielen einer würde, womit die Welt, die sich immer nur zwischen den Menschen in ihrer Vielfalt bilden kann, von der Erde verschwände."

     

    Die Bedrohung ihrer eigenen Welt durch Wahrheitsbesitzer gehört zu den Traumatisierungen vieler Menschen in der Schule. Dabei wäre die Schule als gemeinsamer Raum der Generationen der geeignete Ort, um im Spiel mit Unterschieden Neues zu erzeugen. Denn die generative Kraft etwas anzufangen, was noch nie war, baut sich im Generationsverhältnis auf. Wenn auch Erziehung als Handlung der Erwachsen für Hannah Arendt im Kern eine konservative Angelegenheit ist, so ist das Generationenverhältnis alles andere als konservativ: „Es geschieht nichts Neues unter der Sonne, es sei denn, daß Menschen das Neue, das in die Welt kam, als sie geboren wurden, handelnd als einen neuen Anfang in das Spiel der Welt werfen."

     

    Etwas anzufangen und sich zu exponieren wäre ein Maß für das Erwachsensein. Emphatisch entwickelte Hannah Arendt dieses Bild an Rahel Varnhagen, einer deutschen Jüdin im 18. Jahrhundert: „Ungebunden, vorurteilslos, gleichsam in der Situation des ersten Menschen, ist sie gezwungen, sich alles so anzueignen, als ob es ihr zum ersten Male begegnete. Worauf es ihr ankam, war, sich dem Leben so zu exponieren, daß es sie treffen konnte wie Wetter ohne Schirm.“

     

    Wie weit wir von diesem Mut entfernt sind, zeigt der Klappentext der aktuellen Ausgabe ihres Buches „Rahel Varnhagen – Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“. Auf dem Deckel zitiert der Verlag diese Passage folgendermaßen: "Worauf es ihr ankam, war, sich dem Leben so zu exponieren, daß es nie treffen konnte wie Wetter ohne Schirm." Aus „sie“ wurde „nie“. Die Veränderung nur eines Buchstabens reicht für die völlige Verdrehung des Sinns.

     

    Für Hannah Arendt war, wie für Immanuel Kant, das Erwecken der Vernunft eine zweite Geburt, ein selbst gemachter Anfang gegen das Gelebtwerden. Denn die erste Geburt haben wir uns nicht ausgesucht. Die erste Geburt war für Kant ein "Skandal des Anfangs", den Menschen nur kompensieren können, wenn sie sich die Freiheit zu weiterem Anfangenkönnen nehmen. Die Urszene des Anfangens ist das Staunen. Auf sie folgt die Kraft des Anfängers, der selbst anfangen kann. Und weil jeder einen anderen Anfang hat, ja, ein anderer Anfang ist, weil jeder Mensch ein Dissident ist, nur deshalb kann er Individuum sein. Seine Unvollkommenheit ist die Voraussetzung für seine Einzigartigkeit.

     

    „Die Art und Weise wie der Anfangende das Neue in die Wege leitet, wird für ihn selbst, wie für alle, die sich ihm anschließen, um das Unternommene zu Ende zu führen, zu einem Gesetz, das die Handelnden wohl modifizieren, aber nicht mehr schlechterdings brechen können, ohne das Begonnene zu ruinieren. Diesen Sachverhalt kann man auch so formulieren, daß man sagt: „Der Anfang ist das Prinzip jedes Handelns, als Prinzip hält er sich durch, auch wenn er selbst längst vergangen ist, beseelt von nun an alles, was auf ihn folgt, bleibt sichtbar in der Welt."

     

    Wenn Erziehung den besonderen Anfang, der ein jeder Mensch ist, stärken und weiter treiben soll, wenn es darum geht, den Anfang zu einem unverwechselbaren Individuum zu kultivieren, dann kann sich Erziehung nicht in Belehrung, in bloßer Vermittelung von Wissen erschöpfen. Erziehung besteht nicht in den Sachen und Stoffen, die verbreitet oder umgefüllt werden, sie besteht in der Art des Handelns, Denkens und Sprechens, in der Erwachsene agieren und auf Kinder wirken. Man könnte altmodisch sagen, Erziehung wirkt durch Vorbilder. Sie wirkt weniger über das Was als vielmehr durch das Wie. Hinter dem Was, den Sachen und Ur-Sachen, hinter dem Stoff der auskristallisierten Welt kann man sich verstecken. Hinter sein Wie kann keiner zurücktreten. Darin offenbart sich die Person, ja, es ist die Person. Mit ihrer besonderen Art verbreiten Menschen Atmosphäre; und aus Atmosphären kann etwas Festes auskristallisieren.

     

    Menschen brauchen also nicht Erziehung, um den Anfängerstatus bald hinter sich zu lassen, sondern um ihn überhaupt erst zu gewinnen. Man könnte sagen, das Ziel wäre, Anfänger auf immer höheren Niveau zu werden. Das ist ein Synonym dafür, eine Person, ein Jemand zu sein. Sich niemals damit zu begnügen, ein Funktionär zu sein, ein Untermieter in der Welt.  Aber dieses Risiko, „ein Jemand zu werden“, wird nur der auf sich nehmen, der vertraut, der Urvertrauen erfahren hat. Deshalb muß Erziehung ein freundliches Willkommen in der Welt bereiten. Erziehung ist das Gegenteil jener verächtlichen und abweisenden Begrüßung, die dem Neuankömmling mitteilt, ein falscher zu sein, der erst ein ganz anderer werden muß, um in die Gunst von Anerkennung zu gelangen. Auch die Botschaft, ihr seid eigentlich überflüssig, gebraucht werdet ihr nicht, ist ein furchtbares Gift, das Gegenteil dieses In-die-Welt-Hineinziehens. Es entzieht den Kindern die Welt.

    Vieles, was zu Recht an unserer Erziehungstradition verurteilt wird, sollten wir lieber Entziehung als Erziehung nennen.

     

    Die angemessene Begrüßung für die Neuankömmlinge, wie Hannah Arendt die Menschenkinder nannte, ist eine Frage, die uns gar nicht geläufig ist. „Wer bist Du?" Wie würde eine Schule aussehen, in der diese Frage vielfach variiert würde? Statt dessen werden auch Kinder schon gefragt: „Was kannst Du", „Wie hoch ist dein IQ?"

     

    Erziehung, und damit das Erwachsenwerden, muß von der verbreiteten Zwangsvorstellung, die nächste Generation müßte einer fertigen Welt angepaßt oder für sie qualifiziert werden, befreit werden. Die Idee einer fragilen Welt sollte an die Stelle treten. Das ist eine Welt, die wir brauchen und die uns braucht.

     

    "Erziehen tun wir im Grunde immer für eine aus den Fugen geratene oder geratende Welt, denn dies ist die menschliche Grundsituation, in welcher die Welt von sterblichen Händen geschaffen ist, um Sterblichen für eine begrenzte Zeit als Heimat zu dienen. Weil die Welt von Sterblichen gemacht ist, nutzt sie sich ab; und weil sie ihre Bewohner dauernd wechselt, ist sie in Gefahr, selbst so sterblich zu werden wie ihre Bewohner. Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muß sie dauernd neu eingerenkt werden. Die Frage ist nur, daß wir so erziehen, daß ein Einrenken überhaupt möglich bleibt, wenn es auch natürlich nie gesichert werden kann. In der Erziehung entscheidet sich, ob wir die Welt genug lieben, um die Verantwortung für sie zu übernehmen und sie gleichzeitig vor dem Ruin zu retten, der ohne Erneuerung, ohne die Ankunft von Neuen und Jungen, unaufhaltsam wäre. Und in der Erziehung entscheidet sich auch, ob wir unsere Kinder genug lieben, um sie weder aus unserer Welt auszustoßen und sich selbst zu überlassen, noch ihnen ihre Chance, etwas Neues, von uns nicht Erwartetes zu unternehmen, aus der Hand zu schlagen, sondern sie für ihre Aufgabe der Erneuerung einer gemeinsamen Welt vorzubereiten“.

     

     

    IV. Die Schulleiterin, die etwas wagt

     

    Wie sehr die Person der Erwachsenen das Klima und die Wirksamkeit einer Schule prägen, wird an kaum jemanden so deutlich wie an Enja Riegel, der inzwischen pensionierten Leiterin der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden. Inzwischen gründet sie eine neue Schule. Die Helene-Lange-Schule war 1905 das erste Gymnasium in Deutschland, das Mädchen zum Abitur zuließ. Mitte der 80er Jahre konvertierte sie zu einer Gesamtschule ganz eigner Art, mit großen Projekten, viel Theater und einem Drittel weniger Fachunterricht, als erlaubt ist. Bei PISA glänzte diese Schule als eine der besten in Deutschland, noch weit über den Werten von Finnland. Da fragt man sich, so gute Ergebnisse trotz oder wegen des Eigensinns dieser Schule? Die Antwort ist offensichtlich. Die eigenwillige Biographie ist das Erfolgsgeheimnis. Das betrifft die Geschichte der Schule, aber vor allem die der Personen, die sie machen. Und es kommt ganz besonders auf den Schulleiter oder auf die Schulleiterin an, die die Idee der Schule verkörpern.

     

    1985 an ihrem ersten Tag als Direktorin der Helene-Lange-Schule sah Enja Riegel schwarz. Das Kollegium trug Trauerkleidung. Ausnahmslos. Die Riegel sollte es nicht werden! Solchen Protest hatte es in einer Schule noch nicht gegeben. Fast 20 Jahre später bedankte sich das Kollegium der Wiesbadener Schule anläßlich der Pensionierung ihrer Schulleiterin mit einem Fest, das eine deutsche Schule noch nicht erlebt hat. Die Lehrer hatten einen Zirkus mit Zelt und abendfüllendem Programm vorbereitet. Denn der Lebenstraum dieser Schulleiterin ist die Manege.

     

    Als sie noch Enja Glücklich hieß, war sie bereits Schülerin dieser Schule. Der hochbegabten Enja, die in der Grundschule eine Klasse übersprang, wurde zu Hause der nachzuholende Stoff eingeprügelt. Auch sonst war da manches so furchtbar, daß man es gar nicht erzählen mag. Aber so unglücklich es zu Hause zuging, so sehr sonnte sich Enja neben ihrem Großvater, einem erfolgreichen Geschäftsmann, wenn sie neben ihm auf der Wilhelmstraße in Wiesbaden flanierte. Dann gehörte ihr beinahe die Welt. Von ihm erbte Enja Glücklich die Zuversicht, daß das gelungene Leben das bedrohte retten kann. Die Schule gehörte zu dieser besseren Welt. Sie war ein Gegenstück zum zu Hause erlebten Unglück. In der Schule hatte Enja mitbekommen, was zu ihrer Maxime wurde: Menschen brauchen einen Ort, an dem sie willkommen sind und wo man an sie glaubt.

     

    Nach dem Studium der Germanistik und Anglistik begann sie 1969 das Referendariat an ihrer alten Schule und blieb der Hela, wie die Schule genannt wird, noch als junge Lehrerin treu. Aber der Blick ins Lehrerzimmer war desillusionierend. Die routinierte Schulmaschine drehte sich um den Stundenplan und die Fächer. Der Vormittag wurde im 45-Minuten-Takt zerhackt. Aus der neuen Perspektive wirkte die Schule muffig und gar nicht mehr vielversprechend. Ein Ort für Kinder und Jugendliche war ihre schöne Hela nicht. Aber die Vision blieb, daß eine Schule so sein müsse, wie Enja, die inzwischen mit Nachnamen Riegel hieß, sie in Erinnerung hatte.

     

    Als Schulleiterin ließ sie Wände einreißen. Auf jeden fünften Klassenraum wurde verzichtet, um dafür Schülertreffs zu schaffen. Diese Zwischenräume der Schule sind Programm. Dort arbeiten Schüler selbständig. Dort werden die Ergebnisse ihrer Projekte ausgestellt. Eltern werden eingeladen, sie zu betrachten. Einen Schülertreff gibt es jeweils für einen Jahrgang. Es entstanden Marktplätze der kleinen Schulen in der großen. Jeden Jahrgang unterrichtet ein Lehrerteam. Lehrerteams von sieben bis neun Lehrern führen einen Jahrgang von vier Parallelklassen von der fünften bis zur zehnten Klasse. Die Teams sind selbständig. Zugehörigkeit hatte Enja Riegel als den Grundstoff allen Lernens entdeckt. In anderen Schulen hatte sie beobachtet, was dabei rauskommt, wenn Lehrer beim Zensurengeben ihre Schüler auf Fotos sortieren, um sie nicht zu verwechseln. Lehrer im Jahrgangsteam der Helene-Lange-Schule müssen auch fachfremd unterrichten. Das stellte sich für die Schüler bald als Vorteil heraus, erfordert aber die Zusammenarbeit der Pädagogen.

     

    Schritt für Schritt wurden in dieser Schule eigene Curricula erarbeitet. Ständig wird überprüft, ob man auch erreicht, was man sich vornimmt. Bald fand man es unmöglich, im Unterricht Selbstverantwortung zu predigen und mittags die zuweilen verwahrlosten Räume türkischen Putzfrauen zu überlassen. Also entschlossen sich zunächst die Lehrer eines Jahrgangsteams Staubsauger anzuschaffen, und hielten die Schüler an, selbst zu putzen. Bald hatte die ganze Schule den Übergang vom geputzten zum selbst putzenden System hinter sich. Das mußte gegen die Stadtverwaltung, gegen die ÖTV und gegen diverse Putzfirmen durchgekämpft werden. Inzwischen nimmt die Schule fürs Putzen 25 000 € im Jahr ein. Mit dem Geld wird ein professioneller Theaterregisseur engagiert. Der spielt mit Schülern wochenlang Theater, zum Schluß der Session fällt aller Unterricht dafür aus – gegen den Widerstand mancher Fachlehrer. Die Schulleiterin hat sich wieder mal durchgesetzt. Sie sagt: „Wer viel Theater spielt, wird gut in Mathematik.“ So lernt die Schule, über Bande zu spielen, und erfährt tagtäglich, daß Lernen ein indirekter Vorgang ist.

     

    Eine Sache, einmal richtig und mutig angegangen, zieht anderes nach sich. Inzwischen finanzieren sich die Theateraufführungen über den Eintritt der Aufführungen. So wird das Lernen, ja, das Leben als folgenreiche Tätigkeit erlebt. Die eigene Wirksamkeit macht Freude, wenn sie zuweilen auch anstrengend ist. Aber jeder Schüler an der Hela weiß: Anstrengung macht viel mehr Spaß als Langeweile.

     

    Durfte die Schule das denn alles? Wenn Eltern und Lehrer der Schulleiterin diese Frage stellten, bekamen sie immer zur Antwort: „Ja, selbstverständlich.“ Denn Lehrpläne seien richtungweisend, und nicht etwa als kleinliche Vorschriften zu verstehen. Die Schulleitung übernehme die Verantwortung, daß die Anforderungen alles in allem eingehalten werden. Das war nicht nur so ein Wort. Nachfrage nach den Ergebnissen eines Projektes mußten sich Lehrer von nun an gefallen lassen. Nach außen übernimmt die Schulleitung den Schutz, und nach innen repräsentiert sie selbst ein Außen – eine Instanz, die nachfragt und Rechenschaft verlangt. Die Schulbehörden sahen das zunächst anders. Ein Bespiel, wie tief das Mißtrauen steckt. Aber sie wurden Jahr für Jahr mehr von den Erfolgen dieser selbständigen Schule überzeugt, in der nicht, wie manch einer fürchtete, jeder macht, was er will, im Sinne von Laisser-faire, sondern in der immer mehr Schüler und Lehrer tatsächlich etwas wollen: so gut wie möglich sein, sich nicht beschummeln, um dann gemäß Frank Sinatra sagen zu können: I did it my way.

     

    Die neuen Arbeitsweisen der Schule wurden den Behörden, den Eltern oder auch der Öffentlichkeit gegenüber nie verheimlicht. Allerdings, so ein inzwischen häufig zitiertes Bonmot von Enja Riegel: „Wir fragen Schulrat Moos bei vielen Dingen, die wir anders machen wollen. Aber es gibt Dinge, da schonen wir ihn, denn die müßte er verbieten. Dann tun wir es einfach.“ Das wurde von Enja Riegel im Fernsehen gesagt. Heimlichkeiten wären etwas anderes.

     

    So eigensinnig und unverwechselbar diese Schule ist, so sehr drängt sich die Verwandtschaft mit der Bodensee-Schule und ähnlichen Schulen auf. Diese Schulen geben den Schülern und den Lehrern so viel Sicherheit, daß sie sich ruhig in Unsicherheiten begeben können. Das ist Führung, die nichts mit Führung als Herrschaft zu tun hat. Eher mit Macht, wie man sie auf englisch buchstabiert: Power. Macht kommt von Mögen, meinte Hannah Arendt, Macht entstünde, wenn sich Menschen zum Leben und zur Gestaltung ihrer Verhältnisse verabredeten. Genau das geschieht an der Helene-Lange-Schule. Die Schulleitung wurde gestärkt und zugleich wurde von oben nach unten Macht an Lehrerteams abgegeben. Machtvermehrung so betrieben ist kein Nullsummenspiel. Wenn man wieder das deutsche Wort „Macht“ durch das englische Wort „Power“ ersetzt, versteht man diese etwas andere Mathematik leichter. Die Zusammenarbeit der Lehrer in Teams verschafft ihnen die häufig völlig neue Erfahrung, wie beglückend Resonanz ist und wie sehr die Vereinzelung an den Kräften zehrt. Die Teams erwiesen sich als regelrechte Labore für das Experiment, die Macht für alle zu vermehren, statt um Macht und Einfluß wie um ein knappes Gut zu kämpfen.

     

    Natürlich gab es auch an dieser Schule, vor allem bei Eltern den Zweifel, ob man so denn auch was fürs Leben lerne. Nach den ausgezeichneten PISA-Ergebnissen sind solche Zweifel verstummt. Die gute Ernte wurde nicht nur von PISA bestätigt. Zuvor schon, bei der internationalen Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie TIMMS schnitt die Schule bestens ab. Eine Studie der Uni Erfurt bescheinigt ehemaligen Schülern Selbstständigkeit und Kooperation. Seit Jahren evaluiert die Schule selbst den Weg der Schüler nach der 10.Klasse. In der gymnasialen Oberstufe, auf die viele wechseln, stiegen die Leistungen der Schüler im Schnitt um 2,1 Punkte.

     

    Enja Riegel ließ sich 2003 pensionieren, aber nun will sie es noch mal wissen. Auf dem Gelände der ehemaligen Gartenbauversuchsanstalt des Landes Hessen in Wiesbaden soll eine neue Schule entstehen. Sie soll so handlungsfähig sein, wie es die staatlichen Schulen noch nicht sind, aber vielleicht bald sein werden. Den Beweis soll die Schule „Campus Klarenthal“ als Unternehmen antreten. Nachdem Enja Riegel 2004 einen Trägerverein gegründet hat, gibt die Stadt Wiesbaden im Sommer 2005 eine Bürgschaft über 1,5 Millionen Euro für den Kauf dieses Grundstücks – übrigens mit den Stimmen von allen Fraktionen. Stiftungen interessieren sich für das Projekt. Die neue Schule soll vom Kindergarten bis zum Abitur gehen. Vielleicht wird eine Akademie dazugehören, in der Lehrer wieder zu Anfängern werden, natürlich auf allerhöchstem Niveau. Plato sagte ja: „Der Anfang ist auch ein Gott, wo er waltet, rettet er alles.“ Das hört sich vielleicht etwas vollmundig an, aber genau das brauchen wir – Schulen, die der Gesellschaft etwas wert sind. Schulen, in denen die besten Erwachsenen für die Kinder da sind. Irdische Tempel, die für jedermann die Idee gelungenen Lebens verkörpern.

     

     

    Hannah Arendt, Die Krise der Erziehung in: Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Serie Piper 1421, München 1994

    Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, Piper, München 1960 (spätere Ausgaben in der Serie Piper 217 )

    Hannah Arendt, Rahel Varnhagen Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. Serie Piper 230, München 1995

    Hannah Arendt, Gedanken zu Lessing. In: Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten. Piper Verlag, München 1968

     

    Die Bodensee-Schule und die Helene-Lange-Schule sind in Filmen von Reinhard Kahl dokumentiert, die als DVD oder VHS im Internet über www.archiv-der-zukunft.de und im Buchhandel über den Beltz Verlag zu beziehen sind: „Treibhäuser der Zukunft – Wie Schulen in Deutschland gelingen“ und „Eine Schule, die gelingt – Enja Riegel und die Helene- Lange-Schule Wiesbaden.“

     

    Das Neue kommt als Fehler zur Welt

    Feldenkrais 

    Reinhard Kahl

    Das Neue kommt als Fehler zur Welt

     

    Am Anfang war das Wort?  Am Anfang war die Tat?

    Am Anfang war der Fehler! Ja der Fehler! Man könnte auch sagen: Am Anfang war die Mutation. Eine nicht geplante, nicht vorhersehbare Operation. Und am Ende? Am Ende ist Erfüllung. Am Ende steht die Perfektion, wenn alles gemacht und nichts mehr zu tun ist.

    Der Anfang ist eine Geburt, ist Geschrei, Qual und Bewegung.

    Und am Ende ist Ruhe, vielleicht mit einem Lächeln, der Tod.

    Am Anfang herrschen Mangel und Hunger. Am Ende ist Überdruss, wenn es ein schlechtes und Sattheit, wenn es ein gutes Ende ist.

    Ohne Mangel jedenfalls gibt es keinen Anfang.

     

    Der Ursprung alles Neuen ist ein Riss im Alten, eben der Ur-sprung. Natürlich gilt nicht die Umkehrung, dass aus jedem Riss etwas Überlegenes entspringt. Die meisten Mutationen sind nicht überlebensfähig, bleiben Rauschen in der großen Symphonie der Evolution. Fehlerverbote allerdings, wären sie erfolgreich, würden diese Symphonie zum Verstummen bringen.

     

    Stille ist im Pavillon aus Jade  / Krähen fliegen stumm /
    Zu beschneiten Kirschbäumen /  im Mondlicht. /

    Ich sitze / Und weine.“

    Dieses Gedicht kennt jeder und man kennt es auch nicht, es sei denn man hat schon von seiner poetischen Irrfahrt gehört. Es handelt sich um Goethes berühmtes „Wanderers Nachtlied“:  „Über allen Gipfel ist Ruh, in allen Wipfeln spürest Du...“ Die ins Japanische übersetzten Verse sind nach ihrer Rückkehr ins Deutsche nicht mehr wieder zu erkennen. Man kann dieses schöne deutschjapanische Pingpong als Folge von Fehlern beschreiben, oder als Entstehung von etwas Neuem. Über Abweichungen entsteht Neues. Wie auch sonst?

     

    Langsam, langsam, wird man einwenden. Die Odyssee des Goethe Gedichts, eine das Original verwandelnde Nachdichtung, das ist doch wohl etwas anders als irgendein Schnitzer, wie Goethe mit „ö“ oder ihn ohne „h“ zu schreiben. Vielleicht! Vielleicht auch nicht. Etwas Geduld bitte.

     

    Vorweg allerdings: wenn ich hier den Fehler loben will, ist damit keine Apologie des Falschmachens gemeint. Schon gar keine Plädoyer fürs Luschige, von der Art  „Ist ja eh alles egal“. Nein, nichts ist egal. Alles ist besonders. Jedes ist individuell. Und da sind wir wieder beim Fehler, denn, das ist die These, nichts Individuelles ist denkbar, ohne ihn. Er ist die so unvermeidliche wie faszinierende Spur des Lebendigen.

     

    Beginnen wir beim alltäglichen Fehlermachen. Eine Erinnerung: „Was hast Du da nur wieder für Fehler gemacht?“ Gereizte Fragen der Eltern beim Mittagessen. Den Vormittag schon hatte sich die pädagogische Inquisition an Mathe, Latein und Erdkunde erprobt. Nichts falsch machen! Das war hinter all dem Stoff die Botschaft der roten Tinte. Im Zweifel so tun, als ob man schon angezogen auf die Welt gekommen ist. Fragen stellen, die der Lehrer beantworten möchte. Diese Lebensgrammatik durchdrang 13 Jahre den Schülerkörper und ging mächtig gegen den Strich. Das ist inzwischen ein paar Jahre her und immer noch folgen die Schulen diesem alten Testament. Sein erstes Gebot heißt Stunde für Stunde, habe keine andere Lösung neben mir. Das macht den Unterricht so lernbehindernd. Immerzu geht es um richtig oder falsch.

    Um was denn sonst, fragen nun diejenigen zurück, die in diese Kosmologie so nachhaltig eingeführt worden sind, dass sie gar nicht anders denken und fühlen können.

     

    „Macht mehr Fehler und macht sie früher!“ Solche Parolen füllen dem Management Guru Tom Peters in den USA die allergrößten Hallen. Vorstände der mächtigsten Konzerne zahlen Mordshonorare, um sich privatissime von ihm irritieren zu lassen. Irritation ist kostbar. Der verstorbene Meister der Paradoxien und der Systemtheorie, Niklas Luhmann, meinte sogar, Irritationsfähigkeit sei die wesentliche Voraussetzung dafür Neues lernen zu können.

    „Macht mehr Fehler und macht sie früher!“ Dass dieser Ruf heute von den Feldherrenhügeln im Unternehmerlager, gewiss nicht aus jedem Betrieb, kommt, das hätten wir uns damals in der Schule nicht träumen lassen – und wir haben viel geträumt im Unterricht.

     

    Das neue Testament der Fehlerfreunde heißt, ohne Fehler  gibt es keine Kreativität. Nur was schief gehen darf, kann gelingen. Natürlich geht es nicht darum, alte dumme Fehler zu wiederholen, sondern neue, intelligente Fehler zu wagen.

     

    „Hast Du heute schon einen Fehler gemacht?" Neuerdings empfehlen Unternehmensberater diese Mittagsmeditation. Die Frage wird aber ganz anders betont, als damals zu Hause beim Essen nach der Schule. "Hast du heute schon einen Fehler gemacht," dient nun der Selbsterforschung. Habe ich schon etwas gewagt? Der Fehler gilt als Eintragung im mentalen Pass für Scouts. Am Fehlversuch geben sich  Grenzgänger zu erkennen. Wer Neuland betritt, macht Fehler, unweigerlich. Wer keine gemacht hat, der hat sich nicht bewegt.

     

    Wohin man sieht zerfällt heute das gnadenlose Misstrauen, das für die ganze Moderne maßgeblich war. Dazu gehörten die Alltagsreligionen der Perfektion, die Rhetorik der Belehrung und die unmenschliche Orthodoxie, dass es nur eine einzige Wahrheit gebe. Sie ermöglichte den Rest der Welt zu verachten - im Extremfall, ihn vernichten zu wollen. Eine Zweite Moderne hingegen, deren Geburt wir miterleben, versteht sich nicht mehr als Ausführung eines Masterplans, sondern als „Folge von Nebenfolgen“, wie es der Soziologe Ulrich Beck  ausdrückt. Keine Absicht wird mehr rein ausgeführt. Es ist wie beim Fußballspiel. Der Ball kommt selten so an, wie es sich der abgebende Spieler vorgestellt hat. Durch diese Fehler werden fortwährend Optionen geschaffen unfreiwillig. Die Unschärfe gehört ebenso zum Spiel, wie die Absicht zu treffen, ohne die es natürlich nicht geht. Das Spiel läuft nicht wie ein Computerprogramm. Immer kommt etwas dazwischen. Das sorgt für Spannung und dafür, dass es weiter geht.

     

    Heute, im Übergang von der Industriegesellschaft zu einer Gesellschaft, die auf die Produktion von Wissen und von sozialen Netzen umstellt, verblasst das Leitbild vom Menschen, der wie ein Automat ausführen sollte, was ihm vorgeschrieben wurde.  Dennoch ist die Gesellschaft noch weit davon entfernt, ihre großen Institutionen zu Kreißsälen der Zukunft umzubauen. Das erfolgreiche Sterben vor dem Tod ist süßer, scheint zumindest risikoloser. Der Wunsch früh Rentner zu werden, löst Aussteiger Sehnsüchte vergangener Jahrzehnte ab. Schulen und mehr noch Hochschulen dümpeln wie Geisterschiffe in seichtem Gewässer. Lähmend wirkt in Deutschland die Vorliebe Opfer sein zu wollen, aus lauter Angst davor, Täter werden zu können. Kein Wunder im Auschwitz- und Mauerland. Wer handelt ist fehlbar. Nur als Opfer kann man sich einbilden rein und unschuldig zu sein.

     

    Ein so aufschlussreiches wie amüsantes Beispiel für das deutsche Ringen und Würgen mit dem Fehler ist die immer noch nicht ausgestandene Rechtschreibdebatte. Die neueste  Sorge heißt, „es gibt keine einheitliche deutsche Orthographie mehr.“ „Wonach soll man sich noch richten?“  Es ist gerade mal 100 Jahre her, da verlangten Lehrer und Drucker nach eindeutiger Schreibweise und bekamen sie. Vor dem Zeitalter der deutschen Industrienorm war vieles möglich. Goethe zum Beispiel schrieb sich auch mal Göthe und sogar ohne das vornehme „h“.  Er hat mit der Schreibweise seines Namens  gespielt. Auch andere Wörter schrieb der Meister aus Weimar mal so und mal anders. Dieser Goethe! Was für ein Vorbild für unsere Schüler! Entmilitarisierung! Keine ABC Schützen mehr! Stellen wir uns also Schulen vor, in denen Lehrer begründen müssen, wenn sie die Schreibweise eines Wortes als falsch anstreichen!

     

    Wir erleben die Abkehr vom simplen Richtig-falsch- und vom einfältigen Entweder-Oder-Denken.  An dessen Stelle tritt die elastischere Ordnung von  möglich/unmöglich. Dass die Schrift schnell erkennbar und kein Rätselraten sein soll, versteht sich. Also: nicht "alles wird möglich", aber doch manches. Das Jahrhundert der Disziplin, der Stechuhr und des Rotstifts ist vorbei.

     

    Natürlich, es gibt Fehler, die nicht passieren dürfen. Das gilt für den Lufthansa Piloten, für den Chirurgen im OP und für jeden, sobald er sich ans Steuer seines Autos setzt. Um aber in diesen Routinesituationen fehlerfrei zu reagieren und zu operieren müssen Lufthansa Piloten und Chirurgen in ihrer Ausbildung möglichst viele Fehler simuliert haben. Und wenn sie etwas Neues herausfinden wollen, brauchen sie Übungen, in denen sie Fehler machen dürfen, ja Fehler machen müssen, denn so tasten sie das unbekannte Feld ab und entdecken neue Möglichkeiten.

     

    Solche Einsichten wären banal, wenn sie nicht in unserer Tradition so gründlich und erfolgreich bekämpft worden wären. So gilt es das Selbstverständliche, das nicht mehr und noch nicht wieder selbstverständlich ist, wieder zu entdecken. Dabei kann man von Kindern, bei genialen Wissenschaftler und Künstlern lernen. Zum Beispiel davon, wie Kinder laufen lernen. Ihr Laufen ist zunächst immer wieder aufgefangenes Fallen. Erst das Spiel von Sicherheit und Unsicherheit,  ermöglicht den aufrechten Gang. Jeder Schritt schafft erneut Unsicherheit – ein Leben lang. Was wäre, wollte man das Fallen, diesen Fehler, verbieten? Niemand könnte Laufen. Untersuchungen haben im Auftrage von Unfallversicherern nachgewiesen, dass in Kindergärten, in denen riskante Spiele verboten sind,  schwere Unfälle zunehmen, weil Kinder nicht zu fallen gelernt haben.

    Auch das Erlernen der Sprache ist wie ein Expedition durch einen Dschungel voller Fehler. Man stelle sich vor, Kinder sollten die Muttersprache so lernen, wie man in der Schule lernt? Und das alles im Sitzen? Keiner könnte sprechen.

    Dass die meisten Schulabsolventen mit der Mathematik auf Kriegsfuss stehen, liegt zu einem guten Teil an einem Unterricht, der wie ein Initiationsritual in eine fertige, keimfreie Ordnung aus richtig oder falsch betrieben wird. Mathematiker wie Heinz Otto Peitgen, der an der Universität Bremen und an amerikanischen Universitäten lehrt, behaupten, was an den Schulen getrieben wird, habe mit Mathematik wenig zu tun. Peitgen bekennt, „meine Arbeit besteht erst mal aus Fehlern und im zweiten Schnitt aus der Diagnose der Fehler.“ Das sei seine überaus fröhliche Wissenschaft. Das Mathe Genie Gert Faltings, er war mit 28 Jahren jüngster deutscher Mathematik  Professor,  sagt:  „90% meiner Einfälle funktionieren nicht.“ Und er fährt fort: „Aber nur so lernt man die Probleme besser kennen und findet neue Techniken“. Über Fehler wird die Welt erkundet. So werden auch eigene Fähigkeiten herausgefunden und weiter entwickelt. Fehlerverbote sind Entwicklungsverbote.

     

    Was wäre, wenn tatsächlich alle Fehler überwunden werden könnten, wie es doch das Leitbild unser abendländischen Kultur seit mehr als 2000 Jahren verlangt? Was, wenn die menschliche Fehlerhaftigkeit oder Fehlerfähigkeit besiegbar wäre? Endgültig!  Für die Zukunft würde kein Platz mehr sein. Fertige Welt! Sollte es möglich sein, den Mangel abzuschaffen, dann wäre das zugleich die große, finale Implosion. Fehler zu machen, ist menschliches Schicksal. Fehler sind aber auch die Voraussetzung der Evolution. Der Preis der Radikallösung, alle Fehler zu überwinden, wäre der Verzicht aufs Leben selbst.

    Ein Endsieg über Fehler würde sich als der ganz große, der totale, der nicht mehr rückgängig zu machende Fehler erweisen. Fehler sind das Signum der Sterblichkeit und es gibt kein anderes Leben als sterbliches. Sterblichkeit und damit auch die „Gebürtlichkeit“ von der Hannah Arend sprach sind zu rehabilitieren, denn beide sind die Voraussetzung von Lebendigkeit.

     

    Man stelle sich vor, die Sicherheitsingenieure der Einzeller hätten sich vor Milliarden von Jahren  mit dem doch ganz plausiblen Vorhaben durchsetzen können, in der Evolution dürfe es fortan keine Fehler, also kein Kopierfehler, eben keine Mutationen geben?

     

    "Perfektion," schrieb T. S. Elliot "bekommt keine Kinder." Sie ist steril. "Irren ist die Bedingung des Lebens." Das war für Friedrich Nietzsche eine schwer errungene Erkenntnis, denn er war zunächst über sein Leiden an der Unvollkommenheit der Welt so verzweifelt, dass er die Geburt als den größten Fehler ansehen wollte.

     

    Dennoch: Fehler bleiben Fehler und Mangel bleibt Mangel, auch wenn sie lebensfördernd sind und Entwicklungen überhaupt erst ermöglichen. Es kommt also darauf an, diese Ambivalenz zu erkennen und mit ihr zu leben.

     

    Franz Kafka sprach von "meiner wunderschönen Wunde, mit der ich auf die Welt gekommen bin. Das einzige was ich habe." Die Wunde ist eine Quelle und sie bleibt doch eine Wunde. Vielleicht kann man das Bild noch weiter treiben: Der Mensch ist die offene Wunde der Evolution. Er ist das unvollkommenste und das am wenigsten festgelegte Tier. Er ist phantasiebegabt und bleibt sein Leben lang entwicklungsbedürftig und entwicklungsfähig.  Er ist allerdings auch das zu Illusionen, zu Allmacht und zum Hass auf seine Unvollkommenheit neigende Tier. Und weil jeder anders verwundet ist, weil jeder anders unvollkommen ist, nur deshalb sind wir Individuen. Wir steigern unsere Individuation, wenn wir unsere Wunde nicht über die Maßen vor uns selbst und anderen verbergen und wenn wir die gefühllosen Narben nicht der Wunde vorziehen. Der Vorteil, wenig verwundet, ohne viele Probleme und Falten zu sein, wird mit Einfalt erkauft. Das ist der Nachteil allzu mühelos geglückter Biographien. Worin sonst sollte denn die Vielfalt der Welt bei uns Resonanz finden, wenn nicht in den Falten? Die Gehirnoberfläche ist unser am stärksten gefaltetes System, mehrere Quadratmeter, wollte man es ausbreiten.

    Es gilt also die Falte zu entfalten und sie nicht gemäß den Programmen der Richtigkeit glatt zu bügeln.

    "Wir verdanken doch nahezu alles, was wir können und was wir haben unseren Problemen," schreibt der Philosoph Volker Gerhard in seinem Buch "Selbstbestimmung - Das Prinzip Individualität."

    Die Hirnforschung macht auf ihre Weise plausibel, was Individualität heißt. Die Menge der möglichen Aktivitätsmuster unseres Gehirns beträgt 10 3000. Die Zahl der Protonen im gesamten Weltraum bringt es auf  10 80  und das muss schon sehr viel sein. Die Zahl der Aktivitätsmuster im Gehirn, das ist kein Druckfehler, zählt 10 3000.

    Als der Soziologe Niklas Luhmann gefragt wurde, wie viele Wahrheiten es seiner Meinung nach gäbe, zögerte er einen Moment und antwortete, „na so fünfeinhalb Milliarden“. Das ist einige Jahre her. Der Dichter Durs Grünbein sagt: "Wenn ein Körper stirbt, geht ein Kosmos zu Grunde, jedes Hirn repräsentiert eine eigene Welt. Wir haben jetzt also etwa sechs Milliarden Welten.“ Das sind Gedanken, die zwar dem wachen Menschenverstand nicht fremd sind, die auch ihre philosophische Tradition haben, aber der Mainstream des Denkens, der alltäglichen Handlungsmuster und vor allem des Ressentiments floss in eine andere Richtung. Nur eine Wahrheit sollte es geben. Man stritt darum welche, führt in deren Namen Kriege, missionierte und vernichtete. Vielleicht räumte man ein, dass man die Wahrheit gar nicht so genau kennen kann, aber sechs Milliarden Wahrheiten, so viele Welten? Was steckt hinter dieser Anerkennung von Vielfalt? Es ist die Entdeckung des Individuums! Oder seine Wiederentdeckung, seine Renaissance!

    Wenn ich den Fehler loben will, so deshalb weil er der Motor von Abweichung, Differenz und schließlich von Individualität ist. Und erst unsere Individualität, die Unterschiede erfordern und ermöglichen es eine gemeinsame Welt zu schaffen. Gesellschaft, Sprache, dies alles entspringt der Differenz. Auch Kreativität entspringt dem produktiven Mangel. 

    Der Fehler ist das Salz des Lebens.

     

    "Die Welt liegt zwischen den Menschen, und dieses Zwischen ist heute Gegenstand der größten Sorge - viel mehr als, wie man häufig meint, die Menschen oder gar der Mensch." Das sagte die 1975 verstorbene Hannah Arendt, als sie in Hamburg 1959 den Lessing Preis erhielt. Denn weil es "den Menschen an sich" nicht gibt, weil jeder Mensch ein Dissident ist, stellt sich die Frage nach dem Zwischen, nach der Gesellschaft, die etwas anderes ist, als nur die Summe oder der Zusammenschluss all der Einzelnen oder bloß ein Container für sie. Hannah Arendt fuhr fort: "Jede Wahrheit, ob sie nun den Menschen ein Heil oder ein Unheil bringen mag, ist unmenschlich im wörtlichsten Sinne, weil sie zur Folge haben könnte, dass alle Menschen sich plötzlich auf eine einzige Meinung einigten, so dass aus vielen einer würde, womit die Welt, die sich immer nur zwischen den Menschen in ihrer Vielfalt bilden kann, von der Erde verschwände."

     

    Das Zwischen als Gegenbegriff zur der einen Wahrheit ergibt sich für Hannah Arendt aus der „Pluralität“ also der Verschiedenheit der Menschen, weil eben jeder anders unvollkommen ist, weil jeder einen anderen Anfang hat. „Jeder Mensch steht in der Welt an einer Stelle, an der noch kein anderer je Stand“ schriebt sie in „Vita activa“. Und an anderer Stelle: "Es geschieht nichts Neues unter der Sonne, es sei denn, dass Menschen das Neue, das in die Welt kam, als sie geboren wurden, handelnd als neuen Anfang in das Spiel der Welt werfen."

     

    Deshalb setzte Hannah Arendt neben den klassischen Philosophensatz von der Sterblichkeit des Menschen seine „Gebürtlichkeit.“  Aus diesem je anderen Anfang ergibt überhaupt die Möglichkeit des Handels: "Handeln, im Unterschied zum Denken und Herstellen, kann man nur mit Hilfe der anderen. In dem Zusammenhandeln realisiert sich die Freiheit des Anfangenkönnens.

    Ohne diese Fähigkeit des Neubeginnens, des Anhaltens und des Eingreifens wäre ein Leben, das wie das menschliche Leben, von Geburt an dem Tode zueilt, dazu verurteilt, alles spezifisch Menschliche immer wieder in seinen Untergang zu reißen und zu verderben."

     

    Das Anfangen ist der Genius der Fehlers. "Der Anfang ist auch ein Gott, wo er waltet, rettet er alles!"  Plato.

     

    Bald zweieinhalb Jahrtausende später gilt der Anfänger in unserem Sprachgebrauch allerdings als alles andere als göttlich.

    Aber, und das macht zuversichtlich, die Grammatik des Misstrauens löst sich ebenso auf wie das Klammern an Stabilität und Sicherheit. Wir brauchen den Rhythmus von Sicherheit und Unsicherheit. Vielleicht ist in Deutschland die Angst vor Unsicherheit so groß, weil jene tiefe Sicherheit und jenes Urvertrauen zu schwach sind, die es erlauben Unsicherheit zu wagen? Man muss einem System mehr Basissicherheit geben, wenn es Unsicherheit und Neues produzieren soll.

    Der eherne Käfig der Moderne, ein Bild von Max Weber, wird heute gesprengt. Seine Gitter waren der Preis der Sicherheit in der Industriegesellschaft. Dass diese Gitter und Gatter morsch werden, erleben viele Menschen eher als bedrohlich denn als verheißungsvoll. Aber könnten ihre Schmerzen nicht als Wehen einer zweiten Geburt gedeutet werden? Wir sind ausgesetzt in Freiheit! Wir erleben die Chance und den Zwang uns und unser Leben selbst zu erfinden. Sich und die Welt bilden! Nicht nachbilden oder ausbilden, nicht mehr Anwender sein, sondern Mitspieler werden.

     

    Die Moderne bedeutet ja immer schon, dass die Menschen sich aus der Tradition lösen und sich ihre Welt erfinden. Aber für die meisten Menschen fand die Moderne in Fabriken oder in anderen geschlossenen Räumen statt, eben in den weberschen "ehernen Gehäusen der Hörigkeit". Diese Käfige, deren Sicherung und Vergoldung das Hauptziel des westlichen Konsumismus wurde, zerbrechen nun an ihrer Eigenlast. Es ist gar nicht mehr nötig sie zu sprengen. Dass die Käfige  einstürzen und dass eine Kulturrevolution von oben diesen Abbruch unterstützt, scheint vielen höchst verdächtig zu sein. Ist das die allerletzte List des Kapitals, uns um unseren heroischen Widerspruch zu bringen?

     

    Freiheit ist nun kaum noch die Freiheit von etwas, sie wird zur Freiheit zu etwas. Damit haben wir wenig Erfahrung. Drachenkämpfe sind nicht mehr nötig. Wir können niemand anderen mehr für uns verantwortlich machen, wenn wir unser Leben versäumen. Auch das ist für viele ein unerträglicher Gedanke.

     

    Also haben wir keine andere Wahl, als uns auch mit unseren Schatten wieder anzufreunden. Die List dieser Freundschaft könnte ja sein, dass sie mehr zur Kultivierung des Mangels beiträgt, als dessen Verteufelung. So geht es also immer darum, aus "dieser wunderschönen Wunde" von der Franz Kafka sprach, etwas zu machen und endlich die sich selbst erfüllenden Prophezeiung, die Erde sei nur ein Jammertal, aufzugeben! Dann könnten wir auch auf den Paradiesglauben verzichten, in dessen Namen das Endliche, Unvollkommene und Fehlerhafte gedemütigt, verfolgt und vernichtet wird.

    Das wäre die List eines "Lob des Fehlers": den Erlösungsglauben in eine vielfältigere, irdischere, allerdings auch sterblichere Energie zu transformieren, in eine radikale Gegenwart, die Vergangenheit und Zukunft verbindet.

     

    Der chilenische Biologe Humberto Maturana erzählt  das Gleichnis von einem Mann, der an einer Klippe steht und es wagt eine Schritt ins Bodenlose zu setzen. Und wie er diesen Schritt wagt, wächst ihm Boden unter den Füßen. Ein ähnliches Bild gibt es bei Franz Kafka. Ein Mann geht eine Treppe hoch, die bricht plötzlich ab. Vor ihm der Abgrund, das Nichts. Aber wenn er weiter geht, und nur wenn er weiter geht, wächst die Treppe mit.

     

    Also Schritte ins Leere wagen! Angst darf dabei eigentlich nicht hindern. Vielleicht sollten wir uns sogar viel mehr Angst zugestehen, denn Angst ist ein hervorragendes Erkenntnismittel. Sie ist eine der empfindlichsten Sonden, die wir haben. Was einen allerdings das Fürchten lehren kann, ist die verbreitete Angst vor der Angst. Die lähmt.

    Unser größter Mangel heute ist einer an Anfängen. Wir leiden am Syndrom einer Zu-vieli-sation, an einer neuen Form von Traurigkeit: "Wir sollten den emotionalen Druck, der jetzt auf uns lastet nicht unterschätzen," schreibt der amerikanische Literaturwissenschaftler Geoffry Hartmann über die "eigenartige Traurigkeit des Individuums". "Ich fühle mich jedesmal armselig und mutlos", schreibt er, "wenn ich mehr Verbraucher als Produzent bin."

    Wer produziert, macht Fehler. 

    Nur wer ausführt, was sich schon bewährt hat, wer wiederholt und nachplappert, glaubt keine Fehler zu machen.

    Genau genommen: er vermeidet kleine Fehler und macht dabei den großen, er vermeidet sich selbst.

     

    Epilog von  Luis Jorge Borges

     

    Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, im nächsten Leben, würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen. Ich würde nicht so perfekt sein wollen, ich würde mich mehr entspannen. Ich wäre ein bisschen verrückter als ich gewesen bin, ich würde viel weniger Dinge ernst nehmen. Ich würde nicht so gesund leben. Ich würde mehr riskieren, würde mehr reisen, Sonnenuntergänge betrachten, mehr bergsteigen, mehr in Flüssen schwimmen.

    Ich war einer dieser klugen Menschen, die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten; freilich hatte ich Momente der Freude, aber wenn ich noch einmal anfangen könnte, würde ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben. Falls du es noch nicht weißt, aus diesen besteht nämlich das Leben; nur aus Augenblicken; vergiss nicht den jetzigen. Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich von Frühlingsbeginn an bis in den Spätherbst hinein barfuss gehen. Und ich würde mehr mit Kindern spielen, wenn ich das Leben noch vor mir hätte. Aber sehen Sie,  ich bin 85 Jahre alt und weiß, dass ich bald sterben werde.

     

     


     

     

     

    PS 1 / 06 Tanzen, Singen, Hören

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    Tanzen, Singen, Hören
    Der Dirigent hat es zur Weltspitze gebracht. Über Jahre im Voraus ist er ausgebucht. Mitten in einem furiosen Konzert verfärben sich sein Hemd und die weiße Weste. Blut rinnt aus der Nase. Schweißüberströmt bricht der junge Dirigentengott Daniel Dareus zusammen. Er geht daraufhin zurück in sein schwedisches Heimatdorf. Erst mal will er nur noch hören. Vor allem die Stimmen der Natur. Er mietet die alte Schule, in die er selbst gegangen ist. Doch er kann nicht widerstehen, den Kirchenchor zu übernehmen. Und nun erzählt dieser schwedische Film, den dort bereits zwei der acht Millionen Einwohner gesehen haben, eine bezaubernde Geschichte von der Verwandlung dieses Chores.

    PS 12 So ein Bündnis

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    P.S.
    Endlich müssen Kindergärten und Krippen Teil des Bildungssystems werden. Das kostet jährlich 6,5 Milliarden. Nein, korrigiert sich der Redner, das kostet eigentlich gar nichts. Das bringt viel. Investitionen in die Vorschule würden nach seinen Berechnungen volkswirtschaftlich mit 12 Prozent verzinst. Der Aufwand für ein Studium bringt vier Prozent Rendite. Der Redner verlangt, dass künftig alle Kinder in Bildungseinrichtungen gehen. Die sollten besser ausgestattet werden und gebührenfrei sein! Ein gesundes Mittagsessen für den Nachwuchs inklusive. Verlangt wird, dass die Pädagogik in diesen Kinderhäusern evaluiert wird, schließlich dass Erzieherinnen und Erzieher studieren ­ wie in fast allen anderen Ländern. Ihre Arbeit sei so wichtig und anspruchsvoll wie die der Lehrer ­ oder sollte es werden.

    ARCHIV DER ZUKUNFT newsletter

    ARCHIV DER ZUKUNFT - 1. NEWSLETTER --> BITTE WEITERLEITEN!

    Guten Tag,

    Sie lesen den ersten Newsletter des Archivs der Zukunft. In den nächsten Tagen und Wochen passiert viel im und um das Archiv das Zukunft. Es erscheinen weitere Dokumentationen auf DVD. Hier die erste Nachricht:

    MATINEE IN FAST ALLEN DEUTSCHEN CINEMAXX-KINOS: "WIE SCHULEN GELINGEN"

    Am Sonntag, dem 6. November, um 10.30 Uhr werden in einer Matinee in fast allen deutschen CinemaxX-Kinos zwei Bildungsdokumentationen des Autors und Filmemachers Reinhard Kahl gezeigt. Der Film "Eine Schule die gelingt - Enja Riegel und die Helene Lange Schule" hat dort seine Premiere. Ein zweiter Film zeigt, weshalb Bildung in Skandinavien so erfolgreich ist: "Spitze - Schulen am Wendekreis der Pädagogik".

    In den Kinos werden die Filme von interessanten Bildungsbotschaftern präsentiert, darunter Professor Manfred Prenzel, Deutschland-Chef der PISA-Studie und Wilfried Steiner, Vorsitzender des Bundeselternrat, sowie die finnische Botschaftsrätin Cita Högnabba.

    Der Eintritt ist frei. Eintrittskarten können ab sofort unter http://www.bildungscent.de/ bestellt werden.

    Weitere Informationen: http://www.archiv-der-zukunft.de/6nov.php

    Im unteren Abschnitt dieser Nachricht finden Sie eine ausführliche Beschreibung zu unserer Aktion "Wie Schulen gelingen". Wir wissen, dass viele an diesen Kinovorstellungen interessiert sind. Wegen der Filme, aber auch weil sich dort die Bildungsinteressierten der jeweiligen Städte treffen werden.

    HELFEN SIE, DIESE NACHRICHT AN MÖGLICHST VIELE MENSCHEN WEITERZULEITEN.

    Es grüßt Sie

    Ihr Reinhard Kahl

    PS: Am 27. 10. sagte die designierte Bildungsministerin Annette Schavan am Rande eines Bildungskongresses in Berlin:

    "Zum notwendigen Mentalitätswechsel im deutschen Bildungswesen gehören die Filme von Reinhard Kahl"

     

    ---- das kleingedruckte ----

    Archiv der Zukunft, Eppendorfer Landstraße 46, 20249 Hamburg Sie erhalten diese Nachricht als Newsletter des Archivs der Zukunft.

    Sollten Sie keine weiteren Nachrichten wünschen, so können Sie den Newsletter mit einer leeren Email an die Adresse nonews@archiv-der-zukunft.de abbestellen.

     

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    BITTE LEITEN SIE DIESE NACHRICHT WEITER, DANKE!

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    "WIE SCHULEN GELINGEN" - KOSTENLOSE KINOVORSTELLUNGEN AM 6.11.2005

    DAS PROJEKT

    Der Film "Treibhäuser der Zukunft - Wie in Deutschland Schulen gelingen"

    von Reinhard Kahl macht seit Sommer 2004 Furore in der deutschen Bildungslandschaft. Nun zeigen FAST 30 CINEMAXX-KINOS AM SONNTAG, DEM 6.

    NOVEMBER 2005 UM 10.30 UHR ein Double-Feature mit zwei weiteren Dokumentationen von Reinhard Kahl. Die Filme bieten spannende neue Anregungen und zeigen, worauf es in Schulen ankommt, wenn Lust und Leistung kein Widerspruch mehr sind.

    Dazu werden wir verschiedene "BildungsBotschafter" aus der Bildungswelt einladen, die auch für Gespräche zur Verfügung stehen. Unter unseren Botschaftern sind Professor Manfred Prenzel, Deutschland-Chef der PISA-Studie und Wilfried Steiner, Vorsitzender des Bundeselternrat, sowie die finnische Botschaftsrätin Cita Högnabba.

     

    DIE FILME

    "Eine Schule die gelingt. Enja Riegel und die Helene-Lange-Schule" ist ein Porträt einer Wiesbadener Schule, die sich mit ihrer langjährigen Schulleiterin Enja Riegel schon lange vor dem "PISA-Schock" auf den Weg machte, ein "Treibhaus der Zukunft" zu werden. Der Film zeigt, wie Lernfreude der Schüler und Zusammenarbeit der Lehrer zu ausgezeichneten Leistungen führen.

    "Spitze. Schulen am Wendekreis der Pädagogik" zeigt skandinavische Schulen und geht der Frage nach, warum Schulen dort gelingen und in den internationalen Vergleichsstudien regelmäßig an der Spitze stehen.

    Die Filme sind ca. 52 bzw. 58 Minuten lang.

     

    EINTRITTSKARTEN

    Der Eintritt ist kostenlos. Bitte reservieren Sie Ihre Karten bis zum Freitag, den 4.11.2005, 15 Uhr, über http://www.bildungscent.de. Sie erhalten dann eine E-Mail, die als Eintrittskarte gilt.

    Beteiligt sind die CinemaxX-Kinos Augsburg, Berlin Colosseum, Berlin Hohensch., Berlin Potsdamer Platz, Bielefeld, Braunschweig, Bremen, Essen, Freiburg, Göttingen, Halle, Hamburg Dammtor, Hamburg Harburg, Hamburg Wandsbek, Hannover Nikolaistraße, Heilbronn, Kiel, Krefeld, Mülheim, München, Offenbach, Oldenburg, Regensburg, Stuttgart-SI Centrum, Trier, Wolfsburg, Würzburg, Wuppertal.

    Bitte leiten Sie diese Einladung an Freunde, Bekannte und Kollege weiter.

    Zusätzliche Informationen zu den beteiligten Kinos, den BildungsBotschaftern, den Filmen und mehr erhalten Sie auf http://www.archiv-der-zukunft.de und über die u.a. Kontaktdaten.

     

    HINTERGRUND

    Die Veranstaltung ist ein gemeinsames Projekt von Archiv der Zukunft, BildungsCent e.V., und der CinemaxX-AG. Gemeinsam hatten die Partner im Dezember 2004 bereits "Treibhäuser der Zukunft - Wie in Deutschland Schulen gelingen" bundesweit in 30 CinemaxX-Kinos gezeigt. Die Veranstaltung war ein voller Erfolg und lockte Tausende Zuschauer in die Kinos.

    Seitdem finden fast täglich irgendwo in Deutschland Vorführungen der "Treibhäuser" statt. Der Film hat viele Initiativen zu Neu- und Umgründungen von Schulen ausgelöst. Aufgrund der großen Nachfragen wurden Versionen in französischer und englischer Sprache produziert. Und auch in den Medien - von 3SAT über ARTE und ZDF, von der ZEIT über die TAZ bis zur WELT - fand der Film große und positive Resonanz. Am 6.

    November wird an dieser ansteckenden Wirkung gelungener Beispiele angesetzt - national und international.

    "Treibhäuser der Zukunft. Wie in Deutschland Schulen gelingen" ist als dreifach-DVD mit Buch inzwischen in der 2. Auflage erschienen. Die beiden o.a. Filme werden demnächst ebenfalls mit umfangreichem Begleitmaterial auf DVD erscheinen, sind über http://www.archiv-der-zukunft.de zu bestellen und werden auch im Buchhandel (Beltz) vertrieben.

    PS: Am 27.10. sagte die designierte Bildungsministerin Annette Schavan am Rande eines Bildungskongresses in Berlin:

    "Zum notwendigen Mentalitätswechsel im deutschen Bildungswesen gehören die Filme von Reinhard Kahl"

     

    KONTAKT

    Für Fragen zum Projekt stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung:

    ARCHIV DER ZUKUNFT http://www.archiv-der-zukunft.de Reinhard Kahl:

    Eppendorfer Landstraße 46 | 20249 Hamburg | rk@archiv-der-zukunft.de

    Projektmanagement: Jöran Muuß-Merholz | jmm@archiv-der-zukunft.de

    EINTRITTSKARTEN sind nicht über das Archiv der Zukunft, sondern nur über http://www.bildungscent.de zu bestellen.

    Bei Fragen zum Anmeldeverfahren für die Eintrittskarten wenden Sie sich bitte an Inga Koehler, BildungsCent e.V.: Tel. 030 4393-3030 | ikoehler@bildungscent.de

    PS 11 Bildungsgeiz

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    P.S.
    Mehr als 70 Prozent der jungen Leute beginnen in den skandinavischen Ländern, in Neuseeland und neuerdings auch in Polen ein Studium. Das muss doch wohl ein Druckfehler sein, denken viele deutsche Leser beim Anblick solcher Zahlen. Sie stehen in der neuen Ausgabe von »Bildung auf einen Blick«. Diese jährliche Bilanz der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt jedes Jahr klarer, dass in den wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern ein Studium inzwischen der Normalfall ist. Die OECD wertet das als eine entscheidende Investition ins Humankapital. Aha, doch keine richtige Bildung, nur Humankapital? Vorsicht: Auf dem deutschen Sonderweg besteht Sackgassengefahr.

    McK Wissen Vom toten Pferd absteigen

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    Möglichkeiten im System

    Text: Reinhard Kahl
    McK Wissen 14

    Vom toten Pferd absteigen
    Wie in Deutschland auch unterrichtet wird.

    Interview mit Peter Sloterdijk MCK Wissen 14

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    Interview Peter Sloterdijk

    Lernen ist Vorfreude auf sich selbst
    Der Philosoph Peter Sloterdijk über Bildung für den Ernstfall und die Entprofessionalisierung der Schule.

    McK Wissen: Seit einigen Jahren wird hier zu Lande eine neue Bildungsdebatte geführt. Was braut sich da zusammen? Peter Sloterdijk: Darin steckt ein Irritationspotenzial für die ganze Gesellschaft. Man kann es mit Schmerzen beim Körperempfinden des Individuums vergleichen. Debatten und Skandale bilden ein thematisches Nervensystem, über das die Gesellschaft sich wahrnimmt. Im deutschen Bildungssystem läuft schon lange einiges falsch. Warum wagt die Öffentlichkeit diese Debatte erst jetzt? Weil wir gewöhnlich versuchen, Bildungsfragen zu verdrängen. Sie gehören zu den unangenehmsten Themen. Mit ihnen verglichen, ist das Krankenhauswesen geradezu angenehm und faszinierend, wie die Massenmedien deutlich zeigen. Wir haben endlose Serien von Krankenhaus- und Chefarztfilmen.

    Hartmut von Hentig wird 80 / 3 Texte

    Süddeutsche Zeitung 23. 9. 2005

     

    Menschen stärken, Sachen klären

     

    Hartmut von Hentig wird 80

     

    Von Reinhard Kahl

     

    Sein Feind heißt Midas. Der lauert auch in Schulen. Bekanntlich haben die Götter der griechischen Mythologie ihm den Wunsch erfüllt, dass sich zu Gold verwandelt, was immer er anfasst. Hartmut von Hentig fürchtet den pädagogischen Midas. Ihm wird unter der Hand alles zur Belehrung. Schüler bekommen Antworten, bevor sie eigene Fragen stellen können. Es werden Fächer, aber nicht die Kinder unterrichtet. Der pädagogische Midas erstickt erst die Neugierde und dann das Lernen selbst. Diesem Generalverdacht setzt Hentig unverdrossen die allergrößten Hoffnungen entgegen. Die Schule soll eine kleine Polis sein, „to be a place for kids to grow up in," wie er immer wieder Paul Goodman zitierend insistiert.

     

    Die Schule ist für den Nestor der deutschen Pädagogik eine ambivalente Angelegenheit. Dieser Gedanke zieht sich wie ein Wasserzeichen durch sein Werk. „Die größte Gefahr kommt der Pädagogik von ihrem eigenen Zweck,“ schreibt er in seinem kürzlich erschienenen Buch über Rousseau. „Will sie einen guten Menschen machen, wird sie ihn nicht bekommen.“ Was wäre die Alternative? Aus der Unterrichtsanstalt einen Lebensort machen. Das ist seit bald einem halben Jahrhundert Hartmut von Hentigs Programm und Passion.

     

    Geborgen wurde er am 23. September 1925 in Posen. Sein war Vater Preuße aus Überzeugung und Diplomat von Beruf. Kindheit und Jugend verbrachte Hartmut in fünf Ländern, dreizehnmal wechselte er die Schulen. Das blieb ihm als weltbürgerliche Ressource. Unterschiede sind gut. Es gibt nicht die eine gute Schule. Das ist immer noch seine Überzeugung, auch wenn er später selbst welche gegründet hat. Worauf es ihm ankommt ist die Person. Fordert die Institution ihre Lehrer dazu heraus Individuen zu sein, oder will sie Unterrichtsfunktionäre? Sollen die Kinder und Jugendlichen ihren Eigensinn zu Interessen und Leidenschaften kultivieren oder lieber abschleifen? Die Personen so wichtig zu nehmen, das ist eine der Hentigschen Entdeckungen des Selbstverständlichen, das gar nicht selbstverständlich ist.]Klingt es nicht fast schon skandalös wenn er schreibt: „Will ich meine Pädagogik erklären, muss ich mich erklären.“

     

    Nach kurzer Zeit als Soldat in den letzten Monaten des Krieges, erlebte er das Offizierslager in amerikanischer Gefangenschaft als seine erste Universität. 1945 begann er in Göttingen das Studium der alten Sprachen. Da wohnte er in einer Bude mit Richard von Weizsäcker, der in Berlin auch die Rede zum 80. Geburtstag halten wird. Hentig setzte das Studium in den USA fort. Zurück kam er mit dem Doktortitel, aber ohne staatliches Examen. Mitte der 50iger Jahre holte ihn Georg Picht als Griechisch- und Lateinlehrer an das Internat Birklehof. Hartmut von Hentig wird ein begeisterter Lehrer, Erzieher, Freund.

     

    Seit Anfang der 60er Jahre veröffentlicht er seine Kritik an der Schule. Sein erfrischender Geist wird beachtet; er wird die erste Stimme in der anstehenden Erneuerung der Schule. 1963 wird der brillante junge Mann, nicht  habilitiert und ohne ein ordentliches Studium der Pädagogik, als Professor nach Göttingen berufen. Einige Jahre später schon, 1968, bekommt er einen Ruf an die neu gegründete Universität Bielefeld. Als Bedingung für den Wechsel verlangt er zwei Modellschulen: die Laborschule und das Oberstufenkolleg. Sie sollen für die Pädagogische Fakultät das werden, was das Klinikum für die Mediziner ist.

     

    Jetzt kann er seinen eigne Pädagogik entfalten. Seine Schule ist ein überschaubarer Ort, an dem jeder erfährt, dass er gebraucht wird. Sie ist eine erste Öffentlichkeit, in der es Kinder und Jugendliche genießen, gesehen zu werden und in der sie lernen, sich zu exponieren. Regeln, Reviere und Rituale werden entwickelt. Das Wissen ist wichtig, aber noch wichtiger ist das Denken. 

    Und wenn das nicht gelingt? Hentigs 1993 erschienenes Buch  „Die Schule neu denken“ wird von dieser Befürchtung getrieben. „Wenn eine Gesellschaft ihre jungen Menschen nicht braucht und sie dies ausdrücklich wissen lässt, indem sie sie an Orten, von denen nichts ausgeht, kaserniert und mit sich selbst beschäftigt, dann zieht sie ihre eigenen Zerstörer groß.“

     

    In diesen Tagen diskutiert der seit 1988 in Berlin lebende mit Freunden und Wahlverwandten eine Art Manifest. Soll man für die Zeit der Pubertät den Unterricht nicht mit etwas anderem ersetzen? Mit wirklichen Aufgaben und Erfahrungen! Vielleicht ein soziales Pflichtjahr? „Die Menschen stärken und die Sachen klären.“ Das ist seine Antwort auch auf Pisa: Inmitten der vielen Statiker, die den Unterricht verbessern wollen, ist er der Architekt der Schule. Ihr wichtigstes Medium bleibt der Lehrer – oder sollte es endlich werden.

    Person, Dialog, Denken, das klingt fast unzeitgemäß konservativ und zugleich in einer subversiven Weise zukünftig. Pädagogik, sagte Hentig einmal, sei ein so hochindividueller Vorgang, dass man sie nur mit der Liebe vergleichen könne. Wenn sich Menschen in ihrer ganzen Einmaligkeit und Besonderheit treffen, dann kommt auch das Neue zur Welt.

     

     

     

     

     ___________________________________________

    HR 2  / Wissenswert / 23. September 2005

     

    Reinhard Kahl

     

    Denken ist wichtiger als Wissen

    Hartmut von Hentig wird 80

     

     

    Cut 1 

    Ich will sagen,  die Schule, die jungen Menschen hilft erwachsen zu werden, oder ganz konventionell gesprochen, auf das Leben vorbereitet, die gibt's eigentlich gar nicht.

     

    Aber er glaubt, daran, dass sie möglich, ja nötig ist. Nötiger denn je. Hartmut von Hentig. Der Nestor der deutschen Pädagogik. Seine Stimme ist im Diskurs der deutschen Bildungsdebatte immer noch eine der leidenschaftlichsten. Seine Begeisterung gilt den Kindern. Ohne den Glauben an sie, wären seine Ideen längst verwelkt. Sein Leiden an der gewöhnlichen Schule mobilisiert seine Leidenschaft.

     

    Cut 1  b

    Wir bereiten immer das nächste Examen, also auf die nächste Klassenarbeit vor oder auf die Versetzung oder auf einen nächsten Laufbahnschritt vor, und um den Rest kümmert man sich sehr wenig.

     

     

    Hentig wird nun 80.  Seine Kindheit verbrachte er in vielen Ländern, das brachte die Tätigkeit des Vater im auswärtigen Dienst mit sich. Insgesamt 13 mal hat er die Schule gewechselt.

     

    Cut  2  

    Und das belehrt einen ja gründlich darüber, dass es nicht die gute Schule gibt, sondern sie waren alle ein bisschen schlecht und ein bisschen gut und immer war ich gut dran, wenn ich die Schule selbständig nutzte. ... Die Selbstständigkeit gegenüber dem System, das nicht unfehlbar war, das hatte ich also herausgefunden: es gibt nicht die Schule. Und das ist auch heute meine Überzeugung, auch wenn ich das in einem bestimmten Abschnitt meines Lebens entworfen habe und gefunden habe, das machen wir jetzt mal, weil das ist besser als was anderes, halt ich die doch nicht für die beste aller denkbaren Schulen, beileibe nicht.

     

     

    Das war seine pädagogische Initiation und zeitlebens eine Ressource. Unterschiede sind gut. Sie machen nicht nur Freude, sie bringen auch Vorteile. Und der Unterschied aller Unterschiede liegt in den Personen, die Schule machen, in den Lehrern.

    Die Personen so wichtig zu nehmen, das ist eine der Selbstverständlichkeiten, die gar nicht selbstverständlich sind. Klingt es nicht fast schon skandalös wenn Hartmut von Hentig schreibt:

    „Will ich meine Pädagogik erklären, muss ich mich erklären.“

     

    Pädagogik ist für ihn keine Sache und kein Programm, keine Maschine zur Produktion von Abschlüssen oder von Qualifikationen. Pädagogik ist für ihn ein Verhältnis zwischen Personen und zwischen den Generationen.

     

    Das klingt unzeitgemäß konservativ und zugleich in einer subversiven Weise zukünftig. Pädagogik, sagte Hentig einmal, sei ein so hochindividueller Vorgang, dass man sie nur mit der Liebe vergleichen könne. Menschen kommen in ihrer ganzen Einmaligkeit und Besonderheit zusammen.

     

    Hentig wird deshalb nicht müde, die „Schule neu zu denken,“ wie eines seiner  Bücher heißt.

     

    Cut 3

    Ich habe ja nie Pädagogik gelernt, bin Lehrer gewesen, Lehrer der alten Sprachen an süddeutschen Gymnasien. Habe da meine Fehler gemacht und habe vor allem, nachdem ich die überwunden hatte, an den ärgerlichen Rahmenordnungen unserer Schule gelitten.

     

     

    Dass er selbst nie Pädagogik studiert hat, verhalf dem emeritierten Starprofessor der Pädagogik vielleicht gerade dazu seine eigene Pädagogik zu erfinden.

     

    Cut 4

    Es ist einer der Fehler unserer Schule, dass sie die entscheidende Ressource, die sie hat, den erwachsenen Lehrer, der ganz für die Kinder da ist, so wenig einsetzt. Das ist komischer Weise für sie eine austauschbare Sache, das ist ein Unterrichtsfunktionär, das wäre ja beinahe noch ein Mensch, er ist eine Unterrichtsfunktion.

    Der Lehrer muss ein Mensch sein. Der muss auch seine Fehler haben und die muss er überwinden.

     

     

    Hartmut von Hentig wurde am 23. September 1925 in Posen geboren. Sein Vater war Preuße aus Passion und Diplomat von Beruf. Nach der Schulzeit in so vielen Schulen, diesem unvergleichlichen „Praktikum“, aus dem die Leidenschaft seines Lebens wurde, begann er 1945 in Göttingen das Studium der alte Sprachen, das er in den USA fortsetzte. Zurück kam er mit dem Doktortitel, aber ohne staatliches Examen. Mitte der 50er Jahre holte ihn Georg Picht als Griechisch- und Lateinlehrer an das Internat Birklehof. Als er später sein Referendariat am Uhland Gymnasium in Tübingen nachholte, probierte Hartmut von Hentig einen anderen Lateinunterricht aus - einen Unterricht, der die Sprache inszenierte, eher wie Theater, keine Belehrung, kein Pauken.

     

    Zu Beginn der 60er Jahre veröffentlicht Hartmut von Hentig seine Kritik an der Schule. Sein erfrischender Geist wird beachtet; er wird die erste Stimme in der anstehenden „Erneuerung“ der Schule.

     

    Der Schulkritiker von Hentig, nicht  habilitiert und ohne Studium der Pädagogik,  wird 1963 als Professor nach Göttingen berufen. Einige Jahre später schon, 1968, bekommt er einen Ruf an die neu gegründete Universität Bielefeld. Als Bedingung für den Wechsel verlangt er die Gründung von zwei Modellschulen: die Laborschule und das Oberstufenkolleg an der Uni, das für die Pädagogische Fakultät das werden soll, was das Klinikum für die Mediziner ist.

     

    [1972 hätte er in Hessen Kultusminister werden können. Aber als ihm klar wurde, dass ein Minister durchs Land ziehen und immer das Gleiche sagen muss, winkte er ab und betrieb weiter den Aufbau seiner Reformschule.

    Er entwarf die Schule als einen Lebensraum für Kinder und Jugendliche, nicht als eine Unterrichtsanstalt. Er wollte eine Schule, in der Kinder dadurch besser lernen, dass sie dort auch leben.]

    Die Schule - eine kleine Welt, wie die Polis, das überschaubare Gemeinwesen im antiken Griechenland.

     

    Cut  5 

    Sie muss erlebbar sein in ihren Grundelementen: der Einzelne und seine Würde wird dort geachtet. Das muss man dort erfahren, der Einzelne kann Einfluss nehmen auf das Ganze, das muss er erfahren, sogar ich kleinste Person unter den Größeren  habe mein Recht auf mein Wort und meine Meinung. Es muss Gemeinsinn geben. Es muss eine Befriedigung entstehen, weil ich meine Verantwortung getragen habe und nicht das überall erlebbare Weglaufen vor der Verantwortung. Schon ihre Lehrer machen ihnen dieses vor. Wir können keine gute Gesellschaft haben, wenn man nirgendwo erfahren hat, wo diese drei eben genannten Elemente einer guten Polis sind. In der großen erfahren wir es nicht. [Da ist Ellbogen gefragt, da betrügt man den Staat wo man kann, da geht man alle 4 Jahre auf Grund von idiotischen Plakaten und ohne jedes Urteil zur Wahl, das kann es doch nicht sein. Es müsste in dieser Schule erst einmal Polis sein und dann müsste sie so sein, dass man in ihr lebt und deshalb Lebensprobleme hat und deshalb Lösungen für sie sucht, Ordnungen, Reviere, Zeiten, Abgrenzungen, Rechte, alles sich selbst noch mal klar macht, den kleinen Gesellschaftsvertrag dort schließt. Und damit ist die Schule wunderbar beschäftigt und alle Dinge wie Geschichte oder wie Schreiben und Rechnen und Lesen, das sind ganz wichtige Mittel dabei.]

     

     

    Hartmut von Hentigs Schule ist ein überschaubarer Ort, an dem jeder erfährt, dass er gebraucht wird. Sie ist eine erste Öffentlichkeit, in der es Kinder und Jugendliche genießen, gesehen zu werden und in der sie lernen, sich zu exponieren.

    Und wenn Schulen das nicht gelingt ?

    Dann werden sie verwahrlosen, dann werden sie Orte, an denen Zerstörung beginnt.

    Hentigs 1993 erschienenes Buch  „Die Schule neu denken“ wird von dieser Befürchtung getrieben.  Er schrieb:

     

    „Wenn eine Gesellschaft ihre jungen Menschen nicht braucht und sie dies ausdrücklich wissen lässt, indem sie sie in Schulen, an Orten, von denen nichts ausgeht, kaserniert und mit sich selbst beschäftigt, sie von allen Aufgaben ausschließt, dann zieht sie ihre eigenen Zerstörer groß.“

     

     

    Cut  6

    Die konservativen Erwachsenen, und die meisten sind das, haben Angst vor der nächsten Generation von Barbaren, die daher kommen und die Gesittung noch nicht gelernt haben, die Institutionen noch nicht verstehen, und die mit brutaler Kraft und unbefangen alles kaputt machen. Das ist die große Angst. Und dafür sorgt man in den Erziehungsanstalten, dass man das Stillsitzen und den Gehorsam und die Ordnung das alles bitte, bitte lernt, bevor man irgend etwas anderes wie Phantasie und Selbstentfaltung oder gar Selbstbehauptung oder gar Kritik, eigenes Handeln, lernt. Nein, nein, `bleibt mal still sitzen, ich sag dir schon, was du zu tun hast'. Es ist Furcht, es ist die blanke Furcht, dass die jungen Leute, die ja das alles nicht wissen können, was wir schon wissen, dass die mit ihrer Unkenntnis und ihrer Unbefangenheit kühner sind, als wir es uns erlauben dürfen.

     

     

    Die Ergebnisse dieser misstrauischen und lebensfeindlichen Schule sind dürftig. Vielleicht finden wir in diesem misstrauischen Klima und dem Kleinkrieg die triftigste Erklärung für das schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei PISA. Das Problem liegt tiefer als in Lehrplänen, Schulausstattung, Standards und so weiter.

    Hartmut von Hentig warnt: Versucht die Pädagogik ihre Ziele auf dem kürzesten Weg zu erreichen, verfehlt sie dabei ihr Ziel. Das indirekte Spiel ist wirksamer als die direkte Einflussnahme. Respektvoller und schöner, ja eleganter ist es sowieso. In seinem 2003 erschienenen Buch „Rousseau oder die wohlgeordnete Freiheit“ schreibt er:  Zitat:

     

    „Die größte Gefahr kommt der Pädagogik von ihrem eigenen Zweck. Will sie einen guten Menschen „machen“, wird sie ihn nicht bekommen.“

     

    In der Schuldebatte kommen heute neue Töne auf. Nach der großen PISA-Irritation beginnt man tatsächlich, die Schule neu zu denken.

    Eine Chance, aus der Schule den Ort zu machen, der Hartmut von Hentig immer vorschwebte, ist die Diskussion um die Ganztagsschule.

     

    Cut 7

    Ich habe eigentlich immer gefunden, dass die Ganztagesschule eine riesige Veränderung, vielleicht die größte überhaupt, der durchgreifendste Reform-Impuls wäre, den wir haben könnten. Wir haben die unsinnige Aufteilung von: es gibt Belehrung durch Unterricht und es gibt Leben und für das Zweitgenannte ist die Familie da. Die andere Aufgabe der Schule: "to be a place for kids to grow up in", die wird durch die Ganztagesschule eingefordert, wird erst ermöglicht und auch eingefordert. Das Leben und seine Schwierigkeiten, Eitelkeiten und Ängste finden Antworten in dem Schulcurriculum, es stärkt, die Person wird gestärkt dadurch, dass ich das ein bisschen besser durchschaue, die Sache geklärt habe, na, das wäre die gute, gegenseitige Ergänzung.

    Die Bildung, die Schulbildung, öffnet die Augen, stärkt das Lebensgefühl, gegenseitig, und wenn wir uns dann angucken, was wir da  haben: eine nach dem Fließbandmuster taylorisierte  Belehrungsanstalt.

     

     

    Dagegen setzt Hentig die Person, den Lehrer als einen wirklich erwachsen gewordenen Erwachsenen. Sein wichtigstes Medium ist der  Dialog. Dialog ist nicht bloß Austausch, kein Hin -und Hersenden von Informationen. In jedem Dialog entsteht Welt, eben weil seine Teilnehmer verschieden sind. Das gleiche gilt für den inneren Dialog, das Denken. Es ist Hentigs zweites großes pädagogisches Medium, das für ihn in den Schulen zu kurz kommt. Das Wissen, sagt er, würde in unseren Schulen überschätzt, das Denken werde vernachlässigt.

    Ohne Dialog und das Selbstdenken wird Bildung zur Abrichtung, zur Verwahrung oder gar zur  Indoktrination. Allerdings sind Dialog und Denken ohne Unsicherheit, ohne Fehler und Sackgassen, ja auch ohne sich in seinen Irrtümern sozusagen zu „zeigen“ undenkbar. Die Angst vor Umwegen, Fehltritten und vor Scheitern führt zu einer Schule, die diktiert, was richtig und was falsch ist, oder zu einer Schule der Gleichgültigkeit und Verwahrlosung.

    Hentigs Gegenmittel?

     

    Cut 8

    Die Menschen zum Aushalten von Offenheit in unser Welt, zum Aushalten von Ambivalenz, von Zweiwertigkeit zu erziehen. Man muss das aushalten. Es ist ein Zwiespalt. Und nicht den kleinen Menschlein immer schon sagen, läuft alles nach dieser Regel: der Ablativ folgt immer wenn..., nicht wahr. Und dieses erst mal einprägen, dass die Welt geordnet ist wie ein Rechenschieber, das ist falsch. Sie dauernd darauf vorbereiten, dass das, was man ihnen jetzt gibt, Mittel sind für unterschiedliche Lagen: kann ganz anders sein nachher -  und du bist vor allem immer wieder anders als ich. Und deine Lösung könnte besser sein, probier mal aus, sieh mal zu, und ich helfe dir. Und dieses sich gegenseitig Helfen stört die Lehrer und die Schule und ihre Ordnung so furchtbar. Die gewaltigsten Maßnahmen, fahren sie dagegen auf. Es muss still sein.

     

    1988 ließ sich Hartmut von Hentig vorzeitig emeritieren. Er bezog in Berlin eine Wohnung am Kurfürstendamm und nutzt dort die Zeit für Freunde, zum Schreiben und nach wie vor dafür, sich einzumischen – zum Beispiel mit Aufsehen erregenden Büchern wie „Die Schule neu denken". Er brachte eine große Gedichtsammlung heraus und seine Reiseerinnerungen „Fahrten und Gefährten.“ Zuletzt erschien ein langer Brief an seinen Neffen Tobias: „Warum muss ich zur Schule gehen“; es folgten das Buch über Rousseau und eines mit dem lakonischen Titel „Wissenschaft – Eine Kritik.“

     

    Hartmut von Hentig ist fraglos der Pädagoge, der die Bildungsdebatten in Deutschland seit Anfang der 60er Jahre am nachhaltigsten beeinflusst hat. Aber er hat keine akademische Schule gegründet, das würde seinem Prinzip des Selbstdenkens widersprechen. Epigonen, die sich bequem in seinem Denkgebäude einrichten wollten, wären ihm zuwider; schon die Vorstellung des festen Gedankengebäudes macht ihn skeptisch.

     

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    NDR Kultur aktuell  &  SWR 2  Journal

     

    23. September 2005

     

    Reinhard Kahl

     

    Der Meisterpädagoge, der nie Pädagogik studiert hat

     

     

     

    Cut 1 

    Ich will sagen,  die Schule, die jungen Menschen hilft erwachsen zu werden, oder ganz konventionell gesprochen, auf das Leben vorbereitet, die gibt's eigentlich gar nicht.

     

    Aber er glaubt daran, dass sie möglich, ja nötig ist. Nötiger denn je. Hartmut von Hentig. Der Nestor der deutschen Pädagogik.

     

    Cut 1  b

    Wir bereiten immer das nächste Examen, also auf die nächste Klassenarbeit vor oder auf die Versetzung oder auf einen nächsten Laufbahnschritt vor, und um den Rest kümmert man sich sehr wenig.

     

    Die Tätigkeit des Vater im auswärtigen Dienst brachte es mit sich, dass Hartmut von Hentig in 5 Ländern zur Schule ging, sie insgesamt 13 mal gewechselt hat.

     

    Cut  2   

    Und das belehrt einen ja gründlich darüber, dass es nicht die gute Schule gibt, sondern sie waren alle ein bisschen schlecht und ein bisschen gut und immer war ich gut dran, wenn ich die Schule selbständig nutzte.

     

    Das war seine pädagogische Initiation und zeitlebens eine Ressource. Unterschiede sind gut. Und der Unterschied aller Unterschiede liegt für ihn in den Personen die Schule machen, in den Lehrern.

    Die Personen so wichtig zu nehmen, das ist eine der Selbstverständlichkeiten, die gar nicht selbstverständlich sind. Klingt es nicht fast schon skandalös wenn Hartmut von Hentig schreibt:

    „Will ich meine Pädagogik erklären, muss ich mich erklären.“

     

    Cut  3

    Ich habe ja nie Pädagogik gelernt, bin Lehrer gewesen, Lehrer der alten Sprachen an süddeutschen Gymnasien. Habe da meine Fehler gemacht und habe vor allem, nachdem ich die überwunden hatte, an den ärgerlichen Rahmenordnungen unserer Schule gelitten.

     

     

    Dass er selbst nie Pädagogik studiert hat, verhalf ihm vielleicht dazu, seine eigene Pädagogik zu erfinden.

     

     

    Hartmut von Hentig wurde am 23. September 1925 in Posen geboren. Sein Vater war Preuße aus Passion und Diplomat von Beruf. Nach der Schulzeit in so vielen Schulen, begann er 1945 in Göttingen das Studium der alte Sprachen, das er in den USA fortsetzte. Zurück kam er mit dem Doktortitel, aber ohne staatliches Examen. Mitte der 50er Jahre holte ihn Georg Picht als Griechisch- und Lateinlehrer an das Internat Birklehof.

    Zu Beginn der 60er Jahre veröffentlicht Hartmut von Hentig seine Kritik an der Schule. Sein erfrischender Geist wird beachtet; er wird die erste Stimme in der anstehenden „Erneuerung“ der Schule.

     

    Der Schulkritiker von Hentig, nicht  habilitiert und ohne Studium der Pädagogik,  wird 1963 als Professor nach Göttingen berufen. Einige Jahre später schon, 1968, bekommt er einen Ruf an die neu gegründete Universität Bielefeld. Als Bedingung für den Wechsel verlangt er zwei Modellschulen: die Laborschule und das Oberstufenkolleg an der Uni, das für die Pädagogische Fakultät das werden soll, was das Klinikum für die Mediziner ist.

     

    Er entwirft die Schule als einen Lebensraum für Kinder und Jugendliche, nicht als eine Unterrichtsanstalt. Die Schule - eine kleine Welt, wie die Polis, das überschaubare Gemeinwesen im antiken Griechenland.

     

    Cut  4 

    Sie muss erlebbar sein in ihren Grundelementen: der Einzelne und seine Würde wird dort geachtet. Das muss man dort erfahren, der Einzelne kann Einfluss nehmen auf das Ganze, das muss er erfahren, sogar ich kleinste Person unter den Größeren  habe mein Recht auf mein Wort und meine Meinung. Es muss Gemeinsinn geben.

     

     

    „Die größte Gefahr“, schrieb von Hentig  „kommt der Pädagogik von ihrem eigenen Zweck. Will sie einen guten Menschen „machen“, wird sie ihn nicht bekommen.“

     

    Sein wichtigstes Medium ist der  Dialog. Er ist nicht bloß Austausch, kein Hin -und Hersenden von Informationen. In jedem Dialog entsteht Welt, eben weil seine Teilnehmer verschieden sind. Das gleiche gilt für den inneren Dialog, das Denken. Es ist Hentigs zweites großes pädagogisches Medium, das für ihn in den Schulen zu kurz kommt.

    Ohne Dialog und das Selbstdenken wird Bildung zur Abrichtung, zur Verwahrung oder gar zur  Indoktrination.

     

    1988 bezog Hentig in Berlin eine Wohnung am Kurfürstendamm und nutzt dort die Zeit für Freunde, zum Schreiben und nach wie vor dafür, sich einzumischen

    Hartmut von Hentig ist fraglos der Pädagoge, der die Bildungsdebatten in den vergangen 40 Jahren am stärksten beeinflusst hat. Eine wissenschaftliche Schule hat er nicht gegründet, das würde auch seinem Prinzip des Selbstdenkens widersprechen. Epigonen, die sich bequem in seinem Denkgebäude einrichten wollten, wären ihm zuwider; schon die Vorstellung des festen Gedankengebäudes macht ihn skeptisch.

     

     

    Besser, nicht gut (OECD Studie) DIE ZEIT

    DIE ZEIT


    38/2005 

    Besser, nicht gut

    Deutschland investiert mehr in die Bildung, fällt jedoch im internationalen Vergleich weiter zurück

    Die gute Nachricht: Deutschland robbt sich im internationalen Bildungsvergleich in einigen Bereichen nach oben. Die schlechte: Es geht nur sehr langsam voran. Das zeigt die am Dienstag veröffentlichte Studie Bildung auf einen Blick. Die jährlich erscheinende Studie wird von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) herausgegeben, einer Denkfabrik von 30 Industrieländern.

    Zu den guten Nachrichten gehört, dass in Deutschland die Zahl der Studienanfänger gestiegen ist, von 28 Prozent eines Jahrgangs im Jahr 1988 auf 36 Prozent 2003. Aber dieser Anteil liegt immer noch unter dem Durchschnitt der OECD-Staaten. In Schweden, Finnland und Polen etwa beginnen mehr als 70 Prozent der jungen Leute eines Jahrgangs ein Studium.

    Kritiker werfen den Autoren des Zahlenwerks vor, sie verglichen Äpfel mit Birnen, etwa ausländische Berufsbildungskurse mit deutschen Universitätsstudiengängen. Aber je feiner die Statistik wird, desto weniger verfängt dieser Einwand. Nimmt man etwa die hierzulande besonders geschätzten Studiengänge mit einer Dauer von fünf bis sechs Jahren, so liegen wir mit 12,5 Prozent Absolventen im OECD-Mittelwert. Der wird allerdings von Mexiko und der Türkei ebenso bestimmt wie von den führenden Bildungsländern in Skandinavien und Asien.

    Gestiegen ist hierzulande von 1998 bis 2003 auch der Anteil der Hochschulabsolventen: von 16 auf 19,5 Prozent eines Altersjahrgangs (OECD Mittel 32,2). Der Anteil von Frauen ist in allen natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fächern gewachsen. Lag er bei den Ingenieurwissenschaften 1998 noch bei 16, erreichte er 2003 bereits 22 Prozent. Im Schnitt aller Studienfächer erhöhte sich der weibliche Anteil in dieser Zeit von 43 auf 50 Prozent. Im OECD-Durchschnitt kletterte er von 53 auf 57 Prozent.

    In der Spitzengruppe liegt Deutschland mit 2 Prozent bei den Promovierten, hinter Schweden (2,8), der Schweiz und der Slowakischen Republik (je 2,5). Hier wirkt noch die Tradition deutscher Universitäten. Aber in der Breite muss sich unserer Land abermals vorrechnen lassen, dass es in die Bildung zu wenig investiert. Deutschland nimmt von 28 verglichenen OECD-Staaten bei den Ausgaben den 20. Platz ein. 4,4 Prozent des Bruttosozialprodukts gehen ins Bildungssystem. Dänemark, Schweden und Belgien investieren mehr als 6 Prozent. Auch wenn man den Anteil von Ausgaben der Wirtschaft im dualen System hinzurechnet, bleibt die Summe öffentlicher und privater Investitionen in Deutschland mit 5,3 Prozent unter dem OECD-Mittel von 5,8 Prozent (USA: 7,2).

    Die wichtigste Lektion über die enorm steigende Bedeutung der Bildung in Zeiten der Globalisierung ist den Deutschen längst noch nicht bewusst. »Bildung ist kein Kostenfaktor, sondern eine Investition«, wiederholt der für diese Statistiken bei der OECD verantwortliche Andreas Schleicher auch in diesem Jahr. Er kann vorrechnen, dass sich der Einsatz für Bildung höher verzinst als auf einem Bankkonto.

    An den Tabellen lässt sich ablesen, dass viele Länder diese Chance erkannt haben. So sind in den OECD-Ländern die öffentlichen und privaten Bildungsausgaben zwischen 1995 und 2002 um 21 Prozent im Bereich der Schulen und um 30 Prozent in den Hochschulen gewachsen. In Deutschland lagen diese Steigerungsraten jedoch bei nur 8 und 10 Prozent. Wenn sich diese Schere bei den Investitionen in die Köpfe wirtschaftlich so auswirkt, wie es die OECD behauptet, kann man Angst bekommen.

    Neu ist in Bildung auf einen Blick die Untersuchung der Weiterbildung. In Deutschland haben im Jahr 2003 lediglich 14 Prozent aller 25- bis 64-jährigen Beschäftigten an beruflicher Weiterbildung teilgenommen. In der OECD sind es 23 Prozent. In den Ländern, mit denen sich Deutschland vergleicht, etwa in Kanada, Großbritannien, der Schweiz, den Vereinigten Staaten oder den skandinavischen Ländern, bilden sich doppelt so viele Berufstätige weiter wie hierzulande.

    Bildungsirritationen – OECD Studie NDR Kultur

    NDR Kultur  - Journal  13. 9. 05  19´00

    Bildungsirritationen   / OECD   „Bildung auf einen Blick“  

    Von Reinhard Kahl

     

    Wie kommt es eigentlich, dass deutsche Leser bei manchen Zahlen in der neuen OECD Bildungsstudie glauben, das muss doch wohl ein Druckfehler sein. Zum Beispiel dass in Island und Neuseeland mehr als 80 Prozent, in Schweden, Finnland und Polen mehr als 70 Prozent der jungen Leute eines Jahrgangs ein Studium beginnen. Tatsache ist: Das Studium ist in vielen Ländern der Normalfall im Lebensweg geworden.

     

    Auch in Deutschland ist die Quote der Studienanfänger in den letzten fünf ausgewerteten Jahren gestiegen. Sogar deutlich. Von 28 auf 36 Prozent. Das wird von der OECD als Trendwende gelobt und von Bildungsministerin Edelgard Bulmahn als Erfolg gefeiert. Aber dieser Anteil liegt immer noch unter dem Schnitt der 30 Industriestaaten, die sich in der OECD zusammengeschlossen haben.

     

     In keinem Land irritiert dieses internationale Zahlenwerk so sehr, wie bei uns. Der Statistik wird immer wieder vorgeworfen, sie vergleiche Äpfel mit Birnen. Aber je feiner sie wird, desto weniger verfängt dieser Einwand. Nimmt man etwa die hier zu Lande besonders geschätzten länger dauernden Studiengänge von fünf bis sechs Jahren, so liegen wir mit 12,5 Prozent Absolventen im OECD-Mittelwert. Dieser Mittelwert wird allerdings von Mexiko und der Türkei ebenso bestimmt, wie von den führenden Bildungsländern in Skandinavien und Asien. Zu denen gehört Deutschland nicht mehr, oder - trotz Trendwende - noch nicht.

     

    Bildung, ist kein Kostenfaktor, sondern eine Investition,“ wiederholt der für diese Statistiken bei der OECD verantwortliche Andreas Schleicher auch in diesem Jahr. Er kann vorrechnen, dass sich der Einsatz für Bildung höher verzinst als Geld auf einem Bankkonto.

     

    Einspiel 1

    Die entscheidende Frage, die wir uns heute stellen müssen: was sind die Erträge, dieser Investition, dieser Ausgaben, wenn man diese Frage genauer untersucht dann zeigt sich, dass Bildung heute der zentrale Investitionsfaktor ist, der Faktor wo wir wirklich entscheidend zum Fortschritt unserer Gesellschaft beitragen können.

     

    Erneut muss sich unser Land vorrechnen lassen, dass es in die Bildung zu wenig investiert. Es nimmt von den 28 verglichenen Staaten bei den Ausgaben den wirklich unrühmlichen 20. Platz ein. 4,4 Prozent des Bruttoinalndsprodukts gehen ins Bildungssystem. Dänemark, Island, Norwegen, Schweden und Belgien investieren über 6 Prozent. Auch wenn man die Ausgaben der Wirtschaft für die Berufsausbildung im dualen System hinzu rechnet, bleibt die Summe öffentlicher und privater Investitionen in Deutschland unter dem OECD-Durchschnitt.

     

    Warum, fragt man sich, geizt dieses Land so sehr mit Bildung, wo es sich doch gerade auf diese Tradition so viel zu Gute hält? Ist es nur ein Geizen mit Geld?

    Bildung wurde bei uns immer als ein Privileg gedacht. Und Bildung ist ein Thema für Sonntagsreden. Von Montag bis Freitag spricht man dann über den Bedarf, gar über den Ersatzbedarf. Wieviele Abiturienten und Hauptschüler, wieviele Juristen oder Chemiker brauchen wir? Nur die wirklich Geeigneten sollen aufs Gymnasium und dann studieren. In diesen Begriff von den Geeigneten ist ein merkwürdiges misanthropisches Gift verkapselt. Aus ihm ergibt sich der Generalverdacht, zu viele Ungeeignete wollten zu hoch hinaus. Mit den vielen Gymnasiasten fange die Inflation schon an. Und noch immer herrscht der Volksglaube, nach einem Studium sei das Risiko arbeitslos zu werden besonders groß. Wer sich nach der Schule für ein geisteswissenschaftliches Studium entscheidet, bekommt zu hören: so viele Taxifahrer brauchen wird doch gar nicht.

     Worauf kommt es heute bei einem Studium an. Der Chef der OECD Studie setzt auf die Wirksamkeit der weichen Faktoren

     

    Einspiel 2

    Was von jungen Menschen erwartet wird ist nicht nur die Reproduktion von Fachwissen, was sie in der Schule gelernt haben sondern entscheidend sind wie gut können junge Menschen wenn sie in den Beruf kommen Wissen anwenden, Wissen integrieren aus verschiedenen Fachbereichen, kreativ neues Wissen schaffen, d.h. über die Reproduktion wirklich zum Schaffen von neuem Wissen beitragen, inwieweit können sie Probleme lösen, Probleme erkennen, Probleme lösen.“

     

    Studieren zahlt sich aus. So hat sich der Einkommensvorteil der Studierenten in Deutschland seit 1998 von 30 auf 53 Prozent erhöht. Es stimmt also nicht, dass sich mit wachsenden Studentenzahlen deren Vorteile im Erwerbsleben nivellierten. Erstmals wurden neben den individuellen Erträgen der Bildung auch die Vorteile für den Steuerzahler und die „sozialen Erträge“ berechnet. Sie sind allesamt positiv.

     

    Ein zusätzliches Jahr in Vorschulen, Schulen oder Hochschulen, so die Statistiker, könne langfristig mit einem Wachstum des Brutto Inlandsprodukts zwischen 3 Prozent und 6 Prozent gleichgesetzt werden kann.

     

    Aufschlussreich ist, dass in der angloamerikanischen und skandinavischen Tradition darauf gesetzt wird, dass eine Ausbildung gar nicht gut genug sein kann. Von Bedarf spricht man nicht. Weil niemand die Zukunft kennt, muss man sich möglichst gut auf sie vorbereiten. Man sagt schon den Schülern, ihr seid ganz gut, aber in euch steckt noch viel mehr drin als ihr glaubt. Lasst uns was draus machen. Man sagt, hey kommt, wir haben auf euch gewartet. In Deutschland wird der gleiche Satz noch zu häufig ganz anders betont: Auf Euch haben wir gerade noch gewartet, ihr werde noch euer blaues Wunder erleben.

    Bildungsgeiz taz Kommentar zur OECD Studie

    NEUE STUDIE VERWEIST AUF DIE ANDERE DEUTSCHE BILDUNGSTRADITION

    Geiz an Geld und Glaube

    Deutsche Leser stutzen bei manchen Zahlen in der gestern veröffentlichten neuen OECD-Bildungsstudie. Was, mehr als 70 Prozent eines Jahrgangs beginnen in den skandinavischen Ländern oder in Neuseeland ein Studium? Ein Studium wird in den wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern der Normalfall. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sieht darin eine wichtige Investition ins Humankapital. Aha, doch keine richtige Bildung, nur Humankapital? Vorsicht: Auf dem deutschen Sonderweg herrscht Sackgassengefahr.

    Auch wenn die OECD in Deutschland bei den Studienanfängern eine Trendwende feststellt, so liegt der Anteil immer noch unter dem Schnitt der Industriestaaten. Unser Land muss sich erneut vorrechnen lassen, dass es mit Investitionen in die Bildung geizt. Von den 28 verglichenen Staaten liegt die Bundesrepublik bei den Ausgaben auf dem 20. Platz. Nur 4,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gehen ins Bildungssystem. Das ist eine Schande. Dänemark, Island, Norwegen, Schweden und Belgien investieren über 6 Prozent. Auch an der Weiterbildung nehmen hierzulande nur halb so viele Menschen teil wie in Kanada, den USA, der Schweiz oder Großbritannien.

    Warum, so fragt man sich, geizt dieses Land so sehr mit Bildung? Es ist doch gerade auf diese Tradition so stolz. Und niemand widerspricht mehr der zentralen These der OECD, die da lautet: Bildung ist kein Kostenfaktor, sondern eine Investition, die sich auszahlt. Der Einsatz verzinst sich höher als Geld auf einem Bankkonto. Das Risiko, arbeitslos zu werden, nimmt mit steigendem Bildungsgrad deutlich ab. Die Argumente der Zahlen sind erdrückend. Ein zusätzliches Jahr in Vorschulen, Schulen oder Hochschulen, so die Statistiker, könne langfristig mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts zwischen 3 Prozent und 6 Prozent gleichgesetzt werden.

    In Deutschland ist die Zustimmung zu dieser Einsicht häufig nur ein Lippenbekenntnis. Ein Grund dafür ist, dass Bildung hierzulande immer als ein Privileg gedacht wurde. Es ist immer noch ein Thema für Sonntagsreden. Von Montag bis Freitag spricht man dann über den Bedarf, gar über den Ersatzbedarf. Wie viele Abiturienten und Hauptschüler, wie viele Juristen oder Chemiker brauchen wir? Nur die wirklich Geeigneten sollen aufs Gymnasium und dann studieren.

    In diesem Begriff von den Geeigneten ist ein misanthropisches Gift verkapselt. Aus ihm ergibt sich der Generalverdacht, zu viele Ungeeignete wollten zu hoch hinaus. Und so manch einer fühlt sich in der Schule denn auch wie ein blinder Passagier. Unser Schulsystem macht es den Lehrern leicht, bei Schwierigkeiten im Unterricht zu sagen, sie müssten halt die falschen Schüler unterrichten. Auf unerklärliche Weise sollen Schüler für die jeweilige Schule geeignet sein, und nicht die Schulen für ihre Schüler. Natürlich sind sie so unendlich verschieden, voller Schwächen und Stärken. Es ist aufschlussreich, wie unterschiedliche Länder mit dieser Tatsache umgehen.

    In der angloamerikanischen und skandinavischen Tradition wird darauf gesetzt, dass eine Ausbildung gar nicht gut genug sein kann. Von Bedarf spricht man nicht. Das Wort Humankapital ist dort positiv besetzt. Niemand kommt auf die Idee, es zum Unwort des Jahres zu küren. Unter Humankapital versteht man den subjektiven Faktor. Weil niemand die Zukunft kennt, muss man sich möglichst gut auf sie vorbereiten. Also sagt man den Schülern, ihr seid schon ganz gut, aber in euch steckt noch viel mehr, als ihr glaubt. Lasst uns was draus machen. Man macht den Schülern klar, dass auf sie gewartet wird. Der gleiche Satz wird in Deutschland noch zu häufig ganz anders betont: "Auf euch haben wir gerade noch gewartet, ihr werdet noch euer blaues Wunder erleben."

    In der klassischen Industriegesellschaft hatte das Beschämen der vielen angeblich Ungeeigneten durchaus Logik: der Beruf war dann die Chance, mit besonderer Anstrengung doch noch Anerkennung zu gewinnen. Wem in der Schule klar gemacht wurde, er solle sich bloß nichts einbilden, wer dort Lernen als bittere Medizin kennen lernte, der wollte mit dem Lernen später nicht mehr viel zu tun haben. Diese Tradition ist heute unsere Hypothek. Hinter dem Geiz an Geld für Bildung steht der Geiz in einer anderen Währung: Geiz an Anerkennung von Verschiedenheit und ein kleinmütiger Glaube an das Potenzial eines jeden.

    REINHARD KAHL

    Deutschlandfunk Das deutsche Bild von Bildung

    Das deutsche Bild von der Bildung

    Eine Interpretation der OECD-Studie "Bildung auf einen Blick"

    Von Reinhard Kahl

    Das Thema Bildung ist ein Schauplatz politischer Kämpfe - zumal in einer heißen Wahlkampfphase wie dieser. Wer fördert die Eliten am besten? Und wer sorgt dafür, dass Arme und Reiche die gleichen Bildungschancen haben? Frühförderung im Kindergarten, Ganztagsschule, Studiengebühren, kürzere Schulzeiten und verbindliche Bildungsstandards - so die aktuellen Schlagworte. Am Dienstag wurde die neueste OECD-Studie vorgelegt. Hunderte Seiten voller Tabellen. Und manchmal ist man regelrecht verblüfft.

    Wie kommt es eigentlich, dass deutsche Leser bei manchen Zahlen in der neuen OECD-Bildungsstudie glauben, das muss doch wohl ein Druckfehler sein. Zum Beispiel dass in Island und Neuseeland mehr als 80 Prozent, in Schweden, Finnland und Polen mehr als 70 Prozent der jungen Leute eines Jahrgangs ein Studium beginnen. Tatsache ist: Das Studium ist in vielen Ländern der Normalfall im Lebensweg geworden.

    Auch in Deutschland ist die Quote der Studienanfänger in den letzten fünf ausgewerteten Jahren gestiegen. Sogar deutlich. Von 28 auf 36 Prozent. Das wird von der OECD als Trendwende gelobt und von Bildungsministerin Edelgard Bulmahn als Erfolg gefeiert. Aber dieser Anteil liegt immer noch unter dem Schnitt der 30 Industriestaaten, die sich in der OECD zusammengeschlossen haben.

    In keinem Land irritiert dieses internationale Zahlenwerk so sehr, wie bei uns. Der Statistik wird immer wieder vorgeworfen, sie vergleiche Äpfel mit Birnen. Aber je feiner sie wird, desto weniger verfängt dieser Einwand. Nimmt man etwa die hier zu Lande besonders geschätzten länger dauernden Studiengänge von fünf bis sechs Jahren, so liegen wir mit 12,5 Prozent Absolventen im OECD-Mittelwert. Dieser Mittelwert wird allerdings von Mexiko und der Türkei ebenso bestimmt, wie von den führenden Bildungsländern in Skandinavien und Asien. Zu denen gehört Deutschland nicht mehr, oder - trotz Trendwende - noch nicht.

    Erneut muss sich unser Land vorrechnen lassen, dass es in die Bildung zu wenig investiert. Es nimmt von den 28 verglichenen Staaten bei den Ausgaben den wirklich unrühmlichen 20. Platz ein. 4,4 Prozent des Bruttosozialprodukts gehen ins Bildungssystem. Dänemark, Island, Norwegen, Schweden und Belgien investieren über sechs Prozent. Auch wenn man die Ausgaben der Wirtschaft für die Berufsausbildung im dualen System hinzu rechnet, bleibt die Summe öffentlicher und privater Investitionen in Deutschland unter dem OECD-Durchschnitt.

    Warum, fragt man sich, geizt dieses Land so sehr mit Bildung, wo es sich doch gerade auf diese Tradition so viel zu Gute hält? Ist es nur ein Geizen mit Geld?
    Bildung wurde bei uns immer als ein Privileg gedacht. Und Bildung ist ein Thema für Sonntagsreden. Von Montag bis Freitag spricht man dann über den Bedarf, gar über den Ersatzbedarf. Wie viele Abiturienten und Hauptschüler, wie viele Juristen oder Chemiker brauchen wir? Nur die wirklich Geeigneten sollen aufs Gymnasium und dann studieren. In diesen Begriff von den Geeigneten ist ein merkwürdiges misanthropisches Gift verkapselt. Aus ihm ergibt sich der Generalverdacht, zu viele Ungeeignete wollten zu hoch hinaus. Mit den vielen Gymnasiasten fange die Inflation schon an. Und noch immer herrscht der Volksglaube, nach einem Studium sei das Risiko arbeitslos zu werden besonders groß. Wer sich nach der Schule für ein geisteswissenschaftliches Studium entscheidet, bekommt zu hören: so viele Taxifahrer brauchen wir doch gar nicht.

    Ganz anders sieht die Wirklichkeit aus, die aus den 435 Seiten voller Tabellen der OECD-Studie spricht. Das Risiko arbeitslos zu werden, nimmt mit höherem Bildungsstand deutlich ab. Studieren zahlt sich aus. So hat sich der Einkommensvorteil der Studierten in Deutschland seit 1998 von 30 auf 53 Prozent erhöht. Es stimmt also nicht, dass sich mit wachsenden Studentenzahlen deren Vorteile im Erwerbsleben nivellierten. Erstmals wurden neben den individuellen Erträgen der Bildung auch die Vorteile für den Steuerzahler und die "sozialen Erträge" berechnet. Sie sind allesamt positiv.

    Ein zusätzliches Jahr in Vorschulen, Schulen oder Hochschulen, so die Statistiker könne langfristig mit einem Wachstum des Brutto Inlandsprodukts zwischen drei Prozent und sechs Prozent gleichgesetzt werden. Die wichtigste Lektion über die enorm steigende Bedeutung der Bildung in Zeiten der Globalisierung ist den Deutschen längst noch nicht bewusst. "Bildung ist kein Kostenfaktor, sondern eine Investition," wiederholt der für diese Statistiken bei der OECD verantwortliche Andreas Schleicher auch in diesem Jahr. Er kann vorrechnen, dass sich der Einsatz für Bildung höher verzinst als Geld auf einem Bankkonto.

    Aufschlussreich ist, dass in der angloamerikanischen und skandinavischen Tradition darauf gesetzt wird, dass eine Ausbildung gar nicht gut genug sein kann. Von Bedarf spricht man nicht. Weil niemand die Zukunft kennt, muss man sich möglichst gut vorbereiten. Man sagt schon den Schülern, ihr seid ganz gut, aber in euch steckt noch viel mehr drin als ihr glaubt. Lasst uns was draus machen. Man sagt, hey kommt, wir haben auf euch gewartet. In Deutschland wird der gleiche Satz noch zu häufig ganz anders betont: Auf Euch haben wir gerade noch gewartet, ihr werde noch euer blaues Wunder erleben.


     
     

    Wahltagebuch – Ende der Politiker-Politik

    2.9.
    Krista Sager, Fraktionschefin der Grünen, hat mich gefragt, ob ich mit ihr bei der großen Berliner Kundgebung in der Arena Treptow ein Gespräch über Bildung, die Schule der Zukunft und so weiter führen würde. mehr über Reinhard Kahl (Foto: xpress/hbs)Ich habe etwas gezögert. Dann habe ich zugestimmt. Es war wie beim Popkonzert. Wir waren eine Vorgruppe zum Auftritt von Fischer. Von der Bühne oben wird es noch viel deutlicher als von unten, dass die ganze Sache überwiegend Show ist. Sprechen auf Effekt. Versuche, zumindest den Anschein einer Kopulation der Führer mit den Massen herzustellen. Aber diese Sexualität ist ziemlich erloschen. Vor allem ist den Worten der Eros entwichen. An fast allen anderen Orten würde man ernsthafter und - ich möchte sagen - politischer diskutieren.

    Und dann kam Fischer. Das ganze wie ein Remake. Schwach unterhaltend. Wer glaubt eigentlich daran, dass es hier wirklich um wichtige Dinge geht? Die Frage, die jeder diskutiert, kann in solch einer Veranstaltung wohl nicht mal gestellt werden: Was bedeutet es, wenn Schwarz-Gelb (hatte eben einen Vertipper Schwarz-Geld, nicht schlecht) zum Zuge kommt, oder eine Große Koalition? Und was könnte in dem einen oder anderen Fall die Rolle der Grünen sein? Diese Logik der Ausblendung ist typisch für die Politiker-Politik, die wir im Wahlkampf noch dichter erleben als ohnehin. Ein Vorteil des Wahlkrampfs. Die Frage wo und wie sich Politik neu konstituieren wird, ist die interessanteste. Hier kommt man ihr nicht auf die Spur.

    Apropos Fischer. Ein paar Tage zuvor wurde ihm in einem Interview von der „Welt“ (27. 8.) die verblüffende Frage gestellt, was denn das große grüne Projekt in der nächsten Legislaturperiode sei. Die Frage muss ihn wohl völlig überrascht haben. Die Antwort: Lösungen auf die Erhöhung der Benzinpreise finden. Tatsächlich, das war die Antwort!

    „DIE WELT: Worin sehen Sie ein zentrales grünes Projekt für die nächste Legislaturperiode?
    Fischer: Wir müssen intelligente Antworten auf die hohen Benzin- und Energiepreise finden. Die Ursache dafür ist nicht die Ökosteuer - als die schon eingeführt war, lag der Ölpreis bei 15 Dollar pro Barrel, heute sind wir bei 68 Dollar, Tendenz steigend. Die wachsende Nachfrage in China und Indien wird die Rohölpreise dauerhaft nach oben treiben. Als großer Automobilstandort müssen wir darauf die notwendigen technischen Antworten anbieten und dabei weltweit Spitze sein. Die Polemik der Union gegen erneuerbare Energieträger ist nachgerade blind gegenüber den eigenen Interessen. Wenn wir die steuerliche Förderung zurückfahren, werden die Arbeitsplätze in diesem Bereich in anderen Ländern entstehen. Im sozialen Bereich sehe ich ein weiteres großes Thema: den gesetzlichen Anspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr.“

    4.9.
    Das „Duell“. Ein Duell? Meine Frau, meine Tochter und ich haben uns vor dem Fernseher eingerichtet. Als wär`s das Finale der Fussball-WM. Mal sehen wer gewinnt. Aber so richtig in der Stimmung, mit dem eigenen Kandidaten zu zittern sind wir nicht. Selbst der Kern alter politischer Legierungen, dass man immerhin einen Gegner oder zumindest ein Objekt seines Ressentiments hat, ist eigentlich nur noch eine Reminiszenz bei uns Eltern. Nehmen wir mal an, man könnte mit der Videotechnik die beiden Duellanten völlig anonymisieren. Die Stimmen verfremdet und die Körper gemorpht. Man würde nur die Dialoge hören und die Gesten sehen. So ein unterkomplexes Gespräch würde sich doch kein Mensch auch nur eine Viertelstunde ansehen.

    Die Kommentare zum Schlagabtausch ohne Schläge nähern sich dem Karl Valentin Punkt. „Es ist alles gesagt, nur noch nicht von jedem.“ Na. Vielleicht nicht ganz.

    8. 9.
    Schon wieder in Berlin. In der Kochstraße. Zwischen Springer und taz. Die Straße wird also bald Rudi-Dutschke-Straße heißen. Das hätte man uns rebellischen Schülern 1967/68 prophezeien sollen. Natürlich, eine Rudi-Dutschke-Straße nach der Revolution, gewiss und die Revolution würde ja kommen. Aber eine Rudi-Dutschke-Straße an die die Post des in seiner Blüte stehenden Springer-Konzerns adressiert wird?

    Man muss sich auch immer wieder vergegenwärtigen, dass vor 20 Jahren kaum einer darauf gewettet hätte, dass 2005 womöglich der Vizekanzler ein bekennender Schwuler aus der FDP sein wird. Oder dass ein Song von Freddy Mercury, dem Sänger von “Queen”, als Krönungsmusik für Angela Merkel vor Kohl und all den Altvorderen und Youngstern in den Saal geschallt wird, als sei es ein Jugendfestival. Erst recht die Stones mit der Angie-Nummer. Bloß hört offenbar nicht einer von denen, die die Platte für die Dame auflegen, auf den Text. Auch typisch. Was bedeutet schon ein Text? Nur der Sound muss irgendwie stimmen.

    An der Spitze der Möglichkeiten, über die man vor Jahren nur gegrinst hätte: Der Kanzler eine Frau aus der CDU und obendrein aus dem Osten. Ha, ha, bei diesem Männerverein, Kanzlerwahlverein etc.

    Diese veränderte Performance jedenfalls ist doch ein politisches Faktum! Aber was bedeutet es? Vielleicht dieses: Die Epoche, in der Politik der Kampf für die Freiheit von Zwängen war, läuft aus, ist vielleicht schon ausgelaufen, wir starren nur noch darauf. Aber wie schaffen wir nur den Übergang zu einer Politik der Freiheit zu etwas? Die wird nicht mehr in der Arena gemacht, in der oben einer kreischt und alle anderen applaudieren.

    Nachdem die Tabus gestürzt wurden oder einfach eingestürzt sind, wird sich die Frage stellen: Verwahrlosung oder neue Würde. Zum Beispiel sollten wir ab sofort aufjaulen, wenn irgend so ein Pseudoengel ankündigt, etwas für die „Menschen draußen im Lande“ zu tun oder ihnen was von den Lippen ablesen zu wollen. Pfui, Angie lass das!!

    PS 9 Pisa paradox


     

    Wenn Bayern besser als Schweden abschneidet,

    kann das gegliederte System

    doch nicht ganz falsch sein. Solche und

    ähnliche Schlüsse suggeriert manch einem

    der süddeutsche Pisaerfolg. Zumal im

    Wahlkampf gehen Analyse und Ideologie

    munter durcheinander. Man muss die beiden

    Ebenen entwirren. Bildungspolitische

    Ideologie und Realität decken sich nicht.

    Homogenisiert

    Schon in der ersten deutschen Vertiefungsstudie

    zu Pisa schrieb Jürgen Baumert

    so vorsichtig wie eindeutig, »dass

    eine leistungsorientierte Homogenisierung

    von Schule um so bessere Fördereffekte

    hat, je weniger sie gelingt.« Ein Satz

    zum drei Mal lesen. Je weniger das Homogenisierungsgebot

    erfüllt wird, also je

    später die Schüler getrennt werden, umso

    höher ihre Leistungen. Man könnte auch

    sagen, je weniger Schüler frühzeitig zum

    Gymnasium geschickt werden, desto besser.

    Tatsächlich haben sich die neuerlichen

    Aufholgewinner Sachsen und Thüringen

    vom dreigliedrigen zugunsten eines zweigliedrigen

    Systems verabschiedet. Entscheidend

    ist, dass die Hauptschule in

    Süddeutschland nicht oder noch nicht

    das pädagogische Lazarett des vielfach

    zerklüfteten Systems ist. Dort ist es in

    ländlichen Gebieten kein Stigma, Hauptschüler

    zu sein. Anders in Nordrhein-

    Westfalen, Bremen oder Berlin. Richtige

    Gesamtschulen, in denen alle bis Klasse

    neun zusammenbleiben, gibt es in

    Deutschland nur in ganz wenigen Ausnahmemodellen.

    Das gegliederte System

    ist überall. Und es ist wirklich verwirrend,

    dass die sozialdemokratischen Länder,

    die dieses gegliederte System ideologisch

    nicht favorisieren, tatsächlich die

    am stärksten zergliederte Bildungslandschaft

    haben. Das ist der Effekt einer Politik,

    die möglichst vielen über das Gymnasium

    zum »Aufstieg durch Bildung«

    verhelfen wollte. Möglichst viele sollen

    zum Gymnasium. Das System wurde

    flüssiger. Es wurde aus seiner ständischen

    Ruhe geholt. Aber es wurde in keine neue

    Stabilität gebracht. Es wurde neurotisiert.

    Hat sich das Abitur bei den meisten

    als angestrebtes Ziel durchgesetzt,

    dann entwertet, ja beschämt es alle, die

    nicht schaffen. Besonders schlecht dran

    ist, wer vom Gymnasium wieder abgestuft

    wird. Wenn Gesamtschulen das

    System mit gestuften Leistungsniveaus in

    sich wiederholen, verstärken sie diese Effekte.

    Dann produzieren sie Minderwertigkeitsgefühle,

    Lustlosigkeit und Gleichgültigkeit.

    In Bayern gab es bis vor drei Jahren noch

    eine sechsjährige Grundschule für alle,

    die nicht nach der vierten Klasse zum

    Gymnasium gingen. Erst mit der siebten

    Klasse zweigte sich die Realschule

    ab. Und da der Anteil von Gymnasiasten

    in Bayern am geringsten ist, kann

    man mit Fug und Recht behaupten: Bayern

    hat das integrierteste Schulsystem

    in Deutschland, auch wenn die CSU so

    ein Wort nie benutzen würde.

    Schwaches Gymnasium

    Das Gymnasium ist entgegen einem von

    fast allen geteilten Volksglauben nicht die

    beste Schule. Allerdings schöpft es die besten

    Schüler ab. Diese Schwäche unserer

    höchsten Schule brachte LAU zu Tage.

    Nach LAU (Lernausgangslagen-Studie)

    wurden in Hamburg alle Schüler eines bestimmten

    Jahrgangs im Abstand von ein

    paar Jahren getestet. In der Untersuchung

    der Neuntklässler konnte bei den

    Jungen im Gymnasium seit Klasse sieben

    kein signifikanter Kompetenzzuwachs gemessen

    werden, von einigen Verbesserungen

    im Englischen abgesehen, aber die

    sind bei normalem Musikhören ja gar

    nicht zu vermeiden. Im Gymnasium werden

    viele Schüler nicht erreicht, weil Lehrer

    dort dazu neigen, bloß ihre Fächer und

    nicht ihre Schüler zu unterrichten. Ist es

    dann verwunderlich, wenn der Leistungsstand

    der Fünfzehnjährigen in

    Bundesländern mit geringer Gymnasialquote

    steigt? Dort gehen ja weniger Schüler

    auf die pädagogisch schwächste Schule

    und die anderen werden nicht so sehr

    mit dem Versagermakel infiziert, der sich

    mit dem Siegeszug des Gymnasiums ausbreitet.

    Wer Bayern verstehen will, muss

    die Fixierung aufs Gymnasium lassen

    und den Gedanken aufgeben, dass die

    Quote traditioneller Gymnasiasten das

    entscheidende Gütekriterium des Schulsystems

    sei.

    Skandinavien im Süden

    42 Prozent der Studienanfänger in Bayern

    haben die Hochschulreife auf Umwegen

    über Fachoberschulen und Berufsoberschulen

    erreicht. In Baden-Württemberg

    macht inzwischen ein Drittel der

    Abiturienten die Reifeprüfung an Beruflichen

    Gymnasien. Für diese ehemaligen

    Haupt- und Realschüler beginnt das

    Gymnasium mit der Klasse 10. Das ist,

    wenn man so will, skandinavisch. Diese

    implizite Strategie, stärker auf Anschlüsse

    zu achten und nicht schon so früh

    auf Abschlüsse fixiert zu sein, könnte die

    explizite Formel für ein modernes Schulsystem

    werden, zu der die deutschen Südstaaten

    viele Erfahrungen mitbringen.

    Was fehlt ist eine Sprache, mit der man

    sich verständigt, und in der sich diese Erkenntnis

    mitteilen lässt: Das gegliederte

    Schulsystem ist am erfolgreichsten, wo

    seine ihm inne wohnende Erosion noch am

    schwächsten ausgeprägt ist. Aber einen

    Erosionsschutz gibt es nicht. Deshalb ist

    es auch kein »zukunftsfähiges« Konzept.

    P. S.

    Bayern hat wie übrigens auch Finnland,

    Irland und asiatische Länder einen

    großen Sprung von einer agrarischen

    Struktur zu der einer nachindustriellen

    Wissensgesellschaft gemacht.

    Laptop und Lederhosen. In einer Balance

    aus Tradition und Moderne wird dort

    das reichlich vorhandene kulturelle Kapital

    von Arbeitshaltung und Disziplin,

    das aus alten Bindungen stammt, aufgezehrt.

    Die finnische Wette besteht

    darin zu zeigen, wie es Schulen gelingt,

    kulturelles Kapital zu erneuern und zu

    vermehren. Die neue Leitwährung dort

    heißt Vertrauen und Selbstständigkeit.

    arte magazin: Dein Freund der Fehler

     

     

    Dein Freund, der Fehler

     

    Jeder Mensch muss in die Schule und soll etwas lernen. Aber will er auch lernen?

    Die Wissenschaft sagt ja. Nur eines müsse sich hierzulande dafür ändern: der Umgang mit Fehlern.

     

    „Jeder bekommt jetzt ein DIN A4-Blatt.“ Der Ulmer Psychiater und Hirnforscher Manfred Spitzer spricht plötzlich wie ein Oberlehrer. Das macht sein Publikum in der Stadthalle von Schwäbisch Gmünd unruhig. Mehr als 1.000 Menschen sind gekommen. „Ich gebe Ihnen eine Viertelstunde und Sie schreiben auf, was Sie von der Mathematik der Oberstufe können.“ Spitzer ist ein Guru der neuen Lernforschung. Die Leute kommen in Scharen zu seinen Vorträgen. Aber in Mathe geprüft zu werden, damit hat niemand gerechnet. Nach kurzer Zeit beginnt der Professor zu grinsen. Der Saal antwortet mit einer Woge erleichterten Lachens. Wer braucht schon eine Viertelstunde, um zusammenzufegen, was von Vektor-rechnung und Stochastik übrig geblieben ist? Dafür ist gewöhnlich auch kein DIN A4-Blatt nötig. Ein Papierschnipsel würde reichen. Aber wenn ein Oberlehrer spricht, will das niemand zugeben.

    Wie viele Menschen haben in der Schule gelernt, ihr Unwissen zu tarnen und dabei den Hunger auf Neues verloren? Ihre Lektion: lieber intelligent gucken als dumme Fragen stellen. Dabei ist Wissensmangel der Antrieb zum Lernen. Viele Schulen spielen noch das ermüdende Spiel der fertigen Welt, in der es auf alles eine Antwort gibt. Die Schüler gehen dorthin wie zum Zahnarzt. Nach Jahren des Unterrichts sind sie erleichtert, das alles hinter sich lassen zu dürfen, und haben das Lernen verlernt. Nicht ganz. „Unser Gehirn kann gar nicht anders als lernen“, sagt Manfred Spitzer und fügt hinzu: „Jedes Gehirn ist ein Protokoll seiner Benutzung.“

    Wie also lernt man, sein Gehirn zu benutzen? Die Erfahrungen in der Schulzeit entscheiden darüber, ob man widerwillig oder mit Freude lernt. Auf die Atmosphäre kommt es an. Die Hirnforschung zeigt, dass es sich mit Freude besser lernt. Hier unterscheidet die Lernforschung zwischen „trägem“ und „intelligentem“ Wissen. Träges Wissen bleibt ein Fremdkörper und wird zumeist wieder abgestoßen. Es erinnert an die Krankheit Bulimie: fressen und kotzen. Intelligentes Wissen hingegen macht Appetit auf mehr. Bei der Vermittlung trägen Wissens bleiben die Schüler passive Objekte der Belehrung. Der Aufbau intelligenten Wissens aber setzt voraus, dass die Schüler Subjekte sind und zusammen mit ihren Lehrern „Ko-Konstrukteure“ eines Wissens werden, das bei jedem etwas anders modelliert ist. Lernen wird so gewissermaßen zur Vorfreude eines jeden Menschen auf seine künftige Persönlichkeit. War es in der alten Schule eher ein Nachteil, verschieden zu sein, und wollten Lehrer alle Schüler möglichst auf den gleichen Stand bringen, so entdeckt das neue Lernen das Potenzial der Differenz. Unterschiede vergrößern den Pool möglicher Fragen und Antworten. Das gilt im Klassenraum genauso wie für die Gesellschaft.

    Die klassische Industriegesellschaft, in der die Belehrung Trumpf war, wandelt sich zu einer Ideen- und Wissensgesellschaft. Um Probleme zu lösen und Neues zu erfinden, kommt es auf Selbstständigkeit und Kooperation gleichermaßen an. Das Thema Lernen rückt dabei an die Spitze der Tagesordnung. Immer weniger geht es in der Arbeitswelt darum, routinierte Arbeiten auszuführen, das übernehmen Maschinen. Im Zeitalter der Globalisierung setzen Unternehmen stattdessen darauf, „lernende Organisationen“ zu werden. Wissen ist dafür das wichtigste Kapital und Lernen wird zur entscheidenden Produktivkraft. 

    Ein Land wie Finnland, das im Bildungsranking der Pisa-Studie ganz oben steht, hat den Sprung von einer bindungsstarken Agrargesellschaft zu einer erfindungsreichen Wissensgesellschaft, die auf dem traditionellen Sozialkapital aufbaut, geschafft. Das Ziel der „Kommunikationsgesellschaft“ wurde sogar per Verfassung festgelegt. Ein Richtwert dafür definiert, dass 70 Prozent eines Jahrgangs aller Jugendlichen studieren. Inzwischen beginnen 72 Prozent ein Studium. Das Geheimnis der Finnen heißt: Man darf kein Kind beschämen. Niemand wird ausgeschlossen. Selbstbewusstsein und Zugehörigkeit erweisen sich als die Seele des Lernens und zugleich als ein Erfolgsfaktor für die moderne Gesellschaft. Kein Wunder, dass derzeit in Finnland 500 Schulleiter aus China erkunden, was gute Schule ausmacht.

    Auch in der Bildung hat das Zeitalter der Globalisierung begonnen. Kulturen lernen voneinander. Euro-päer, die Schulen in Vietnam oder Japan besuchen, sind beeindruckt von der enormen Hochachtung gegenüber dem Lernen. In Vietnam räumt die Familie den einzigen Tisch, damit das Kind seine Schulaufgaben machen kann. Die Vorstellung von mangelnder Begabung und  davon, dass es einige Schüler nie schaffen werden, ist in Ostasien unbekannt. Japan versucht, die rigiden Traditionen seiner Schulen hinter sich zu lassen, und spricht von Kreativität als dem „Salz des Lernens“. Dazu gehört auch die japanische Tradition, dass man beim Lernen Fehler machen darf, ja Fehler machen soll.  

    In der Tat ist der Umgang mit Fehlern aufschlussreich. Gelten Fehler als Sünden, die in der Schule von einer pädagogischen Inquisition verfolgt werden, oder nennt man den Fehler, wie in kanadischen Schulen, einen Freund? Schulen können übrigens von manchen Unternehmen lernen, in denen sich das Management mittags fragt: „Hast du heute schon einen Fehler gemacht?“ Der Fehler gilt nicht mehr als Abweichung, die geahndet wird, sondern als Eintragung im Pass für Grenzgänger. Wer sich ins Unbekannte gewagt hat, macht Fehler. Umgekehrt gilt: Wer keinen Fehler gemacht hat, hat noch nichts gewagt. Natürlich geht es darum, nicht immer wieder die gleichen Fehler zu machen, sondern neue, intelligente Fehler zu wagen. „Ich ernähre mich von meinen Fehlern“, sagte der Künstler Joseph Beuys, „wovon sonst?“

     

    ARTE-Gastautor Reinhard Kahl widmet sich als Autor und Regisseur dem Thema Lernen und Erwachsenwerden

    Bernhard Pörksen über das Archiv der Zukunft


    Bernhard Pörksen bei der Buchvorstellung von "Moderne Helden" (Kamphausen-Verlag)  am 23. August 2005 in Hambrg u.a. über das Archiv der Zukunft.
     
     
    Mein erster Satz lautet: Was Michael Fuchs und Steffen Gill mit diesem Projekt geschaffen haben, ist ein Archiv der Zukunft. Archive sind traditionell Orte zur Aufbewahrung des Vergangenen, Plätze für Staub, alte Bücher, Erinnerungsstücke. Zukunft ist das noch Unbekannte, Unerschlossene, Offene. Der Begriff Archiv der Zukunft hat etwas von einem Paradox. Erfunden hat ihn der Journalist Reinhard Kahl. „Es gibt hier zu Lande“, so hat geschrieben, „eine heimliche Liebe zum Misslingen, zumal wenn man dabei mit „kritischen“ Analysen und alarmierenden Prophezeiungen Recht bekommt. (...) Dass etwas nicht geht, ist eine Prognose, deren Bestätigung leicht fällt. Dass etwas gelingt, ist immer risikoreich. Aber die eigentliche Sensation ist doch, wenn etwas gelingt.“ Und so ist er losgezogen und hat angefangen für sein Archiv der Zukunft zu sammeln und Filme zu drehen. Er hat großartige Schulen ausfindig gemacht, wunderbare Lehrer, selbstvergessene, kreative, eigenwillige Schüler. Vorbilder hätte man sie früher genannt, aber das klingt ein bisschen nach moralischem Besserwissertum, irgendwie altväterlich. Heute haben wir einen besseren Begriff: „Moderne Helden.“

    Das Problem ist jedoch: Das Gelingen ist häufig keine Nachricht; die Medienmaschine arbeitet anders. „Bad news are good news“ lautet ihr zentrales Credo; was in großem Maßstab misslingt, dringt durch, färbt unsere Weltwahrnehmung. Der Absturz, das Unglück, die Katastrophe. In einer solchen Welt braucht man Archive der Zukunft. Sie dokumentieren konkrete Utopien; man kann sie besuchen, um zu sehen, dass man als Einzelner wirksam werden kann. Ihre zentrale Botschaft handelt von einem gelingenden Leben. Man kann sich in diese Archive hineinbegeben, um sich gegen Resignation zu impfen. Die Stimmung in diesen Archiven hat etwas Ansteckendes, Ermutigendes. Man sieht, was möglich ist. Das war mein erster Satz, meine erste These: Michael Fuchs und Steffen Gill und – wenn ich richtig gezählt habe: 50 wunderbare Menschen – haben ein Archiv der Zukunft geschaffen.
     
    Mein zweiter Satz lautet: Es ist intelligent, nett zu sein. Warum? Wir neigen dazu, in Schwarz-Weiß-Gegensätzen und Entweder-oder-Schablonen zu denken: Selbstverwirklichung oder Fremdbestimmung, Arbeit oder Freizeit, Eigeninteresse oder Orientierung am Gemeinwohl, Ich oder Wir, das Individuum oder das Kollektiv, der Einzelne oder das Ganze. Das Projekt „Moderne Helden“ führt vor, dass diese Gegensätze so nicht stimmen müssen. Der Widerspruch kann in der Logik existieren, aber im Leben aufgelöst werden. Es gibt im wirklichen Leben viel mehr Kombinationsmöglichkeiten; man kann sein ureigenes Interesse mit der Orientierung am anderen verbinden, kann das Ich und das Wir zusammen führen. Damit bin ich bei meinem zweiten Satz, meiner zweiten These: Es ist intelligent, nett zu sein, weil man auch etwas bekommt, weil vom Glück des anderen etwas auf einen selbst zurückstrahlt. Glück vermehrt sich, indem man es teilt. Das ist die Erfahrung, von der 50 moderne Helden berichten.

    Mein dritter und letzter Satz ist vielleicht etwas missverständlich, kitschig, jedenfalls mir selbst etwas unbehaglich. Er lautet: Das moderne Heldentum basiert auf Liebe. Was ist damit gemeint? Wer Liebe sagt, denkt vielleicht an Strandspaziergänge, Küsse, Sex, romantische Bilder der Zweisamkeit. Aber davon spreche ich nicht. Liebe heißt hier: dem anderen einen Raum zu eröffnen, in dem er sich als der zeigen kann, der er ist. Liebe heißt hier: dem anderen, seinen Wünschen und Sehnsüchten, seinen Ängsten und Verrücktheiten, seiner Persönlichkeit und seiner ungeschliffenen Individualität eine legitime Präsenz zu geben, sie anzuerkennen, sie überhaupt wahrzunehmen und sich zeigen zu lassen.

    Es kann, so führen die modernen Helden vor, sich bei diesem anderen um ein Kind handeln, das im Koma liegt und durch die Begegnung mit einem Delfin wieder ins Leben zurückfindet; es kann ein so genannter Behinderter sein, der stundenlang auf alle einredet, aber dann in der Musik und in den Aktionen des Atelier Blaumeier seine Möglichkeit geboten bekommt, auf angenehme Weise Aufmerksamkeit zu erlangen. Dieser Respekt im Umgang und dieser Versuch, Räume legitimer Präsenz für andere zu schaffen, verbindet den Musiker, den Überlebenskünstler, den Clown, den Arzt, den Wissenschaftler, den Managementberater, den Hailiebhaber, die Buddhistin und den Gärtner, denen auch Michael Fuchs und Steffen Gill auf ihre Art einen Raum der Präsenz geschaffen haben. Wir feiern diesen Raum heute mit einem Buch und einer Ausstellung. Vielen Dank.

    *****************************************

    Juniorprofessor Dr. Bernhard Pörksen
    Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft
    Universität Hamburg
    Allende-Platz 1
    20146 Hamburg
    Tel. +49/40/42838-3637
    Fax. +49/40/42838-2418

    Politik nach der Politik – Internet Wahltagebuch

    http://www.wahltagebuch.de/

    Internet Seite der Heinrich Böll Stiftung

    "Politik nach der Politik"

    13.8.
    Schon bei den vergangenen Wahlen wurde nicht gewählt, sondern abgewählt. Aber die Sache ist noch steigerungsfähig. Es sieht so aus, als würde Frau Merkel bereits schon wieder abgewählt, bevor sie gewählt worden ist. Da das ja auch kein Grund zum Weiterschrödern ist, wird sie dann dennoch gewählt werden, allerdings schon mit dem Vorzeichen der Abgewählten.

    Heute ein ganz gutes Interview mit dem Parteiendemoskopen Manfred Güllner in der taz: „Wenn die Wähler dann so enttäuscht von Schwarz-Gelb wie von Rot-Grün sind, dann entsteht ein politisches Vakuum.“

    14. 8.
    Alles orange. So könnten sie doch alle rumlaufen. Nicht nur Frau Angela und ihre Paladine. War das nicht auch die Farbe von Sekten? Und sind die Politikprofis vielleicht auch bald eine Sekte? Ich finde allerdings, es gibt gar keinen Grund der alten Farbenlehre von schwarz, rot, grün nachzutrauern. Auch dass die alten Feindschaften nicht mehr blühen, ist kein Verlust, nur einer an Unterhaltungswert. Vielleicht reicht unsere Beobachtungs- und Analysekraft nicht aus, zu erkennen, wohin die Politik, die aus der Politikerpolitik auswandert, treibt. Gibt es erkennbare Orte, wo sie sich wieder einnistet? Erst keimhaft vielleicht? Jedenfalls will ich bis Donnerstag meinen Blick auf dieses Verschwinden schärfen und dem eventuell erneuten Auftauchen von Politik nachspüren. Wir müssen viel mehr Trüffelschweine sein.

    In den Medien läuft der große katholische Jugendauflauf in Köln schon jetzt dem Wahlkrampf den Rang ab. Merkwürdig. Der emphatische Ort der Politik seit der französischen Revolution war doch die Straße, ab und zu eine mit Barrikade. Die Straße, die Jugend, die auf die Straße geht und die Emphase, das alles gehört in diesen Tagen den katholischen Jugendlichen und dem alten Mann aus Rom.

    Politik hatte die großen Figuren des christlichen Glaubens säkularisiert: Den Erlösungswunsch und die Fixierung auf Zukunft, die Selbstbeschreibung im Jammertal und das anstehende letzte Gefecht oder eben die Apokalypse. Alles säkularisierte Religionsmuster. Aber das ist nicht mehr die mentale Grammatik der Jugendlichen, die nach Köln fahren. Sie treten die Nachfolge der letzen großen Bewegung an, die auf die Straße ging: die Loveparade. Aber ihr Narzissmus trug nicht weit. Mehr als ausziehen, kann man sich ja nicht. Auch der Multikulti-Karneval ist viel zu selbstreferenziell, um wirksam werden zu können. In der Kölner Wallfahrt allerdings könnte vielleicht doch noch etwas anderes liegen. Es gibt neben der Erwartung des „Events“ und dem Tanz um den Poppapst eine Dimension des Glaubens. Ich meine nicht diesen Kinder- und Katechismusglauben. Ich denke an einen Glauben im Sinne des „Möglichkeitssinns“, wie ihn Robert Musil im „Mann ohne Eigenschaften“ skizzierte. Ein Glaube, der mit Politik im emphatischen Sinne sehr verwandt ist. Der Glaube als ein Medium für die Frage, wie wollen wir leben? Ein Glaube jenseits des kruden Pragmatismus, der keine Alternativen mehr zulässt. (Wie sagte doch Schröder, es gibt keine rechte oder linke Wirtschaftspolitik, sondern nur richtige und falsche. Das heißt im Klartext, es gibt gar keine Politik.)

    Wo dieser Glaube ist, wohlgemerkt nicht der Glaube an den Landgerichtspräsidenten mit Bart, der hinter der Wolke sitzt und Sündenkonten für uns Erdenwürmer führt, sondern ein Glaube, der einen schwer bestimmbaren Raum aktiviert, da kann Politik entstehen – muss nicht entstehen. Ich bezeichne diesen Raum, um es kurz zu machen mit einem meiner Lieblingszitate von Hannah Arendt: „Die Welt liegt zwischen den Menschen, und dies Zwischen - viel mehr als, wie man häufig meint, die Menschen oder gar der Mensch - ist heute Gegenstand der größten Sorge und der offenbarsten Erschütterungen in nahezu allen Ländern der Erde. Selbst wo die Welt noch halbwegs in Ordnung ist oder halbwegs in Ordnung gehalten wird, hat die Öffentlichkeit doch die Leuchtkraft verloren, die ursprünglich zu ihrem eigensten Wesen gehört. Mehr und mehr Menschen in den Ländern der westlichen Welt, die seit der Antike die Freiheit von Politik als eine der Grundfreiheiten begreift, machen von dieser Freiheit Gebrauch und haben sich von der Welt und ihren Verpflichtungen in ihr zurückgezogen.“

    Dieses „Zwischen“ wieder zu aktivieren, das wäre eine Bedingung für Politik. Dieses Zwischen bildet Atmosphären, in denen Wirklichkeit auskristallisiert wird.

    15. 8.
    Wieder mal ferngesehen. Auf N24 Schily und Beckstein so einvernehmlich, als sollte diese Inszenierung dem letzten Glotzer klar machen, dass es bei der Wahl nichts zu wählen gibt. Die beiden duzen sich und erzählen bei welchem Rotwein es dazu kam. Warum werden solche Rotweinszenen nicht direkt gesendet? Nun erzählen sie, dass man sich bei Schily zu Hause Hausschuhe anzieht und dass man bei Becksteins auf Socken oder barfuss wandelt. Da zieht es einem nun wirklich die Schuhe aus. Und damit ist jetzt das Niveau des politischen Diskurses dieser Wahl endgültig definiert. Es reicht.

    Nicht ganz.

    Klar wird jedenfalls, dass das ganze Stoiber-Spektakel sein muss. Dieses Spektakel oder ein anderes. Weil ja es ja kaum Referenzpunkte gibt: Programme, Ziele, beschreibbare Lösungsvorschläge für konkrete Probleme. Deshalb muss sich der Wahlkampf selbst zum Wahlkampfthema machen. Das Selbstreferenzielle auf dem Höhepunkt. Wie die akustische Pfeiftonrückkopplung, die entsteht, wenn das Mikrofon zu nahe am Lautsprecher steht.

    16. 8.
    Dieser Gedanke beschäftigt mich jetzt dauernd: Woran glauben wir, was halten wir für möglich, was wollen wir? Man könnte auch am Nullpunkt der alten Politik, die aus Forderungen, Kritik & Co. bestand, fragen: Wann werden wir endlich konstruktiv? Ja! Wo bleibt das Positive? Das war lange die Spur der Naiven, der Opportunisten und der Phantasielosen, der frisch Geduschten und angezogen auf die Welt Gekommenen: das Positive. Es wird Zeit, dass wir, die aus der Tradition der Kritik und des Protestes kommen, also die mit der Welt nicht einverstanden sind, in unserem Nichteinverständnis allein keine Auszeichnung mehr sehen. Wie wäre es mit einem subversiven Konstruktivismus?

    Im politischen Atheismus haben inzwischen die Alt-68er und ihre Kinder einen gemeinsamen Nenner. Der wäre zu überwinden. Sich vorstellen, was gelingen könnte!

    17. 8.
    Ein Beispiel für neue Politik. Ich würde sie lieber Polytik nennen. Wegen der Vielfalt, die gegen die Einfalt mobilisiert werden muss. Ein Beispiel für Polytik aus dem Bereich, in dem ich als Journalist vor allem arbeite, der Bildung.

    In Wiesbaden plant meine Freundin Enja Riegel, die inzwischen pensionierte Leiterin der famosen Helene-Lange-Schule auf dem traumhaften Grundstück der ehemaligen Gartenbauversuchsanstalt des Landes Hessen eine freie Schule von der Vorschule bis zum Abitur – und dazu ein Gästehaus zur Lehrerbildung. Für das Grundstück bürgt die Stadt Wiesbaden mit 1,5 Millionen. Alle Fraktionen von CDU bis Grün haben zugestimmt. Die „rote Enja“ galt einst den Bürgern der Stadt als Bürgerschreck. Nun unterstützt die CDU-Schulreferentin dieses Projekt. Zugleich betreiben diese schwarze Referentin und die rote Schulgründerin, die schon mal für die SPD Kultusministerin werden sollte, die Umgründung staatlicher Schulen.

    So wünsche ich mir eine große Koalition: Ermöglichung ungewöhnlicher Bündnisse. Das wäre die Realpolitik, auf die es ebenso ankommt, wie auf die Konstruktion des Glaubens als Möglichkeitssinn. Das ist doch der Kern von Politik: Zusammen handeln. Noch mal Hannah Arendt. Sie schreibt in Vita Aktiva, „Macht kommt von Mögen.“

    Vielleicht könnte die Bildungsszene ein Modellfall für Politik werden. Hier wird es am deutlichsten, dass die Zentralen gar nicht darüber hinweg täuschen können, dass sie nichts mehr zu melden haben. Und man sollte auch damit aufhören ihnen das vorzuwerfen. Die Gesellschaft ist jetzt dran. Aber ob die Gesellschaft souveräner wird ob sie oder verwahrlost, ist ganz und gar kein Selbstgänger. Das Abdanken der Politik, ohne eine Repolitisierung der Gesellschaft könnte böse enden.

    In der Nacht vom 17. zum 18.
    Herr Kirchhoff als Finanzminister im orangenen Team? Vielleicht könnte die Steuerpolitik ein Medium der Politisierung werden. Dann hätte eine CDU Regierung ihr Recht. Am Image von Steuern wird deutlich, wie infantil und feudalistisch in Deutschland noch Politik konstruiert ist.

    Ein Beispiel. Kürzlich in der Schlange vor der Kasse im Buchladen. Ein Mensch, der sich seine Bücher als Geschenke einwickeln lässt, verlangt eine Quittung fürs Finanzamt. Niemand räuspert sich. Von Protest ganz abgesehen. Es gilt nicht als unschicklich sich mit seinen Tricks beim Steuerhinterziehen zu brüsten. In der linken Kneipe und bei den feinen Gelagen vieler Arrivierter klingt es, als ginge es bei der Steuerhinterziehung um einen Partisanenkampf gegen die Obrigkeit. Es ist als wolle man laut sagen, die gemeinsamen Dinge sind gar nicht unsere Sache. Solange es viele Deutsche vorziehen, Opfer zu sein, statt sich zum Handeln zu verabreden und ihre Differenz zu respektieren, haben wir eine Normalität von Demokratie noch gar nicht errungen. Zu einer neuen Politik gehört ein Wort, das in Deutschland immer noch Tabu ist: Wir. Das Ganze ist tatsächlich unsere Sache. Der Staat ist ein Organ der Gesellschaft und nicht die leibhaftige Obrigkeit, gegen die man zu kämpfen hat.

    Vielleicht könnte eine große Koalition den Effekt haben, Politik nicht mehr nach oben, also an die Politiker zu delegieren, sondern nach unten, in den Alltag und den zu politisieren? – Oder?

     

     

    FR Das Absolute ist tödlich

    Das Absolute ist tödlich
    Im deutschen Rechtschreibkrieg sollte das Prinzip "möglich - nicht möglich" über "richtig - falsch" obsiegen
    VON REINHARD KAHL

    Reinhard Kahl
    Zum Schluss mussten sich die Ministerpräsidenten der Union entscheiden. Fachen sie den Rechtschreibkrieg in Erwartung einer kräftigen Populismus-Rendite noch mal an oder folgen sie dem einstimmigen Beschluss ihrer Kultusminister. Die hatten bekräftigt, es bleibt dabei, die Übergangszeit, in der bereits die neue Rechtschreibung gilt, aber die alte noch kein Fehler ist, läuft am 1. August aus. Schließlich gab bei einigen Ministerpräsidenten die Angst vor einer Angst, die selbst geschürt war, den Ausschlag. Bei Eltern breitetet sich die Befürchtung aus, der neueste Streit laufe auf das Kaufen neuer Schulbücher hinaus. Ein neuer Sturm deutete sich an. So viel Wasserglas war selten.

    Heimatgefühl im Kleinkrieg

    Es scheint als verspürten die Deutschen ein starkes Heimatgefühl im Kleinkrieg. Der Kulturkampf um die Bildung, der letzte Religionskrieg, der ihnen geblieben ist, mündet in bildungspolitischem Pragmatismus. Da konnte sich viel überschüssige Energie an solche Fragen binden, wie der, ob man Stängel oder Stengel schreibt? Hat man nun einer Wortstammregel zu folgen, oder einfach der Konvention? Preisfrage. Wie viele s und f braucht die Flussschifffahrt? Und natürlich dass oder da ß? Immer wieder diese Lust am Entweder-oder. Mal im Ernst. Wer morgens die FAZ liest, mit der alten Rechtschreibung, die dort geheimnisvoll die "bewährte" genannt wird, und dann zu anderen Zeitungen greift, mit ihren nach eigenen Redaktionsregeln modifizierten neuen Rechtschreibungen, fällt dem überhaupt was auf? Ob "achtmal" nun mit oder ohne Bindestrich geschrieben wird, groß oder klein, ist das wichtig?

    Entscheidend ist etwas ganz anderes. Vor und hinter den Bühnen der Rechthaber hat sich längst ein buntes Sowohl-als-Auch durchgesetzt. Tatsächlich hat die Doppelherrschaft von alter und neuer Rechtschreibung in den vergangenen Jahren ganz unbeabsichtigt einen enormen Zivilisationsgewinn gebracht. Die alte Leitdifferenz von "richtig - falsch", die immer nur eine Möglichkeit durchgehen lässt, wird nun im Alltag von der überlegenen Unterscheidung "möglich - nicht möglich" durchsetzt und langsam ersetzt.

    Der Autor
    Ob "achtmal" nun mit oder ohne Bindestrich geschrieben wird, groß oder klein, das hält Reinhard Kahl - anders als zwei CDU/CSU-Ministerpräsidenten - nicht für wichtig. Vielmehr habe die zu Ende gehende Doppelherrschaft von alter und neuer Rechtschreibung mit ihrem bunten Sowohl-als-Auch einen enormen Zivilisationsgewinn gebracht.

    Kahl, Jahrgang 1948, ist Journalist, Autor, Regisseur und Produzent von Fernseh- und Videodokumentationen. Im Zentrum seiner Arbeit stehen "die Lust am Denken und Lernen, die Qual belehrt zu werden und die endlosen Dramen des Erwachsenwerdens". aud
    "Möglich - nicht möglich", das ist etwas ganz anderes als die befürchtete Beliebigkeit, gar Anarchie im Schreiben! Nicht alles geht. Aber mit "möglich - nicht möglich" kehren in die Schrift wieder jene Spielräume zurück, die die gesprochene Sprache auszeichnen. Da gibt es zwischen dem mecklenburger und dem bayrischen Sound doch viel Platz! Wäre die Liquidation der Varianten ein Gewinn? Man stelle sich vor, es gäbe eine Rechtsprechkommission? Der erste Nebeneffekt wäre, dass viele glaubten, ohne Rückversicherung keine rechten Sätze mehr bilden zu können.

    Der Regelperfektionismus, in dem sich die Anhänger der einen richtigen alten und der allein richtigen neuen Schreibweise nur so übertreffen, produziert nur bei den Schriftgelehrten Probleme. Nach der einen Dogmatik sollen wir belämmert mit ä schreiben, nach der anderen "belemmert" mit e. Dass Regeln, sobald es mehr als eine gibt, sich aneinander stoßen und nie wirklich aufgehen, ist tatsächlich ein Glück für jede Evolution. Wenn die Dinge nicht ganz aufgehen, dann gehen sie weiter. Das wissen wir ja von Ulrich Beck und den Theoretikern der Zweiten Moderne: Die Vielfalt unbeabsichtigter Nebeneffekte siegt über die braven Ziele.

    Goethes Lust an der Vielfalt

    Kaum vorstellbar, dass es vor 1901 keine staatlich erlassene Rechtschreibung gab. Damals wucherten barocke Ungetüme, zu denen auch noch unsere Großschreibung von Substantiven gehört. Jacob Grimm, der große Wörter- und Geschichtensammler schrieb klein. Ein Individuum konnte sich entscheiden. Vielfalt war möglich. Goethe hatte regelrecht Lust daran, gleiche Wörter verschieden zu schreiben, selbst seinen Namen mit h oder ohne, mal mit ö oder mit oe. Dann nahm Duden dem Regierungsrath in Preußen sein h und viele Beamte sahen ihre Autorität und Würde bedroht. Bismarck drohte seinen Staatsdienern und Diplomaten Strafen an, wenn sie die neue Mode mitmachten.

    Doch bald hatte Duden, dessen Maxime ja hieß, "schreib wie du sprichst", etwas anderes bewirkt als das Beabsichtigte. Der Vereinfachungsversuch öffnet der großen Normierung der Schrift Tor und Tür. Das passte hervorragend ins DIN-Zeitalter der ersten industriellen Moderne, in der die Deutschen Weltmeister wurden. Die durchregulierte Rechtschreibung, zumal in ihrer engen und ängstlichen Auslegung, sozialisierte für die Massenproduktion. Sie braucht strikte Normen, die unbedingt einzuhalten sind. Kreativität und Ideen hingegen brauchen Spielräume. Fehlertoleranz ist der wichtigste Begriff in Theorien über lernende Organisationen. Die industrielle Moral der Ausführenden, Anwender und Kopisten ist obsolet. Eine eng ausgelegte Rechtschreibung, egal welche, initiierte in eine reduzierte Denk- und Handlungsgrammatik. Also halten wir es künftig mit dem Meister aus Weimar. Goethe schrieb: "Ihr seht schon ganz manierlich aus, kommt mir nur nicht absolut nach Haus." Das Absolute ist tödlich. Es hat, wie jede andere Perfektion, keine Zukunft.

    DIE WELT Bei Pisa sehen wir uns selbst

    Bei Pisa sehen wir uns selbst

    Nur überzeugte Lehrer können mit Inhalten ihre Schüler erreichen

    von Reinhard Kahl

    Der Lehrer ist morgens als erster in der Klasse. Wie ein Gastgeber bereitet er sich und den Raum auf den Unterricht vor. Die meisten Schüler sind ebenso vor Unterrichtsbeginn da und beginnen zu arbeiten. Einfach so, ohne Gong, als wäre das Lernen ihre eigene Sache. Eine Idylle? Nein. Es ist der Alltag in der Klasse von Franz Gresser in der Bodensee-Schule Friedrichshafen. Dabei sind seine Schüler in der Pubertät. Es handelt sich um eine Hauptschulklasse.

    Zweite Schulszene, ein Lehrerzimmer in Bremen, kurz nach dem Pisa-Schock. Der Tenor bei den Pädagogen: "Das hat diese Scheißbehörde nun davon, daß unsere Schüler so schlecht abschneiden." Als die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) Lehrer nach Gründen für Lerndefizite ihrer Schüler fragte, nannten sie die soziale Lage, den Fernsehkonsum und den Mangel an ihnen zur Verfügung gestellten Ressourcen. Der eigene Unterricht rangierte an letzter Stelle. In Bremen stuften die Forscher diese Selbstverantwortung als "nicht nachweisbar" ein.

    Eine dritte Szene, wiederum in Bremen. In den Ferien fahren Drittkläßler, zumeist Kinder ausländischer Herkunft, ins "Jacobs Sommercamp", das die Schulbehörde und das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung gemeinsam mit der Jacobs-Stiftung veranstalten. Täglich wird drei Stunden lang Sprache unterrichtet. Es gibt hinreißende Theaterprojekte. Und Abenteuer in der Freizeit. Das Ganze wirkt wie ein Geschenk an die Kinder, die dies auch so wahrnehmen. Die Auswertung des ersten Sommercamps vor einem Jahr wurde gerade veröffentlicht. Die Schüler haben in drei Wochen enorme Lernfortschritte in Deutsch gemacht. Sie entsprechenden denen eines halben Schuljahres. In diesen Ferien geht die neue Lernform an der Weser in Serie.

    Diese drei Szenen berichten vielleicht mehr über unsere Schulen als manche Pisa-Interpretation, die in diesen Tagen zu vernehmen ist. Wenn Lehrer sich in der Schule zu Hause fühlen und als Person für das, was sie anbieten, einstehen, dann werden die Schüler diese Inhalte zu ihrer Sache machen. Aber wenn sich die Lehrer als Untermieter im System begreifen und ihren Schülern das alte Lied der Infantilisierung vorpfeifen, "das hat meine Mutter nun davon, daß ich friere", wie sollen die Schüler dann ihre "Selbstwirksamkeit" erfahren?

    Das etwas umständliche, zu direkt aus dem Englischen übersetzte Wort Selbstwirksamkeit wird ein Schlüsselbegriff der neuen Bildungsdebatte. Es verbindet Arbeitstugenden mit der Wertschätzung des Individuums. Es schließt den Sinn von Anstrengungen ebenso ein wie den Reiz und die Bedeutung der Sachen. Folgenreichtum und Wirksamkeit sind geistige Lebensmittel. Ohne diese Erfahrung breitet sich Verwahrlosung aus. Die Schule ist eben kein Durchlauferhitzer für Wissen. Sie ist die entscheidende Instanz unseres kulturellen Gedächtnisses. Und ein Gedächtnis ist kein Container. Seine Strukturen sind Protokolle seiner Benutzung.

    Wenn wir nicht über die Kultur der Schulen reden, werden wir auch kein Pisa-Ergebnis begreifen. Es war Hartmut von Hentig, der die drei R der Schule ins Zentrum stellte: Regeln, Reviere und Rituale. An der eingangs zitierten Bodensee-Schule, einer katholischen Ganztagsschule seit 30 Jahren, hat man noch ein weiteres R hinzugefügt, die Rhythmisierung der Zeit: Anstrengung und Entspannung. Die Schule sei "Stätte der Personwerdung". Gelingt das, sagt Schulleiter Alfred Hinz voller Stolz auf die guten Leistungen seiner Schüler, "dann läßt sich die Vermittlung von Wissen gar nicht verhindern". Das kulturelle Gedächtnis Schule produziert selbst bei bester Ausstattung Ausfälle, wenn die Lehrerzimmer aus depressiven Zirkeln bestehen. Dann nämlich wehrt das geistige Immunsystem der Schüler die mit Gleichgültigkeit infizierten Inhalte ab.

    Die Frage zu stellen, ob die Schule auch erziehen soll, ist weder theoretisch noch moralisch. Diese Frage ist vielmehr unvermeidlich. Es ist die Frage, in welche Welt wir die nächste Generation hineinziehen. Die Tatsache, daß Pisa die Deutschen immer wieder so erregt, zeigt, daß wir bei diesem Schülertest in einen Spiegel blicken und uns selbst erblicken. Die Erwachsenen sind das Thema hinter dem Thema Bildung. "Es ist, als ob sie täglich sagten: In dieser Welt sind auch wir nicht sehr verläßlich zu Hause, und wie man sich in ihr bewegen soll, was man dazu wissen und können muß, ist auch uns nicht sehr gut bekannt. Ihr müßt sehen, wie ihr durchkommt; wir waschen unsere Hände in Unschuld." Visionäre Worte von Hannah Arendt. Sie stammen aus ihrer großen Rede über "Die Krise der Erziehung", die sie 1958 übrigens in der Bremer Böttchergasse hielt.

    Erwachsene, sagte die Philosophin, hätten für die Welt, wie sie ist, den Kindern gegenüber einzustehen, auch und gerade dann, wenn sie mit ihr nicht einverstanden seien. Treten sie vor ihre Kinder und sagen, seht her, das ist unsere Welt, oder geben sie mit der Verantwortung zugleich ihre Würde auf? Zugehörigkeit und Stolz sind Produktivkräfte. Nur wenn sich die Erwachsenen als Konstrukteure einer gemeinsamen Welt verstehen, können sie die Schüler dazu bringen als Ko-Konstrukteure daran mitzuwirken.

    taz Was Bayern lehrt


    Was Bayern lehrt

    Bitte keine ideologischen Debatten über Schulformen: Lehrer müssen Selbstbewusstsein und Spaß am Lernen vermitteln - in verwahrlosten Hauptschulen geht das sicher nicht

    Heißt der Leitstern unserer Schuldebatten nun nicht mehr Finnland, sondern Bayern? Ist jetzt das erste Gebot der finnischen Schule - "Du sollst Kinder nicht beschämen" - von einem selektiven Schulsystem widerlegt? Gilt das neue pädagogisches Testament, dass die "Schule für alle" den unterschiedlichen Individuen am besten gerecht wird, nicht mehr? Jedenfalls hat Pisa die Deutschen wieder mal kräftig irritiert.

    Die deutschen Bildungsdebatten verwirren. Ideologie und Analyse gehen durcheinander. Gewiss, der erste Anschein legt den Schluss nahe: Wenn dort, wo das gegliederte Schulsystem propagiert wird, die Ergebnisse vergleichsweise gut sind, kann diese Propaganda nicht ganz falsch sein. Im Wahlkampf werden wir es hören: Pisa hat erwiesen, dass das dreigliedrige Schulsystem richtig ist. Finnland rückt wieder weit weg, Bayern ist die Zukunft. Wirklich?

    Es lohnt sich, genauer hinzusehen. Tatsächlich schaffen es die Schulen in Bayern und Baden-Württemberg am besten, auch schwache Schüler zu integrieren. Die Aufholgewinner Sachsen und Thüringen haben sich immerhin vom dreigliedrigen zugunsten eines zweigliedrigen Systems verabschiedet. Die Hauptschule ist in Süddeutschland nicht - oder noch nicht - das pädagogische Lazarett des vielfach zerklüfteten Systems. Dort ist es in ländlichen Gebieten kein Stigma, Hauptschüler zu sein. Anders in Nordrhein-Westfalen, Bremen oder Berlin. Richtige Gesamtschulen, in denen die Schüler bis Klasse neun und zehn zusammenbleiben, gibt es in Deutschland nur in ganz wenigen Ausnahmemodellen. Das gegliederte System ist überall, und die sozialdemokratischen Länder sind dabei am stärksten zergliedert. Das ist ein Effekt der Politik "Aufstieg durch Bildung". Sie sollte möglichste viele aufs Gymnasium bringen. Das System wurde flüssiger und aus seiner ständischen Ruhe geholt. Aber es wurde in keine neue Stabilität gebracht. Es wurde neurotisiert. Hat sich das Ziel Abitur als Leitwährung durchgesetzt, führt das zur Entwertung, ja Beschämung und Resignation vieler, die es nicht aufs Gymnasium geschafft haben. Nicht besser geht es all denen, die vom Gymnasium wieder abgestuft werden. Gesamtschulen, die das System mit gestuften Leistungsniveaus in sich wiederholen, verstärken diesen Effekt noch. Sie produzieren Minderwertigkeitsgefühle, Lustlosigkeit und Gleichgültigkeit.

    Der Höhepunkt der sozialdemokratischen Halbheiten in der Bildung war die "schulformunabhängige Orientierungsstufe" in Niedersachsen. Nach der vierjährigen Grundschule kamen die Kinder für zwei Jahre in eine Schule, die nur die eine Aufgabe hatte: Aufteilung auf Gymnasium, Haupt- und Realschule. Manch Progressiver sah in diesem Bastard seine "kleine Gesamtschule." Kinder und Eltern erlebten dieses Schüttelsieb als die Institutionalisierung von Entfremdung. Kein Wunder wenn sich manche in Fremdwörtern ungeübte Menschen ganz kreativ versprachen und von "intrigierten" Schulen sprachen. Als in Niedersachsen die CDU im letzten Wahlkampf unter anderem versprach, die Orientierungsstufe zu schlachten und zur alten Übersichtlichkeit zurückzukehren, wurde sie gewählt.

    In Bayern gab es bis vor drei Jahren noch eine sechsjährige Grundschule für alle, die nicht nach der vierten Klasse zum Gymnasium gingen. Erst mit der siebten Klasse zweigte die Realschule ab. Und da der Anteil von Gymnasiasten in Bayern am geringsten ist, kann man mit Fug und Recht behaupten: Die Bayern haben das am weitgehendsten integrierte Schulsystem in Deutschland, auch wenn sie so ein Wort nie benutzen würden.

    Nun ist das Gymnasium entgegen einem von fast allen geteilten Volksglauben nicht die beste Schule. Allerdings schöpft es die besten Schüler ab. Diese Schwäche unserer höchsten Schule brachte LAU zu Tage. Nach LAU (Lernausgangslagen-Studie) werden in Hamburg alle Schüler eines bestimmten Jahrgangs im Abstand von ein paar Jahren getestet. In der Untersuchung der Neuntklässler konnte bei den Jungen im Gymnasium seit Klasse sieben kein signifikanter Kompetenzzuwachs mehr gemessen werden, von einigen Verbesserungen im Englischen abgesehen. Aber das ist bei normalem Musikhören gar nicht zu vermeiden. Auch andere Studien weisen darauf hin, dass im deutschen Gymnasium viele Schüler im Unterricht nicht erreicht werden, solange Lehrer bloß ihre Fächer und nicht ihre Schüler unterrichten. So gesehen liegt es auf der Hand, dass der Leistungsstand in Bundesländern mit geringer Gymnasialquote steigt, zumindest, solange die Marktführerschaft des Gymnasiums die anderen Schulen nicht zu sehr mit einem Makel infiziert. Wer Bayern verstehen will, muss den aufs Gymnasium fokussierten Blick zurückstellen und den Gedanken aufgeben, dass die Quote traditioneller Gymnasiasten das entscheidende Gütekriterium des Schulsystems sei. Dann sieht man, dass 42 Prozent der Studienanfänger in Bayern die Hochschulreife auf Umwegen über Fachoberschulen und Berufsoberschulen erreicht haben. Nebenan in Baden-Württemberg macht inzwischen ein Drittel der Abiturienten die Reifeprüfung an den Technischen Gymnasien. Das sind ehemalige Haupt- und Realschüler. Stärker auf Anschlüsse achten und weniger auf Abschlüsse fixiert sein, so könnte eine bayrische Lektion lauten.

    Das gegliederte Schulsystem ist dort am erfolgreichsten, wo es am wenigsten erodiert ist. Aber einen Erosionsschutz gibt es nicht. Bayern gehört - wie übrigens auch Finnland - zu den Ländern, die einen großen Sprung von einer agrarischen Struktur zu einer nachindustriellen Wissensgesellschaft machen. Laptop und Lederhosen. In einer Balance aus Tradition und Moderne werden dort kulturelle Ressourcen wie Arbeitshaltung und Disziplin, die aus alten Bindungen stammen, verzehrt. Die finnische Lektion ist, zu zeigen, wie es Schulen gelingt, dieses kulturelle Kapital zu erneuern.

    Auch im Bayerischen Wald drängen Eltern ihre Kinder mehr und mehr zum Gymnasium. Auch dort gilt: Wer es nicht schafft, verliert sein wichtigstes Lebenskapital - Selbstvertrauen. Trotz der neuesten Pisa-Ergebnisse - nein, wenn man genau hinschaut: wegen der neuen Ergebnisse - steht überall in Deutschland eine pädagogische Währungsreform an. Schulen dürfen nicht Unsicherheit und Selbstzweifel verbreiten. Eine Schule muss den Kindern und Jugendlichen vorbehaltlos sagen: "Ihr seid gut. Ihr gehört dazu. In euch steckt mehr, als ihr glaubt." Leistung ist nicht der Gegenspieler von Lust. Aber ohne Anstrengung und ohne Stolz geht es auch nicht. Jede Schule bekommt den Auftrag - und die nötigen Mittel -, möglichst vielen Schülern Anschlüsse, die weiterführen, zu verschaffen. Schluss mit dem Kult um die Abschlüsse. Jede Schule soll eigene Wege gehen, muss diese aber auch verantworten. Zur Selbstständigkeit gehört Evaluation. Dann kann man auch die ideologische Überfracht der "Gesamtschulfrage" abwerfen. REINHARD KAHL

    taz Nr. 7717 vom 16.7.2005, Seite 11, 241 Kommentar REINHARD KAHL, taz-Debatte

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    „Zeit verlieren heißt Zeit gewinnen“

    "Jeder bekommt jetzt ein DIN-A 4-Blatt.³ Der Psychiater und Hirnforscher Manfred Spitzer klingt plötzlich wie ein Oberlehrer. "Sie haben eine Viertelstunde Zeit. Schreiben Sie auf, was Sie von der Mathematik der Oberstufe können.³ In der Stadthalle in Schwäbisch Gmünd sitzen mehr als 1000 Menschen. Der Direktor der Psychiatrischen Universitäts-Klinik in Ulm und Gründer des "Transferzentrums Neurowissenschaften und Lernen³ blickt lauernd in den Saal. Bald beginnt er zu lächeln. Beim Publikum löst sich die Anspannung in einer Woge donnernden Lachens - die meisten hätten nicht mal zwei Minuten gebraucht, um die kärglichen Reste von Vektorrechung und Stochastik zusammenzufegen.

    Mit einem Mal scheint die Lebenslüge der Normalschule entlarvt. Lernt der Mensch tatsächlich für die Zukunft? In Schwäbisch Gmünd zeigt Spitzer seinen Zuhörern, dass immer nur das Wissen abrufbar ist, was man verdaut und sich einverleibt hat. Das andere wird vergessen. Aber immer bleibt der eingeübte Habitus. Manch einer verkörpert sein Leben lang, dass er in den Klassenräumen vor allem gelernt hat, intelligent zu gucken, statt vermeintlich dumme Fragen zu stellen.

    Schüler, die von ihren Lehrern wissen wollen, warum sie dies oder jenes lernen sollen, bekommen häufig noch die alte Antwort: fürs spätere Leben.

    Wirklich? "Alle arbeiten sie für die Zukunft, dieser opfern sie ihr Daseyn; und die Zukunft macht Bankrott.³ Für dieses Verdikt des Philosophen Arthur Schopenhauer ist die Schule ein Paradefall.

    Was verstehen wir unter Zukunft? Aufschlussreich ist die japanische Tradition. Sie hat für Zukunft kein Wort. Zukunft ist eine Lücke, die man in der Gegenwart lässt, damit sich in ihr das Neue, nicht Vorhersehbare einnisten kann. Das sind Momente radikaler Gegenwart. Eine Zukunft, die man plant, die man schon genau zu kennen meint, ist gar keine. Sie wäre nur ein aus der Vergangenheit projizierter Wunsch oder eben Tradition, ohne die es natürlich auch nicht geht.

    Über Zukunft und Lernen lässt sich ohne Paradoxien nicht sprechen. Schulen sind dann am besten, wenn die Schüler ganz gegenwärtig sind. Sind sie hellwach und ganz bei sich, fließen die Ideen. Dann nehmen sie neues Wissen auf. Dann entwickeln sie ihre eigenen Strategien. Dann werden Probleme in Lösungen verwandelt und so entsteht Zukunft. Man muss Kindern nur zusehen, wie sie selbstvergessen spielen, ganz ähnlich wie Wissenschaftler forschen oder Künstler arbeiten.

    Kinder, Wissenschaftler und Künstler sind verwandt. Sie sind Profis im Lernen, Forschen und Formen des Neuen. Albert Einstein nannte sich das "ewige Kind³. Oder Mozart: Ein Notenkopist bräuchte etwa 99 Jahre, um dessen Werk zu kopieren. Mozart aber hat keine 30 Jahre komponiert. Wie kann das gehen? Eine Frage, die nicht beantwortet werden kann, ohne Mozarts Begeisterung und die Versenkung ins Spiel mit einzubeziehen. Wenn Mozart nicht komponiert oder musiziert hat, hat er Karten gespielt, Pölzel geschossen oder ist wie ein Kind durch den Mirabellgarten getobt.

    Die große Epoche des Homo faber, des durch reproduktive Arbeit definierten Menschen, läuft aus. Homo ludens kommt wieder mehr zu seinem Recht. Und zwar nicht erst am Feierabend. Die Arbeit selbst braucht Spielräume, wenn sie in einer Wissensgesellschaft produktiv sein soll.

    Wie könnte eine Schule für die Wissensgesellschaft aussehen? Zum Beispiel wie in der siebten Klasse der Bodensee-Schule in Friedrichshafen, einer katholischen Grund-, Haupt- und Realschule: Noch vor acht Uhr kommen die Schüler, begrüßen ihren Lehrer mit Handschlag, gehen an ihre Tische, sagen anderen "Hallo³ und machen sich an die Arbeit, ohne dass es geklingelt hätte. Ohne Kommando, als wäre das Lernen ihre eigene Sache.

    "Die zentralen Prüfungen nach der neunten Klasse erledigen unsere Schüler mit einer Hand,³ sagt Alfred Hinz, der stolze Rektor. Die einzelnen Fächer hat er abgeschafft und stattdessen Projekte eingeführt, vernetzten Unterricht und eben die freie Arbeit. An jedem Morgen die ersten drei Stunden. Jeder Schüler arbeitet an seiner Sache es ist eine Zeit höchster Konzentration. Der Lehrer geht herum, ist hauptsächlich Beobachter. Er hilft, stachelt an und bespricht kommende Aufgaben.

    In dieser Schule soll jeder Schüler seine Eigenzeit finden. Lernen ist etwas Diskontinuierliches und Individuelles. "Genauso individuell wie die Liebe³, sagt Hartmut von Hentig, der Doyen der deutschen Pädagogik. Im herkömmlichen Unterricht stören Schwierigkeiten, Fehler oder Missverständnisse nur.

    Tatsächlich sind sie das Salz des Lernens. Jeder lernt anders und wer auf seine Weise lernt, lernt am besten. Individualisierung und Zusammenarbeit, heißt das Motto solcher Schulen. Der Respekt vor der Eigenzeit der Schüler soll ihren Eigensinn fördern.

    Schulen wie die Bodensee-Schule, von denen es in Deutschland zwar noch viel zu wenige, aber doch immerhin schon eine ganze Reihe gibt, "lernen selbst am meisten von ihren schwierigen Schülern³, fand der Erziehungswissenschaftler Peter Fauser von der Universität Jena heraus. Eine Voraussetzung dafür ist, dass Lehrer ihre Schüler kennen und sich für sie interessieren. Die häufig als etwas Unscharfes und viel zu Weiches verdächtigte Atmosphäre ist, wie Peter Sloterdijk einmal sagte, das Allerrealste.

    Investitionen in die Räume, in die Vorbereitung und ein schier verschwenderischer Umgang mit Zeit erzeugen hohe Renditen. Bei täglich drei Stunden freier Arbeit in der Bodensee-Schule denkt man an Jean-Jacques Rousseaus Paradox: "Zeit verlieren heißt Zeit gewinnen.³ Wenn die Atmosphäre stimmt und dazu gehört vor allem, dass die Lehrer darauf verzichten, immerzu zu bewerten oder gar zu zensieren , "können sie neben dem Kind singen oder klatschen³, sagt Alfred Hinz. "Es lässt sich von seiner Sache nicht abbringen und wird seine Arbeit immer gut beenden.³ Bernhard Bueb, Leiter des nur ein paar Kilometer entfernten Edelinternats Salem, schwärmt von der Begeisterung, der Arbeitshaltung und der Konzentration der Friedrichshafener Schüler: "alles Eigenschaften, die selten sind in der Schule³.

    Wie kommt es, dass Kinder ihre frohe Zukunftsfähigkeit, ihre Lust am Spiel häufig mit Beginn der Schule verlieren? Warum geben so viele Schüler das Lernen als das große und faszinierende Projekt des eigenen Lebens auf? Und warum ist diese Gruppe in Deutschland so erschreckend groß? Vielleicht, weil viele Menschen die Schule als ständigen Versuch erleben, sich einer Außensteuerung unterwerfen zu müssen. Als Reaktion darauf legt sich selbst ihre mitgebrachte Begeisterung, fremde Sprachen zu beherrschen, Mathematik zu verstehen oder das Wissen der Welt kennen zu lernen.

    Eines Tages schließlich gehen Kinder zur Schule wie zum Zahnarzt. Manch einer entdeckt später am Arbeitsplatz wieder den Reiz des Lernens. Heute erfahren immer mehr Menschen im Beruf die Vorteile von Teamarbeit, die ihnen in der Schulzeit vorenthalten wurde. Das sind dann Eltern, die eine andere Schule wollen. Eine Welle von Schulgründungen und Umgründungen ist in Deutschland im Gang. Future looks bright.

    Dennoch sitzt das Misstrauen gegen die Lust am Lernen tief. Sind das die Narben einer Industriegesellschaft? Kein Zufall, dass Finnland heute in vielen Bereichen an der Spitze steht: Das Land hat einen großen Sprung gemacht von einer auf Verständigung und Vertrauen basierenden Agrargesellschaft zu einer nachindustriellen Gesellschaft. Das Ziel "Kommunikationsgesellschaft³ wurde sogar in die Verfassung aufgenommen. Mehr als 70 Prozent der Schulabgänger studieren. Vertrauen steigert nicht nur die Schulleistungen, sondern auch das Bruttosozialprodukt. Vertrauen und Selbstvertrauen sind die wichtigsten Medien für das Gelingen des Lernens.

    Das gilt für Individuen, für Organisationen und für die gesamte Gesellschaft.

    Das amerikanische Gallup-Institut fragte kürzlich in 47 Ländern, welcher Institution die Menschen am meisten vertrauen. Bei den 36000 weltweit durchgeführten Interviews stehen Schulen, Kindergärten und Universitäten an der Spitze. Das ist eine gute Nachricht. Die schlechte: In Deutschland liegt die Bildung auf Platz 11. Höchstes Vertrauen genießen bei uns die Polizei, das Militär und die UNO.

    Ist es ein Zufall, dass wir Bildung in der Vertrauensskala ins untere Mittelfeld setzen auf exakt jene Position, auf die uns die Pisa-Studie international verwiesen hat? Unschwer erkennbar gehört das Misstrauen zur Physiognomie der auslaufenden Industriegesellschaft, in der man sich auf das Funktionieren in zumeist entfremdeter Arbeit vorzubereiten hatte. Schule sollte das Training dafür sein. Es ist eine Erbsünde der Industriegesellschaft, dass Kindern mit dem Ernst des späteren Lebens gedroht wird, statt sie zum Leben einzuladen. Was heute in Deutschland ansteht, ist der Übergang in eine nachindustrielle Wissens- und Ideengesellschaft. Damit sind andere Länder weiter. Deutsche Besucher in skandinavischen Schulen wundern sich: "So gute Leitungen, obwohl es so lange keine Noten gibt?³ Warum versuchen wir es nicht einmal mit dem Wörtchen "weil²?

    PS 7/8 Große Koalitionen für die Bildung

     

    PÄDAGOGIK - P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

    Große Koalitionen für die Bildung?

    Das beste Ergebnis der Bundestagswahl wäre eine große Koalition. Sie könnte wieder mehr Politik ermöglichen. »Wie bitte«, höre ich, »eine große Koalition wäre doch eher das Ende von Politik.« Das gilt nur, wenn man Politik mit Politikerpolitik gleichsetzt. Aber letztere ist ausgelaugt. Wo sind die Ideen, wo die Selbstdenker? Nach jeder Wahl fällt es schwerer, Ministerposten mit halbwegs vorzeigbaren Leuten zu besetzen. Der Politikerverdruss beginnt bei ihnen selbst. Und wenn wir unsere Innenbeleuchtung einschalten, sehen wir, dass unsere politischen Präferenzen von Erinnerungen zehren, häufig sind es bloß Ressentiments. Bildet diese Politik noch die Sphäre, in der wir herausfinden können, was wir wollen?

    Gründer und Umgründer

    Wo wird derzeit Bildungspolitik gemacht? Es gibt zwei Szenen. In der einen laufen abstrakte Debatten um Schulformen, inklusive vieler Versuche, diese Debatte zum Tabu zu erklären. Ein Lichtblick sind die Versuche, Spielräume für selbständige Schulen zu schaffen. Ansonsten wird gespart. Eine Welle von Schließungen steht bevor. »Sachzwänge« zu exekutieren, ist das Politik? Auf der anderen Seite füllen Eltern und Lehrer Säle, wenn es um Gründungen und Umgründungen von Schulen geht. Selbst Nena (99 Luftballons) will eine Schule gründen. In Wiesbaden plant Enja Riegel, die inzwischen pensionierte Leiterin der Helene-Lange-Schule auf dem traumhaften Grundstück der ehemaligen Gartenbauversuchsanstalt des Landes Hessen eine freie Schule von der Vorschule bis zum Abitur - und dazu ein Gästehaus zur Lehrerbildung. Für das Grundstück bürgt die Stadt Wiesbaden mit 1,5 Millionen. Die rote Enja galt einst den Bürgern der Stadt als rotes Tuch. Nun unterstützt die Schulreferentin (CDU) dieses Projekt. Zugleich betreiben die schwarze Referentin und die rote Schulgründerin, die schon mal für die SPD Kultusministerin werden sollte, die Umgründung einer Hauptschule nach dem Modell der Helene-Lange-Schule. Auch das ist eine große Koalition. Lehrer werden in Teams arbeiten. Für Schüler gibt es Reviere, Regeln und Rituale. Wir brauchen viel mehr solch ungewöhnlicher Bündnisse. Im sächsischen Grimma, wo man Schulen schließt, reden Eltern, Lehrer und ein Pastor über eine ganz neue. In Hamburg sind mindestens vier Initiativen im Gang. Alle nach einem ähnlichen Muster: altersgemischte Gruppen; die Schule als Lern- und Projektbüro; Raum und Zeit schaffen, damit jeder auf seine Weise lernen kann und damit alle ihre Zusammenarbeit kultivieren. Bei Gründern wie bei Umgründern steht am Anfang der Wunsch nach einer anderen Atmosphäre. Sie »bilden«, was der deutschen Bildungspolitik am meisten fehlt: Konsens und die Lust dran, zusammen zu handeln. Das ist doch der Kern von Politik: Zusammen handeln.

    Neue Politik?

    Natürlich steht so etwas nicht explizit im Programm einer großen Koalition. Aber schon ihre Existenz würde das Abdanken einer Formation von Politik besiegeln, die auf alles eine Antwort hatte, für jedes zuständig sein wollte, aber zum Schluss nur noch in der gefallsüchtigen Runde bei Christiansen Politik in Pop verwandelt hat. Gewiss, die große Koalition wäre nur ein Rahmen für das, was ohnehin an der Zeit ist und was Rotgrün (leider) nicht gelungen ist. Es wird sich seinen Weg bahnen: Die Zentralen müssen nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass sie in vielen Fragen gar nichts mehr zu melden haben. Und man könnte auch damit aufhören, ihnen das vorzuwerfen. Die Gesellschaft ist jetzt dran. Aber ob die Gesellschaft souveräner wird oder verwahrlost, ist ganz und gar kein Selbstgänger. Das Abdanken der Politik ohne eine Repolitisierung der Gesellschaft könnte böse enden.
    Politik ist in Deutschland vielfach noch infantil konstruiert. Wieso zum Beispiel protestiert in der Schlange vor der Kasse im Buchladen niemand, wenn ein Kunde, der sich seine Bücher als Geschenk einwickeln lässt, eine Quittung fürs Finanzamt verlangt? Wo bleibt zwischen Staat und Ego der Raum für die Gesellschaft? Wie verödet er ist, wird daran deutlich, dass es nicht als unschicklich gilt, sich mit seinen Tricks beim Steuerhinterziehen zu brüsten. Als ginge es dabei um einen Partisanenkampf gegen die Obrigkeit. Als wolle man laut sagen, die gemeinsamen Dinge sind gar nicht meine Sache. Solange es viele Deutsche vorziehen, Opfer zu sein, statt sich zum Handeln zu verabreden und ihre Differenz zu respektieren, haben wir eine Normalität von Demokratie noch gar nicht errungen.
    Die klassische Definition für Revolution heißt: wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen. Jetzt geht es nicht mehr um die eine große Revolution, sondern um viele kleine, ums Selber-Anfangen, was allerdings die größte Revolution für politische Untermieter ist.

    P. S.

    Aber was wird mit der Außenpolitik, mit den Umweltfragen und den Renten, also mit der großen Politik? Dort wird es viel mehr auf Personen als auf Parteien ankommen. Personen, die sich nicht mehr durch die Ortsvereine quälen, sondern sich in politischen Handlungen profilieren, wo die Polis neu lernt, was Politik ist. Zum Beispiel beim großen Projekt, aus Schulen die Kathedralen der Zukunft zu machen – Kathedralen im Mittelalter waren auch Markthallen und Treffpunkte – das wäre wirklich was. Dafür brauchen wir nun eine ganz große Koalition. Wenigstens in diesem Punkt.

    P.P.S.

    Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de

     

     

    PS 6 Das Brainstorming der Schüler

    PÄDAGOGIK - P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

    Das Brainstorming der Schüler

    Auf diese Idee hätte man längst kommen können. Ein Parlament mit Schülern, die in ausländischen Schulen gelernt und – damit beginnt häufig schon der Unterschied – gelebt haben. Was von so einem Konvent ausgehen könnte, war zu ahnen, als auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung kürzlich um die 20 Schüler nach Berlin kamen. Sie sind in Kanada oder Finnland, in Irland oder Polen zur Schule gegangen. Beim Vergleich kam Deutschland nicht gut weg. Schwarzweiß waren die Bilder dieser Erfahrungsexperten allerdings nicht. Schatten und dunkle Wolken gibt es überall. Aber dass der Himmel über Schulen überwiegend heiter sein kann, hatten viele nicht für möglich gehalten. Bis sie es erlebten. Beim Treffen kam Begeisterung auf. Schule kann tatsächlich Freude machen. Wenn Erinnerungen aus Quebec mit denen aus Schweden verglichen wurden, wenn norwegische und irische Schulgeschichten erzählt wurden, dann wurde manch einem erst klar, das war gar kein Einzelfall, was ich erlebt habe. Dass man gern zur Schule gehen kann, ist für viele Deutsche immer wieder eine Entdeckung.

    Zugehörig

    Am wichtigsten ist die Atmosphäre. Aber was ist das? Schwer zu fassen. Zum Beispiel Sportveranstaltungen, bei denen alle Schüler dabei sind und ihre Mannschaft anfeuern. Sport, das zeigten vor allem Berichte aus den angelsächsischen Ländern, ist nicht nur Bewegung, Körperlichkeit und Spiel. Sport ist auch ein Ritual, sich Verbundenheit zu vergewissern. Oder ein Pyjama Day, zu dem alle Schüler im Schlafanzug kommen. Das fanden die Deutschen zunächst albern. Erst recht mit einem Wackelpudding-Burger-Wettessen konnten sie nichts anfangen. Aber nachträglich fanden sie, »das bindet, da wird viel gelacht, da kommt man sich näher«. So wird eine Atmosphäre gebildet, die Zugehörigkeit auskristallisiert. Dieses vorbehaltlose Ihr-gehört-dazu war für die deutschen Schüler neu und zunächst schwer verständlich. Wieder mal verdeutlicht dieser Kontrast die giftigen Wirkungen des selektiven deutschen Systems: Man kann sich nie ganz sicher sein, ob man wirklich dazugehört.
    Oder die Lehrer. Abgesehen von den Schilderungen aus Polen und Frankreich wurde das Verhältnis als viel entspannter geschildert, als es hierzulande erlebt wird. Die persönliche Beziehung ist so wichtig wie der Fachunterricht. Das konnten die Schüler, die auf Auslandsexpedition waren, über ihre Heimat nur ausnahmsweise sagen. Manchmal rangen sie nach Worten. Denn es geht ja nicht um ein paar Äußerlichkeiten, sondern darum, wie sie wahrgenommen werden. Es geht um Wertschätzung. Das berührt. »Na ja, der Respekt war ein ganz anderer. Es war nicht Disziplin von wegen, wir sind jetzt wie in der Armee und ihr habt zu machen, was ich sage, weil ich bin die Obrigkeit. Die Lehrer waren eher wie Freunde. Man hat zusammengearbeitet, statt irgendwie zu rebellieren gegen seine Lehrer, also meistens.« Bericht eines Schülers nach einem Jahr in Quebec. In Deutschland war ihm das Lernen zuvor fast abhanden gekommen. Respekt war eines der von den Schülern am häufigsten gebrauchten Wörter. Respect! Respect me! Das sind auch Keywords in den Subkulturen, etwa in den Sprechgesängen des HipHop. Respekt kommt ja von respectare, zurück blicken. Wie blickt ein Schüler, wie blickt ein Lehrer zurück?

    Werte

    »Und was wir noch ganz wichtig finden ist, dass in Skandinavien die Lehrer keine Beamte sind.« Sie sind Angestellte, »die verhandeln mit dem Schulleiter über ihr Gehalt, und wenn sie nicht Entsprechendes leisten, können sie auch entlassen werden.« Das steigert offenbar die Achtung bei Schülern. Es scheint, als würden diese Lehrer eher als »Erwachsene« anerkannt, eben respektiert. »Und das führt dann dazu, dass auch was passiert in der Schule.«
    In Frankreich wird hingegen Respekt etwas anders buchstabiert, eher als Autorität im Sinne einer »Respektsperson«, die weniger Wechselwirkungen verspricht als Einwirkung ankündigt. Schüler, die in Polen und Frankreich waren, bekamen autoritäre Töne zu hören. Offenbar wird den Lehrern im Vergleich zu Finnland oder Kanada tatsächlich weniger Respekt gezollt und weniger »echte Autorität«, wie die Schüler sagen, zugeschrieben. Das sind zirkuläre Systeme. Aus der Sicht französischer Schüler ist Deutschland liberaler und moderner als ihr Land. Entsprechend fragen sie die Deutschen: »Wie könnt ihr eigentlich lernen, wenn ihr eure Lehrer freundlich behandeln?« Die französischen Schüler, zumindest diejenigen, von denen berichtet wurde, glauben, »dass man bei einem so vertrauten Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern, wie sie es in Deutschland vermuten, eigentlich gar nichts mehr lernt.«

    P. S.

    Vieles hängt also davon ab, an welche Art von Lernen jemand glaubt. Wären hier nicht Antworten auf die neuerliche Debatte über Werte, Religionsunterricht und Co. zu suchen? Die Berichte der Schüler und die Art wie sie ihre globalen Expeditionen diskutierten, zeigt, dass man die Kulturen sehr gut danach unterscheiden kann, ob in ihnen eher eine Vorstellung von Respekt und Freundschaft vorherrscht, oder ob an eine gewissermaßen natürliche Entfremdung geglaubt wird. Das wären doch »Werte« über die eine Debatte sich lohnt. Da würden die Bibel und Gottfried E. Lessing, der Koran und Georg F. Lichtenberg, der ganze große Kanon der Werte plötzlich wunderbar konkret, inspirierend und tatsächlich bildend – oder?

    P.P.S.

    Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de

     

    Die Zukunft lernt anders in: Publik-Forum

    Die Zukunft lernt anders

    An manchen Schulen arbeiten Schüler und Lehrer gemeinsam an Projekten. Lehrer kümmern sich um Schüler, nicht um Fächer. Und es gibt immer mehr solcher Schulen.
    Von Reinhard Kahl

    Als sich in Helsinki in diesem Jahr der Frühling bemerkbar machte, flogen einige hundert Bildungsexperten zum Wendekreis der Pädagogik. Insbesondere die erlösungsbedürftigen Deutschen wollten auf der internationalen Konferenz erfahren, worin das finnische Geheimnis besteht. Aber sie bekamen nur zu hören, was sie auch daheim hätten herausfinden können: Wer gute Leistungen will, darf Schüler nicht beschämen. Schulen müssen die Verantwortung dafür übernehmen, dass alle Kinder und Jugendliche Grundkenntnisse zum Beispiel in zwei Fremdsprachen erlangen. Das gelingt in Finnland. Keine 200 Jugendliche werden jährlich ohne Schulabschluss entlassen. Den falschen Schüler auf der richtigen Schule gibt es nicht. 71 Prozent der Schulabgänger in Finnland studieren.

    Die Deutschen staunten. Und manch einer sagte: »Das schaffen wir nie!« Dabei gibt es auch bei uns hervorragende Schulen. Nur viel zu wenige. Wie man eine gute Schule macht, ist ja nicht unbekannt. Im Gegenteil. Überall in der Welt trifft man auf Spuren der deutschen Reformpädagogik. Spätestens der internationale Vergleich erinnert allerdings an die deutsche Erbsünde: das Abschieben von Schülern und Verantwortung. Schulen verhalten sich oft so, als seien sie nur Untermieter in einem fremdbestimmten System. Selbst die nötige Debatte über das gegliederte Schulsystem verkehrt sich unter der Hand zur Ausrede: erst mal das System ändern. Erst mal: eines der häufigsten Wörter, wenn bei uns über Bildung diskutiert wird. Bevor die Lehrerbildung nicht reformiert und solange nicht mehr Geld da ist, könne man leider kaum etwas machen. Wirklich? Bei allen Hindernissen: Lernen ist bei uns nicht verboten, auch für Schulen nicht.

    Wie lernt eine gute Schule? Das Wichtigste, sagt Enja Riegel aus Wiesbaden, sei das Lehrerteam. Sie war 19 Jahre Direktorin der Helene-Lange-Schule, die bei Pisa mit Spitzenergebnissen glänzte. Lehrerteams unterrichten dort jeweils einen Jahrgang aus vier Parallelklassen. Jede Klasse hat ihr Revier: Vier Unterrichtsräume, einen zum Schülertreff umgebauten ehemaligen Klassenraum und ein Lehrerbüro. In dieser »Schule in der Schule« lernen die Schüler ebenso wie die Lehrer zusammen zu arbeiten. Und was sie tun, auch zu verantworten. In vielen Schulen ist das nicht selbstverständlich.

    Wie geht das? Projekte werden von Lehrern gemeinsam vorbereitet. Das Projekt zum Thema »Wasser« in der 7. Klasse muss nicht jedes Jahr neu erfunden werden. Aber es wird jedes Mal modifiziert. So entstehen Traditionen. Die Pädagogen verlagern immer mehr ihrer Arbeit in gemeinsam abgestimmte Vorbereitung. Das entlastet und erleichtert den Abschied vom Einzelkämpfer. Lehrer gewinnen Zeit, ihre Schüler im Unterricht zu beobachten. Denn jeder lernt anders. Verschiedenheit sieht man hier nicht als Abweichung, sondern als eine Voraussetzung für Reichtum. Schüler sollen nicht mehr die Fragen der Lehrer beantworten, sondern Lehrer die der Schüler.

    Auch andere Schulen sind auf dem Weg vom Lehren zum Lernen. Die Max-Brauer-Schule in Hamburg Altona ist wie die Helene-Lange-Schule eine Gesamtschule der zweiten Generation. Auf die typisch deutsche Aufteilung der Schüler wird verzichtet. Denn die in Gesamtschulen übliche Einteilung in A-, B- oder C-Kurse verstärkt die Beschämung im Vergleich zum zergliederten Schulsystem häufig noch und erzieht Schüler noch mehr zur Gleichgültigkeit. Anders in der Max-Brauer-Schule. Dort lernen schon die Grundschüler, auch mal Chef zu sein. In der Klasse stehen für 23 Kinder 23 Körbe, jeweils mit 23 Aufgaben. Für jeden Korb gibt es einen Chef. Dieser bespricht die Aufgabe mit der Lehrerin. Die Schüler gehen mit Fragen erst mal zum Chef, der auch die Ergebnisse überprüft. Kaija Küämäilen, eine finnischstämmige Lehrerin, erinnert sich, wie vor allem die ausländischen Jungen zunächst keine Mädchen als Chefin akzeptieren wollten. Denn wer mit einem Problem zum Chef geht, muss sich ja in dieser Situation bloßstellen. Bald aber erlebten die Schüler, wie sich eingestandene Schwächen in Stärken verwandelten und dass Chauvis nur eingebildete Starke sind. Die Schule besuchen viele Einwandererkinder. Dabei wird deutlich: Wenn Kinder in so vieler Hinsicht verschieden sind, dann schlagen die alten Strategien der gleichmäßigen Belehrung fehl. »Wir legen beim Arbeiten sehr viel Wert auf Leistung und auf Individualität«, sagt die Lehrerin Sybille von Katzler. »Jedes Kind ist anders, das ist ein großer Vorteil.« Ihre Schule schnitt im Pisa-Test sehr gut ab, mit Ergebnissen weit über dem statistischen »Erwartungswert«. Etwa ein Jahr Vorsprung holen die Schüler hier bis zur 9. Klasse heraus.

    »Die zentralen Prüfungen nach der 9. Klasse erledigen unsere Schüler mit einer Hand«, sagt Alfred Hinz, Rektor der Bodensee-Schule St. Martin in Friedrichshafen, einer katholischen Grund- und Hauptschule. Hier wurden die Fächer abgeschafft. An deren Stelle treten freie Stillarbeit, Projekte und vernetzter Unterricht. Die Parole des Schulleiters: »Schule ist Stätte der Personwerdung. Wissensvermittlung kann sie gar nicht verhindern.« Tatsächlich hat es an vielen deutschen Schulen den Anschein, als wäre diese Verhinderung genau ihr Ziel. Häufig erinnert das Lernen an Bulimie. Schnell ganz viel rein und sich dann wieder erleichtern. Pauken und vergessen. Dass sich Lehrer wirklich für ihre Schüler interessieren, dass Schüler und nicht Fächer unterrichtet werden, ist die Erfolgsstrategie der Bodensee-Schule. Es ist kein Rezept, sondern eine Haltung. Die häufig als zu unscharf verdächtigte Atmosphäre ist, wie der Philosoph Peter Sloterdijk einmal sagte, das Allerrealste. Aus ihr kristallisiert sich Realität.

    Man muss nur anfangen. In der Helene-Lange-Schule war das Putzen die erste kleine Revolution. Enja Riegel fand, da stimme doch etwas nicht, wenn Lehrer im Unterricht über die Abhängigkeit der Dritten Welt aufklären und anschließend türkische Putzfrauen kommen, um Schülern den Dreck wegzuräumen. Also wurden mit Elternspenden Staubsauger gekauft. Nach ein paar Jahren konnte gegenüber der Stadt durchgesetzt werden, dass die Hälfte des gesparten Geldes in der Schule bleibt. Der Übergang vom geputzten zum selbstputzenden System bringt der Schule jährlich 20.000 Euro. Davon engagiert sie Regisseure, die mit Neuntklässlern Monate lang Theater spielen. Die letzten vier, fünf Wochen vor der Aufführung von morgens bis abends nichts als Theater. »Wer viel Theater spielt, wird auch besser in Mathe«, sagt Enja Riegel. Tatsächlich gelingt so eine Entneurotisierung der Schule, eine nachhaltige Verbesserung des Klimas. Die Schüler sind hellwach, das spürt der Besucher sofort. Das Lernen wird für sie das große Projekt des eigenen Lebens. Die Helene-Lange-Schule besteht aus lauter Geschichten. Diese haben immer ein ähnliches Lernmuster: Nicht weggucken, sondern die Probleme verstehen und dann handeln. So entstehen Lernspiralen, bei Individuen wie auch in Institutionen.

    Vielleicht ist es eine Chance für deutsche Schulen, dass sie sich als Institutionen eine Biografie anschaffen. Die wirklich eigenwillige Schule, die selbst lernt, die sich unterscheidet, wie sich auch Schüler unterscheiden. Das wird man in Deutschland nicht wie in Finnland schaffen, wo schon 1962 das Parlament die Umwandlung des Schulsystems beschloss. Deutschland führt über die Frage, ob Gesamtschule oder nicht, immer wieder Kulturkämpfe. Aber wenn sich einzelne Schulen ändern – und es werden tatsächlich immer mehr –, dann werden wir bald ein erfolgreicheres und lustvolleres Lernen haben. Alfred Hinz zitiert gerne die Dakota-Indianer: »Wenn du merkst, dass du auf einem toten Pferd sitzt, dann steig ab.«

    Reinhard Kahl ist freier Journalist in Hamburg.
    Auf drei DVDs mit dem Titel »Treibhäuser der Zukunft« stellt er das Spektrum gelungener Schulen dar. Sie sind mit einem Buch für 29 Euro über bestellung@archiv-der-zukunft.de erhältlich. Den Film mit Kurzfassungen gibt es auch als VHS (17,20 Euro)

     

    zusätzlicher Kasten zum Artikel:

    Das Gymnasium ist die Lieblingsschule der Deutschen. Unsere wahre Hauptschule. Und was die Schülerschaft betrifft, wird es immer mehr zur Gesamtschule, allerdings eine ohne die Schüler mit größeren Schwierigkeiten. Das ist auch für das Gymnasium nicht nur ein Vorteil. „Denn die guten Schulen,“ sagt der Erziehungswissenschaftler Peter Fauser von der Uni Erfurt, „lernen von ihren schwierigen Schülern.“ Schwierigkeiten und Fehler sind ein großer Prospekt, der die ganze Vielfalt des Lernens abbildet. Lernen besteht aus Umwegen, es verläuft eigenwillig wie die Dendriten auf Abbildungen des Gehirns.

     

    Gymnasien wählen sich die besten Schüler aus. Aber dort konnte bei Jungen zwischen Klasse 7 und 9 so gut wie kein Kompetenzzuwachs festgestellt werden. Wie ist dieses Ergebnis möglich?  LAU brachte es zu Tage. Die Lernausgangslagen Untersuchung testet in Hamburg nach und nach alle Schüler eines Jahrgangs. Der schon lange gehegte Verdacht, dass das Gymnasium die pädagogisch schwächste Schule ist, wurde von dieser bisher gründlichsten deutschen Schulstudie erhärtet.

     

    Aber wo die Not erkannt wird, rückt die Lösung endlich näher. Das Gymnasium Klosterschule in Hamburg hat sich, wie Pädagogen jetzt häufig sagen, „auf den Weg gemacht“. Der Kompass zeigt vom Unterrichten der Fächer zum Unterrichten der Schüler – wozu ja auch Aufrichten gehört. Denn wie Lehrer lehren, passt eben oft nicht dazu wie Schüler lernen. Den Stoff zu vermitteln ist eine andere Welt, als sich Wissen und Kulturtechniken anzueignen, um damit handeln und verstehen zu können.

     

    In der Klosterschule wurden jetzt in den fünften und siebten Klassen Lehrerteams gebildet. Die Pädagogen  unterrichten möglichst nur in einem Jahregang. Sie begleiten ihre Schüler von der 5. bis zu 10. Klasse. Zum Team für vier Parallelklassen gehören sieben bis zehn Lehrer, je nachdem ob sie volle oder reduzierte Stellen haben. Das Team handelt souverän. Von der gegenseitigen Vertretung bis zur Vorbereitung großer Projekte haben sie das Heft in der Hand. Das findet der Schulleiter Ruben Herzberg schon deshalb dringend geboten, weil doch die Schüler ein Vorbild für Teamarbeit brauchen. Natürlich wollen sich auch viele Lehrer von vereinzelten Stundengeber verabschieden. Klassenlehrer geben jetzt zuweilen 12 Stunden die Woche in ihrer Klasse. Lernen gelingt besser, wenn es von vertrauten Beziehungen getragen wird. Das weiß man eigentlich überall, aber pädagogische Professionalität wird zumeist noch mit Fachlichkeit verwechselt. Nun geben Lehrer auch fachfremden Unterricht. Ein Deutschlehrer, der auch Mathe unterrichtet? Das galt im Gymnasium bisher als unerhört. Aber dieser Blick über den Zaun des eigenen Fachs bringt manchen Vorteil. Der Lehrer, der das wagt, muss sich von seinen Fachkollegen beraten lassen. Lehrer kommen ins Gespräch darüber, was sie erreichen wollen. Lernende Lehrer passen gut zu lernenden Schülern. Die Einrichtung von Lehrerteams hat sich die Klosterschule von der Helene Lange Schule in Wiesbaden abgekuckt. Die war ja auch ein Gymnasium, bevor sie Mitte der 80iger Jahre zur Gesamtschule konvertierte. Dort fand man heraus, dass Schüler bei fachfremden Lehrer sogar bessere Ergebnisse bringen.

     

    Das Motto der Lehrerteams heißt für Schulleiter Herzberg, weniger lehren, mehr reden und vor allem mehr lernen. Dafür bekommen die Schüler neuerdings an drei oder sogar vier Tagen die Woche Studienzeiten. Eine Stunde am frühen Nachmittag. Dazu wurden die betreuten Hausaufgaben weiter entwickelt. Diese Schule ist das erste Ganztagsgymnasium in Hamburg. In den Studienzeiten arbeiten Schülerinnen und Schüler nach einem selbstgestellten und mit ihren Lehrern besprochenen Wochenplan. Dabei lernen sie auch sich die Zeit einzuteilen, ihre Kräfte einzuschätzen, die Arbeit zu planen, mit anderen zu kooperieren. Und wieder haben Schüler und Lehrer ganz ähnliche Lektionen. Schritt für Schritt wird die Schule für beide zum eigenen Arbeitsplatz. Dafür richten sich die Lehrer ihr Teamzimmer als Büro ein. Das brauchen sie auch, wenn demnächst drei Wochen lang nur ein Thema auf dem Stundenplan steht, ein großes Projekt zur Steinzeit, in dem alle Fächer verschmelzen.  

    [dieser "Kasten" wurde aus Platzgründen noch leicht gekürzt] 

     

     

     

     

     

     

     

     

    Kinder, das Humankapital & der Aufbruch in die Wissensgesellschaft

    Albert Einstein nannte sich das „ewige Kind“. Und Friedrich Schillers Satz

    „Der Mensch ist nur dann ganz Mensch, wenn er spielt“ hört man in seinem

    Jubiläumsjahr häufig. Mit dem Zitat spricht so mancher aus, was ihm schon

    länger dämmert. Die große Epoche des Homo faber, des durch Arbeit definierten

    Menschen, läuft aus. Homo ludens kommt wieder mehr zu seinem

    Recht. Und zwar nicht erst am Feierabend. Die Arbeit selbst braucht Spielräume,

    wenn sie in einer Wissensgesellschaft produktiv sein soll.

    „Die Welt entstand, als Atome von ihrer geraden Bahn abwichen.“

    Epikur

    Dem großen Selbstgespräch der Gesellschaft kommen die Jubiläen von Einstein

    und Schiller gerade recht. Sie sind Paten eines veränderten Blicks. Schillers

    Leben wird von Rüdiger Safranski als so produktiv geschildert, weil er sich

    nicht dem Zwang zu einer berechenbaren Identität gebeugt habe. „Alle acht Tage

    war er ein anderer und ein vollendeterer“, schrieb Goethe über ihn.

    Oder Mozart. Günter G. Bauer rechnet vor, dass ein Notenkopist etwa 99 Jahre

    bräuchte, um dessen Werk zu kopieren. Mozart aber hat nur 30 Jahre komponiert.

    Wie geht das? Eine Frage, die nicht beantwortet werden kann, ohne die

    Begeisterung und die Versenkung ins Spiel mit einzubeziehen. Der kürzlich verstorbene

    Mediziner und Hirnforscher Detlef Linke bezeichnet das Spiel als den

    Punkt, an dem der „Halbzombie Mensch“ zu Freiheit und Kreativität kommt.

    Jenseits aller Fragen nach dem guten und richtigen Leben – der Bedarf nach

    Menschen, die wie Automaten funktionieren, ist rückläufig.

    Zum Beispiel McKinsey. Schon im Herbst 2002 hatten die Unternehmensberater

    einen viel beachteten Bildungskongress abgehalten. Neben Wissenschaft-

    483

    Die Kinder, das Humankapital

    und der Aufbruch in die Wissensgesellschaft

    Reinhard Kahl

    lern sprach der Regisseur Robert Wilson. Er erzählte, wie ihn die Erfahrung des

    Raums durch Tänzer und Choreographen in New York geprägt hat. Seine wichtigsten

    Entdeckungen brachten ihm die Freundschaft mit einem tauben afroamerikanischen

    Jungen und mit einem autistischen Kind. Sein Fazit: „What's

    important today, is to have some understanding of others in other fields. And,

    perhaps, we as individuals would act in a different way.“

    Ausgerechnet McKinsey, denkt nun manch ein Leser. Wundern Sie sich weiter!

    Im Frühjahr 2005 bereiten vier Werkstattgespräche den zweiten Kongress

    „McKinsey bildet“ vor. Diesmal stehen nur die Kinder auf dem Programm. Thema

    sind Krippen, Vorschulen und Kindergärten. Es geht um Spracherwerb,

    Science und Musik, darum wie Kinder lernen und wie ErzieherInnen ausgebildet

    werden. In einem der Werkstattgespräche plädierte die Nobelpreisträgerin

    Christiane Nüsslein-Volhard für den Matsch, das Kochen und das Zusammenspiel

    mit anderen Kindern. Das zieht sie einem Kindergartencurriculum vor.

    Gestandene Naturwissenschaftler schickte McKinsey in Kitas, damit sie erklären,

    warum zum Beispiel der Himmel blau ist. Faszinierend, wie sich Staunen

    und Intelligenz, ja Poesie und Erkenntnis verbinden. Selten wird das Lernen

    des Homo ludens so intensiv, wie wenn Kinder etwa mit Naturwissenschaftlern

    oder Künstlern Entdeckungen machen und sich gegenseitig Fragen stellen.

    Nun ist die Koevolution von staunenden Kindern und erfahrungsklugen Erwachsenen

    keine brandneue Idee. Aber kann es sein, dass man sie beim organisierten

    Lehren fast vergessen hat?

    Einsteins ewiges Kind war ein Gegenspieler im Erwachsenen, der es ihm ermöglicht

    hat, Anfänger auf immer höherem Niveau zu werden. Staunen und

    Phantasie bringen sicheres Wissen wieder durcheinander und helfen es neu zu

    ordnen. Aber das geht nicht ohne blinde Flecken und Leerstellen. Der Mangel

    484

    Einsteins ewiges Kind war ein Gegenspieler im Erwachsenen,

    der es ihm ermöglicht hat, Anfänger auf immer höherem

    Niveau zu werden.

    hält unsere Konstruktionen beweglich. Viele Erwachsene verleugnen oder

    bekämpfen ihn. Er passt nicht zur Perfektibilität der Verwachsenen. Mit ihren

    lückenlosen Selbst- und Weltbildern verstopfen sie sich diesen Ur-Sprung, der

    das Individuum zum Individuum macht und das endlose Spiel der Differenzen

    eröffnet: Dialoge, Fragen, Fehler, Missverständnisse und schließlich das Spiel

    selbst und die Erfolge beim Lernen und im Forschen. Es wird Zeit, dass wir uns

    überlegen, wie in Kitas und Schulen nicht nur die Kinder von Erwachsenen lernen,

    sondern wie sich auch Erwachsene von ihnen kräftig irritieren lassen.

    Jedenfalls kommt heute – zumal in Deutschland – vieles zusammen. Das Land

    vermisst seine Kinder – und entdeckt sie. Vielleicht korrigieren die Deutschen

    dabei auch ihr Bild von Kindern? Im Blick auf Kinder drückt sich das Verhältnis

    aus, das wir zu uns selbst haben. Das ist mehr als die demographische Krise.

    Vielleicht lässt sich die demographische Krise mit bevölkerungspolitischen Mitteln

    allein gar nicht lösen? Neben einer Begeisterung für Kinder und einer Renaissance

    des Spiels muss auch die Arbeit neu gedacht werden.

    Humankapital

    Wer dieses Wort in den Diskurs bringt, macht sich damit selten Freunde. Nun

    wurde Humankapital von einer Sprachjury sogar zum „Unwort des Jahres“ erklärt.

    Abgesehen davon, dass „Unwort“ selbst unmöglich ist, wurde hier ein

    Ressentiment bedient. Zumal wenn dieses Wort auf Bildung bezogen wird.

    Denn das weiß man ja, Bildung verhält sich zu Wirtschaft wie Feuer zu Wasser.

    Oder? Nein, der Gemeinplatz gehört ins Inventar der Philister. Genauer besehen

    erweist sich Humankapital als Wasserzeichen eines Denkens und Handelns,

    das am Ende der Bildung bekommt.

    Wenn in Deutschland die Sonntagsreden mit hehren Präambelsätzen über „Bildung“

    verklungen sind, geht man werktags zur Sache. Argumentiert wird dann

    mit dem „Qualifikationsbedarf“. Aufschlussreich ist, dass in der angloamerikanischen

    und skandinavischen Tradition an allen sieben Tagen der Woche das

    verdächtige Wort gebraucht wird. Gewiss, Humankapital hört sich nach kruder

    Ökonomie an. Tatsächlich steht das Wort eher für das Vertrauen in junge Menschen,

    dass sie aus ihren auf keinen Bedarf zugeschneiderten Fähigkeiten

    Wissenswelten Schwerpunkt „Was Kinder (und Eltern) brauchen“ - Essay - R. Kahl

    485

    schon was machen werden. Aufs Humankapital wird gesetzt, weil niemand die

    Zukunft kennt. Weil sie offen ist, muss sich jeder so gut vorbereiten wie möglich.

    Diese Denkweise führt anderswo zu einem hohen Anteil von Studierenden.

    Alles nur um sie für die Wirtschaft verwertbar zu machen?

    Die deutsche Konstruktion „Qualifikationsbedarf“ ist international einmalig. Sie

    ist die Kehrseite des abgehobenen Bildungsbegriffs. Vorausgesetzt wird, dass

    die Zukunft im Groben bekannt ist. Die nächste Generation wird einem vermeintlich

    objektiven Bedarf unterworfen. Schlimmer noch, viele Jugendliche

    glauben selbst an diese Fiktion. Am deutlichsten wird die Vorstellung, dass ein

    Bedarf zu bedienen sei, an der verbreiteten Angst, zu viele Hochqualifizierte

    endeten als akademisches Proletariat, sei es als Revoluzzer oder als Taxifahrer.

    Alle Statistiken beweisen das Gegenteil, doch der Mythos hält sich. Er wird

    vom Argwohn getrieben, viele wollten zu hoch hinaus. Auch darin liegt eine Verwandtschaft

    mit dem idealisierenden Bildungsbegriff und seiner Kehrseite, der

    Neigung zur Herabsetzung und Selektion.

    Mit dem Denkmuster „Humankapital“ werden Bildungssystem und Beschäftigungssystem

    entkoppelt. So entsteht Freiraum für Bildung. Die aktuelle OECDStatistik

    verzeichnet sinkende Arbeitslosenquoten in Ländern, deren Anteil von

    Studierenden seit 1995 um mehr als 5 Prozent gestiegen ist. Jedes zusätzliche

    Jahr an Bildung, das eine Bevölkerung im Durchschnitt genießt, steigert das

    Bruttoinlandsprodukt um 3 bis 6 Prozent. Gestärkt wird der „subjektive Faktor“.

    Hätten die Finnen vor 25 Jahren, als bei Nokia noch Stiefel und andere Gummiwaren

    hergestellt wurden, gefragt, für welchen Bedarf sie ausbilden sollen, wer

    würde heute diese Firma kennen? „Kommunikationsgesellschaft“ wurde als

    Staatsziel in die finnische Verfassung geschrieben. Definiert wird sie damit, dass

    zumindest 70 Prozent der jungen Leute studieren. Ein zumindest vierjähriges

    Studium! Inzwischen beginnen es in Finnland 71 Prozent. „Wohin führt das,

    486

    Jedes zusätzliche Jahr an Bildung, das eine Bevölkerung im

    Durchschnitt genießt, steigert das Bruttoinlandsprodukt um

    3 bis 6 Prozent.

    wenn jeder studiert?“, fragen sich noch immer viele Deutsche. Ja, wohin führt

    das? Eine Quittung für die deutschen Bildungsphilister ist unsere im internationalen

    Vergleich niedrige Quote von Studienanfängern: 35 Prozent. Im OECDSchnitt

    sind es 45 Prozent. Wir sind allerdings Weltmeister bei den Abbrechern.

    Nur 19 Prozent verlassen eine Hochschule mit Examen.

    Schüler und Studenten, die sich fragen, wie stärke ich mein Potenzial, und sich

    nicht darauf beschränken, vorauseilend zu erfüllen, was angeblich gebraucht

    wird, werden auch in der Schule oder Hochschule seltener fragen, was von

    ihnen verlangt wird. Sie müssen herausfinden, was sie wollen. Etwas zu wollen

    und eigene Ideen zu haben, das wird zum Kern von Humankapital und von

    Bildung. Eine Bildung, die sich allerdings eher im Handeln als im Genuss von

    „Bildungsgütern“ erweist.

    Wer heute ein Architekturbüro, einen Verlag oder eine automatisierte Produktion

    betritt, findet dort gewöhnlich ein höheres Zivilisationsniveau als in Schulen.

    Als Erstes fällt der Unterschied an den Räumen auf. Dann am Umgang. Wie

    kommt das? Ihre Arbeit sehen die meisten Mitarbeiter in diesen Unternehmen

    eher als ihre eigene Sache an, als das gewöhnlich bei Schülern der Fall ist.

    Wäre das nicht ein Maß, den Grad an Entfremdung zu beurteilen?

    Wie kommt es, dass in einer der besten Schulen, bei einer Befragung der Schüler,

    was ihnen gefällt, Praktika in Betrieben an erster Stelle stehen? Wie kommt

    es, dass Kinder nach einem mehrtägigen Spiel „Leben im Mittelalter“ davon

    schwärmen, dass Kinder damals arbeiten durften? Sie sehnen sich danach,

    nicht nur gefragt zu werden, sondern auch gefragt zu sein, mit anderen etwas

    auf die Beine zu stellen und dabei ihre Wirksamkeit zu erleben.

    „Ökonomie ist Kunst“, sagte Josef Beuys, „und Kunst ist Ökonomie.“ Der gemeinsame

    Nenner beider Gleichungen ist die Verwandlung von Knappheit in

    Form. Ist das nicht auch Bildung? Und erkennt man Dummheit und Ressentiment

    nicht an deren Formlosigkeit? Bis wir die Wirksamkeit des Humankapitals

    an seiner Schönheit erkennen, wird wohl noch etwas Zeit vergehen. Aber

    das wär’s natürlich.

    Wir Deutsche müssen über unseren Schatten springen. Das wird nicht leicht

    werden. Nirgendwo wirft die Industriegesellschaft so lange Schatten wie hier-

    Wissenswelten Schwerpunkt „Was Kinder (und Eltern) brauchen“ - Essay - R. Kahl

    487

    zulande. In der Epoche der Entfremdung war Deutschland Weltmeister.

    Die Deutschen funktionierten gut. Die Schulen haben dazu ihren Beitrag geleistet.

    Mit Sprüchen wie: „Aus dir wird nie was!“ Viele Menschen erinnern sich an

    Demütigungen. Sie wollen später von der Schule nichts mehr hören. Manchmal

    haben sie dort sogar das Lernen verlernt. Viele Erwachsene finden, was sie

    geworden sind, das seien sie trotz der Schule geworden. Sie trauen ihr nicht viel

    zu. Solch einer Schule meint man natürlich nichts zurückgeben zu müssen.

    Schon gar keinen Respekt. Und irgendwie tröstet man sich über Leid,

    Langeweile und das dumpfe Gefühl von Vergeblichkeit damit, geschadet habe

    es doch nicht. Wirklich? Die Schulzeit ist im kollektiven Imaginären der Deutschen

    überwiegend noch als eine auf das „spätere Leben“ zur Bewährung

    ausgesetzte Vorstrafe gespeichert. Was ist das für eine Initiation, wenn Kindern

    mit diesem „späteren Leben“ gedroht wird und wenn sie nicht von Erwachsenen

    zum Leben eingeladen werden? Und was heißt Leben anderes als jetzt ganz

    gegenwärtig zu sein? Und was ist dieser Mythos vom „späteren Leben“ anderes

    als aufgeschobenes, ja enteignetes Leben? Wer sich seiner gegenwärtig

    wird, will wissen, wo er herkommt und wo es hingeht. Kinder fragen dauernd

    danach. Warum? Weshalb? Wieso? Solche Fragen waren auch in den Familien

    nicht besonders beliebt. Gewiss, das hat sich geändert und man kann heute beobachten,

    wie sich das Bild von Kindern und vom Lernen und damit die Vorstellung

    vom Leben in einem großen, faszinierenden Wandel befindet.

    Blicken wir einen Moment noch auf unsere Herkunft. Nach dem sauren Anfang

    in der häufig erniedrigenden Schule gab es immerhin eine zweite Chance: Aufstieg

    durch Arbeit. Der Beruf bot Möglichkeiten sich zu rehabilitieren. Nicht selten

    wurde dort die Flucht in die Maloche angetreten. Endlich konnte bewiesen

    werden, dass man gebraucht wird. Und es gab Belohnung. Dieser Regelkreis

    488

    Die Schulzeit ist im kollektiven Imaginären der Deutschen

    überwiegend noch als eine auf das „spätere Leben“ zur Bewährung

    ausgesetzte Vorstrafe gespeichert.

    aus Entfremdung und Leistung, aus Klein-gemacht-werden und Auswegen

    nach oben konditionierte auf Außensteuerung. Sie kennzeichnet den Zivilisationstyp

    der Industriegesellschaft. Er hatte gelernt an Perfektion zu glauben

    und sich selbst zu misstrauen. In diesem Klima gediehen die Ideologien der

    Reinheit. Aber das ungelebte Leben meldet sich immer zurück. Als Verbitterung

    und als Destruktion. Nach innen und nach außen. Auch der Faschismus war ein

    Meister aus Deutschland. Nach seinem Wüten gab es wieder viel Arbeit. Nun

    wurden die Deutschen, exakt die Westdeutschen, doch noch Weltmeister. Das

    Wirtschaftswunder der rekonstruierten Industriegesellschaft war der größte

    Triumph im Regelkreis der Entfremdung. Das Wunder beglaubigte seine Vorgeschichte

    als richtigen Weg – solange man nur nicht genau hinsah. Doch das

    Programm dieses Regelkreises läuft nicht mehr so richtig, immer häufiger

    stürzt es ab. Das große Sicherheitsversprechen des Sozialstaates kann nicht

    mehr gehalten werden. Sicherheitsgarantien waren ein Kompensationsgeschäft

    mit den massenhaft biographisch Verletzten. Nun traut man sich in

    Deutschland nicht so recht, den Glauben an das Programm der Gesellschaftsmaschine

    im Großen und an die Programmierung von Lebensläufen im Kleinen

    aufzugeben. Man fürchtet, das hielten die Menschen nicht aus. Tatsächlich

    kann der Abschied von der Religion der Industriegesellschaft nur gelingen, wenn

    die Menschen gestärkt werden. Weniger auf die Systeme und mehr auf die Subjekte

    setzen: Auf ihre Biographien. Auf ihren Erfindungsreichtum. Und nicht zuletzt

    auf ihre Kooperation. Man könnte auch sagen: Auf ihre Bildung.

    Nicht nur die Krise des Sozialstaates steht auf der Agenda. Ginge es bloß um

    dessen Verschwinden, der Angst wäre außer Versprechungen nichts entgegenzusetzen.

    Es gibt einen anderen, viel wichtigeren Referenzpunkt des Wandels.

    Die Arbeit hat sich verändert. Malocher werden immer weniger gebraucht. Das

    perfekte Funktionieren können Maschinen besser, zumal Computer. Im Übergang

    von der Industrie- zur Wissensgesellschaft geht es immer weniger darum,

    Vorgegebenes auszuführen. In der Arbeitswelt müssen zunehmend Probleme

    erkannt und gelöst werden. Man braucht Wissen und Ideen, um Neues

    hervorzubringen. Voraussetzung dafür ist ein anderer Zivilisationstyp. Ihn zeichnet

    Empfindsamkeit aus. Um zu handeln, muss er die Dissonanzen der Wirk-

    Wissenswelten Schwerpunkt „Was Kinder (und Eltern) brauchen“ - Essay - R. Kahl

    489

    lichkeit wahrnehmen können. Wer bei VW in der Produktion eine Transferstraße

    überwacht, muss am Sound der Maschinen hören, wenn etwas nicht stimmt.

    Es reicht nicht, auf Anweisungen zu hören.

    Zum neuen Zivilisationstyp gehört auch ein neuer Sozialisationstyp. Sein Hunger

    auf Selbst- und Weltverwirklichung ist durchaus willkommen. Welt und

    Selbst, beides gehört zusammen. Denn Produzenten brauchen diesen Antrieb.

    Es zeichnet sie aus, etwas zu wollen. Konsumenten brauchen diesen Antrieb

    nicht. Bleiben wir bei den Produzenten. Sie müssen ihr Eigenes mit ins Spiel

    bringen. Ihre Verschiedenheit wird als ein Kapital erkannt und nicht als störende

    Abweichung gesehen. Ideen verweigern sich Menschen, die ihrer inneren

    Stimme misstrauen. Gewiss ist jede Intuition zu überprüfen. Doch die innere

    Stimme, in der sich das Unverwechselbare eines Menschen äußert, ist unser

    schönstes und produktivstes Organ. Es geht darum, diese Stimmen zu achten

    und zu kultivieren. Sie machen den Reichtum einer Gesellschaft aus.

    „Jeder Mensch“, schrieb Hannah Arendt in ihrem Buch Vita Aktiva, „steht an einer

    Stelle in der Welt, an der noch nie ein anderer stand.“ Die Menschen, so argumentiert

    sie, kommen als Fremdlinge auf die Welt. Man muss sie also freundlich

    empfangen. Man muss auf ihre Eigenarten neugierig sein, damit ihr

    Zur-Welt-kommen gelingt. Dann werden sie auch etwas zurückgeben.

    Sind unsere Schulen gewöhnlich Orte, die dazu einladen, sich mit sich selbst

    anzufreunden, in der Welt heimisch zu werden und etwas zurückzugeben?

    Wird dort eine Kultur von Produzenten gepflegt oder die Öde von Konsumenten

    angebahnt? Wird dort das Eigene respektiert?

    Macht man sich dort überhaupt einen Begriff davon, was dieses Eigene ist?

    Dürfen Schüler jenes „krumme Holz“ sein, aus dem, wie Immanuel Kant

    schrieb, Menschen gemacht sind, oder lernen sie so zu tun, als seien sie im-

    490

    Die innere Stimme, in der sich das Unverwechselbare eines

    Menschen äußert, ist unser schönstes und produktivstes

    Organ.

    mer schon glatt und rechtwinklig? Wird man so genommen, wie man ist, und

    wird zugleich darauf vertraut, dass in jedem noch viel mehr steckt? „Jeder“,

    sagte Georg Christoph Lichtenberg, „ist des Jahres zumindest einmal ein Genie!“

    Das wäre ein Motto für die Schule der Zukunft.

    Wissenswelten Schwerpunkt „Was Kinder (und Eltern) brauchen“ - Essay - R. Kahl

    491

    Reinhard Kahl, geb. 1948 in Göttingen, Studium der Erziehungswissenschaften,

    Philosophie, Soziologie und Psychologie in

    Frankfurt und Hamburg. Seit 1975 Journalismus als Beruf,

    zunächst frei, zwischenzeitlich als Realisator und Moderator im

    NDR-Fernsehen, dann wieder frei. Zahlreiche Auszeichnungen,

    u. a. 1987 (mit anderen) den Grimme-Preis für die NDR-Serie

    „Kindsein ist kein Kinderspiel“.

    Kontakt

    Eppendorfer Landstraße 46, 20249 Hamburg

    UNIVERSITAS setzt SCHWERPUNKTE

    1/2001: Zukünfte, 3/2001: Biowissenschaften,

    5/2001: Alter, 7/2001: Bildung für morgen,

    9/2001: Erinnerung, 11/2001: Kosmos Gehirn,

    1/2002: Globalisierung und Gerechtigkeit,

    3/2002: Konsum, 5/2002: Kinder,

    7/2002: Zukunft des Lesens (vergriffen),

    9/2002: Gemeinwohl und Gemeinsinn,

    11/2002: Gegenwart der Vergangenheit,

    1/2003: Wasser, 3/2003: Erziehung und Familie,

    5/2003: Lehren und Lernen, 7/2003: Lebens-Werte,

    9/2003: Typisch deutsch?, 11/2003: Jung gegen Alt?,

    1/2004: Gesundheit und Gerechtigkeit,

    3/2004: Was Deutschland jetzt braucht,

    5/2004 Israel und Palästina,

    7/04 Sprache/n, 9/04 Die Zukunft Europas,

    11/04 Heimat, 1/05 Zukunft der Medien,

    3/05 Alles hat seine Zeit, 5/05 Was Kinder (und Eltern) brauchen,

    7/05 Die Sache mit der Liebe

    Die vorliegenden Hefte können Sie unter der Postanschrift oder

    per E-Mail (universitas@hirzel.de) anfordern

    PS 5 Einstein, Schiller & McKinsey

    PÄDAGOGIK - P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

    Einstein, Schiller und McKinsey

    Deutschland vermisst seine Kinder – und entdeckt sie. Vielleicht korrigieren die Deutschen dabei auch ihr Bild von Kindern? Das wäre an der Zeit. Im Blick auf Kinder drückt sich ja das Verhältnis aus, das wir zu uns selbst haben. Als ich zuletzt Hartmut von Hentig, der im September seinen 80. Geburtstag feiert, in Berlin besuchte, antwortete er auf die Frage nach seinem Befinden, mit einem Seufzer, »wenn ich morgens in den Spiegel blicke …« Er führte den Satz mit einer fast verzweifelten Pantomime zu Ende. Dann hellte sich sein Gesicht auf. »Aber innen«, fügte er hinzu, »innen bin ich immer noch dasselbe Kind.«

    Homo faber

    Albert Einstein nannte sich das »ewige Kind.« Friedrich Schillers Satz »Der Mensch ist nur dann ganz Mensch, wenn er spielt« hört man in seinem Jubiläumsjahr häufig. Mit dem Zitat traut sich mancher auszusprechen, was ihm schon länger dämmert. Die große Epoche des Homo faber, des durch Arbeit definierten Menschen, läuft aus. Homo ludens kommt wieder mehr zu seinem Recht. Und zwar nicht erst am Feierabend. Die Arbeit selbst braucht Spielräume, wenn sie in einer Wissensgesellschaft produktiv sein soll. Dem großen Selbstgespräch der Gesellschaft kommen die Jubiläen von Einstein und Schiller gerade recht. Sie sind Paten eines veränderten Blicks. Schillers Leben wird von Rüdiger Safranski als so produktiv geschildert, weil er sich nicht dem Zwang zu einer berechenbaren Identität gebeugt habe. »Alle acht Tage war er ein anderer und ein vollendeterer«, schrieb Goethe über ihn.

    Oder Mozart. Günter G. Bauer rechnet vor, dass ein Notenkopist circa 99 Jahre bräuchte, um dessen Werk zu kopieren. Mozart aber hat nur 30 Jahre komponiert. Wie geht das? Eine Frage, die nicht beantwortet werden kann, ohne die Begeisterung und die Versenkung ins Spiel mit einzubeziehen. Der kürzlich verstorbene Mediziner und Hirnforscher Detlef Linke bezeichnet das Spiel als den Punkt, an dem der »Halbzombie Mensch« zu Freiheit und Kreativität kommt. Jenseits aller Fragen nach dem guten und richtigen Leben – der Bedarf nach Menschen, die wie Automaten funktionieren, ist rückläufig.

    Zum Beispiel McKinsey. Schon im Herbst 2002 hatten die Unternehmensberater einen viel beachteten Bildungskongress abgehalten. Neben Wissenschaftlern sprach der Regisseur Robert Wilson. Er erzählte, wie ihn die Erfahrung des Raums durch Tänzer und Choreographen in New York geprägt hatte. Seine wichtigsten Entdeckungen brachten ihm die Freundschaft mit einem tauben afroamerikanischen Jungen und mit einem autistischen Kind. Sein Fazit: »What’s important today, is to have some understanding of others in other fields. And, perhaps, we as individuals would act in a different way.« Der Museumsmann Jean-Christophe Ammann führte diese Gedanken weiter. »Wir entwickeln eine zweidimensionale Bildschirmwahrnehmung«, kritisierte er. Die Verluste seien dramatisch, nicht nur für Künstler, die nicht mehr figürlich malen könnten, sondern für die Wahrnehmung aller, für unsere Bildung.

    Staunen

    Ausgerechnet McKinsey, denkt nun manch ein Leser. Wundern Sie sich weiter! Im Frühjahr 2005 bereiten vier Werkstattgespräche den zweiten Kongress »McKinsey bildet« vor. Diesmal stehen nur die Kinder auf dem Programm. Thema sind Krippen, Vorschulen und Kindergärten. Es geht um Spracherwerb, Science und Musik, darum, wie Kinder lernen und wie Erzieher(innen) ausgebildet werden. In einem der Werkstattgespräche plädierte die Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard für den Matsch, das Kochen und das Zusammenspiel mit anderen Kindern. Das zieht sie einem Kindergartencurriculum vor. Gestandene Naturwissenschaftler schickte McKinsey in Kitas, damit sie erklären, warum zum Beispiel der Himmel blau ist. Faszinierend, wie sich Staunen und Intelligenz, ja Poesie und Erkenntnis verbinden. Selten wird das Lernen des Homo ludens so intensiv, wie wenn Kinder etwa mit Naturwissenschaftlern oder Künstlern Entdeckungen machen und sich gegenseitig Fragen stellen. Nun ist die Koevolution von staunenden Kindern und erfahrungsklugen Erwachsenen keine brandneue Idee. Aber kann es sein, dass man sie beim organisierten Lehren fast vergessen hat?

    Homo ludens

    Einsteins ewiges Kind war ein Gegenspieler im Erwachsenen, der es ihm ermöglicht hat, Anfänger auf immer höherem Niveau zu werden. Staunen und Phantasie bringen sicheres Wissen wieder durcheinander und helfen, es neu zu ordnen. Aber das geht nicht ohne blinde Flecken und Leerstellen. Der Mangel hält unsere Konstruktionen beweglich. Viele Erwachsene verleugnen oder bekämpfen ihn. Er passt nicht zur Perfektibilität der Verwachsenen. Mit ihren lückenlosen Selbst- und Weltbildern verstopfen sie sich diesen Ur-Sprung, der das Individuum zum Individuum macht und das endlose Spiel der Differenzen eröffnet: Dialoge, Fragen, Fehler, Missverständnisse und schließlich das Spiel selbst und die Erfolge beim Lernen und im Forschen. Es wird Zeit, dass wir uns überlegen, wie in Kitas und Schulen nicht nur die Kinder von Erwachsenen lernen, sondern wie sich auch Erwachsene von ihnen kräftig irritieren lassen.

    P. S.

    »Die Welt entstand, als Atome von ihrer geraden Bahn abwichen.« (Epikur)

    P.P.S.

    Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de

    Interview Klett Themendienst

    RubrikAlle Beiträge auch unter www.klett-themendienst.de | Presseabdruck aller Texte honorarfrei/Fotos anfragen/Beleg erbeten | Klett-Themendienst 30 | April 2005 | 3SchuleFotos: Archiv der ZukunftDie in dem Film „Treibhäuser der Zukunft" porträtierten Schulen (Evangelische Gesamtschule, Gelsenkirchen und Ganztags-Gymnasium Klosterschule, Hamburg; r.) hinterlassen Bilder, die in den Köpfen der Menschen weiterleben und Mut machen, Schule zu verändern.„Treibhäuser der Zukunft"stimulieren den Möglichkeitssinn

    Nach Bekanntwerden der PISA-Ergebnisse berichteten die Medien ausführlich über die Schulen in den Siegerländern Finnland, Schweden und Kanada. Damit schien klar, dass die erfolgreichen Konzepte für Deutschland nicht taugen: Zu hoher Ausländeranteil, zu große Klassen, keine ausreichenden Mittel etc. Der Film „Treibhäuser der Zukunft" von Reinhard Kahl widerlegt dies: Er zeigt „Schulen, die gelingen", Schulen jeden Typs, aus allen Teilen Deutschlands.Ihr Film „Treibhäuser der Zukunft" hat – ähnlich wie der Film über das Tanzprojekt „Rhythm is it" – zahlreiche Menschen begeistert. Woran liegt das?Gesehen haben den Film „Treibhäuser der Zukunft" in Kinos und anderen öffentlichen Vorführungen inzwischen 15 000 oder mehr Menschen. Ich glaube, das große Interesse hat zwei Gründe. Der eine ist immer noch PISA. Die Ergebnisse haben irritiert. Es ist viel in Bewegung geraten. PISA ist im Grunde nur der Name für etwas tiefer Liegendes. Die Studie markiert Bruchstellen zwischen einer Industriegesellschaft und dem, wofür wir nur so unzureichende Namen haben wie Wissens- oder Ideengesellschaft. Der andere Grund ist, dass der Film etwas Ermutigendes zeigt, etwas, das den Möglichkeitssinn stimuliert. Man entdeckt, dass Schule ein Raum ist, der aufgeladen werden kann, dass Schulen auch bei uns gelingen und dass sie tatsächlich ein Lebensort sein können und dass man dann dort auch besser lernt.Was heißt es, dass eine Schule „gelingt"? Das Gelingen birgt immer auch das Risiko des Scheiterns. Es ist nicht das verordnete Richtige und auch nicht der gut ausgegangene Modellversuch. Die Schulen im Film haben, in Analogie zur Biografie eines Menschen, eine gelungene Zur PersonFoto: H. WittmannDer Journalist, Autor, Regisseur und Produzent von Fernseh- und Videodokumentationen Reinhard Kahl wurde 1948 in Göttingen geboren. Er studierte Erziehungswissenschaften, Philosophie, Soziologie und Psychologie in Frankfurt/Main und Hamburg. Seit 1975 ist Kahl als Journalist tätig. Er schreibt u. a. für „Die Zeit", „Geo", „Die Welt", die „Süddeutsche Zeitung" und die „taz". Im Hamburger Literaturhaus ist er Gastgeber des monatlich stattfindenden „Philosophischen Cafés" und im Stuttgarter Literaturhaus Gastgeber des „Stuttgarter Bildungsdiskurses".

    4 | Klett-Themendienst 30 | April 2005 | Alle Beiträge auch unter www.klett-themendienst.de | Presseabdruck aller Texte honorarfrei/Fotos anfragen/Beleg erbeten Biografie. Sie sind auch als Institution erwachsen geworden. Wenn man erwachsen wird, muss man aufhören, sich mit schlechten Bedingungen herauszureden. Man muss aus diesen Bedingungen, auch wenn sie schlecht sind, etwas machen. Nur in der infantilen Organisation beschwert man sich laufend darüber. Man delegiert die Verantwortung. Aber wer Verantwortung delegiert, kann auch keinen Stolz empfinden. In den skandinavischen Ländern ist das ganz anders. Dort ist Stolz eine Produktivkraft. Welches ist die Kernbotschaft aller im Film gezeigten Schulen?Es sind Schulen, die an den Koordinaten von Raum und Zeit arbeiten. Sie geben dem Ort große Bedeutung. Sie „laden ihn auf." Es sind Schulen, die die Zeit rhythmisieren und diesen industriellen 45-Minuten-Takt verlassen. Es sind Schulen, die auch aus den Kleinkriegen gegenseitiger Beschämung aussteigen, und die die Feindschaft zwischenSchülern und Lehrern aufgekündigt haben. Setzen sich diese Schulen nicht dem Vorwurf aus, sie wollten zur Kuschelpädagogik der 1970er-Jahre zurück, die wir endlich durch Leistung, Standards und Evalua-tion ersetzt haben?Nein. Leistung ist ihnen wichtig und sie sind durchgehend leistungsmäßig gut. Es ist vielmehr so, dass für diese Schulen das Schisma „entweder gute Leistungen oder sich Wohlfühlen" nicht gilt. Das Eine bedingt vielmehr das Andere! Es sind ent-neurotisierte Schulen. Die neurotisierte Schule ist so sehr mit sich und ihrem Unglück befasst, dass sie unglaublich viel Energie damit verbraucht. Wie lange dauert es, bis aus einer herkömmlich arbeitenden Schule ein „Treibhaus" wird?Das ist ganz schwer zu sagen. Ich vermute aber, dass es unter drei, vier Jahren nicht geht, und ich glaube, dass man sich diese Zeit auch nehmen muss. Zu allererst gilt es, sich darüber klar zu werden, worüber man unglücklich ist und was einem nicht gefällt. Eine der interessantesten Schulen, die ich in der letzten Zeit gesehen habe ist die Geresta skola in Härnösand, das liegt in Nordschweden. Diese Schule gilt als eine der besten überhaupt. Die Lehrer haben drei Jahre gebraucht, um herauszufinden, was ihnen missfiel, und was sie anders machen wollten. Drei Jahre, und dann ging alles plötzlich ganz schnell. Leider will man bei uns innerhalb eines Jahres Ergebnisse haben. Ist Unterricht und die Vorbereitung darauf in „Treibhausschulen" aufwändiger als in klassischen Schulen?Es gibt eine entscheidende Verschiebung: Die Vorbereitungszeit wird viel wichtiger. Das bedeutet vor allem, dass Lehrer kooperieren und nicht mehr jeder Einzelne die Vorbereitung ausschließlich für sich selbst macht. In der Bodenseeschule z. B. gibt es einen Raum voller Leitz-Ordner. Die enthalten das Schul-Gedächtnis von 20 Jahren. Viele Projekte wiederholen sich. Diejenigen, die zum ersten Mal ein Projekt durchführen, können auf bereits vorhandene Dokumentationen und Materialien zurückgreifen und diese modifizieren. Lehrer merken auch sehr schnell, ob ein bewährtes Projekt mit den Schülern ihres Jahrgangs noch gut läuft oder ob es verändert, angepasst werden muss. Die Lehrer dieser Schulen beschweren sich nicht über falsche Schüler, mit denen man sowieso nichts anfangen kann, weil sie dauernd nur fernsehen oder weil sie aus kaputten Familien kommen. Sie sagen: „Das sind unsere Kinder."Wenn Treibhausschulen erfolgreich sind und zudem noch viel motivierender, warum fangen nicht alle Schulen morgen damit an?Weil zumindest die ersten Schritte sehr anstrengend sind. Weil man Angst vor dem Scheitern hat und man sein Handeln selbst verantworten muss. Was nicht gut läuft, kann SchuleSchulen aus dem Film „Treibhäuser der Zukunft" (v. l.): Jenaplan-Schule (Jena; 1,2), Bodenseeschule (Friedrichshafen; 3,4,5),Max-Brauer-Schule (Hamburg; 6) und Martin-Luther-Schule (Herten; 7) Fotos: Archiv der Zukunft

    Rubrik Alle Beiträge auch unter www.klett-themendienst.de | Presseabdruck aller Texte honorarfrei/Fotos anfragen/Beleg erbeten | Klett-Themendienst 30 | April 2005 | 5 nicht mehr auf externe Ursachen abgeschoben werden, seien es andere Institutionen oder die widrigen Begleitumstände. Sobald man sagt, „das ist mein Leben", ist man für sich selbst verantwortlich und es ist vorbei mit dieser komfortablen Verantwortungslosigkeit, weil ja Schulen ohnehin nicht Konkurs gehen und niemand entlassen werden kann. Ich glaube, dass das Abschieben von Verantwortung die große Erbsünde unserer Schulen ist. So entledigt man sich seiner eigenen Urheberschaft. Welche Chancen räumen Sie den von Elterninitiativen gegründeten Privatschulen ein? Sie haben eine enorme Chance, denn wenn die Eltern Gründer oder Mitgründer sind, eröffnen sie gar nicht erst den Kleinkrieg mit den Lehrern. Aus einem Konsens heraus suchen sie sich die Lehrer aus, die zu ihnen und zur Schule passen. Darüber hinaus ist es für alle Institutionen gut, so etwas wie einen Gründungsmythos zu haben. Sehen Sie sich als Missionar, der im Auftrag, die Schule in Deutschland zu verändern, quer durch Europa reist? Um Gottes Willen, nein! Ich versuche etwas herauszufinden, vieles zu sammeln. Missionar ist jemand, der alles weiß und es anderen weitergibt. Das Schöne beim Filmen ist, dass man Dinge sammeln kann und – anders als beim Schreiben – nicht in die eigene homogene Theorie über-setzen muss. Der Missionar kennt ja schon genau das richtige Ergebnis. Ich erlebe ständig, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, gute Schule zu machen, und nicht nur die eine. Es gibt garantiert nicht nur eine. Die Schulen, die ich kennen gelernt habe und die gut sind, sind alle geprägt durch die Personen, die in ihr arbeiten. Vor allem durch Schulleiter und insbesondere durch Schulleiterinnen. Lassen sich gute Schulen in einem föderalen System leichter verwirklichen als in Systemen mit nationaler Bildungspolitik?Das glaube ich nicht. Ein Nachteil des föderalen Systems ist, dass die Kultusminister nichts abgeben wollen. Die Veränderungen in den skandinavischen Ländern waren stets davon begleitet, dass sehr viel Macht nach unten abgegeben wurde. Die ideale Konstruktion ist, dass erstens die Zentrale für Konsens und für Ressourcen sorgt und zweitens sehr viel Macht an die Schulen und die Kommunen, also an die Basis, geht. Und dann entsteht die Notwendigkeit für eine dritte Instanz, die Evaluations-Instanz. Dieses Dreieck ist sehr produktiv. Man könnte das durchaus auch in einem Bundesland realisieren. Aber die Bildung ist ein Feld, auf dem die Parteien gerade landespolitisch ihre Unterscheidungsgewinne machen können. SchuleFoto: Archiv der ZukunftAuch Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, Leiter des Ulmer Transferzentrums für Neurowissenschaft und Lernen, wurde für den Film „Treibhäuser der Zukunft" interviewt.

    Deshalb ist die Bereitschaft, Konsens zu schaffen so gering. Wir haben zu viel Krieg im System. Das manifestiert sich im Augenblick gerade in der Debatte um die Elite-Universitäten, die von der Politik jetzt in Geiselhaft genommen werden. Wenn im September die Pisa-E-Länderauswertung veröffentlicht wird, wird das Theater von vorn losgehen. Sollten Bayern und Baden-Württemberg wieder besser abschneiden als Nordrhein-Westfalen oder Bremen, wird man nicht danach fragen, ob es eventuell aufgrund kultureller Traditionen und stärkerer Wirtschaft weniger Verwahrlosung gibt. Oder ob nicht die Hauptschule deshalb (noch) nicht dieses pädagogische Lazarett ist, weil diese Bundesländer lange Zeit nicht so stark auf das Gymnasium gesetzt haben. Baden-Württemberg und Bayern haben, obwohl das gar nicht ihrer Politik entspricht, so gesehen die integriertesten Systeme. Dort, wo man zwar die Politik der integrierteren Systeme in Form von Gesamtschulen formuliert hat, in der Realität aber sehr stark auf den Aufstieg durch Bildung, also auf das Gymnasium gesetzt hat, sind die anderen Schularten stark ausgeblutet. Und das Gymnasium ist ausgewiesener Maßen die pädagogisch schwächste Schule. Leider ist das alles sehr paradox bei den Deutschen.In den nächsten Jahren werden mehr als 40 Prozent aller deutschen Lehrer in den Ruhestand gehen. Sehen Sie darin eine Chance für eine Veränderung von Schule?Im Augenblick ist meine größte Befürchtung eher, dass die falschen Leute Lehrer werden. Wenn, und das scheint so zu sein, das Ansehen der Lehrer so gering ist, dass diejenigen, die sich für den Lehrerberuf interessieren, als völlig uncool gelten und deshalb diejenigen Lehrer werden, die vor zehn Jahren aus Sicherheitsgründen lieber zur Bank gegangen sind, dann würde ich doch eher auf die Fünfzigjährigen setzen. Außerdem werde ich demnächst 57 und finde oft, es geht erst richtig los. «Die Fragen stellte Hannelore Ohle-Nieschmidt.SchuleFoto: Archiv der ZukunftMax-Brauer-Schule, HamburgServiceDer Film „Treibhäuser der Zukunft" kann unter www.archiv-der-zukunft.de oder im Buchhandel über den Beltz Verlag bestellt werden. VHS mit Dokumentation (115 Minuten), Kurzfassung und Ultrakurzfassung 17,20 Euro. DVD mit Buch (132 Seiten) 29 Euro. Auf drei DVD-Scheiben sind 14 Stunden Film. Außer der Dokumentation und den Kurz- fassungen gibt es acht Exkurse zu Themen wie Lehrer, Hetero- genität und andere Länder. Außerdem dokumentieren die DVDs ausführliche Interviews mit Hartmut von Hentig, Elsbeth Stern, Manfred Spitzer, Andreas Schleicher und vielen anderen Experten sowie mit den Protagonisten aus den Schulen. AnsprechpartnerReinhard KahlEppendorfer Landstraße 4620249 HamburgTelefon: 0 40-48 94 11Fax: 0 40-4 80 47 67mail@reinhardkahl.de www.reinhardkahl.de6 | Klett-Themendienst 30 |April 2005 | Alle Beiträge auch unter www.klett-themendienst.de | Presseabdruck aller Texte honorarfrei/Fotos anfragen/Beleg erbeten

    PS 4 Wir brauchen endlich Bildungspolitik!

    PS 4  05

    Wir brauchen endlich Bildungspolitik!

     

    Die Debatte ist in Gang gekommen. Der Debatte geht schon wieder die Puste aus. Beides stimmt. Jedenfalls, so scheint mir, wird das Bildungsthema derzeit pappig. Die Lust entschwindet. Auf mäßigem Niveau wird darüber gestritten, was Pisa denn beweist. Viel zu wenig wird formuliert, was wir eigentlich wollen. Nun wird es Zeit auf Pisa als Prothese zu verzichten und sich stattdessen seiner Phantasie und des eigenen Verstandes zu bedienen. Die Pisairritation war das produktivste Bildungsereignis seit Jahrzehnten. Sie hat inzwischen viele Menschen erreicht. Wer sich nun aber angewöhnt Pisa zu seinem Hauptargument zu machen, benutzt die Studie nicht zur Erkenntnis – also erst mal um darin zu lesen, was viele, die sich auf sie berufen ja noch vor sich haben, sondern um anderen mit dem gewichtigen Buch auf den Schädel zu kloppen. Damit hätten wir dann Pisa in den deutschen Bildungskrieg zurück geführt. Schule und Lernen würden wie gehabt zum Lass-mich-zufrieden-Thema. Und Sonntags spricht man wieder ungerührt über „die Bildung“.

     

    Abschieben  1

    Die Indikatoren von Timms, Pisa, Iglu und Co. weisen darauf hin, dass die Länder besser abschneiden, in denen man auf das Abschieben verzichtet. Das gilt fürs Abschieben von Kindern, wie fürs Abschieben der Verantwortung eigenen Handelns. Die selbständige Schule, die sich für ihre Kinder einsetzt und die rechenschaftspflichtig ist, das ist das Grundbild der gelungen Schule nach Pisa. Ein Erfolg. Aber aus den Untersuchungen folgt dieses Bild nicht wie eine logische Schlussfolgerung. Es ist ein politischer Schluss. Warum? Ganz einfach weil eine Studie wie Pisa mit ihren empirischen Korrelationen keine Handlungsanweisungen geben kann. Oder wollte jemand mit dem Blick auf Finnland und Schweden behaupten, weil Lehrer dort weniger verdienen als ihre deutschen Kollegen seien die Schülerleistungen besser, ergo sollte man schleunigst die Gehaltsstrukturen finnlandisieren? 

     

    Darin stimmen die nicht immer einigen Pisa-Forscher Baumert, Schleicher und Prenzel überein: aus den Ergebnissen ergeben sich keine zwangsläufigen Konsequenzen. Die drei haben ja auch durchaus unterschiedliche Interpretationen. Sie ziehen andere Schlussfolgerungen. Das ist gut so. Lieber drei Päpste als einer. So kann niemand zum Glauben an die eine Wahrheit verpflichtet werden. Aber die Studien geben Hinweise, starke und schwache. Forscher wissen jetzt besser, wo sie tiefer bohren sollten. Die Handelnden müssen sich ihr eignes Urteil bilden und Strategien ausfechten. Auch Pisaforscher sind als Eltern oder wären als Schulleiter oder Minister von diesen Unsicherheiten nicht entlastet. Handelnde müssen sich immer Urteile bilden, sie können nie aus einem vermeintlich endgültigem Wissen eindeutige Folgen exekutieren. Über diesen Mangel muss man nicht trauern. Er verhindert, dass wir zum bloßen Vollzugsorgan gemacht werden. Die Unsicherheit des Wissen ist Voraussetzung von Politik. Daraus ergibt sich auch: Wenn jemand ein Argument vorbringt und handeln will, darf ihm niemand damit kommen, seine Sache sei ja nicht endgültig bewiesen. Nichts ist in diesen Dingen jemals endgültig bewiesen! Man muss sich also aufeinander einlassen und muss zuhören. Der Respekt, um den es Kindern und Jugendlichen gegenüber geht, beginnt mit einer Bildungspolitik, die wir noch nicht haben.

     

    Abschieben 2

    Wenn zu meinen skandinavischen Freunden ein Deutscher sagt, „Pisa beweißt doch“, dann blicken sie ungläubig, als hätten sie sich verhört. Tatsächlich sind dort die Grundideen über die Schule Ergebnis politischer Diskurse, an denen die Parteien mitwirken, und die man diesen nicht überlässt. Die prinzipielle Inklusion, die das dortige Bildungssystem auszeichnet, wird von den politischen Akteuren vorweggenommen.  Hingegen haben wir in Deutschland einen Hang zum Glauben an die objektiven Faktoren, an die überragenden Strukturen und an die alles ermöglichenden oder verhindernden Ressourcen. Diese Beschwörung des Objektiven ist auch eine Variante des Abschiebens. Sie dient häufig als Ausrede in der ersten Person selbst zu formulieren, was man will, es auszuprobieren, zu überprüfen und dann immer weiter so. Nie wird man dabei eine gewisse Unsicherheit los. Das ist das Salz der Freiheit. Aber so häufig weiß man hierzulande ganz genau, warum die Ideale, die möglichst hoch gehängt werden, dann nicht zu realisieren sind und wer Schuld daran hat. Also muss man doch gar nicht erst anfangen. Und wenn, dann bleiben viele schon im Grundsatzstreit stecken. Dieser Glaube ans Objektive ist eitel und feige. Er gehört mit zur organisierten Verantwortungslosigkeit.

     

    PS

    Verantwortlich wäre man in Schulen doch vor allem gegenüber Kindern und Jugendlichen. Doch die kommen in unseren Bildungsdebatte kaum vor, und wenn, dann nur als Beispiele, nicht aber als diese ganz bestimmten Menschen, die wir mögen, um die wir uns sorgen, die wir vielleicht sogar lieben?  Eine Schuldebatte die vom Bedauern darüber angetrieben ist, dass in Schülern viel mehr steckt, führt notwenig an die Grenzen unserer Systems. Wenn man zeigen kann, wie unsere Strukturen zum Prokrustesbett werden, für das  man Menschen amputiert, wird man dieses auf den Müll werfen. Wenn man nur sagt, wir haben das falsche, vorformatierte Bett und dabei die Menschen vergisst, wird man es nur umbauen, aber sich nicht von Prokrustes, diesem schrecklichen Wirt verabschieden, der manchen den Kopf und anderen die Füße abschnitt, damit sie in sein Bett passen.

     

    „Treibhäuser“ Buchtipp des Monats in UNIVERSITAS

    UNIVERSITAS - Orientierung in der Wissenschaft

     

    Buchtipp des Monats

     

    Treibhäuser der Zukunft.

    Wie in Deutschland Schulen

    gelingen

    Dokumentation von Reinhard Kahl. Produktion: Archiv der Zukunft

    Buch (135 S.) 3 DVDs, Beltz 2004, 29 Euro

     

    Deutschlands Schulpolitik gilt nicht erst seit den schlechten Zeugnissen

    der PISA-Studien als verbesserungsfähig. Schüler in Finnland, Kanada

    und manch anderem Land lernen mit mehr Freude und Leistungsbereitschaft.

    Dass es auch hierzulande erfolgreiche Versuche gibt, Schule zu einem

    Lebensort zu machen, den man gern besucht und in dem man in einem Klima

    des gegenseitigen Respekts Lust auf Leistung bekommt, gemeinsam, aber

    dennoch selbstständig lernt, geht im allgemeinen Lamento und Streit über

    einen vermeintlichen Königsweg meist unter.

    Nun hat der Bildungsexperte und Filmemacher Reinhard Kahl ein

    aufwändiges DVD-Projekt über gelingende Schulen in Deutschland

    vorgelegt. „Treibhäuser der Zukunft“ nennt Kahl diese Orte und vertritt

    die Überzeugung, dass eine Schulpolitik, die sich als Klimapolitik

    versteht, bei Kindern und Jugendlichen die nachhaltigsten Wirkungen

    erzielen wird. Die vorgestellten Schulen (unter anderem das

    Willibald-Gymnasium in Eichstätt, die Max-Brauer-Gesamtschule in Hamburg

    und die Schule Schloss Salem) haben alle ganz eigene Antworten auf die

    Frage nach dem guten Lernen gefunden. Gemeinsam ist ihnen aber allen,

    dass Schüler und Lehrer sich mit Respekt begegnen und Beschämung, leider

    allzu verbreitet in vielen deutschen Bildungseinrichtungen, ein

    Fremdwort ist. Kahl will mit seinen Bildern des Gelingens ermutigen,

    gewissermaßen „Erreger einer ansteckenden Gesundheit in Umlauf bringen“.

    Auf den drei DVDs findet man den 115 Minuten langen, in Kapitel

    unterteilten Film „Treibhäuser der Zukunft“, Interviews mit Lehrern,

    Schü-lern, Eltern (1), Kurzfassungen des Films, acht Exkurse und

    Interviews mit Andreas Schleicher und Hartmut von Hentig und (2), zehn

    weitere Gespräche mit Experten wie Manfred Spitzer und Elsbeth Stern (3).

    Das Buch, welches die DVDs ergänzt, bietet neben einem

    Inhaltsverzeichnis eine Gebrauchsanleitung, Informationen zum Archiv der

    Zukunft,

    (einem Projekt, das Entwicklungen aus den Bildungslandschaften in

    Deutschland und anderen Ländern dokumentiert), den Filmtext, die

    wichtigsten Argumente aus den Interviews, ein Plädoyer für eine

    pädagogische Währungsreform und einen Ausblick auf weitere Projekte.

    Dirk Katzschmann

     

     

     

    DIE ZEIT Erziehungswisschaften

    DIE ZEIT


    11/2005 

    Nur bedingt wissenschaftlich

    Die Erziehungswissenschaften haben in der Forschung und der Lehrerausbildung versagt. Eine Polemik

    Für das miserable Abschneiden deutscher Schüler im Pisa-Test wurden viele verantwortlich gemacht: schlecht ausgebildete Lehrer und sparwütige Bildungspolitiker, Schüler ohne Disziplin und Eltern ohne Interesse. Nur eine Gruppe blieb von der Kritik seltsamerweise weitgehend verschont: die deutschen Erziehungswissenschaftler. Sie haben nicht nur wenig getan, um die deutsche Bildungsmisere zu verhindern. Sie haben diese – bis auf wenige Ausnahmen – noch nicht einmal vorhergesehen. Nicht etwa die der Zunft angehörenden 700 habilitierten Hochschulpädagogen und ihre 1500 wissenschaftlichen Mitarbeiter haben die deutsche Lernschwäche aufgedeckt, sondern die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Das hielt viele habilitierte Pädagogen freilich nicht davon ab, die bitteren Ergebnisse mit dem Wir-haben-es-schon-immer-gewusst-Gestus zu kommentieren. Illustraion: Caroline Ronnefeldt www.caroline-ronnefeldt.de/ BILD

    Dieses Scheitern ist nur der offensichtlichste Beleg für den beklagenswerten Zustand der deutschen Erziehungswissenschaften. Es dürfte schwer sein, an unseren Universitäten eine ähnlich erstarrte und international isolierte Disziplin zu finden. Kaum ein anderes großes Fach leistet es sich, seine wissenschaftlichen Standards und Aufgaben derart zu vernachlässigen. In den vergangenen Jahren sind in mehreren Bundesländern die pädagogischen Fakultäten evaluiert worden; zuletzt in Bayern, Niedersachsen und Baden-Württemberg. Die Experten – in der Regel selbst Erziehungswissenschaftler aus dem In- und Ausland – stellten der eigenen Zunft ein durchweg vernichtendes Urteil aus. Von »nicht tolerierbaren Schwächen an den meisten Orten« spricht etwa Heinz-Elmar Tenorth von der Humboldt-Universität, der die niedersächsische Gutachterkommission leitete. Seine Abmahnung darf für das ganze Fach gelten.

    Dabei sind die Aufgaben der Erziehungswissenschaftler von immenser Bedeutung. Sie sind verantwortlich für die Ausbildung der Lehrer. Sie sollen Erkenntnisse sammeln und auswerten, wie in Schulen, Hochschulen und anderen pädagogischen Einrichtungen gelehrt und gelernt wird. Sie müssen Fehlentwicklungen erkennen und Politikern wie Praktikern Hilfen an die Hand geben, diese zu korrigieren. Zu Recht erwartet die Öffentlichkeit von der Erziehungswissenschaft Informations- und Orientierungshilfe zu den neuen Anforderungen der Wissensgesellschaft – von der Medienpädagogik bis zum lebenslangen Lernen. Meist vergeblich. Bisher ist die Mehrheit der Hochschulpädagogen keiner dieser Anforderungen gerecht geworden.

    Dem Fach ging die pädagogische Bodenhaftung verloren

    Dass die Ausbildung der deutschen Lehrer ein pädagogisches Notstandsgebiet ist, wird seit den sechziger Jahren beklagt. Die künftigen Gymnasiallehrer studierten damals Germanistik oder Chemie ohne Vorbereitung auf den Lehrerberuf. Die Grund- und Volksschullehrer erwarben das Handwerk des Schulmeisters, meist ohne Kontakt zur Wissenschaft. Aber statt eine Ausbildung für Lehrer mit Theorie und Praxis zu entwickeln, wurden die Pädagogischen Hochschulen von den Universitäten übernommen. Nur Baden-Württemberg behielt seine PHs. Die künftigen Studienräte wurden mit Seminaren über Rousseau oder Bildungstheorie abgefunden, die wenige Studenten ernst nehmen. Die niederen pädagogischen Stände haben dagegen die Praxis verloren, ohne Wissenschaftlichkeit zu gewinnen. Das war die Geburt der Universitätsdisziplin »Erziehungswissenschaft«.

    Bis heute werden die angehenden Lehrer um eine Ausbildung, die sie aufs Handeln vorbereitet, betrogen, kritisiert Wolfgang Edelstein, emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Weder lernen sie, ihren künftigen Beruf zu reflektieren, noch haben sie Gelegenheit, ihre persönliche Eignung für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen zu prüfen. Die Erziehungswissenschaftler tragen daran nicht allein die Schuld. Aber ihre Anstrengungen, an der Misere etwas zu ändern, waren bislang gering. Lehramtskandidaten sollten am Ende des Studiums theoretisch wie praktisch erfahren haben, was guten vom schlechten Unterricht unterscheidet. Dass sie dies nicht wissen, brachte Pisa ans Licht.

    Jetzt muss Schadens- und Versäumnisforschung betrieben werden. Worin liegen die Ursachen von schlechten Leistungen? Mit welchen Strategien wären sie zu beheben? Warum hängen in Deutschland soziale Herkunft und Schulerfolg so sehr zusammen wie sonst fast nirgendwo? Wie lassen sich die Übergänge zwischen den Bildungsinstitutionen (Kindergarten, Grundschule, weiterführende Schule, Universität) besser verzahnen? Warum fällt den deutschen Lehrern der Umgang mit unterschiedlichen und unterschiedlich guten Schülern so schwer? Die Erziehungswissenschaften drohen wiederum zu scheitern. Denn wie Lehrer unterrichten und wie unsere Schüler wirklich lernen, darüber weiß man hierzulande wenig. Gewiss, es gibt vereinzelte Studien. Befriedigende Antworten bleiben die Pädagogen bisher schuldig.

    Erziehungswissenschaftler erkunden (mit mäßigen Erfolgen), wie man die Weiterbildung für Erwachsene verbessern könnte. Sie ziehen Freizeitpädagogen und Medienpädagogen heran. Doch hier ist vom Kernbereich der Erziehungswissenschaft die Rede: Schule, Kindergarten, Hochschule. Die beiden letztgenannten Bereiche haben die »Wissenschaften von Lernen« in Deutschland fast überhaupt nicht im Blick. Es gibt gerade einmal eine Hand voll Professoren, die sich mit den Jahren vor der Einschulung befassen. Interessante Anregungen kamen in erster Linie von der Neurobiologie und der Babyforschung. Die Ignoranz lässt sich steigern, in der Hochschulforschung. Bis auf wenige Ausnahmen – etwa in Kassel oder Halle/Wittenberg – ist eine wissenschaftliche Selbstreflexion über das Lehren und Forschen an deutschen Universitäten unbekannt.

    Überhaupt findet Forschung nach den üblichen Standards in den Erziehungswissenschaften nur sehr punktuell statt. Die bayerische Evaluation ergab, dass ein »Großteil der Forschung keine empirische Grundlage hat«. Das gilt ebenso für andere Bundesländer. So konnte an der Hamburger Universität vor einiger Zeit noch Peter Struck, Professor für Erziehungswissenschaft, unwidersprochen verkünden, dass er Zahlen über das Verhältnis von Intelligenz und Schullaufbahn im gegliederten System »einfach mal so geschätzt« habe. Diesen freihändigen Umgang mit Zahlen, so Struck, hätte er von einem anderen Pädagogikprofessor übernommen, der seine Daten ebenso kreativ erfand.

    0,5 Veröffentlichungen pro Forscher und Jahr – das ist wenig

    Der baden-württembergische Kommissionsbericht spricht von einer »hohen Beliebigkeit« der Forschungs- und Publikationsthemen. In vielen Fakultäten gebe es kaum eine Zusammenarbeit zwischen den Professoren, und meist fehlten erkennbare Forschungsschwerpunkte.

    Die Textproduktion der deutschen Erziehungswissenschaften ist zwar beachtlich; allerdings handelt es sich bei vielen Veröffentlichungen eher um Meinungsäußerungen oder feuilletonistische, mitunter durchaus kluge Betrachtungen, nicht aber um wissenschaftliche Arbeiten. So lag die jährliche Publikationsquote in den gängigen Fachjournalen laut baden-württembergischem Kommissionsbericht im Durchschnitt bei 0,5 Veröffentlichungen pro Wissenschaftler. Rund 30 Prozent der Professoren und die Hälfte ihrer Mitarbeiter hatten sogar innerhalb von fünf Jahren keinen einzigen wissenschaftlichen Beitrag in einer relevanten Zeitschrift geliefert.

    Der Disziplin fehle es an Qualitätsstandards und einer »funktionierenden Selbstkontrolle«, schreibt Jürgen Baumert vom MPI für Bildungsforschung in einem Resümee der drei letzten Evaluationsverfahren. Kaum eine deutsche Publikation durchläuft einen Begutachtungsprozess, Peer-Review genannt, bevor sie gedruckt wird. Manch honoriger Professor weiß mit dem fremden Wort noch nicht einmal etwas anzufangen, wie sich bei der bayerischen Evaluation herausstellte. Kein Wunder, dass deutsche Namen in den führenden internationalen Fachzeitschriften nur selten auftauchen. Mitunter fehlt in den deutschen Aufsätzen sogar jeder Hinweis auf die internationale Standardliteratur, wie die bayerische Evaluation vermerkt – eine Kritik, die sich sonst Studenten im Grundstudium anhören müssen. »Im internationalen Vergleich«, analysiert Baumert, »ist unsere Erziehungswissenschaft durch und durch provinziell.«

    Auch der Blick auf die Forschungsgelder ist ernüchternd. Erziehungswissenschaftler werben nur rund 60 Prozent der Drittmittel ein, die sonst in Sozialwissenschaften üblich sind. Außerdem zeigt sich im Gegensatz zu anderen Wissenschaftszweigen kaum ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Drittmittel und der Menge der Publikationen – ein Hinweis, dass aus vielen pädagogischen Forschungsprojekten keine verwertbaren wissenschaftlichen Ergebnisse erwachsen, urteilt der Dortmunder Hochschulforscher Stefan Hornbostel.

    Ein Grund dafür ist, dass viele Erziehungswissenschaftler sich nicht im Wettbewerb mit anderen Wissenschaftlern um ihre Drittmittel bemühen müssen. Vielmehr betreiben sie Auftragsforschung. Mit Geld aus Ministerien oder Stiftungen stellen sie die so genannte wissenschaftliche Begleitung von (Reform-)Projekten. Gegen solche Anwendungsorientierung ist wenig einzuwenden, und die meisten Projekte selbst sind durchaus sinnvoll. Mit Forschung im eigentlichen Sinn hat diese Arbeit jedoch selten etwas zu tun. Vollends fragwürdig wird die Sache dann, wenn der gleiche Erziehungswissenschaftler, der an einer Schule eine »Innovation« einführt, auch am »Auswertungsbericht« beteiligt ist, sich quasi also selbst evaluiert. Mehr als in anderen Disziplinen fließe in die Erziehungswissenschaften zu viel »billiges Geld«, kritisiert denn auch Manfred Nießen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

    Die besten Forscher arbeiten außerhalb der Hochschulen

    Natürlich gibt es allerorten Gegenbeispiele. Deutsche Bildungsforscher haben an den großen internationalen Vergleichsstudien wie Timms (Mathematik und Naturwissenschaften), Iglu (Grundschulen) oder Pisa entscheidend mitgearbeitet. Sie haben geholfen, die Studien zu konzipieren, haben Aufgaben entwickelt und den internationalen Test durch einen innerdeutschen Vergleich erweitert. Ihnen ist zu verdanken, dass die skandalösen Bildungsunterschiede zwischen den Bundesländern zum Thema wurden. Seit Jahren sind Erziehungswissenschaftler und Fachdidaktiker dabei, im Sinus-Programm den mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht zu revolutionieren. Doch die Protagonisten dieser Großvorhaben arbeiten meist außerhalb der Hochschulen, etwa am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin oder am Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) in Kiel.

    Was ist verantwortlich für diese Forschungsschwäche der deutschen Erziehungswissenschaften? Unter anderem die drei Jahre Schulpraxis. So lange muss nach den geltenden Berufungsvorschriften jeder Wissenschaftler vor einer Schulklasse unterrichtet haben, der an einer Universität lehren und forschen will. »Diese Voraussetzung schränkt die Möglichkeit stark ein, gute Forscher an die Universität zu locken«, klagt der Münchner Pädagoge Heinz Mandl. Denn wer sich erst nach drei Jahren Praxis für die Unikarriere entscheidet, dem fehlt oft das elementare Handwerkszeug des Forschers.

    Eine andere Erklärung ist die starke Belastung der Pädagogikprofessoren durch die Lehre. Auch in den Erziehungswissenschaften sind die Studentenzahlen weit stärker gestiegen als die der Neuberufungen von Professoren. Wirklich überzeugen kann dieses Argument jedoch nicht, meint die Max-Planck-Forscherin Elsbeth Stern. Sie verweist auf einige ihrer Kollegen an den Hochschulen, die ausgezeichnet seien und international publizierten – trotz Überlastung. Aber es seien eben nur wenige. Der Mehrheit kann sie den Vorwurf nicht ersparen, im Grunde den internationalen Standards auszuweichen.

    Denn statt empirisch zu forschen, wird in Deutschland lieber das Große und Ganze diskutiert. Statt die Schulwirklichkeit zu beobachten und Hinweise für eine Reform des Unterrichts zu geben, wälzt man pädagogische Klassiker und übt sich im gepflegten Diskurs über die »Bildsamkeit«, »Schlüsselqualifikationen« und Co. Selbstgenügsam pflegt man in der Branche alte Freundschaften und Feindschaften. Diese auf Selbstbestätigung ausgerichtete Tradition ist nicht unbedingt auf Erkenntnis aus. Den Krieg um die große Wahrheit zu führen, statt sich aus vielen kleinen Wahrheiten schlauer zu machen, nennt Stern »genuin reaktionär«, egal ob das Vokabular nun schwarz, grün oder rot koloriert sei.

    Schon 1975 empfahl der Deutsche Bildungsrat, eine empirisch ausgerichtete Bildungsforschung zu etablieren. Die Empfehlung verhallte. Nur 10 bis 20 Prozent der Wissenschaftler, schätzt Jürgen Baumert, arbeiten heute in der »empirischen Pädagogik«. Das sind zu wenige, um die Bedürfnisse des Schulsystems zu befriedigen. So werden als Folge der Pisa-Ergebnisse nun allerorten verbindliche Standards, Leistungstests und Schulvergleiche gefordert. Doch für die Tests fehlen die Experten, die testen sollen.

    Nur wenige Bildungsforscher verfügen über das Wissen, wie man Tests entwirft und die Kompetenzen von Schülern definiert. Die wenigen Empiriker haben wiederum oft nur wenig Kontakt zu den einzelnen Schulfächern. Gefragt sind hier Fachdidaktiker für verschiedene Altersgruppen und vor allem die Zusammenarbeit zwischen den spezialisierten Forschern. Und sollen mit den aufwändigen Tests nicht nur Datenfriedhöfe angelegt werden, muss noch eine dritte Spezies ihren Beitrag leisten: erfahrene Bildungsforscher, welche die Befunde so interpretieren, dass Schulen und Ministerien daraus vernünftige Konsequenzen ziehen können. Auch ihre Zahl ist überschaubar.

    Von der Welterklärungspädagogik zur empirischen Wissenschaft

    Ganz anders verlief die Entwicklung zum Beispiel in den Niederlanden. Frank van der Schoot erinnert sich noch gut an die Zeit Ende der sechziger Jahre, als die niederländischen Erziehungswissenschaften ihre empirische Wende vollzogen – weg von der Welterklärungspädagogik, wie sie in Deutschland vorherrscht, hin zu einer empirischen Pädagogik angelsächsischer Provenienz, die sich stärker aktuellen Problemen und konkreten Lösungsmöglichkeiten widmet. Van der Schoot arbeitet heute bei Cito, dem nationalen Institut für Bildungsstandards und landesweite Prüfungen. Die Niederlande gelten mittlerweile als weltweit führend im Design von Qualitätsvergleichen von Schulen sowie in der Entwicklung eines modernen mathematischen Unterrichts.

    Ebenso groß ist die Forscherreputation der Niederländer. Wertet man die 19 wichtigsten internationalen Fachzeitschriften auf dem Feld der Erziehungswissenschaft und pädagogischen Psychologie aus, ergibt sich, dass dort gerade einmal 0,6 Prozent der Publikationen aus Deutschland stammen. Aus den – sehr viel kleineren – Niederlanden wurden dagegen dreimal so viele Veröffentlichungen gedruckt. Offenbar hat die Hinwendung der Wissenschaft zum Konkreten auch der niederländischen Schule gut getan: Beim letzten Pisa-Test landeten die Neuntklässler des Landes in Mathematik auf Platz drei.

    Mittlerweile ist auch die deutsche Erziehungswissenschaft – Pisa sei’s gedankt – dabei, sich zu finden. Sie sucht ihre Identität in der Kooperation. So arbeitet Elsbeth Stern an ihren Untersuchungen über das naturwissenschaftliche Verständnis von Grundschülern mit der Didaktikerin Kornelia Möller aus Münster zusammen.

    Vorbildlich könnte auch ein großes Projekt zur »Bildungsgangforschung« an der Hamburger Universität sein. »Früher«, sagt der Erziehungswissenschaftler Johannes Bastian, »war es die Regel, dass jeder Hochschullehrer einzeln vor sich hin geforscht hat.« Jetzt liest man eine stattliche Liste mit Forschern unterschiedlicher Herkunft in dieser Forschergruppe: Schulpädagogen, Fachdidaktiker, Psychologen und Sozialisationsforscher arbeiten hier zusammen. Untersucht wird, wie Schüler sich ihren eigenen Lernprozess konstruieren. So überprüfen Professoren und Studenten gemeinsam, was es den Schülern tatsächlich bringt, wenn jeder nach schwedischem Vorbild in seinem Logbuch seinen ganz persönlichen Lehrplan entwirft und sich selbst, den Lehrern und den Eltern darin Rechenschaft gibt.

    Der Generationswechsel bei den Erziehungswissenschaftlern könnte die Erneuerung des Fachs beschleunigen. In den nächsten zehn Jahren wird die Hälfte aller Professoren emeritiert. Da ist eine Chance, »die empirische Forschungsorientierung zu stärken«, schreibt Manfred Prenzel vom Kieler IPN und neuer Leiter der Pisa-Studie. Sein Vorschlag: einen »Teil der Professuren umwidmen«.

    Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) möchte den Umbau der Disziplin mit einem neuen Förderprogramm unterstützen. Vier bis sechs empirisch arbeitende Forschergruppen sollen mit DFG-Geld bis 2006 an verschiedenen Universitäten entstehen. Das Interesse ist groß – die Qualität der Anträge allerdings nicht. 30 Wissenschaftlergruppen haben sich mit mehr als 200 Einzelprojekten beworben. Doch bislang fanden ganze zwei – Erziehungswissenschaftler aus Essen und Kassel – das Wohlgefallen der Gutachter. Der Rest scheiterte. Angesichts der hohen Ablehnungsquote sieht sich die Förderorganisation zu einer für die Disziplin peinlichen Stellungnahme genötigt: Leider könne die DFG im Fall der Erziehungswissenschaften keine »Kompromisse bei den üblichen Qualitätskriterien machen«.

    PS 3 HUMANKAPITAL ?

     

    PÄDAGOGIK - P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

    Humankapital?

    Wer dieses Wort in den pädagogischen Diskurs bringt, macht sich damit selten Freunde. Nun wurde Humankapital von einer Sprachjury sogar zum Unwort des Jahres erklärt. Abgesehen davon, dass »Unwort« selbst unmöglich ist, wurde hier ein Ressentiment bedient. Bildung, das weiß man ja, verhält sich zu Wirtschaft wie Feuer zu Wasser. Oder? Nein, der Gemeinplatz gehört ins Inventar der Philister. Genauer besehen erweist sich Humankapital als Wasserzeichen eines Denkens und Handelns, das am Ende der Bildung bekommt.

    Wenn in Deutschland die Sonntagsreden mit hehren Präambelsätzen über »Bildung« verklungen sind, geht man werktags zur Sache. Argumentiert wird dann mit dem »Qualifikationsbedarf.« Aufschlussreich ist, dass in der angloamerikanischen und skandinavischen Tradition an allen sieben Tagen der Woche das verdächtige Wort gebraucht wird. Gewiss, Humankapital hört sich nach kruder Ökonomie an. Tatsächlich steht das Wort eher für das Vertrauen in junge Menschen, dass sie aus ihren auf keinen Bedarf zugeschneiderten Fähigkeiten schon was machen werden. Aufs Humankapital wird gesetzt, weil niemand die Zukunft kennt. Weil sie offen ist, muss sich jeder so gut vorbereiten wie möglich. Diese Denkweise führt zu einem hohen Anteil von Studierenden. Alles nur, um sie für die Wirtschaft verwertbar zu machen?

    Qualifikationsbedarf?

    Die deutsche Konstruktion »Qualifikationsbedarf« ist international einmalig. Sie ist die Kehrseite des abgehobenen Bildungsbegriffs. Vorausgesetzt wird, dass die Zukunft im Groben bekannt ist. Die nächste Generation wird einem vermeintlich objektiven Bedarf unterworfen. Schlimmer noch, viele Jugendliche glauben selbst an diese Fiktion. Am deutlichsten wird die Vorstellung, dass ein Bedarf zu bedienen sei, an der verbreiteten Angst, zu viele Hochqualifizierte endeten als akademisches Proletariat, sei es als Revoluzzer oder als Taxifahrer. Alle Statistiken beweisen das Gegenteil, doch der Mythos hält sich. Er wird vom Argwohn getrieben, viele wollten zu hoch hinaus. Auch darin liegt eine Verwandtschaft mit dem idealisierenden Bildungsbegriff und seiner Kehrseite, der Neigung zur Herabsetzung und Selektion.

    Humankapital!

    Mit dem Denkmuster »Humankapital« werden Bildungssystem und Beschäftigungssystem entkoppelt. So entsteht Freiraum für Bildung. Die aktuelle OECD-Statistik verzeichnet sinkende Arbeitslosenquoten in Ländern, deren Anteil von Studierenden seit 1995 um mehr als fünf Prozent gestiegen ist. Jedes zusätzliche Jahr an Bildung, das eine Bevölkerung im Durchschnitt genießt, steigert das Bruttoinlandsprodukt um drei bis sechs Prozent. Gestärkt wird der »subjektive Faktor«. Ganz konkret: Hätten die Finnen vor 25 Jahren, als bei Nokia noch Stiefel und andere Gummiwaren hergestellt wurden, gefragt, für welchen Bedarf sie ausbilden sollen, wer würde heute diese Firma kennen? »Kommunikationsgesellschaft« wurde als Staatsziel in die finnische Verfassung geschrieben. Definiert wird sie damit, dass zumindest 70 Prozent der jungen Leute studieren. Jawohl, 70 Prozent. Ein zumindest vierjähriges Studium! Inzwischen beginnen es in Finnland 71 Prozent. Wohin führt das, wenn jeder studiert, fragen sich immer noch viele Deutsche. Ja, wohin führt das?

    Eine Quittung für die deutschen Bildungsphilister ist unsere im internationalen Vergleich niedrige Quote von Studienanfängern: 35 Prozent. Im OECD Schnitt sind es 45 Prozent. Wir sind allerdings Weltmeister bei den Abbrechern. Nur 19 Prozent verlassen eine Hochschule mit Examen.

    Schüler und Studenten, die sich fragen, wie stärke ich mein Potential, und sich nicht darauf beschränken, vorauseilend zu erfüllen, was angeblich gebraucht wird, werden auch in der Schule oder Hochschule seltener fragen, was von ihnen verlangt wird. Sie müssen herausfinden, was sie wollen. Etwas zu wollen und eigene Ideen zu haben, das wird zum Kern von Humankapital und von Bildung. Eine Bildung, die sich allerdings eher im Handeln als im Genuss von »Bildungsgütern« erweist.

    Wer heute ein Architekturbüro, einen Verlag oder eine automatisierte Produktion betritt, findet dort gewöhnlich ein höheres Zivilisationsniveau als in Schulen. Als Erstes fällt der Unterschied an den Räumen auf. Dann am Umgang. Wie kommt das? Ihre Arbeit sehen die meisten Mitarbeiter in diesen Untenehmen eher als ihre eigene Sache an, als das gewöhnlich bei Schülern der Fall ist. Wäre das nicht ein Maß, den Grad an Entfremdung zu beurteilen?

    Wie kommt es, dass in einer der besten Schulen, die ich kenne, bei einer Befragung der Schüler, was ihnen gefällt, Praktika in Betrieben an erster Stelle stehen? Wie kommt es, dass Kinder nach einem mehrtägigen Spiel »Leben im Mittelalter« davon schwärmen, dass Kinder damals arbeiten durften? Sie sehnen sich danach, nicht nur gefragt zu werden, sondern auch gefragt zu sein, mit anderen etwas auf die Beine zu stellen und dabei ihre Wirksamkeit zu erleben.

    P. S.

    »Ökonomie ist Kunst«, sagte Joseph Beuys, »und Kunst ist Ökonomie.« Der gemeinsame Nenner beider Gleichungen ist die Verwandlung von Knappheit in Form. Ist das nicht auch Bildung? Und erkennt man Dummheit und Ressentiment nicht an deren Formlosigkeit? Bis wir die Wirksamkeit des Humankapitals an seiner Schönheit erkennen, wird wohl noch etwas Zeit vergehen. Aber das wär´s natürlich.

    P.P.S.

    Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de

     

     

    Bildungssystem krankt an Selektion Ostseezeitung

    Zurück zur Bildschirmansicht

    Wochenendausgabe, 26. Februar 2005

    Greifswald und Umgebung

    Bildungssystem krankt an Selektion

     

    Der Landeselternrat hatte zur Podiumsdiskussion über das deutsche Bildungssystem eingeladen. Etwa 150 Eltern, Lehrer und Schüler kamen.

     

    Innenstadt„Deutsche Schule ist schwer. Das ist ein Teil unserer Mythen: Was schwer ist oder bitter wie Medizin, tut gut, ist besser als etwas, das schmeckt. Man paukt, um die nächste Prüfung nicht zu verhauen. Dabei sollten unsere Kinder fürs Leben lernen. Wissen anwenden können heißt, Probleme erkennen, Lösungen finden. Heißt auch, miteinander kommunizieren zu können, im Team arbeiten“, predigt Reinhard Kahl vom Podium und setzt noch eins drauf: „In Deutschland wird den Kindern mit dem späteren Leben gedroht, anstatt dahin einzuladen.“ Widerspruch erhält der Hamburger Journalist und Filmemacher nicht. Dabei sitzen an diesem Donnerstag viele Lehrer und Eltern in der gut gefüllten Aula der Arndtschule. Engagierte Lehrer und Eltern, aber auch verärgerte, wie sich im Laufe der Diskussion zeigt.

    „Wie viel Finnland braucht unser Bildungssystem?“ titelte der Landeselternrat das Forum und lud interessante Gesprächspartner ein. Zu ihnen gehörte Reinhard Kahl, der sich seit Jahren mit der Lust am Denken und Lernen befasst. Er drehte bereits mehrere Filme über beispielhafte Schulen in Skandinavien, aber auch Kanada und Frankreich. Zu den Gästen des Abends gehörten aber auch Bildungsminister Metelmann und Petra Linderoos von der finnischen Universität Jyväskylä.

    Letztere beeindruckte das Publikum mit Einblicken in das finnische Bildungssystem. Das skandinavische Land, Spitzenreiter bei den PISA-Ergebnissen, habe ein „zentrales Geheimnis – die Heterogenität“. „Bei uns gibt es keine Selektion von Kindern. Die ersten neun Jahre lernen alle zusammen, werden gefordert und gefördert. Jede Schule ist gleich gut. Die Sorge, wo schicke ich mein Kind am besten hin, kennen die Eltern bei uns nicht“, betont die gebürtige Deutsche, die seit 1987 in Finnland lebt, drei Kinder hat und an der Universität als Lehrerin für Deutsch und Fremdsprache arbeitet.

    Doch der bei uns im Land gerade diskutierte längere gemeinsame Schulweg findet nicht nur Freunde. „Ich glaube nicht an einen Konsens“, äußerte Ulf Burmeister, Schulleiter des Humboldtgymnasiums, und kritisierte die immer wiederkehrenden Strukturveränderungen nach einem Regierungswechsel. Doch Bildungspolitik brauche „Konsens über politische Grenzen hinweg“, appellierte er an Prof. Metelmann. Der musste sich an diesem Abend einige Vorwürfe gefallen lassen. So auch von Franziska Gutzmer, Sprecherin des Landesschülerrates: „Über die 5./6. Klasse wurde auf Krampf entschieden, ohne Inhalte zu klären. Dabei muss es genau um diese gehen“, unterstrich die Gymnasiastin aus Pasewalk. Markus Wiesenberg sandte ebenfalls eine Botschaft nach Schwerin: „Ich besuche eigentlich das Jahngymnasium in Greifswald, muss aber mittlerweile zwischen drei Schulen pendeln. Ist das noch normal“, fragte der Gymnasiast kopfschüttelnd.

    Patentrezepte konnte nach der gut dreistündigen Debatte niemand mit nach Hause nehmen. Wohl aber viel Stoff zum Nachdenken. Insbesondere schaffte es der Publizist Kahl immer wieder mit seinen Worten ins Schwarze zu treffen. Nicht zuletzt, als er den Künstler Joseph Beuys zitierte. „Der hat mal gesagt: 'Ich ernähre mich von Fehlern.' Doch in Deutschland herrscht die Ideologie des Perfektionismus und der Verachtung von Fehlern“, äußerte der 57-Jährige, „jeder denkt: Bloß keine Fehler machen! Dabei bringen uns gerade die voran, helfen uns in unserer Entwicklung. In Skandinavien hat man das längst begriffen.“

    PETRA HASE


    Beim Forum dabei: Petra Linderoos, Anja Ziegon vom Landeselternrat, Franziska Gutzmer vom Landesschülerrat, Prof. Metelmann, Reinhard Kahl und Detlef Klage von der Lehrergewerkschaft GEW.

     

    Horx – Die Presse Österreich Über die „Treibhäuser“

    diepresse.com
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    19.02.2005 - Meinung / Gastkommentare
    Zukunft Passiert: Wir Analphabeten
    VON MATTHIAS HORX

    B
    eim großen Bildungsdialog in der Hofburg am letzten Montag herrschte schnelle Einigkeit. Zum Beispiel, dass die mangelnden Deutschkenntnisse von Ausländern besonders schuld sind an der schwachen Bildung der Österreicher. Dass man den Vorschulunterricht stützen und die Lehrer besser ausbilden muss. Dass Lesefähigkeit enorm wichtig ist. Aber niemand (außer Christoph Leitl) redete über die wichtigsten Zukunftsfächer:

    Ausdrucksfähigkeit. Wer von uns kann auf einer Versammlung (und sei es einem Begräbnis oder einer Feier) aufstehen und sich ausdrücken? Täuscht es, oder kommen Österreichs Schüler immer noch seltsam stumm aus der Schule, verdruckst, auf konditionierte Weise sprach-los. Sie lernen, wenn es hoch kommt, stillsitzen und warten. Aber wie sollen wir (unsere Kinder) in einer Wissens-Welt (über)leben, in der die Präsentation von komplexen Gedanken die berufliche Zukunft bestimmt?

    Kreatives Selbstlernen. Wer von uns (und unseren Kindern) hat Spaß daran, auf neue Reisen des Geistes zu gehen? Wissen wird uns in der Schule in Schachteln serviert, in "Fächern". Wie mein Vater sagte: "Bier ist Bier, und Schnaps ist Schnaps", und alles hat miteinander nichts zu tun. Aber das Wesen der Dinge ist die Verbundenheit. "Out-of-the-Box-Thinking", vernetztes Denken, ist das Gold der Zukunft.

    Selbstwissen. Wer von uns (und unseren Kindern) kennt sich selbst? Wer weiß etwas über seine Macken, seine Leidenschaften, seine Träume, seine Ziele? Über seinen Körper, und wie er gut mit ihm umgeht? Wie er sich über Krisen hinwegführt? Lehren unsere Schulen die Klugheit der Selbst-Betrachtung, die Grundlage ist für jede wahre Individualität?

    Das ist der neue Analphabetismus, die "Leseschwäche" der Wissensökonomie: Wir verfügen nicht über die elementaren Kulturtechniken einer Welt, in der Wissen nicht mehr fixiert und soziale Verhältnisse offen sind und das Individuum frei, aber auch verantwortungspflichtig wie nie ist. In der alten Gesellschaft der Industrie kamen wir mit passiven Strategien noch einigermaßen aus: Mund halten, sich nach den Vorschriften richten, nicht auffallen. Aber inzwischen kann selbst mein "Bankbeamter" (sic!) sich nicht mehr auf die Vorschriften berufen, weil ich sie ihm als Kunde um die Ohren haue. In der Welt der Zukunft müssen sich auch Liebes- und Ehepaare anders miteinander verständigen als in der alten Welt der gesicherten Rollenteilung (Mann jagt Mammut, Frau putzt Höhle).

    D
    er deutsche Journalist Reinhard Kahl (www.reinhardkahl.de) hat sich mit der Frage zukünftiger Bildungsziele seit vielen Jahren intensiv auseinander gesetzt. Er hat Schulen der Zukunft gefunden, in denen all das wirklich gelernt wird: Individualität und Kooperation. Freies Sprechen und eigenständiges, vernetztes Denken. Neugier und Geduld. Dort wird der alte Frontalunterricht (die Osterhasen-Pädagogik: Der Lehrer hortet fixiertes Wissen hinter seinem Rücken, die Kinder müssen es suchen) zu Gunsten offener Formen des Selbstlernens aufgelöst. Seine DVD-Dokumentation Treibhäuser der Zukunft (bestellung@archiv-der-zukunft.de) geht unter die Haut. Man möchte weinen, wenn man sieht, wie Schule lebendiger Lebens-Raum werden kann. Und was unsere Kinder immer noch versäumen. Wetten, dass das auch in Österreich geht, früher oder später?

    Der Autor ist deutscher Trend- und Zukunftsforscher und wohnt in Wien.

    www.horx.com

    Das Wesen der Dinge ist die Verbundenheit. Vernetztes Denken ist das Gold der Zukunft.

    © diepresse.com | Wien

    Pisa gegen Pisa / Interview Prenzel & Schleicher DIE ZEIT

    DIE ZEIT


    08/2005 

    Pisa gegen Pisa

    Deutschland streitet wieder über die Gesamtschule. Gegner und Befürworter berufen sich auf die Pisa-Studie. Wer hat Recht? Ein Disput unter Kennern


    DIE ZEIT: Reden Sie eigentlich noch miteinander?

    Manfred Prenzel: Natürlich.

    Andreas Schleicher: Warum nicht?

    ZEIT: In der Öffentlichkeit werden Sie als Papst und Gegenpapst der Pisa-Studie wahrgenommen. Für die einen gelten Sie, Herr Schleicher, als der selbstherrliche Experte aus dem Ausland, der den Deutschen die Gesamtschule verordnen will. Andere sehen in Ihnen, Herr Prenzel, den Auftragsforscher der Kultusministerkonferenz, der im Gleichklang mit seinen Geldgebern die Debatte um die Schulstruktur meidet. Und beide berufen Sie sich auf die Ergebnisse der Pisa-Studie.

    Schleicher: Ich will niemandem die Gesamtschule verordnen, schon gar nicht das Modell, das hierzulande gescheitert ist. Aber Deutschland kommt um die Strukturdebatte nicht herum. Das ist nicht nur meine persönliche Schlussfolgerung, sondern die der OECD. Erfolgreiche Bildungsnationen gehen mit der Unterschiedlichkeit der Schüler konstruktiver um. Das gegliederte deutsche Schulsystem lädt dazu ein, Schüler abzuschieben, anstatt sie zu fördern.

    Prenzel: Als empirischer Bildungsforscher bin ich zurückhaltender mit Rezepten. Pisa beschreibt sehr gut die Schwächen unserer Schulen. Zum Beispiel mit dem dramatischen Befund, dass ein knappes Viertel der 15-Jährigen nur auf niedrigstem Niveau lesen und rechnen kann. Aber die Studie gelangt an Grenzen, wenn Unterschiede zwischen Staaten erklärt werden sollen. Aus der Schul- und Unterrichtsforschung wissen wir, dass zahlreiche Faktoren eine Rolle spielen. Das Schulsystem ist ein Faktor neben vielen. Und das Bild ist hier keineswegs einheitlich: Die Niederlande und das belgische Flandern sind mit gegliederten Schulsystemen erfolgreich. Aus den Pisa-Daten allein können wir keine Maßnahmen ableiten, die Deutschland im internationalen Vergleich noch vorn bringen.

    Schleicher: Sicher kann man aus den Pisa-Daten allein keine Rezepte ableiten, ebenso wenig übrigens die von den Kultusministern ergriffenen Maßnahmen. Das Entscheidende ist doch aber, dass der internationale Vergleich bildungspolitische Alternativen aufzeigt, an denen sich Bildungspolitik und Bildungspraxis orientieren können. Dazu gehört, und die Niederlande sowie Flandern bieten dafür gute Beispiele, eine stärkere individuelle Förderung im Rahmen einer längeren gemeinsamen Schulzeit und eines wesentlich durchlässigeren Bildungsangebots.

    Prenzel: In Deutschland zeigen Bundesländer mit sechsjähriger Grundschule, dass mit einer Strukturänderung allein noch nichts gewonnen ist. Zum Beispiel haben auch die USA und Italien, die bei Pisa nicht gut abschneiden, Gesamtschulen. Eine Debatte über die Gesamtschule drängt vielmehr die Themen in den Hintergrund, über die nach Pisa gesprochen werden muss: den Unterricht, die Lehrerbildung, die Leseförderung. Ich möchte die Diskussion öffnen und nicht verengen.

    ZEIT: Die Pisa-Studie hat gezeigt, dass das deutsche Bildungssystem besonders ungerecht ist. Fast nirgendwo sonst hängt die Schulleistung so stark von der sozialen Herkunft ab wie hier.

    Schleicher: Das ist nicht nur ein Gerechtigkeitsproblem. Wenn begabte Einwandererkinder auf einer deutschen Hauptschule ihr Potenzial nicht ausschöpfen, dann vergeudet unsere Gesellschaft wertvolle Ressourcen für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt.

    ZEIT: Herr Prenzel, können Sie sich vorstellen, das Gerechtigkeitsproblem im Rahmen des gegliederten Systems zu lösen?

    Prenzel: Die Schule kann, unabhängig vom Schulsystem, an der Aufgabe, soziale Gerechtigkeit herzustellen, nur scheitern. Freilich muss die Schule gerecht sein, und sie darf die sozialen Unterschiede nicht vergrößern. Wir sollten erst einmal versuchen, intelligenter mit dem System umzugehen, das wir vorfinden.

    ZEIT: Wo fehlt es denn an Intelligenz?

    Prenzel: Zum Beispiel müssen wir die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen erhöhen. De facto, und nicht nur auf dem Papier. Guten Haupt- und Realschülern muss der Weg zum Abitur eröffnet werden. Oder nehmen Sie die Entscheidung für eine Schulform am Ende der vierten Klasse. Sie darf nicht schon das Lernklima in der ersten und zweiten Klasse bestimmen. Kurzfristig können wir am meisten über einen besseren Unterricht bewegen, einen Unterricht, der sich stärker am individuellen Lerntempo der Schüler orientiert. So zu unterrichten, müssen wir erst einmal im derzeitigen System lernen. Auch eine bessere Lehrerbildung ist keine Systemfrage. Da müssen die Universitäten ihrer Bringschuld nachkommen.

    ZEIT: Wie lange wollen Sie dem Versuch geben, das bestehende System zu optimieren?

    Prenzel: In sechs Jahren sind wir schlauer. Bis dahin sollten wir spürbar vorangekommen sein.

    Schleicher: Sicher ist die Qualität des Unterrichts der Schlüssel zu besseren Lernergebnissen. Aber es wäre naiv, zu glauben, dass sich die Qualität des Unterrichts allein oder auch nur maßgeblich mit neuen didaktischen Konzepten oder Lehrerbildungsmaßnahmen beeinflussen ließe. Den Unterricht nachhaltig verbessern werden nur wirksame Motivations- und Unterstützungssysteme in den Schulen, die Lehrern und Schülern helfen, voneinander und miteinander zu lernen, und die Perspektiven für professionelle Entwicklung bieten und Kreativität, Innovation und Verantwortung einfordern. Das lässt sich in gegliederten Systemen wie dem deutschen nur schwer realisieren. Wie motiviere ich denn einen Hauptschullehrer, seine besten Schüler so fit zu machen, dass sie auf die Realschule kommen? Der ist dann seine Leistungsträger los. Und der Gymnasiallehrer kann weiter nach der typisch deutschen Devise verfahren: »Mein Unterricht ist gut, ich habe nur die falschen Schüler.« Ich glaube nicht, dass es reicht, auf eine Binnenoptimierung des bestehenden Systems zu setzen und abzuwarten. Das erinnert mich an Leute, die sagen, okay, die bisherigen Versuche des Kommunismus sind zwar gescheitert, aber vielleicht finden wir noch ein Erfolgsmodell.

    Prenzel: Für ein anderes Anreizsystem sprechen viele Gründe und auch einige Befunde. Aber dafür müssen wir nicht die Schulstruktur ändern. Mir fehlen einfach die Belege dafür, dass nur ein anderes Schulsystem Besserung und mehr Gerechtigkeit bringt. Deswegen suche ich nach Lösungen, die näher am Lernprozess dran sind. Wie etwa guter Unterricht aussieht und wie er sich auf die Leistungen auswirkt, darüber wissen wir eine ganze Menge.

    Schleicher: Ja, Deutschland ist Weltmeister im Entwickeln didaktischer Konzepte. Leider werden sie hierzulande nicht eingesetzt.

    Prenzel: Das ändert sich. Im Mathematik- und Naturwissenschaftsunterricht hat sich einiges getan.

    Schleicher: Was ich in der deutschen Bildungspolitik vermisse, ist ein strategisches Ziel, etwa die bestmögliche Förderung jedes einzelnen Schülers – und dann das Einordnen der Maßnahmen darunter. So machen das doch auch erfolgreiche Unternehmen, die etwas ändern wollen. Die nutzen die Struktur als Instrument der Veränderung.

    Prenzel: In der Frage der Strategie bin ich Ihrer Meinung. Wobei ich gern konkrete Ziele für die einzelnen Ebenen, vom Unterricht bis zur Lehrerbildung, hätte. Der Vergleich mit einem Konzern hinkt aber. Da wird dann auch ein Werk gekauft, geschlossen oder weiterverkauft. So können wir mit den Schulen nicht umgehen. Da hängt das Schicksal von Kindern und Jugendlichen dran.

    ZEIT: Die leiden aber auch unter dem Status quo.

    Prenzel: Sicher, deswegen brauchen wir Veränderungen. Sie müssen aber gut begründet sein.

    ZEIT: Sie beide sehen das Abschieben von Verantwortung als zentrales Problem der deutschen Schule. Wäre da nicht eine Strukturveränderung sinnvoll, die quer zur Gesamtschuldebatte liegt: den Schulen mehr Selbstständigkeit zu geben?

    Schleicher: Auf jeden Fall. Viele der erfolgreichen Staaten setzen heute weniger auf von oben verordnete Maßnahmen, sondern bieten den Schulen Maßstäbe für den Erfolg von Bildungsleistungen an, gekoppelt mit größeren Freiräumen und wirksamen Unterstützungsinstrumenten. Sie erwarten von den Schulen dann aber auch wesentlich mehr Verantwortung für den Bildungserfolg.

    Prenzel: Das sehe ich ganz genauso.

    ZEIT: Herr Schleicher, bei den deutschen Kultusministern sind Sie denkbar unbeliebt. Wegen ihres Vorpreschens in der Gesamtschulfrage und weil Sie regelmäßig mäkeln, dass Deutschland in der Bildungspolitik zu langsam agiere. Verhindern Sie durch ihre undiplomatische Art nicht jene Bewegung in der Politik, die Sie einfordern?

    Schleicher: Die OECD bewegt sehr viel. Viele unserer Vorschläge werden zunächst stark kritisiert – und ein paar Jahre später aufgegriffen. 1996 etwa haben wir thematisiert, dass es sozialer sei, Studiengebühren zu verlangen statt Kindergartengebühren. 1999 haben wir die Ablösung detaillierter Lehrpläne zugunsten kompetenzbezogener Bildungsziele diskutiert. In beiden Fällen gab es einen parteiübergreifenden Aufschrei. Heute sind solche Ideen salonfähig. Die OECD wird von den Mitgliedsländern als Denkfabrik bezahlt. Wir machen Analysen und geben Ratschläge. Ob die befolgt werden, ist eine andere Geschichte.

    ZEIT: Herr Prenzel, bei der Präsentation der Pisa-Studie haben Sie viel von den Fortschritten seit der letzten Studie gesprochen und wenig Kritik geübt. Die Kultusminister werden sich gefreut haben.

    Prenzel: Die Minister waren über die Ergebnisse keineswegs erfreut, und ich habe sehr deutlich alle kritischen Punkte benannt. Nur musste auch auf die Fortschritte seit der letzten Pisa-Studie deutlich hingewiesen werden, weil tagelang die falsche Vorabmeldung durch die Presse geisterte, in Deutschland habe sich gar nichts bewegt.

    ZEIT: Aber Sie halten sich mit Ratschlägen an die Kultusminister stärker zurück als Herr Schleicher.

    Prenzel: Man sollte als Forscher seine Grenzen kennen und nicht mehr einfordern, als man wissenschaftlich belegen kann. Schlussfolgerungen und Maßnahmen müssen politisch diskutiert und entschieden werden. Pisa sagt uns nicht, was jetzt konkret zu tun ist.

    Moderation: Reinhard Kahl, Thomas Kerstan und Martin Spiewak

    Einfach bei sich selbst anfangen – Elbe Jeetzel Zeitung

    Lokales aus dem Landkreis Lüchow-Dannenberg


    Einfach »bei sich selbst anfangen»

    Der Journalist Reinhard Kahl über gelungene Schulen als »Treibhäuser der Zukunft»

    by Dannenberg. Reinhard Kahl hält nichts davon, die Schuld, dass Schule so ist, wie sie ist, auf die jeweiligen Kultusminister zu schieben. »Wer ist Herr Busemann?» fragt er am Freitagabend trocken ins Publikum zurück und beantwortet die Frage nach praktischen Tipps für eine bessere Schule mit einem Zitat des amerikanischen Management-Vordenkers Peter Senge: »Wir haben den Feind lange gesucht.

    Bild 1714137 Wir haben ihn gefunden. Wir sind es selber.» Lehrkräfte sollten den Mut haben, sich Schule anzueignen, Bündnisse zu schließen und sich Zeit nehmen für Veränderungen, sagte Kahl vor rund 200 Eltern und Lehrkräften in der Aula der Dannenberger Hauptschule. Eingeladen hatten ihn die Grünen-Stiftung »Leben und Umwelt» sowie die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.

    Der Journalist und Regisseur beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Schule und Bildung. Unlängst hat er einen Film über »gelungene Schulen» in Deutschland gedreht: Eines dieser »Treibhäuser der Zukunft», so der Filmtitel, ist die katholische Bodensee-Schule in Friedrichshafen. Deren Rektor findet, dass man auch als Lehrer eines Tages sagen muss, jetzt wollen wir etwas ändern. Er rät dazu, als allererstes das »elende 45-Minuten Raster» abzuschaffen: »Klemmt ein Tempotaschentuch zwischen Hammer und Glocke - und schon tönt sie nicht mehr». Die Bodensee-Schule ist so, wie sich viele Schule wünschen, aber sie ist eine Ausnahme. Das Dannenberger Publikum machte das, was es in Kahls Film zu sehen bekam, staunen und einigermaßen sprachlos. Eine geplante Diskussion kam nicht zustande.

    Das deutsche Bildungssystem leide, so Kahl unter der »kollektiven Imagination» der Lehrenden, dass nur die harten Schulen die besten sind, nicht die reformerischen. Umso größer sei dann das Erstaunen darüber gewesen, dass die »freien» Schulen in Skandinavien, in denen die Schülerinnen und Schüler lange gemeinsam unterrichtet werden und es auch keine Noten gibt, bei Pisa so gut abschnitten - eben »weil» sie so frei waren und nicht »obwohl».

    Das deutsche viergliedrige Schulsystem - denn in keinem anderen Land gebe es so viele Sonderschüler wie hier - sei von dem »schlechten Atem der Miss-trauenskultur» gegenüber den Schülerinnen und Schülern geprägt: Es werde nicht geguckt, was sie können, sondern nur danach, was sie nicht können, Fehler würden als etwas Negatives angesehen und nicht als ein Zeichen für Erkenntnisgewinn. Lehrkräfte suchten nach blinden Passagieren, die eigentlich auf die nächst niedrigere Schule gehörten, und betrieben »Osterhasen-Pädagogik», versteckten also das Wissen und ließen die Schüler danach suchen.

    Kahl plädiert dagegen für einen anderen Blick auf die Schülerinnen und Schüler. Sein Film zeigt, dass das möglich ist, sowohl was Bildung und Kompetenzen bei den Kindern und Jugendlichen angeht, als auch was das Zufriedenheitsgefühl der Lehrkräfte betrifft. Er rät, die bekannten Sätze »Auf euch haben wir gewartet» oder »Die machen, was sie wollen» einfach anders zu betonen, so dass deutlich wird, dass man sich auf die Kinder freut und ihnen alle Möglichkeiten geben will zu lernen, was sie wollen.

    Kahl empfiehlt, mit der Schulreform »bei sich selber anzufangen», denn, so sein Indianermotto: »Wenn du merkst, dass du auf einem toten Pferd sitzt, steig ab». Im Film kommt auch ein dänischer Lehrer zu Wort. Der berichtet, von einer »kleinen Revolution» an seiner Schule. Das Ergebnis: Die Lehrer verließen ihre »kleinen Kokons» und begannen, mit den anderen über ihre Arbeit zu sprechen. »Seitdem sind die Türen offen und wir haben keine Hemmungen mehr, wenn da ein Kollege steht und sich meinen Unterricht ansieht».

    PS 2 Ge-pisa-ckt und ein Leserbrief

    PÄDAGOGIK - P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

    Ge-pisa-ckt?

    Können sich die meisten Deutschen überhaupt eine gründliche Erneuerung der Bildung vorstellen? Angesichts von Gesundbetern und Pisamasochisten kommen Zweifel daran auf. Die einen signalisieren Entwarnung, seit nach den leichten Verbesserungen beim internationalen Schülertest der Schmerz nachlässt. Und andere, ausgerechnet Reformer, werden kleinlaut, seit sie um ihren wichtigsten Verbündeten fürchten: eben diesen Schmerz und die Aufregung über katastrophale Ergebnisse. Hat ein anderer Blick eine Chance? Einer, der nicht so sehr auf den Platz in der Weltliga der Schulen schielt, sondern die Schüler im Auge behält, und sich über den deutschen Widerwillen zu lernen wundert. Schaffen wir es, uns von der Sympathie fürs böse Ende ebenso zu verabschieden wie von der Unsitte, Kindern mit dem späteren Leben zu drohen und zum Glauben an ein neues pädagogisches Testament zu konvertieren?

    Im Großen wie im Kleinen

    Aber wohin man sieht, wird in der Bildungspolitik das verbindende Band immer wieder zerrissen, geflickt und erneut zerrissen. Das bevorzugte Schlachtfeld für die Profilierungsscharmützel der Landespolitiker ist die Bildungslandschaft. Das nennen sie Föderalismus. Hinter den Eifersüchteleien und Machtkämpfen steht immer noch der Kulturkampf. Er verschafft offenbar den Genuss von Déjà-vu-Erlebnissen. Ohne ihre Kleinkriege fehlt vielen Deutschen etwas. Haben wir uns mit unseren Problemen und gegenseitig angedrohten Katastrophen so sehr angefreundet, dass wir fürchten, ohne sie einsam zu sein?

    Blickwechsel. Zwei finnische Austauschschülerinnen in Berlin klagen, dass es ihnen schwer fällt, in der deutschen Klasse zu lernen. Da sei ständig Unruhe. Vielen Mitschülern sei die Schule egal. Manche hassten sie. Die meisten kämen eigentlich nur, um sich zu treffen. Sogar Lehrer hätten die beiden Finninnen schon gefragt, ob sie persönliche Probleme hätten. Warum? Weil sie so tief in den Unterricht eintauchten und alles immer ganz genau wissen wollten. In Deutschland nennt man solche Schüler Streber. Ein Wort, das andere Sprachen nicht kennen oder sich als Lehnwort bei uns ausleihen. Der Streber gilt als Kollaborateur. Aber die beiden finnischen Schülerinnen sagen, dass sie es gewohnt sind, für ihr Lernen selbst verantwortlich zu sein, und dass sie in der Schule lernen wollen. Was denn sonst?

    Feindseligkeit

    Schüler aus anderen Ländern fragen in Deutschland immer wieder: »Warum sind die Lehrer eigentlich eure Feinde?« Dann werden die Deutschen still. Diese Frage haben sie sich noch nie gestellt. Es scheint, als seien Misstrauen und Herabsetzung hierzulande immer noch ein verbindendes Band. Auch damit lässt sich eine Gesellschaft zusammenhalten. Einem Kind zu sagen, Du bist ein Niemand, macht es willig, sich durch Anpassung und später durch Mehrarbeit zu rehabilitieren. Aber eine Schule, die von vielen Schülern immer noch als eine zur Bewährung ausgesetzte Vorstrafe aufs spätere Leben erlebt wird, hält die nächste Generation heute nicht mehr an der Kandare. So macht sich bei den auf Außensteuerung Konditionierten Verwahrlosung breit. Auch das steckt hinter dem skandalösesten der deutschen Pisaergebnisse, wonach fast ein Viertel der Fünfzehnjährigen zu den »Risikokandidaten« zählt, die allenfalls Grundschulniveau erreichen.

    Wie kommt es nur, dass einem in Schulen auf Schritt und Tritt Unwirtlichkeit, Feindseligkeit und Entfremdung begegnen? Lernen wird häufig zum Mittel fürs bloße Überleben entwertet und verachtet. Es schrumpft auf die Frage, welche Noten brauche ich, um aufs Gymnasium zu kommen oder um dort zu bleiben? Wer das Nötigste geschafft hat, lehnt sich zurück. Es ist ja nicht seins.

    Schulneurotizismus

    Für die neue Pisa-Studie wurde neben dem Verständnis von Texten, Mathematik und Naturwissenschaften auch die »Problemlösekompetenz« untersucht. Während in den schulbezogenen Tests die deutschen Resultate um den internationalen Mittelwert von 500 liegen, fallen die Ergebnisse beim Problemlösen mit 513 Punkten deutlich besser aus. Dabei haben diese Aufgaben überwiegend eine mathematische Struktur. Nur sind sie anders formuliert. Ausgerechnet das explizite mathematische Wissen, das doch in der Schule geübt worden ist und tief verstanden sein sollte, bleibt Schülern eher fremd. Ist es ihnen vielleicht sogar in der Schule fremd geworden? Produzieren unsere Schulen Entfremdung? Gewiss, der deutsche Schulneurotizismus hat mit dem »gegliederten System« zu tun, in dem viele Schüler abstiegsbedroht sind und das sie zu Angst und Verstellungen führt. Allerdings haben unsere Gesamtschulen, von einigen hervorragenden Beispielen abgesehen, dieses Problem auch nicht gelöst. Wenn sich etwas ändern soll, reicht es nicht, bloß die »Systemfrage« nach der Schulgliederung zu stellen. Es geht um das Systemische, das Nervensystem der Institution. Und viele ihrer Nerven liegen bloß.

    P. S.

    Worauf setzen? Auf die Eigenständigkeit der Schulen! Gelingt es, die Angstintegration durch ein Lernen zu ersetzen, das Schülern Vorfreude auf sie selbst macht, steigen auch die Leistungen. Also den Schulen ihre eigenen Biographien zugestehen, damit auch Schüler dort an ihren Biographien arbeiten! Den Druck durch Abschlüsse reduzieren und den Sog zu Anschlüssen stärken! Das könnte eine Abkehr vom deutschen Sonderweg in der Bildung weisen, der dazu führt, dass dort niemand richtig zu Hause ist.

    P.P.S.

     

    ein Leserbrief (E-Mail)

    Lieber Herr Kahl!

    Einige wenige Minuten sind vergangen, seitdem ich Ihren Beitrag "Ge-pisa-ckt?" in der Zeitschrift "Pädagogik" - wie immer mit großer Freude - gelesen habe, und ich kann nur sagen: "Wie recht Sie doch haben!!!"

    Ich bin eine 23-jährige Lehramtsstudentin an der RWTH Aachen, und ich schäme mich dafür, daß ich gerne lerne! Wissensdurst und Neugierde sind in Deutschland eine Charakterbürde, die mit sozialem Abstieg bzw. sozialer Isolation sanktioniert wird! Freunde, Kommilitonen, Eltern, Lehrer und Unbekannte schauen mich mit großen Augen an, wenn ich verkünde: "Ich lerne gerne! Das Lernen ist mein Leben! Ich lerne den ganzen Tag - freiwillig" und dies immer schon viel mehr, als jemals von mir erwartet wurde. Niemals werde ich meine ersten Schulhausaufgaben vergessen! Mit 3 Jahren wollte ich unbedingt in die Schule, und meine Mutter beschloß daraufhin, mir die chinesische Sprache und Schrift beizubringen; ich wurde nach strenger asiatischer Lern- und Leistungstradition erzogen - zugegeben, es war nicht immer einfach, denn den deutschen Schülern ist es erlaubt, Wissensaufnahme mit allen Mitteln zu boykottieren, der Haß auf die Schule, die Lehrer und alles, was mit Lernen verbunden ist, wird gefördert; und wenn man da nicht mitmacht, ist man eine einsame Streberin und wird deswegen erniedrigt und gemobbt! Ja, es gab tatsächlich Zeiten, da habe ich mir richtig Mühe geben müssen, um Fünfen und Sechsen zu schreiben, damit mich meine Mitschüler akzeptieren, denn dadurch, daß ich gute Noten hatte - gute Noten, weil ich einfach gerne gelernt habe, aber mit dieser Rechtfertigung braucht man in deutschen Schulen ja gar nicht erst zu kommen! - stand ich ja auf der Seite der Lehrer, der verhaßten Lehrer und der verhaßten Schule! Was soll das, frage ich mich?!?

    Mittlerweile habe ich wieder zu mir selbst gefunden, und ich bin froh, daß ich mich, mein Wissen und meine Neugierde habe; dies sind die Antriebsräder meines Lebens und solange ich lebe, werden sie nie aufhören zu rattern und zu rollen!

    Unendlich dankbar bin ich für Ihren Beitrag, das kann man wohl sagen!!! Vielen, vielen Dank!!!

    Hochachtungsvoll,

    Ihre Wissensverbündete, Shangning Postel

    .............

    Lieber Herr Kahl,

    ich freue mich sehr, daß Ihnen mein Brainstormig zu Ihrem Artikel

    gefallen hat! Tatsächlich, Zustimmung tut gut ;-)

    Zu Ihrer Frage: ja, Sie dürfen meine Mail veröffentlichen! Persönliche

    Erfahrungsberichte tragen - meiner Meinung nach - immer auch ein Stück

    zur "Wirklichkeit" bei; ich bin Teil dieser Wirklichkeit, verstecke

    mich nicht vor ihr und trage zu ihrer Konstituierung bei, gerne!

    Pausenklingel abstellen; Rhein Main Zeitung

    Regionalnachrichten aus Ihrer Tageszeitung

    Zuerst einmal die Pausenklingel abstellen

    Elternbeirat der Nauheimer Grundschule lockt 90 Zuschauer zum Filmabend ins Programmkino "Ried-Casino"

    Vom 04.02.2005
     
    dev. NAUHEIM Die "Osterhasenpädagogik" ist an vielen Schulen noch weit verbreitet: Die Lehrer verstecken das Wissen und die Kinder müssen suchen. Es geht aber auch anders, wie rund 90 Zuschauer im Nauheimer Programmkino "Ried-Casino" erfuhren.

    Der Elternbeirat der Grundschule hatte zum Film von Reinhard Kahl, "Treibhäuser der Zukunft. Wie in Deutschland Schulen gelingen", eingeladen. Der knapp zwei Stunden lange Dokumentarfilm zeigt am Beispiel verschiedener Schulen quer durch die Republik, dass Wissensvermittlung auch außerhalb von starrem Stundenplan und 45-Minuten-Takt möglich ist.

    Die Ganztagsschule bis etwa 15.30 Uhr gehört ebenso dazu wie ein altersübergreifendes Lernen. Die Schüler bekommen dabei nur den Anstoß vom Lehrer, erarbeiten sich das Wissen - unter Aufsicht - selbst. Freies Arbeiten fördert sowohl begabte Kinder als auch die schlechteren Schüler. Denn für sie hat der Lehrer jene Zeit, die sonst an den Schulen meist fehlt. Als Beispiel für das Gelingen wurde eine Hauptschule in einem Problemviertel gezeigt.

    Erster Schritt für eine bessere Schule - das Treibhaus war hier nicht negativ gemeint - sei ganz einfach, meinte im Film ein Rektor: Einfach ein Papiertaschentuch zwischen Hammer und Schelle der Pausenklingel klemmen, um vom 45-Minuten-Zwang wegzukommen. Die Schule müsse als eine "Stätte der Personwerdung" verstanden werden. "Das Wissen kann sie gar nicht verhindern", äußerte sich ein anderer Pädagoge.

    Später wurde festgestellt, dass die Lehrer das eigentliche Problem seien. Sie wehrten sich meist gegen alle Änderungen im gewohnten, aber selten gemochten Tagesablauf. Das zeigte sich auch mit Blick auf die Zuschauer. Nur wenige Lehrer waren ins Kino gekommen. Immerhin hatte sich die Schulleitung der Nauheimer Grundschule auf den Weg gemacht.

    Die Wirkung des Filmes auf die Zuschauer wurde erst richtig deutlich, als das Licht wieder anging: Nur wenige Zuschauer machten sich sofort auf den Heimweg, sondern nutzen die anschließende Zeit zur Diskussion in kleinen Gruppen.

    Der Videofilm kann übrigens beim Elternbeirat der Grundschule ausgeliehen werden. Interessierte können sich Irmgard Kröhler-Dudek, Telefon (06152) 62580, wenden. Sie hatte in ihrer Begrüßung darauf hingewiesen, dass sich die im Film gezeigten Schulen im Verlauf eines langen Prozesses zu dieser Idealform entwickelt hatten. "Es kann also nicht darum gehen, für unsere Schulen diesen Idealzustand sofort einzuklagen", sagte sie. Es könne aber mit ersten kleinen Schritten begonnen werden.

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    „Es geht um den Geist“ taz Interview


    "Es geht um den Geist"

    Wie kann Schule im Hier und Jetzt gelingen? Der Filmemacher Reinhard Kahl spricht im taz-Interview über den Pisa-Sieger Finnland, Zentralabitur, Zensuren und große und kleine Lösungen
    Interview: Kaija Kutter

    taz: Sie haben für Ihren Film "Treibhäuser der Zukunft" deutsche Schulen bereist. Wurden Sie überrascht?

    Reinhard Kahl: Ich hatte zunächst erfolgreiche Schulen bei den Pisa-Siegern in Skandinavien gefilmt. Als ich den Film hier zeigte, erzeugte er große Faszination, aber auch die Aussage, ,Leider sind wir keine Finnen'. Da packte mich der Trotz, zu schauen, ob wir gute Schule nicht auch hier hinbekommen, ohne zuvor die ganz großen Fragen des Systems zu lösen. Ich habe recherchiert und mehr gelungene Schulen gefunden, als ich gedacht hatte.

    Und wie gelingen sie?

    Gelingen bedeutet nicht, dass Schulen perfekt sind oder alles richtig machen. Was diese Schulen auszeichnet ist, dass sie sich nicht als Opfer oder ausführende Behörde sehen. Sie haben etwas, was schwer zu erklären ist, eine positive Beseelung. Das klingt pastoral, aber es geht um das Menschenbild. Entscheidend ist, dass eine Atmosphäre geschaffen wird, in der man es als Vorteil ansieht, dass Schüler verschieden sind, und nicht als einen Nachteil, den man korrigieren muss. In Finnland gelingt das fast allen Schulen.

    Finnland hat ja auch das Ziel, dass 70 Prozent Abitur machen.

    Finnland hat sich in den 90ern im Zuge der Umwandlung zur Kommunikationsgesellschaft in der Verfassung zum Ziel gesetzt, dass 70 Prozent studieren. Inzwischen sind es sogar schon 71 Prozent. Bei uns erzeugt dies auch bei progressiven Leuten eine Ungläubigkeit, die bis ins Körperliche geht. Es kommt uns wie Inflation vor. Wir haben Probleme, anderen etwas zuzumuten. Das gegliederte Schulsystem bietet tausend Ausreden zum Abschieben. Schüler werden abgeschoben. Verantwortung wird abgeschoben. Niemand gehört am Ende dazu.

    Im Film sagt eine Lehrerin, sie wolle kein Kind beschämen.

    Man hört bei ihr, dass sie das Problem kennt, auch von innen. Kinder nicht zu beschämen ist ein Ziel.

    Nun gibt es aber Zwänge. Lehrer müssen in Hamburg Drittklässlern Noten geben und in diesen Tagen Viertklässlern eine Schulform empfehlen.

    Es stimmt, diese Strukturen sind vorgegeben und sollten eigentlich zu einem großen Aufschrei führen. Nur sollte dies nicht entschuldigen, dass Lehrer Kinder auch ohne Not beschämen, indem sie in den Kommentaren der Benotung die Unzulänglichkeiten und die Abweichung betonen, statt einen Fehler auch als Chance zu begreifen.

    Aber es gibt doch äußere Zwänge, große Klassen und wenig Personal. Jetzt gibt es in Hamburg sogar zentrale Prüfungen. Noch mehr Druck, alle auf Linie zu bringen.

    Ich glaube, dass zentrale Prüfungen besser sind. Wenn es schuleigene Prüfungen gibt, ist die Verführung groß, dass Lehrer nur abfragen, ob der zuletzt gelernte Stoff beherrscht wird, und Schüler nur für die Prüfung lernen. Zentrale Prüfungen können weniger speziell sein, weshalb die Deutschen finden, dass Prüfungen in anderen Ländern so leicht sind. Es geht aber dort um die Kompetenzen, während die deutschen Prüfungen stark den Stoff der letzten Wochen abfragen. Was nicht heißt, dass es nicht auch schlechte Zentralprüfungen gibt.

    Prüfungen machen Angst.

    Ja. Wenn Prüfungen als Kontrolle verstanden werden, um die blinden Passagiere an Bord zu entlarven. Sieht man Prüfungen tatsächlich als Überprüfung dessen, was gemacht wird, um Konsequenzen zu ziehen und Ziele zu definieren, dann verlieren sie ganz viel von der schwarzen Pädagogik.

    Was empfehlen Sie Eltern und Schülern, um Schule zu überleben.

    Sie sollten Schule zu einem Lebensraum machen. Zu einem anregungsreichen Ort. An der Schule am Bodensee, die ich in meinem Film als gelungenes Beispiel darstelle, sagen Schüler, drei Stunden am Nachmittag vergehen wie eine Minute.

    Eltern sind Schule oft hilflos ausgeliefert.

    Auch Eltern haben ihre Geschichte mit der Schule. Für sie ist Schule immer noch die Institution, die rausfindet, ob wir zu Recht dabei sind oder irgendwie Schrott. Und in der Tat erleben Hauptschüler Schule als Verbannung in die Kellerräume unserer Gesellschaft.

    Und doch sind Lehrer in diesen Tagen wieder gezwungen, Schüler in Formen zu sortieren.

    Alle guten Schulen, die ich gefunden habe, stehen zum ständisch gegliederten System im Widerspruch. Man kann vieles intern aufheben und mildern. Lehrer sollten nicht das Spiel mitspielen und beklagen, dass sie es nicht anders können.

    Aber was sollen sie tun?

    Sie sollten aus diesem Geist aussteigen - das kann man. Es gibt eine Komplizenschaft zwischen dem gegliederten System und der Mentalität. Die Mentalität ist eine eigene Säule. Ich höre sogar Gesamtschullehrer sagen, ,Ich habe überwiegend Hauptschüler'. Wenn sich diese Mentalität nicht ändert, können wir von der Auflösung des viergliedrigen Systems nicht viel erwarten.

    Reinhard Kahl, Filmautor und Journalist. Sein Film "Treibhäuser der Zukunft" wird am Montag um 19.30 Uhr in der Eppendorfer Wolfgang-Borchert-Schule, Erikastraße 41, gezeigt. Er kann auch unter www.archiv-der-zukunft.de  als DVD (29 Euro) oder Video (17,20 Euro) bezogen werden.

    taz Hamburg Nr. 7583 vom 5.2.2005, Seite 25, 169 Interview Kaija Kutter

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    Treibhäuser in Grimma Leipziger VZ & Brief

    LVZ/Leipziger-Volkszeitung, 03.02.2005, S. 4
    Ausgabe: LVZ-Muldentaler Kreiszeitung

    Ressort: Muldentalkreis

    Cornelia Killisch

    Heute letztmalig: "Treibhäuser der Zukunft"
    Schule zum Staunen im Grimmaer Kino


    Grimma. Es ist wirklich ein besonderer Film: Der Eintritt ist frei, nur einer kommt mit einer Tüte Popcorn in den Saal und am Einlass begrüßt der Lehrer Roland Meister, der den Streifen "Treibhäuser der Zukunft" nach Grimma geholt hat, die rund 90 Besucher der ersten von drei Vorstellungen in Grimma mit Handschlag - Lehrer, Eltern, einige Schüler.
    Als es dann dunkel ist, geht immer wieder ein Raunen durch den Saal. "Treibhäuser der Zukunft" zeigt Schulen, in denen die Kinder schon vor acht Uhr freiwillig arbeiten und wo niemand schummelt. Da ist etwa die siebente Klasse in einer Hauptschule und es ist tatsächlich Ruhe. Würde der Nachmittag in der Schule gestrichen, fänden die Kinder das "schlimm". Die Lehrer verstehen sich als "Geburtshelfer" und "Gastgeber", die "keinen Einheitsbrei über alle gießen wollen, der die einen über- und die anderen unterfordert". Nicht trotzdem, sondern deswegen haben die Kinder gute Leistungen. Und all das mitten in Deutschland.
    "Das muss ich den Kollegen, Eltern und Schülern zeigen", dachte sich Meister. Also klingelte er Sponsoren an, trug Plakate in Schulen und schrieb Rund-E-Mails. Schon länger treibt ihn die Frage um, warum es Lehrer und Schüler oft so schwer haben. Deshalb setzte er sich nach 25 Jahren Lehrdienst selbst noch einmal auf die Schulbank und begann ein Fernstudium "Schulentwicklung und Schul-Management". - "Pisa hat gezeigt, dass die Schulen nicht so bleiben können", sagt Meister.
    Gern ins Kino gekommen ist Uta Schiebold, Leiterin der Grundschule "Bücherwurm" in Grimma-West. In ihr Lob für den Film mischt sich auch ein bisschen Frust. "Man möchte so gerne, stößt aber an Grenzen wie Einstellungsstopps und knappe Kassen", sagt sie.
    Von dem Streifen begeistert ist Elisabeth Börger, die sich darüber ärgert, dass sich ihre fünf Kinder in der Schule so langweilen: "Noch viel mehr Eltern und Lehrer müssten sich diesen hervorragenden, anregenden Film ansehen und darüber sprechen, wie dies umgesetzt werden kann." Im März will Roland Meister deshalb zu einem Forum einladen. Cornelia Killisch
    / "Treibhäuser der Zukunft", letztmalig heute 17 Uhr im Central-Theater Grimma
    (c) Archiv - Leipziger Volkszeitung

     


    1343869, LVZ , 03.02.05; Words: 359

    Lieber Reinhard Kahl,
    nach drei Aufführungen der "Treibhäuser der Zukunft" im sächsischen Grimma möchte ich Sie an einigen Eindrücken aus diesen Veranstaltungen teilhaben lassen. Sie sollen von der Begeisterung wissen, die der Film bei vielen Zuschauern hier hinterlassen hat, wie auch von dem dringenden Wunsch, die Gespräche der Vorstellungstage in einen andauernden öffentlichen Diskurs über Notwendigkeiten schulischer Entwicklung überzuleiten.


    In der vergangenen Woche sahen insgesamt etwa 190 Zuschauer aus Grimma und dem Umland Ihren Film. Die Aufführungen wurden möglich, nachdem es gelungen war, Fördermittel einzuwerben, die in ihrer Höhe den Betriebskosten des Filmtheaters für drei Aufführungen entsprachen. Als Sponsoren traten dabei die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die PDS und die SPD in Erscheinung; die beiden erstgenannten Förderer waren zur Erstaufführung am Dienstagabend in Person ihrer Landesvorsitzenden Dr. Sabine Gerold bzw. der hiesigen Landtagsabgeordneten Kerstin Köditz vertreten. Eine Woche vor dem ersten Aufführungstermin gingen A1-Plakate in die Schulen der Stadt und der näheren Umgebung, die Lokalzeitung veröffentlichte eine werbende Ankündigung, und auch das hiesige Muldental-TV nahm eine sehr ansprechende Ankündigung in seinen Nachrichtenblock auf.

    Wer fühlte sich von diesen Bemühungen angesprochen? Den größten Anteil der Zuschauer machten interessierte Eltern aus, auch Schüler vor allem älterer Jahrgänge waren in nicht geringer Zahl vertreten. Dass - im Verhältnis zur Anzahl der Lehrer in den 14 eingeladenen Schulen - nur wenige Kollegen den Weg ins Kino fanden, soll hier nur als Tatsache benannt werden. Grundschullehrer waren noch am meisten vertreten, am wenigsten die Lehrer der Gymnasien.

    Es war mir persönlich wichtig, Ihren Film hier in Grimma vorzustellen, illustriert er doch in wunderbarer Weise jene Einsichten eines notwendigen Lernkulturwandels, zu denen ich in den vergangenen zwei Jahren im Rahmen eines Aufbaustudiums "Schulentwicklung und -management" an der Technischen Universität Kaiserslautern gelangt bin. Da ich mehrfach Gelegenheit hatte, mir Vorfassungen bzw. Teile des Films bereits im vergangenen Jahr anzusehen (u.a. im Rahmen von Tagungen an der Evangelischen Akademie Bad Boll), war der bundesweite "Startschuss" Mitte Dezember 2004 für mich jenes Zeichen, um vor Ort die Organisation der Aufführungen in Angriff zu nehmen. Nun erlebe ich das Echo, das ich nach den drei Aufführungen wahrnehmen konnte, als reiche Ernte, die Ihnen zusteht und die ich mit Freude vermittle: Vor Begeisterung glänzende Augen bei den Besuchern des Films am Ende der Veranstaltungen waren nur eine Erscheinungsform dieses Echos. Eine andere: Die Frau des hiesigen Gemeindepfarrers ließ mir am Folgetag ein Buch zukommen, das einige Ihrer Filmthesen wohl untermauern kann (Jesper Juul: Das kompetente Kind, Rowohlt, 1997). Oder: Am Morgen nach der Grimmaer Erstaufführung klingelten zwei Abiturientinnen an meiner Tür und hatten das offensichtliche Bedürfnis, mit mir über den Film zu reden.

    Der Gesprächsbedarf ist groß. Ich hatte in meiner Begrüßung zu den drei Aufführungen zunächst dafür geworben, mit denjenigen zu sprechen, die Entwicklungen an den Schulen befördern können: Eltern mit den Lehrern, Lehrer mit den Schülern, Schüler mit den Schulleitern, Eltern mit ihren Kindern ..., immer auch andersherum. Auf großes Interesse stieß die ebenso formulierte Absicht, nach den Winterferien den Gesprächsbedarf dieser Abende aufzugreifen und - zunächst für einen Abend - ein moderiertes Forum zu veranstalten, in dem Fragen weiterbearbeitet werden können, die in der Auseinandersetzung mit dem Film entstanden sind. Natürlich ahnen Sie, was jetzt kommt: Ja, ich möchte Sie zu diesem Forum nach Grimma einladen, gern auch für einen ganzen oder halben Tag. Vielleicht wäre es für Sie von Interesse, etwas mehr über Veränderungen in unserer vor den Toren der Stadt Leipzig gelegenen, also suburbanen Bildungslandschaft zu erfahren. Im Forum selbst würden Sie auf ein Publikum treffen, das durch die bereits stattgefundenen Aufführungen "aufgeklärt" ist. Wir denken auch daran, weitere Akteure Ihres Films zu einer solchen Veranstaltung einzuladen: Vor allem inhaltlich, aber auch geografisch lägen für eine solche Absicht die Kollegen aus Jena wohl am nächsten.

    Lieber Herr Kahl,
    auch persönlich möchte ich Ihnen für Ihre Arbeit danken. Ihr Film klärt auf, stiftet Hoffnung und regt zu Initiativen an. Es ist gut zu wissen, dass Sie an Fortsetzungen Mut machender Bilder arbeiten.

    Mit freundlichen Grüßen
    Roland Meister.    

    .....................................................................................                   

    Lieber Herr Kahl,
    vielen Dank für Ihre prompte Reaktion. Gern können Sie meinen Brief in Ihre Homepage einstellen.

    Ihnen einen schönen Sonntag!
    Roland Meister.

    Welt am Sonntag 23.1. Lob des Humankapitals

    Lob des Humankapitals

    Reinhard Kahl hat als Journalist die "Treibhäuser der Zukunft" besucht - Schulen, die auf das setzen, was zum Unwort des Jahres wurde

    von Reinhard Kahl

    Zum unverzichtbaren Inventar des Philisters gehört die Überzeugung, Bildung verhalte sich zu Wirtschaft wie Feuer zu Wasser. Dieses Ressentiment bedienten jene Sprachforscher, die "Humankapital" vergangene Woche zum Unwort des Jahres wählten. Abgesehen davon, daß "Unwort" selbst ein unmögliches Wort ist, erweist sich der Gebrauch von Humankapital (in Wort und Tat) dagegen als Wasserzeichen eines zukunftsgerichteten, in Bildungsfragen überlegenen Denkens.

    Wenn in Deutschland die hehren Präambelsätze über Bildung verklungen sind, dann geht man mit einem ganz anderen Wort zur Sache. Man argumentiert mit dem "Qualifikationsbedarf". In der angloamerikanischen und skandinavischen Tradition wird statt dessen das verdächtige Wort "Humankapital" gebraucht. Gewiß, es hört sich zunächst nach kruder Ökonomie an. Tatsächlich steht aber dahinter das Vertrauen, junge Menschen würden aus ihrer Qualifikation schon was machen. Aufs Humankapital wird gesetzt, weil niemand wissen kann, wie die Zukunft aussieht. Weil sie offen ist, muß man sich möglichst gut vorbereiten. In dieser Denkweise liegt ein wichtiger Grund für die hohe Quote von Studierenden in diesen Ländern.

    Die deutsche Konstruktion "Qualifikationsbedarf" setzt voraus, daß die Zukunft im groben bekannt ist. Nur dann kann man die nächste Generation dem vermeintlich objektiven Bedarf unterwerfen. Schlimmer noch, viele Jugendliche glauben selbst an diese Fiktion. Zur Vorstellung, ein Qualifikationsbedarf sei zu bedienen, gehört auch die verbreitete Angst, zu viele Hochqualifizierte endeten als akademisches Proletariat, sei es als Revoluzzer oder Taxifahrer. Alle Statistiken beweisen das Gegenteil. Die OECD zeigt international sinkende Arbeitslosenquoten in Ländern, in denen seit 1995 der Anteil von Studierenden um mehr als fünf Prozent gestiegen ist.

    Also: das Denkmuster "Humankapital" schafft Freiraum für Bildung. Es hilft, Bildungssystem und Beschäftigungssystem zu entkoppeln. Es stärkt den "subjektiven Faktor". Ganz konkret: Hätten die Finnen vor 25 Jahren, als bei Nokia noch Stiefel und andere Gummiwaren hergestellt wurden, überlegt, für welchen Bedarf sie ausbilden sollen, wer würde heute diese Firma kennen? "Kommunikationsgesellschaft" steht inzwischen als Staatsziel in der finnischen Verfassung. Definiert wurde es unter anderem damit, daß zumindest 70 Prozent der jungen Leute studieren. Jawohl, 70 Prozent. Wohin führt das, wenn jeder studiert, fragen sich hingegen viele Deutsche. Dem Denken in Bedarfskategorien verdanken wir unsere im internationalen Vergleich niedrige Studierendenquoten: 32 Prozent beginnen ein Studium. Im OECD-Schnitt sind es 45 Prozent. Wir sind allerdings - trotzdem - Weltmeister bei den Abbrechern!

    Wer sich fragt, wie stärke ich mein Humankapital, und sich nicht darauf beschränkt, vorauseilend zu erfüllen, was angeblich gebraucht wird, muß herausfinden, was er will. Etwas zu wollen und eigene Ideen zu haben, das wird zum Kern eines modernen Bildungsideals, das auf das Potential der Menschen setzt.

    Artikel erschienen am 23. Januar 2005

    taz 22. 1. Entgiftet die Schule – Kommentar zum Bildungspapier der Grünen

    Die Grünen haben ein lesenswertes Schulkonzept vorgestellt

    Entgiftet die Schulen

    Die Grünen, respektive die Spitzen von zehn Landtagsfraktionen, der

    Bundesfraktion und was es der Gremien mehr gibt, haben als erste Partei

    nach Pisa ein umfassendes Positionspapier zur Schulbildung vorgestellt -

    und das ist richtig gut geworden. Es kann eine Grundlage sein für die

    längst überfälligen Friedensgespräche zur Beendigung des 30-jährigen

    deutschen Bildungskrieges. Schluss mit dem Schisma: entweder Leistung

    oder humane Schule. Nicht mehr diese so eitle wie bequeme Generalkritik:

    erst wenn wir eine bessere Gesellschaft haben, kann es auch eine gute

    Schule geben. Nein. Nächste Schritte könnten gar nicht zu klein sein,

    wenn dabei der Horizont erweitert wird.

    Die Grünen lassen keinen Zweifel daran, dass die frühe Selektion in

    Deutschland ein Gift ist, das auch die Leistungsbereitschaft lähmt. Aber

    sie wissen, dass die anstehende Entgiftung den ganzen Bildungskörper

    betrifft. Eine orthopädische Generalkur des vermaledeiten gegliederten

    Schulsystems allein reicht nicht. Die bloße Organisationsdebatte darüber

    könnte zur Neuauflage des alten Liedes führen: vor der großen Reform

    können wir nichts machen.

    Deshalb ist es gut, ein neues Leitbild zu formulieren. Und Kompliment,

    es ist kein Leidbild der Bildungsphilister geworden. Also: Schulen

    müssen selbstständig sein. Dann kommt dort eine die Schüler ansteckende

    Souveränität auf. Sie müssen Zeit haben und ihre Rhythmen finden. Den

    ganze Tag offene Türen und die Lehrer müssen da sein. Das heißt

    Ganztagsschule. Bis zum neunten Schuljahr bleiben alle Schüler zusammen.

    Das hat den Vorteil, endlich die Illusion von homogenen Lerngruppen

    aufzugeben. Die Gemeinschaftsschule ermöglicht das Recht und die Lust,

    verschieden zu sein. Lehrer müssen für all das keine Beamte sein, aber

    sie müssen Ideen haben und menschenfreundlich sein. Standards müssen

    gesetzt werden. Aber sie dienen nicht dem Rausprüfen, Angstverbreiten

    und Beschämen. Sie helfen, sich Rechenschaft zu geben. Und sich zu

    verbessern. Das ist häufig anstrengend, aber macht irgendwann richtig

    Freude. REINHARD KAHL

    PS 1 2005 Hyvinvointi

    PÄDAGOGIK - P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

    Hyvinvointi

    Die Puistolan Peruskoulu in Vantaa, ein Vorort von Helsinki, ist ein einladender, architektonisch ideenreicher Neubau. Oberlicht gliedert den Raum. Pflanzen geben Fluren, Bibliotheken, Computerlabors und der großzügigen Kantine etwas von einer Orangerie. Also eine Vorzeigeschule? Nein, sagt die Lehrerin Eija Reinikainen und fragt, ob es denn in Deutschland nicht selbstverständlich sei, dass nur die besten Architekten Schulen bauen? Hm. Selbstverständlich ist den Pisa-Weltmeistern auch die Peruskoulu, die Gemeinschaftsschule. Zu ihr gehen in Finnland alle Kinder vom 1. bis zum 9. Schuljahr. Aber was heißt das: Gemeinschaftsschule?

    Die kleine Klasse

    Eija Reinikainen führt die Besucher in ihre »kleine Klasse,« ein drittes Schuljahr. Da sitzen an diesem Morgen nur vier Schüler. In der nächsten Stunde kommt noch eine Schulassistentin dazu. Wir verdrehen die Augen. Dabei wussten wir ja schon, dass es eine »kleine Klasse« für Kinder mit Schwierigkeiten zu sehen gibt. Aber so klein? Eija – die Finnen sprechen sich mit Vornamen an – berichtet voller Stolz, dass sie nun langsam überflüssig wird und sich neue Aufgaben für den Rest des gerade drei Monate alten Schuljahres sucht, denn die meisten der Kinder »mit Diagnose«, die sie mit der Einschulung bekommen hat, gehen bereits in allen Fächern in die 3a, »die große Klasse«. Das Wort normale Klasse wird vermieden.
    Zum Beispiel Christa und ihre Zwillingsschwester, Kinder einer schwer depressiven Mutter. Sie kamen mit der Diagnose in die Schule, dass sie vielleicht beim Lernen nie richtig mithalten werden. Christa ist zudem stark gehbehindert. »Hätte sie das Laufen so gelernt, wie Schüler in der alten Schule unterrichtet wurden, immer nur nach richtig oder falsch«, bemerkt Eija, »dann könnte sie bestimmt nicht laufen«. Aber so wie sie läuft, schwankend und doch sicher, hat sie ihre ganz eigene Weise gefunden. Eija summt Frank Sinatras »My Way«.
    Nebenbei: Oft hört man in Finnland Lehrer oder Eltern von der »alten Schule« sprechen. In den Schulen wirkt nicht nur eine geheimnisvolle finnische Mentalität. Diese Schule, die sich seit 30 Jahren entwickelt, wird selbstwirksam. Weiter mit Christa. Sie kommt nur noch montags die erste Stunde in die »kleine Klasse«, um aus ihrem Tagebuch vorzulesen. »Sie liest wie eine Schauspielerin«, schwärmt die Lehrerin. Man kann sich davon überzeugen. Fehlerlos und voller Zwischentöne. In der 3a liest sie inzwischen am Besten. »Sie muss unbedingt Schauspielerin werden.« Selten sah man eine Lehrerin so begeistert.
    Hört sich fast wie ein Märchen an. Tatsache aber ist, dass in Finnland die meisten Kinder »mit Diagnose« in der dritten Klasse am Regelunterricht teilnehmen, während der Anteil deutscher Kinder in Sonderschulen auf die Fünf-Prozent-Marke zuläuft, eine in der Welt einmalige Quote. Viele finnische Kommunen haben die Sonderschulen aufgelöst. Aber es gibt in jeder Schule Sonderpädagogen, Schulkurator (eine Art Sozialarbeiter, der sich um Schüler mit Schwierigkeiten und ihre Familien kümmert), Schullaufbahnberater, Schulpsychologen und eine Schulkrankenschwester, die nicht nur Pflästerchen aufklebt, sondern für Kinder mit Liebeskummer, Kopf- oder Bauchschmerzen ein Art Libero in der Schulmannschaft ist. Über Schüler, die Sorgen bereiten, wird bei einer Konferenz, die sich einmal die Woche beim Schuldirektor trifft, mit dem jeweiligen Klassenlehrer gesprochen. Man fragt nicht, wer hat Schuld, man überlegt, was können wir tun?

    Zusatzunterricht

    Eigene Kuratoren und Schulpsychologen haben nur große Schulen. In Helsinki gibt es insgesamt 44 Schulpsychogen und 47 Kuratoren. Im Berliner Bezirk Tiergarten, der etwa so viel Einwohner wie Helsinki hat, gibt es drei Schulpsychologen, die in ihren Büros die Wartelisten abarbeiten.
    Wenn die kleinen Starterklassen für Kinder mit Diagnose, wie die von Eija, aufgelöst sind, bekommen viele Schüler weiter Zusatzunterricht, in kleinen Gruppen oder einzeln. Pädagogisches Schlaraffenland? Keineswegs. Die Sache rechnet sich. Finalland kennt keine Sitzenbleiber mehr, außer wenn ein Kind lange krank war. In Deutschland weist Pisa bei 38 Prozent der Schüler verzögerte Schulkarrieren aus. Das kostet Milliarden.

    Das Erfolgsgeheimnis

    Der Anfang ist bei den Finnen das Entscheidende. Kinder mit Schwierigkeiten, und von denen gibt es auch beim Pisa-Sieger, wie Lehrer berichten, immer mehr, sollen möglichst früh Anschluss finden. Aus der großen Aufmerksamkeit für den Anfang ergibt sich das zweite Erfolgsgeheimnis: die Individualisierung. Jedes Kind ist anders, lernt anders, hat andere Fehler. Aber nicht zuletzt aus Fehlern entstehen Potentiale. Interessant ist: Was als Umgang mit beeinträchtigten Kinder begann, wird langsam zum Prinzip für das ganze System. Ein großes Thema in Finnland heißt heute Individualisierung. Aber damit, so hört man überall, »stehen wir doch noch ganz am Anfang.« Das dritte durchaus offensichtliche finnische Geheimnis ist, dass mit der Individualisierung auch die Gemeinschaft wichtiger wird. Eija Reinikainen spricht von Liebe und immer wieder von Hyvinvointi, ein kaum übersetzbares Wort, das Geborgenheit, Zugehörigkeit und Wohlfühlen umfasst.

    P. S.

    Eija soll übrigens in zwei Jahren pensioniert werden. Sie hat bereits mit dem Schulleiter ein Abkommen geschlossen, dass sie als Honorarkraft weiter machen kann.

    P.P.S.

    Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de

     

    Volksstimme Magdeburg über Treibhäuser

    Druckversion 20.12.2004 Welt, Meinung und Debatte: Ein Dokumentarfilm stellt Schulen vor, die sich als Lebensorte sehenMit neuen Lernmethoden Abschied von der "Osterhasen-Pädagogik" nehmen Es gibt das Leben, und es gibt die Schule. Zu ersterem gehört alles, was Spaß macht. Zum zweiten nur das, was anstrengend und lästig ist. Dass Kinder und Jugendliche Schule so empfinden, muss nicht sein, meint der Journalist Reinhard Kahl. Deshalb sah er sich an Schulen in Deutschland um, die nicht mehr nur Lernorte, sondern Lebensorte sind. Heraus kam der vom Bundesbildungsministerium finanzierte Dokumentarfilm "Treibhäuser der Zukunft - Wie in Deutschland Schulen gelingen". Die liberale Friedrich-Naumann-Stiftung zeigte ihn jüngst bei einem Forum an der Magdeburger Universität. Der Film blickt in Schulen, die Abschied von der "Osterhasen-Pädagogik" nehmen. Damit ist ein Unterricht gemeint, bei dem der Lehrer das Ziel fest im Blick hat: Er versteckt ein "Ei", die Schüler müssen es suchen. Dieser "fragend entwickelte Unterricht" ist anstrengend - für Schüler wie für Lehrer -, weil er immer nur zu genau einem Ergebnis führen kann. Raum für eigene Lösungsansätze bleibt den Schülern nicht. Wer nicht mitkommt, fällt zurück. Dieser "Belehrungsschule" setzen Modellschulen in ganz Deutschland - auch in Sachsen-Anhalt - Lernmethoden entgegen, die die Selbständigkeit und Persönlichkeitsentwicklung von Kindern stärken. Zum Beispiel jahrgangsübergreifende Gruppen: Schüler der Klassen 1 bis 4 lernen teilweise gemeinsam, aber nicht alle das Gleiche zur gleichen Zeit. Die Schüler gehen nach individuellen Wochenarbeitsplänen vor: Wer keine Lust auf Mathe-Aufgaben hat oder sie nicht schafft, macht eben Deutsch und an einem anderen Tag Mathe. Manche Schulen gehen noch weiter. An der katholischen Bodensee-Schule St. Martin in Friedrichshafen läutet nie eine Pausenglocke - die Schulstunden wurden abgeschafft. Die Schüler schreiben keine Klassenarbeiten und bekommen keine Noten. Es gibt nicht einmal mehr Fächer. Themen werden vernetzt vermittelt: Zu jeder Theorie-Einheit gehört Praxis. So zeigt der Film Schüler, die zu einem Referat über das Mittelalter Speisen nach historischen Rezepten kochten. Im Konzept der Schule heißt es: "Junge, selbstbewusste, mit dem notwendigen Handwerkszeug und Schlüsselqualifikationen ausgestattete Persönlichkeiten sollen auf ein nicht leichtes Leben nach der Schule vorbereitet und entsprechend gestärkt entlassen werden." Die Schule gehört nicht nur zu den ältesten Ganztagsschulen in Deutschland, sondern auch zu den beliebtesten - und erfolgreichsten. Die in Baden-Württemberg zentral gestellten Aufgaben in der 9. und 10. Klasse würden die Schüler "mit einer Hand" schaffen, betont Schulleiter Alfred Hinz. Anderswo in Deutschland wird ähnlich gedacht wie am Bodensee. In der Freien Schule Potsdam gehört zur Freude am Lernen das Begreifen der Umwelt. "Die Kinder wollen wissen, wie das Leben funktioniert", heißt es dort. Am Willibald-Gymnasium in Eichstätt sagt ein Lehrer: "Der Unterricht muss Unklarheiten schaffen, damit der Schüler angeregt wird, daraus Klarheiten zu machen." An der Jena-Plan-Schule ist zu hören, Wissen müsse mit Fantasie gekoppelt werden, um die Vorstellungskraft zu fördern. Schüler, die Themen selbständig erarbeiten, wüssten teilweise mehr als ihre Lehrer. In der "Osterhasen-Pädagogik" ist all das undenkbar. Das wird auch in Sachsen-Anhalts Kultusministerium so gesehen. Lothar Flade, der im Ministerium für Schulentwicklung zuständig ist und an dem Forum in Magdeburg teilnahm, hält einen Wechsel in Unterrichtsmethoden für notwendig. "Wir schleppen die Osterhasen-Pädagogik als Kulturgut mit", sagte er. Das Lernen von Wissen müsse aber mit der Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenzen einhergehen. Flade verwies darauf, dass in Sachsen-Anhalts Grundschulen bereits vielfach alternative Lernmethoden angewendet würden. Langfristig seien auch für Sekundarschulen flexiblere Stundentafeln geplant, damit Schüler "Zeit haben, um Zeit zu haben". Ingrid Osten vom Institut für Erziehungswissenschaft der Magdeburger Universität hält eine Balance zwischen Leistung und Wohlbefinden für wichtig: "Schüler wollen Leistung erbringen, aber auch einen Sinn darin sehen und Anerkennung finden." Die GEW-Bildungssekretärin Annegret Windelband betonte: "Wenn es Kindern gut geht, können sie auch gut lernen." Schüler dürften vor allem nicht beschämt werden. Dies hatte im Film auch eine Schulleiterin herausgestellt und Lehrer aufgefordert, mit ihrer Macht verantwortungsbewusst umzugehen. Auf dem Weg zu guten Schulen sieht Kurt Neumann die Eltern in einer Schlüsselposition. Sie müssten sich viel mehr einmischen, sagte der Vorsitzende des Landeselternrates. Zugleich wies er aber auch auf die Gefahr hin, dass viele falsche Maßstäbe an Schule legen - weil sie das Wissen darüber aus der eigenen Schulzeit beziehen. Nach den Wünschen für die Zukunft befragt, schloss Osten: "Ich wünsche mir, dass so ein Film irgendwann auch einmal über die Schulen in Sachsen-Anhalt gemacht werden kann."Von Philipp Hoffmann (MRSA) URL: www.volksstimme.de/artikelanzeige.asp?Artikel=624773Copyright © 2000/2001/2002, Volksstimme

    dpa Kulturpolitik Nr. 52 v. 20. 12. 04 über die „Treibhäuser“

    Seite 11

     

    Kulturpolitik

    © dpa

    Nachdruck und Vervielfältigung

    auch auszugsweise nur mit

    ausdrücklicher Genehmigung.

    Nr. 52/53/2004 20. Dezember 2004 - AKTUELLES

     

     

    Bildung/Schulen/PISA/Film

    Film „Treibhäuser der Zukunft“

    macht Mut zu Schulreformen

    Hamburg (dpa) – Wir können auch anders – zeigt ein Film über gute

    Schulen in Deutschland. Wenige Tage nach Veröffentlichung der zweiten

    PISA-Studie lockte der Streifen „Treibhäuser der Zukunft – Wie in

    Deutschland Schulen gelingen“ von Reinhard Kahl am 12. Dezember

    mehrere tausend Zuschauer in Sondervorstellungen von bundesweit 28 Cinemaxx-

    Kinos. Und am Ende der Vorführungen gab es wie in Hamburg

    und Göttingen großen Applaus. Der Dokumentarfilm berichtet über sehr

    unterschiedliche Schulen mit neuen Ansätzen und anregendem Lernklima

    aus dem ganzen Bundesgebiet. Er geht nicht auf den Streit um das tradierte

    dreigliedrige Schulsystem in Deutschland ein.

    In der aktuellen Bildungsdebatte trifft der Film offensichtlich einen Nerv:

    den Hunger nach positiven Vorbildern im eigenen Land. Nach dem zweiten

    internationalen PISA-Test haben sich die deutschen Schüler zwar teilweise

    leicht verbessert und sind ins Mittelfeld gerückt. Doch die Kluft zwischen

    guten und schlechten Schülern wurde zugleich noch größer.

    Der Hamburger Autor und Regisseur Kahl stellt insbesondere Ganztagsschulen

    vor, die „einen anderen Umgang mit der Zeit“ pflegen, wie er sagt.

    Diese Lernorte können als Vorbild dafür dienen, wie individuelle Förderung

    in einer heterogenen Lerngruppe konkret aussehen kann – sei es in einem

    gegliederten Schulsystem oder in einer Gemeinschaftsschule. Die ausgewählten

    Schul-Beispiele haben entweder ein neuartiges Konzept aus einem

    Guss – wie die Jenaplan-Schule in Jena oder die Bodensee-Schule in

    Seite 12

    Friedrichshafen – oder haben mit einzelnen Reformschritten begonnen –

    wie das Willibald Gymnasium in Eichstätt.

    Die porträtierten Schulen haben nicht nur den elenden 45-Minuten-Takt der

    Schulstunden außer Kraft gesetzt, sondern den Schultag grundsätzlich anders

    strukturiert. Der Film zeigt Kinder und Jugendliche, die hingebungsvoll

    allein oder gemeinsam mit Lernmaterial beschäftigt sind. Er lässt Lehrer zu

    Wort kommen, die bewusst ihr Einzelkämpfertum aufgegeben und sich für

    einen anderen Unterricht samt der damit verbundenen Mehrarbeit entschieden

    haben. Generelles Ziel ist die Überwindung der Schule als traditionelle

    Belehrungsanstalt.

    Die Schüler arbeiten in Lerngruppen, die aus mehreren Altersstufen bestehen.

    Sie lernen mit individuellem Tempo und unterschiedlicher Schwerpunktsetzung.

    Die Lehrkraft entwickelt einen Arbeitsplan mit jedem und für

    jedes einzelne Kind. Die Grundhaltung ist Respekt. „Jedes Kind ist für sich

    einmalig und existiert nicht noch mal auf der Welt. Da kann ich doch nicht

    morgens einen Einheitsbrei über die Kinder gießen“, betont Alfred Hinz,

    Rektor der katholischen Bodensee-Schule, eine der ältesten Ganztagsschulen

    in Deutschland. Die Leiterin der Montessori-Gesamtschule in Potsdam,

    Ulrike Kegler, sagt: „Die Kinder dürfen nicht beschämt werden.“ Lehrer

    müssten mit ihrer Macht verantwortungsbewusst umgehen.

    Das in den „Treibhäusern“ gepflegte pädagogische Konzept geht von der

    Freude der Kinder am Lernen und am Begreifen ihrer Umwelt aus. Dazu

    gehören ein hohes Maß an selbstständiger Arbeit und Entscheidung sowie

    Projektunterricht. Auch lernen die Schüler, den so angeeigneten Stoff angemessen

    zu präsentieren, sei es als Referat am Projektor oder als ein Essen

    nach mittelalterlichen Rezepten. Damit üben sie zugleich Anforderungen

    aus ihrer späteren Berufswelt ein. Dass Freude am Lernen und Leistung

    sich nicht ausschließen, ja sich vielmehr bedingen, betont Hinz. Die

    zentral vom baden-württembergischen Kultusministerium gestellten Arbeiten

    in der neunten und zehnten Klasse „schaffen wir mit einer Hand“, sagt

    er.

    Der vom Bundesbildungsministerium finanzierte Film hat auch die DaimlerChrysler

    University für Führungskräfte beeindruckt. Mit ihrer Unterstützung

    wird nach Angaben von Kahl derzeit der Film englisch untertitelt. Als

    Vorbild für das Management werde die neue Rolle der Lehrer gesehen, die

    stärker beobachten als Anweisungen erteilen. Neben Bildungsforschern

    wie Hartmut von Hentig unterstützt der Chef der Unternehmensberatung

    McKinsey in Deutschland, Jürgen Kluge, die Biotope für ein gutes Lernklima.

    Die Wirtschaft von Morgen brauche flexible Mitarbeiter, „die aus eigener

    Motivation die höchstmögliche Leistung bringen“.

    Die bundesweite kostenlose Vorführung des Streifens am 12. Dezember

    war eine Gemeinschaftsaktion unter anderem der Deutschen Kinder- und

    Jugendstiftung, des Archivs der Zukunft und der Cinemaxx-Kinos. Die Veranstalter

    gehören dem „neuen Bündnis für die Bildung an“ (vgl. 51/2004, S.

    16). Die Cinemaxx-Kette zeigte den Streifen im Rahmen ihrer Filmvorführungen

    für Lehrer. Der Filmtext ist auch als Buch zusammen mit drei DVDs

    erhältlich, auf denen die Interviews in Langfassung zu sehen sind.

    Ursula Mommsen-Henneberger

    („Treibhäuser der Zukunft. Wie in Deutschland Schulen gelingen“, Beltz

    Verlag, Weinheim 2004, 135 S., Euro 29,--, ISBN 3-407-85830-2 oder

    Deutsche Kinder- und Jugendstiftung, Berlin, ISBN 3-9809294-3-4)

     

    Stuttgarter Zeitung über die Treibhäuser

    Stuttgarter Zeitung

    04.12.2004

    Seite 38

    140 Zeilen

    KULT

    Ein Ort für Leidenschaft und Genauigkeit

    "Treibhäuser der Zukunft": ein Film über den Sinn der Schule

    Alle sollten ihn anschauen: Bildungspolitiker, Lehrer, Eltern, alle, die sich für die Zukunft dessen, was wir Kultur nennen, interessieren. Und alle sollten sich anstecken lassen von der positiven Einstellung, die er zum Thema Lernen vermittelt, von dem Aufbruchsgeist und der Neugier, die er ausstrahlt, von der kritisch-optimistischen Grundhaltung seines Autors und nicht zuletzt von dessen Achtung und Zuneigung für Kinder. "Treibhäuser der Zukunft" heißt der Film, von dem hier die Rede ist. Gedreht wurde er von Reinhard Kahl, einem Bildungsexperten mit Herz, einem Poeten der Pädagogik und klugen Analytiker der Bedingungen unserer Zeit. Aus mehr als 200 Stunden Material, aufgenommen nicht nur in Skandinavien und Kanada, sondern vor allem auch in Deutschland, hat der Filmemacher und "Zeit"-Autor die Vision einer Schule montiert, wie sie zu wünschen wäre, für Schüler, Eltern und Lehrer, ein Ort für "Seele und Genauigkeit".

    Wie ja zuletzt wieder eine Pisa-Studie ergeben hat, tun sich deutsche Schüler überall dort schwer, wo es gilt, Frageninhalte richtig zu deuten, Lösungsmodelle scheinen häufig nicht lebensnah genug vermittelt zu werden. Deshalb, so Kahls Ansatz, müssen beim Aufbruch in die Wissensgesellschaft die Fundamente ihrer Schule neu gelegt werden. Der Umbau habe längst begonnen, nun gelte es, die Weichen richtig zu stellen.

    Doch in welche Richtung? Schule, so zeigt Kahl mit seinen Bildern und Geschichten voll engagierter Lehrer und motivierter Schüler, muss Neugier wecken auf die Welt, muss hungrig machen und nicht satt. Raum und Zeit müssten als dritter und vierter Pädagoge neben Lehrern und Schülern integriert werden - "Investitionen in Räume und ein verschwenderischer Umgang mit Zeit ergeben hohe Renditen". Das wird durchaus auch in Deutschland schon an einzelnen Schulen mit Erfolg praktiziert, Reinhard Kahl hat bereits existierende Zukunftsmodelle manchmal ganz in der Nähe gefunden, zum Beispiel in Friedrichshafen.

    An der dortigen Bodenseeschule, einer freien, vom Land Baden-Württemberg geförderten katholischen Ganztagsschule, herrscht wohl der Geist, den "Treibhäuser der Zukunft" beschwören will. Er besagt, dass Lernen nicht als Qual, sondern als "Vorfreude der Kinder auf sich selbst" zu denken sei, dass die natürliche Neugier des Nachwuchses genutzt werden muss, dass Lernen dem Forschen viel verwandter ist als dem herkömmlichen Unterricht nach der traditionellen Osterhasenpädagogik - der Lehrer versteckt das Wissen, und die Schüler sollen es finden. Diese positive Grundeinstellung verhilft viel mehr Heranwachsenden zum Erfolg als an Regelschulen. Kahl zeigt in Friedrichshafen Schüler einer achten Hauptschulklasse, die nach landläufigen Vorstellungen chaotische Randfiguren sein müssten, bei der konzentrierten, selbst gesteuerten Arbeit am Thema Mittelalter - Brotbacken inklusive. Könnte das anderswo nicht auch so gehen?

    Dann müssten wohl fest verwurzelte Grundlagen eines längst in die Jahre gekommenen Schulsystems gelockert werden, und vielleicht könnten sich so die Schulen der Realität mit den vielen, schlecht Deutsch sprechenden Migrantenkindern und der wachsenden Zahl im Elternhaus Verwahrloster endlich besser stellen. Anstatt von einer fiktiven Gleichheit aller Lernenden auszugehen, wird an der Bodenseeschule zum Beispiel Individualität in Arbeitstempo und Begabung in einem sozial verträglichen Rahmen berücksichtigt - Selbstständigkeit und Zusammenarbeit, so der Autor, der im Gespräch namhafte Experten wie Hartmut von Hentig und den Hirnforscher Manfred Spitzer zu Wort kommen lässt, "sind das Yin und Yang der neuen Schule".

    Deutlich fällt auch sein Plädoyer für die Ganztagsschule aus, mit der richtigen Mischung aus Konzentration und Entspannung, aus kognitiver, emotionaler, handwerklicher, sinnlicher Beschäftigung, für die Schule als Ort der Kultur und der Gemeinschaft. Die Lehrer als Gastgeber, die Schüler als interessierte, begeisterte Erforscher der eigenen Möglichkeiten - Kahls Geschichten aus Friedrichshafen, von der Max-Brauer-Schule in Hamburg oder der Jena-Plan-Schule machen Lust auf Lehren und Lernen, und brechen mit der muffigen deutschen Tradition, die Schule häufig nur als "Ernst des Lebens" zu begreifen vermag und nicht als Stätte, an der Leben in den verschiedensten Formen erlebt und erlernt wird.

    Schule kann ein Ort der Rituale und der schönen Form sein, ein Ort, wo Lehrer, Schüler, Eltern sich wohl fühlen, wo mehr Kinder zu besseren Leistungen kommen, in der Spitze und in der Breite - das ist die ganz konkrete Utopie, die Kahl verbreiten will und als Gebot der Zeit betrachten lässt. "Diese Schüler werden nicht wie ihre Eltern Vorgegebenes nachspielen können", philosophiert Reinhard Kahl, während er eine hoch motivierte Klasse beim Musikmachen zeigt. "Sie müssen ihre eigene Melodie finden, ihren Rhythmus." Schule als "Ort für Leidenschaften und für Exzellenz" muss ihnen dabei helfen, ihren Weg in einer ungewissen Zukunft zu finden, sie darf nicht Angst machen, sondern Mut - so wie Reinhard Kahls der Zukunft zugewandte Hommage an die Schönheit der Bildung im ganzheitlichen Sinn - die nicht weniger und nicht mehr ist als die wichtigste Investition in unser aller Zukunft.

    [] Reinhard Kahl diskutiert am 16. Dezember im Stuttgarter Literaturhaus mit Andreas Schleicher über das Thema "Pisa - Schafft Deutschland den Anschluss?" Der Film "Treibhäuser der Zukunft" kann als VHS-Kassette gegen 15 Euro bei der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, Tempelhofer Ufer 11, 10963 Berlin, bezogen werden. Als DVD vertreibt ihn der Beltz Verlag, Frankfurt.

    Von Ulrike Frenkel

     


    Die Lehrer als Gastgeber

     


    Vorfreude der Kinder auf sich selbst

     


    © 2004 Stuttgarter Zeitung

     

    Lernen in den Treibhäusern der Zukunft“

     

    NÜRNBERGER NACHRICHTEN  15. 12. 2004

    Lernen in den Treibhäusern der Zukunft“

    Vielleicht schafft es ja die Macht der Bilder, die aufgeheizte Bildungsdebatte in eine konstruktivere Richtung zu bringen. Am Sonntag durfte man sich dieser Hoffnung zumindest kurzfristig hingeben: In 28 deutschen Städten, darunter auch in Nürnberg, lief in den Kinos der Dokumentarfilm »Treibhäuser der Zukunft - Wie in Deutschland Schulen gelingen« von Reinhard Kahl. Der Streifen bekam mancherorts großen Applaus - und die Zuschauer vielleicht ein paar wichtige Inspirationen.

    HAMBURG - Na bitte, wir können auch anders, mögen sich einige der bundesweit mehreren Tausend Zuschauer gedacht haben, die am Sonntag den Streifen ansahen. Denn der Dokumentarfilm berichtet über Schulen mit neuen Ansätzen und anregendem Lernklima. Er stellt Schulen vor, die den elenden 45-Minuten-Takt der Schulstunden außer Kraft gesetzt haben. Er zeigt Kinder und Jugendliche, die hingebungsvoll allein oder gemeinsam mit Lernmaterial beschäftigt sind. Er lässt Lehrer zu Wort kommen, die bewusst ihr Einzelkämpfertum aufgegeben haben. Und er trifft genau den Nerv der Nation, die nach der zweiten Pisa-Studie nicht mehr weiß, wie und ob Bildung in Deutschland funktionieren kann.

    Individuelles Tempo
    Jenseits von Ideologie und Grundsatzstreit zeichnet Kahl das Porträt verschiedener Lernorte, die einiges gemeinsam haben: Die Schüler arbeiten in Lerngruppen, die aus mehreren Altersstufen bestehen. Sie lernen mit individuellem Tempo und unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. »Ich arbeite mehr in Mathe als in Deutsch. Und diese Woche habe ich mir vorgenommen, dass ich das Deutsch schaffe, auch da bin ich kurz davor«, sagt ein Junge von der Bremer Schule Borchshöhe.
    Die Lehrkraft entwickelt einen Arbeitsplan mit jedem und für jedes einzelne Kind. Die Grundhaltung ist Respekt. »Jedes Kind ist für sich einmalig und existiert nicht noch mal auf der Welt. Da kann ich doch nicht morgens einen Einheitsbrei über die Kinder gießen«, betont Alfred Hinz, Rektor der katholischen Bodensee-Schule in Friedrichshafen, eine der ältesten Ganztagsschulen in Deutschland.
    Die Leiterin der Montessori-Gesamtschule in Potsdam, Ulrike Kegler, sagt: »Die Kinder dürfen nicht beschämt werden.« Lehrer müssten mit ihrer Macht verantwortungsbewusst umgehen. Das in den »Treibhäusern« gepflegte pädagogische Konzept geht von der Freude der Kinder am Lernen und am Begreifen ihrer Umwelt aus.
    Dazu gehören ein hohes Maß an selbstständiger Arbeit und Entscheidung sowie Projektunterricht. Auch lernen die Schüler den so angeeigneten Stoff angemessen zu präsentieren, sei es als Referat am Projektor oder als ein Essen nach mittelalterlichen Rezepten. Damit üben sie zugleich Anforderungen aus ihrer späteren Berufswelt ein.
    Dass Freude am Lernen und Leistung sich nicht ausschließen, ja sich vielmehr bedingen, betont Hinz ausdrücklich. Die zentral vom baden-württembergischen Kultusministerium gestellten Arbeiten in der neunten und zehnten Klasse »schaffen wir mit einer Hand«, sagt er.
    Der Film hat selbst die DaimlerChrysler University für Führungskräfte beeindruckt. Dort sieht man die neue Rolle des Lehrers, der stärker beobachte, als Anweisungen zu geben, als Vorbild - für die eigenen Manager.

    Weitere Informationen: Der Filmtext ist als Buch zusammen mit drei DVDs im Beltz Verlag erschienen, ISBN 3-407- 85830-2, und kostet 29 Euro.

    Zusammen lernen macht viel mehr Spaß, als alleine zu büffeln: eine Schulklasse, die auch in Kahls Dokumentarfilm vorkommt, im Englischunterricht. Foto: dpa

     

    Frontalunterricht so beliebt wie Zahnarztbesuch

    WESTDEUTSCHER ZEITUNG 14. 12. 2004

     

    KREFELD

     

     

    Frontalunterricht so beliebt wie Zahnarztbesuch

     

    Krefelder Lehrer sind begeistert von dem Film "Treibhäuser der Zukunft wie in Deutschland Schulen gelingen", der am Sonntag im Cinemaxx lief.


    Krefeld. Das deutsche Bildungssystem, darüber ist man sich hierzulande spätestens seit den zwei Pisa-Studien weitgehend einig, steckt in einer tiefen Krise. Frustrierte Lehrer und lustlose Schüler bestimmen vielerorts das Bild in den Klassenräumen. Die "Belehrungsschule", so nennt der Journalist Reinhard Kahl den klassischen Frontalunterricht im 45-Minuten-Rhythmus, sei beim Nachwuchs ähnlich beliebt wie ein Zahnarztbesuch. "Hitzefrei ist die beste Nachricht." In seinem Film "Treibhäuser der Zukunft wie in Deutschland Schulen gelingen" zeigt Kahl, dass und wie es auch anders gehen kann. In der rund zweistündigen Dokumentation, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde, stellt der Autor eine Auswahl vorbildlicher Ganztagsschulen aus ganz Deutschland vor, lässt Schüler und Lehrer, Eltern und Bildungsexperten zu Wort kommen.

    Am Sonntag lief der Film bundesweit in 31 Kinos, darunter auch im Krefelder Cinemaxx. Beim Publikum kam die Vorführung gut an: "Ausgezeichnet", kommentierte die ehemalige Lehrerin Sigrid Bohlmann den Film, "er müsste zur Pflichtlektüre für alle Lehrer werden".

    Ganz gleich ob in Bremen oder Bayern in den Schulen, die Kahl vorstellt, gibt es keine Spuren von "Osterhasenpädagogik", wie Elsbeth Stern vom Max-Planck-Institut den in Deutschland üblichen "fragend entwickelten Unterricht" tauft. Die Lehrer versuchen nicht, das Wissen zu verstecken und die Schüler zum Suchen zu animieren. Denn in den "gelungenen" Schulen geht es nicht darum, dass "jeder Schüler im gleichen Tempo, in den gleichen kleinen Schritten, den gleichen Weg zurücklegt".

    An Schulen wie der Jena-Plan-Schule wird die Tatsache, dass jeder Schüler unterschiedliche Interessen hat und unterschiedlich begabt ist, nicht nur als selbstverständlich angesehen, sondern auch ganz bewusst zum Wohl der Kinder genutzt. "Schüler mit unterschiedlichen Stärken regen sich an", hat Schulleiterin Gisela John festgestellt.Und auch der Rektor der Bodensee Schule in Friedrichshafen, Alfred Hinz, betont: "Wir haben kapiert, dass jedes Kind einmalig ist. Da kann man doch keinen Einheitsbrei drüber gießen." Die Bodensee Schule ist seit 1971 Ganztagsschule. Sie hat die klassischen Fächer abgeschafft. Schüler der Klassen eins bis drei werden gemeinsam in Familienklassen unterrichtet, und in den ersten Jahren gibt es keine Noten. Das Ergebnis: Selbst in der siebten Klasse der Hauptschule arbeiten die Schüler in Ruhe, sind konzentriert und sagen: "Es macht Spaß, dass wir aussuchen können, was wir lernen wollen."

    Laut Ulrike Kegler, Schulleiterin der Montessori-Gesamtschule Potsdam, sei auch eine respektvolle Lernumgebung essenziell wichtig: "Die Schüler können nicht lernen, wenn sie das Gefühl haben, jederzeit ausgelacht werden zu können."

    Damit die Deutschen Schulen von Orten der Belehrung zu Orten des Verstehens und des Aufwachsens werden, zu Plätzen, an denen Freizeit und Lernen fließend ineinander übergehen dafür müssen laut Kahls Dokumentation auch heilige Kühe geschlachtet werden. Sei es die 45-minütige Schulstunde, oder das Privileg der Lehrer, nur einen Teil ihrer Arbeitszeit in der Schule zu verbringen.

    Bernhard Bueb, Leiter des Internats Salem, befürchtet daher: "Die Hauptfeinde der Ganztagsschule sind die Lehrer." Und ein weiteres Problem hat Jürgen Kluge von McKinsey erkannt: "Bildung braucht 20 Jahre Vorlauf und dieser Zeithorizont ist größer, als der, in dem die meisten Politiker denken und wiedergewählt werden."

    Weitere Informationen finden Sie zum Thema im Internet.

    ·  www.ganztagsschulen.org

    14.12.04
    Von Carsten Icks

     Krefeld

    FAZ Son. Inseln der Glückseligkeit

    Inseln der Glückseligkeit

    VON REGINA MÖNCH



    Reinhard Kahl ist durch Deutschland gereist, um zu finden, was nach zwei Pisa-Studien und düsteren Prognosen kaum jemand zu suchen wagt: die erfolgreichen Lehrinstitute mit glücklichen Kindern und zufriedenen Lehrern. Es gibt sie, und um es vorwegzunehmen: Keine dieser Schulen verdankt ihren Aufbruchsgeist, ihre phantasievollen wie pragmatischen Programme und vor allem ihre beeindruckenden Erfolge der Bildungsministerin Bulmahn. Der Tatsache, daß deren Ministerium den Film mitgefördert hat, dürfte geschuldet sein, daß wir nicht erfahren, woran es vielerorts scheitert, wenn sich Lehrer aus der Fesselung durch die Schulbürokratie zu befreien versuchen. So sind dem Zuschauer fast zwei Stunden reines Glück garantiert.
    Es sind allesamt Ganztagsschulen, eigenwillig voneinander verschieden. Egal, ob wir eine katholische Hauptschule am Bodensee erleben oder die Grundschule in einem jener Hamburger Viertel, die nicht auf der Sonnenseite der schönen Stadt errichtet wurden, ob wir in Salem sind oder im Ruhrpott - allen ist gemeinsam, daß sich Lehrerkollegien zusammenfanden, die etwas wagen wollen, deren Begeisterung für ihren Beruf nicht nur ihre Schüler ansteckt, sondern auch die Eltern. Denn ohne die geht es eben nicht. Doch die schon zum Klischee verkommene Klage so vieler Pädagogen, sie würden ja anders agieren, wenn die Familien endlich wieder erzögen, wird konterkariert. Die Schulen rennen gewissermaßen offene Tore ein mit ihren Angeboten. Es sind nicht selten einfache Weisheiten, die sie nutzen, wie etwa das von der Verschiedenheit eines jeden Kindes.
    Weil sie so verschieden sind, lernt man an diesen Schulen unterschiedlich schnell, unterschiedlich intensiv betreut und vor allem über den ganzen Tag. Der unselige 45-Minuten-Takt der deutschen Schulstunde ist aufgehoben, es hat den Anschein, als sei überhaupt die Zeit verlangsamt und die Hast überfrachteter Lehrpläne außer Kraft gesetzt. In Wirklichkeit wird die Zeit nur anders genutzt. Das setzt eine Gelassenheit voraus, die viele Lehrer, wie man hört, längst verloren haben. Daß sie seltsamerweise durch den immensen Zeitaufwand miterzeugt wird, den der Schulalltag an diesen Schulen nicht nur den Schülern, sondern mehr noch den Lehrern abverlangt, gehört zu den Geheimnissen, denen Reinhard Kahls Geschichten nachspüren.
    Kein Lehrer, der hier am Mittag das Haus verläßt, und man kann nur ahnen, was es heißt, sich all diese verschlungenen Wege auszudenken, auf denen sich Welt entdecken und begreifen läßt. Nicht jede der vorgestellten Schulen hat die wunderbaren Bedingungen, die die katholische Kirche ihrer Bodensee-Schule geschaffen hat. Doch zeigt unter anderem eine Hauptschule in Gelsenkirchen, wie man aus eigener Kraft einen Ausweg findet, der zudem verunsicherte Schüler selbstbewußter macht: Unter der Anleitung eines pensionierten Poliers bauten die kräftigen Jungen ihr Schulhaus um.  
    Reinhard Kahls "Treibhäuser der Zukunft", der heute um 12.30 Uhr in vielen deutschen CinemaxX-Kinos bei freiem Eintritt gezeigt wird, bekommt man als Video/DVD auch bei der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung oder beim Beltz Verlag Frankfurt.


    Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12.12.2004, Nr. 50 / Seite 76

    SWR Hartmut von Hentig

    SÜDWESTRUNDFUNK

    SWR2 Wissen - Manuskriptdienst

    Vom Wissen zum Denken

    Hartmut von Hentig und die Erneuerung der Schule

    Reihe: Pädagogischer Aufbruch (Teil 2)

    Autor: Reinhard Kahl

    Redaktion: Anja Brockert

    Regie: Hans-Peter Schnicke

    Sendung: Samstag 11.12.2004, 8.30 Uhr, SWR 2

    ___________________________________________________________________

    Bitte beachten Sie:

    Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.

    Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen

    Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

    Mitschnitte von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen (Samstag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim Landesmedienzentrum Karlsruhe (LMZ) erhältlich.

    Bestellungen an das LMZ: Telefon 0721-8808-20, Fax 8808-69

    e-mail: hschneider@lmz-bw.de

     

    _______________________________________________________________

    manuskript

     

    Zitator:

    Will ich meine Pädagogik erklären, muss ich mich erklären...

    Sprecher:

    ... schrieb der bekannte Pädagoge Hartmut von Hentig in einem autobiografischen Essay. Denn Pädagogik ist für Hentig keine Sache und kein Programm, keine Maschine zur Produktion von Abschlüssen oder von Qualifikationen. Pädagogik ist für ihn ein Verhältnis zwischen Personen und zwischen den Generationen.

    Sprecherin:

    Das klingt unzeitgemäß konservativ und zugleich in einer subversiven Weise zukünftig. Pädagogik, sagte Hentig einmal in einem Interview, sei ein so hochindividueller Vorgang, dass man sie nur mit der Liebe vergleichen könne. Menschen kommen in ihrer ganzen Einmaligkeit und Besonderheit zusammen.

    Sprecher:

    Die Schule, die Hartmut von Hentig meint, ist keinem anderen Ziel unterworfen als dem, die Kinder und Jugendlichen in der Gesellschaft willkommen zu heißen. Die Schule - also die Erwachsen in ihr - müssen darauf neugierig sein, was diese Neuankömmlinge in die Welt bringen, und sollen ihre Talente so gut es geht fördern. Das sind Vorstellungen, bei denen man nicht unbedingt an seine eigene Schulzeit oder an die Schule seiner Kinder denkt.

    Cut 1

    Ich will sagen, die Schule, die jungen Menschen hilft erwachsen zu werden, oder ganz konventionell gesprochen, auf das Leben vorbereitet, die gibt's eigentlich gar nicht.

    Wir bereiten immer das nächste Examen, also auf die nächste Klassenarbeit vor oder auf die Versetzung oder auf einen nächsten Laufbahnschritt vor, und um den Rest kümmert man sich sehr wenig. Natürlich gibt es immer wieder Lehrer, die wahrnehmen, was ein Kind da für eine Not hat, und dann sind sie nett mit ihm und helfen ihm, aber die Institution ist überhaupt nicht so gedacht.

    Sprecherin:

    Die alltägliche Schule kritisiert Hentig als eine Maschine, die Menschen eher einander angleicht und jeden für sich abstumpft. Und das sei dumm, denn so bringe sie sich um die Chance, mit der Verschiedenheit der einzelnen Menschen den Reichtum der Gesellschaft zu mehren.

    Hartmut von Hentig wird deshalb nicht müde, die „Schule neu zu denken," wie eines seiner Bücher heißt. Er ist Deutschlands einflussreichster Pädagoge, Schulkritiker und Gründer von Reformschulen.

    Cut 2

    Ich habe ja nie Pädagogik gelernt, bin Lehrer gewesen, Lehrer der alten Sprachen an süddeutschen Gymnasien. Habe da meine Fehler gemacht und habe vor allem, nachdem ich die überwunden hatte, an den ärgerlichen Rahmenordnungen unserer Schule gelitten.

    Sprecherin:

    Vielleicht half dem emeritierten Starprofessor der Pädagogik ja, nie Pädagogik studiert zu haben, um seine eigene Pädagogik zu erfinden?

    Sprecher:

    Hartmut von Hentig wurde am 23. September 1925 in Posen geboren. Sein Vater war Preuße aus Passion und Diplomat von Beruf. Dessen Tätigkeit im auswärtigen Dienst brachte es mit sich, dass Hartmut von Hentig in vielen Ländern aufwuchs. So machte er bereits als Kind ein unvergleichliches „Praktikum", aus dem die Leidenschaft seines Lebens wurde.

    Cut 3

    Ich habe erst später darüber nachgedacht, dass dies vermutlich mehr für meine Pädagogik ausgemacht hat als alles andere. Das nächste ist doch, dass ich mit meinem Vater, der Diplomat war und dauernd meine Posten wechselte und mitreisend 13 Mal die Schule gewechselt habe in fünf oder sechs Ländern. Und das belehrt einen ja gründlich darüber, dass es nicht die gute Schule gibt, sondern sie waren alle ein bisschen schlecht und ein bisschen gut und immer war ich gut dran, wenn ich die Schule selbständig nutzte. Selbständig nutzen hieß, die Lehrer fragen – die Lehrer werden ganz gerne gefragt, um Rat gebeten, um Auskunft gebeten.... Arbeiten selber in Vorschlag brachte, könnte ich mal das machen .... meistens sagen sie dann ja, warum eigentlich nicht .... Die Selbstständigkeit gegenüber dem System, das nicht unfehl war, das hatte ich also herausgefunden: es gibt nicht die Schule. Und das ist auch heute meine Überzeugung, auch wenn ich das in einem bestimmten Abschnitt meines Lebens entworfen habe und gefunden habe, das machen wir jetzt mal, weil das ist besser als was anderes, halt ich die doch nicht für die beste aller denkbaren Schulen, beileibe nicht.

    Sprecher:

    Das war seine Initiation und eine Ressource für das Pädagogenleben. Unterschied ist gut. Unterschied macht Freude und bringt Vorteil. Und der Unterschied aller Unterschiede liegt in den Personen die Schule machen, in den Lehrern.

    Cut 4

    Es ist einer der Fehler unserer Schule, dass sie die entscheidende Ressource, die sie hat, den erwachsenen Lehrer, der ganz für die Kinder da ist, so wenig einsetzt. Das ist komischer Weise für sie eine austauschbare Sache, das ist ein Unterrichtsfunktionär, das wäre ja beinahe noch ein Mensch, er ist eine Unterrichtsfunktion.

    Der Lehrer muss ein Mensch sein. Der muss auch seine Fehler haben und die muss er überwinden.

    Sprecherin:

    Die Frage nach der Person, nach dem Lebensentwurf des Pädagogen, ist die nach dem Dialog, ohne den Bildung und Erziehung nicht denkbar sind. Der Dialog ist nicht bloß Austausch, kein Hin -und Hersenden von Informationen. In jedem Dialog entsteht Welt. In dem Dialog zwischen den Menschen ebenso wie in dem inneren Dialog, dem Denken. Und das Denken ist neben dem Dialog auch Hentigs zweites großes pädagogisches Medium, das für ihn in den Schulen zu kurz kommt. Ohne Dialog und das Selbstdenken wird Bildung zur Abrichtung, zur Verwahrung oder gar zur Indoktrination. Allerdings sind Dialog und Denken ohne Unsicherheit, ohne Fehler und Sackgassen, ja auch ohne sich in Irrtümern sozusagen zu „zeigen" undenkbar. Die Angst vor Umwegen, Fehltritten und vor Scheitern führt zu einer Schule, die einfach diktiert, was richtig und was falsch ist, oder die eine Schule der Gleichgültigkeit und Verwahrlosung wird. Letzteres ist heute die größere Gefahr. Eine Schule, in der die Erwachsenen so tun, als ob sie gar nicht sind. Der Lehrerberuf als Job, in dem die Person gar nicht dabei ist.

    Sprecher::

    Die Frage nach der Person ist also die entscheidende Frage - eine Frage, die man Hartmut von Hentig stellen muss und stellen darf, wenn man nach seiner Pädagogik fragt. Bleiben wir noch einen Moment bei seiner Biografie.

     

    Sprecherin:

    1945 begann Hentig in Göttingen das Studium der alte Sprachen, das er in den USA fortsetzte.

    Zurück kam er mit dem Doktortitel, aber ohne staatliches Examen. Mitte der 50er Jahre holte ihn Georg Picht als Griechisch- und Lateinlehrer an das Internat Birklehof. Als er später sein Referendariat am Uhland Gymnasium in Tübingen nachholte, probierte Hartmut von Hentig einen anderen Lateinunterricht aus - einen Unterricht, der die Sprache inszenierte, eher wie Theater, keine Belehrung, kein Pauken.

    Sprecher:

    Zu Beginn der 60er Jahre veröffentlicht Hartmut von Hentig seine Kritik an der Schule. Sein erfrischender Geist wird beachtet; er wird die erste Stimme in der anstehenden „Erneuerung" der Schule.

    Sprecherin:

    Der Schulkritiker von Hentig, nicht habilitiert und ohne Studium der Pädagogik, wird 1963 als Professor nach Göttingen berufen. Einige Jahre später schon, 1968, bekommt er einen Ruf an die neu gegründete Universität Bielefeld. Als Bedingung für den Wechsel verlangt er zwei Modellschulen: die Laborschule und das Oberstufenkolleg an der Uni, das für die Pädagogische Fakultät das werden soll, was das Klinikum für die Mediziner ist.

    Sprecher:

    1972 hätte er in Hessen Kultusminister werden können. Aber als ihm klar wurde, dass ein Minister durchs Land ziehen und immer das Gleiche sagen muss, winkte er ab und betrieb weiter den Aufbau seiner Reformschule.

    Hartmut von Hentig entwarf die Schule als einen Lebensraum für Kinder und Jugendliche, nicht als eine Unterrichtsanstalt. Er wollte eine Schule, in der Kinder dadurch besser lernen, dass sie dort auch leben.

    Die Schule - eine kleine Welt, wie die Polis, das überschaubare Gemeinwesen im antiken Griechenland.

    Cut 5

    Sie muss erlebbar sein in ihren Grundelementen: der Einzelne und seine Würde wird dort geachtet. Das muss man dort erfahren, der Einzelne kann Einfluss nehmen auf das Ganze, das muss er erfahren, sogar ich kleinste Person unter den Größeren habe mein Recht auf mein Wort und meine Meinung. Es muss Gemeinsinn geben. Es muss eine Befriedigung entstehen, weil ich meine Verantwortung getragen habe und nicht das überall erlebbare Weglaufen vor der Verantwortung. Schon ihre Lehrer machen ihnen dieses vor. Wir können keine gute Gesellschaft haben, wenn man nirgendwo erfahren hat, wo diese drei eben genannten Elemente einer guten Polis sind. In der großen erfahren wir es nicht. Da ist Ellbogen gefragt, da betrügt man den Staat wo man kann, da geht man alle 4 Jahre auf Grund von idiotischen Plakaten und ohne jedes Urteil zur Wahl, das kann es doch nicht sein. Es müsste in dieser Schule erst einmal Polis sein und dann müsste sie so sein, dass man in ihr lebt und deshalb Lebensprobleme hat und deshalb Lösungen für sie sucht, Ordnungen, Reviere, Zeiten, Abgrenzungen, Rechte, alles sich selbst noch mal klar macht, den kleinen Gesellschaftsvertrag dort schließt. Und damit ist die Schule wunderbar beschäftigt und alle Dinge wie Geschichte oder wie Schreiben und Rechnen und Lesen, das sind ganz wichtige Mittel dabei.

    Sprecherin:

    Die Schule ein Lebensraum. Ein Rundgang durch die Laborschule zeigt, was das heißt.

    In dem Haus für die Kleinen lernen die 5 bis 8-jährigen, von der Vorschule bis zum zweiten Schuljahr. Ein Haus ohne abgeteilte Räume, aber vielfältig gegliederte

    Flächen auf unterschiedlichen Höhenniveaus. Galerien, Nischen zum Kochen und Backen, Ecken zum Drucken oder Lesen. Einige Kinder backen, andere schreiben, dort wird vorgelesen. In der Tat eine kleine Polis mit Werkstätten, mit Wohnungen und Plätzen. Viele Zentren. Fließende Übergänge. Lebendige Zwischenräume. Der Raum verwandelt sich je nach Standpunkt und Interesse des Kindes.

    So wie es keine Klassenräume gibt, so gibt es in dem Haus für die Kleinen hier auch noch keine Schulklassen. Jedes Kind gehört zu einer Stammgruppe.

    Sprecher:

    Nebenan das große Haus mit den Schülern von der dritten bis zur zehnten Klasse. Hier lernen die Kinder in altersgleichen Jahrgängen. Aber auch hier gibt es keine trennenden Wände, nur bewegliche Sichtblenden, auch zum akustischen Schutz. Mit vielfältigen Mitteln sind Reviere abgegrenzt, z.B. mit Blumen oder mit Regalen. Aus Teppichen werden kleine „Nester" zum Plaudern und Lesen gebaut. Und dazwischen die Schreibtische der Lehrer.

    Außer diesem offenen Großraum hat die Laborschule noch spezielle Räume: Werkstätten, Fachräume, eine große Bibliothek oder den Computerraum.

    Sprecherin:

    Dass die Laborschule, außer zum Abschluss, keine Noten vergibt, muss man kaum erwähnen. Dass die Schule mehr Bewerber hat als Plätze, es liegt auf der Hand. Dass es auch an dieser Schule Probleme gibt, man kann es sich denken.

    Cut 6

    Solange Kinder so viele Lebensprobleme in die Schule mitbringen, die ihnen kein anderer Mensch löst: Eltern bestimmt nicht, das Fernsehprogramm nicht, die Wahrnehmungen, die sie in der Straße haben, langweilige Straßen, kein Stück Natur, für die meisten Kinder; keine Erwachsene, die sie auf ihre Tätigkeiten einlassen - also ich sage: in einer Welt, in der man seine Probleme nicht anbringen kann, nicht verständlich machen, sich nicht verständlich machen kann, muss es eine Instanz geben - die Schule ist dafür nicht gedacht gewesen, das geb ich zu, aber nun ist sie die alleinige Einrichtung, die dieses könnte. Da sitzen Pädagogen, die wissen, was ein Kind braucht; wissen sie angeblich, und in vielen Fällen wissen sie es auch wirklich. Es steht ja zum Beispiel bei dem Rousseau, es steht ja bei den großen Pädagogen so viel Gutes. Nur wir machen es nicht. Wir Lehrer müssen da Unterrichtsbeamte sein. Noch einmal: es muss diese Schule sich dazu bequemen, die Lebensprobleme der Kinder zu behandeln, damit sie überhaupt an die Lernprobleme herankommen, die überlagern das ja vollkommen.

    Sprecherin:

    Hartmut von Hentigs Schule ist ein überschaubarer Ort, an dem jeder erfährt, dass er gebraucht wird. Sie ist eine erste Öffentlichkeit, in der Kinder und Jugendliche genießen, gesehen zu werden und in der sie lernen, sich zu exponieren. Diese Schule ist ein Laboratorium, in dem man Fehler machen darf.

    Sprecher:

    Und wenn Schulen das nicht gelingt ?

    Dann werden sie verwahrlosen, dann werden sie Orte, an denen Zerstörung beginnt.

    Hentigs 1993 erschienenes Buch „Die Schule neu denken" wird von dieser Befürchtung getrieben:

    Zitator:

    Wenn eine Gesellschaft ihre jungen Menschen nicht braucht und sie dies ausdrücklich wissen lässt, indem sie sie in Schulen, an Orten, von denen nichts ausgeht, kaserniert und mit sich selbst beschäftigt, sie von allen Aufgaben ausschließt, dann zieht sie ihre eigenen Zerstörer groß.

    Sprecher:

    Wenn für Kinder und Jugendliche, die nicht gebraucht werden, Gewalttätigkeit gewissermaßen ihre „Ultima Irratio" wird, wenn die Destruktion an die Stelle der Möglichkeit tritt, tätig zu werden, dann könnten Schulen zu Schauplätze eines Krieges zwischen den Generationen werden.

    Cut 7

    Die konservativen Erwachsenen, und die meisten sind das, haben Angst vor der nächsten Generation von Barbaren, die daher kommen und die Gesittung noch nicht gelernt haben, die Institutionen noch nicht verstehen, und die mit brutaler Kraft und unbefangen alles kaputt machen. Das ist die große Angst. Und dafür sorgt man in den Erziehungsanstalten, dass man das Stillsitzen und den Gehorsam und die Ordnung das alles bitte, bitte lernt, bevor man irgend etwas anderes wie Phantasie und Selbstentfaltung oder gar Selbstbehauptung oder gar Kritik, eigenes Handeln, lernt. Nein, nein, `bleibt mal still sitzen, ich sag dir schon, was du zu tun hast'. Es ist Furcht, es ist die blanke Furcht, dass die jungen Leute, die ja das alles nicht wissen können, was wir schon wissen, dass die mit ihrer Unkenntnis und ihrer Unbefangenheit kühner sind, als wir es uns erlauben dürfen.

    Sprecherin:

    Die Ergebnisse dieser misstrauischen und lebensfeindlichen Schule sind dürftig. Vielleicht finden wir in diesem misstrauischen Klima und dem Kleinkrieg die triftigste Erklärung für das schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei PISA. Das Problem liegt tiefer als in Lehrplänen, Schulausstattung, Standards und so weiter.

    Hartmut von Hentig warnt: Versucht die Pädagogik ihre Ziele auf dem kürzesten Weg zu erreichen, verfehlt sie dabei ihr Ziel. Das indirekte Spiel ist wirksamer als die direkte Einflussnahme. Respektvoller und schöner, ja eleganter ist es sowieso.

    In seinem 2003 erschienenen Buch „Rousseau oder die wohlgeordnete Freiheit" schreibt er:

    Zitator:

    Die größte Gefahr kommt der Pädagogik von ihrem eigenen Zweck. Will sie einen guten Menschen „machen", wird sie ihn nicht bekommen.

    Sprecher:

    In der Schuldebatte kommen heute neue Töne auf. Nach der großen PISA-Irritation beginnt man tatsächlich, die Schule neu zu denken.

    Eine Chance, aus der Schule den Ort zu machen, der Hartmut von Hentig immer vorschwebte, ist die Diskussion um die Ganztagsschule.

    Cut 8

    Ich habe eigentlich immer gefunden, dass die Ganztagesschule eine riesige Veränderung, vielleicht die größte überhaupt, der durchgreifendste Reform-Impuls wäre, den wir haben könnten. Wir haben die unsinnige Aufteilung von: es gibt Belehrung durch Unterricht und es gibt Leben und für das Zweitgenannte ist die Familie da. Die andere Aufgabe der Schule: "to be a place for kids to grow up in", die wird durch die Ganztagesschule eingefordert, wird erst ermöglicht und auch eingefordert. Das Leben und seine Schwierigkeiten, Eitelkeiten und Ängste finden Antworten in dem Schulcurriculum, es stärkt, die Person wird gestärkt dadurch, dass ich das ein bisschen besser durchschaue, die Sache geklärt habe, na, das wäre die gute, gegenseitige Ergänzung.

    Die Bildung, die Schulbildung, öffnet die Augen, stärkt das Lebensgefühl, gegenseitig, und wenn wir uns dann angucken, was wir da haben: eine nach dem Fließbandmuster taylorisierte Belehrungsanstalt.

    Sprecherin:

    Die „Belehrungsschule" verweist drohend auf den Ernst des späteren Lebens. Das verbreitet nicht gerade Vorfreude. Folglich gehen die meisten Kinder schon nach ein paar Jahren zur Schule wie zum Zahnarzt. Schule muss statt dieser Drohung eine Einladung sein, sie muss: Begeistern. Aber wie?

    Auch in der Laborschule Bielfeld nimmt die Lust der Schüler auf die Schule in der Pubertät ab. Hentigs Antwort hieß: Entschulung der Schule. Ein Vierteljahr leben die Schüler in England. Dort lernen sie ohnehin besser die Fremdsprache sprechen als in einer noch so guten Schule. Ein weiteres Vierteljahr sollen sie an einem ökologischen Projekt mitarbeiten und noch ein Vierteljahr an einem künstlerischen. Aber selbst die Laborschule hat Schwierigkeiten, diese Ideen der Schulbürokratie verständlich zu machen.

    Sprecher:

    Was also ist Bildung für Hartmut von Hentig? Jedenfalls nicht das, was in Lehrplänen steht.

    Cut 9

    Die Menschen zum Aushalten von Offenheit in unser Welt, zum Aushalten von Ambivalenz, von Zweiwertigkeit zu erziehen. Man muss das aushalten. Es ist ein Zwiespalt. Und nicht den kleinen Menschlein immer schon sagen, läuft alles nach dieser Regel: der Ablativ folgt immer wenn..., nicht wahr. Und dieses erst mal einprägen, dass die Welt geordnet ist wie ein Rechenschieber, das ist falsch. Sie dauernd darauf vorbereiten, dass das, was man ihnen jetzt gibt, Mittel sind für unterschiedliche Lagen: kann ganz anders sein nachher - und du bist vor allem immer wieder anders als ich. Und deine Lösung könnte besser sein, probier mal aus, sieh mal zu, und ich helfe dir. Und dieses sich gegenseitig Helfen stört die Lehrer und die Schule und ihre Ordnung so furchtbar. Die gewaltigsten Maßnahmen, fahren sie dagegen auf. Es muss still sein.

    Sprecherin:

    Für Hentig ist Bildung die Kunst, sich selbst zu erfinden. Bildung ist eine Leistung des Individuums - eines Individuums, das versteht, seinen Mangel in Stärken zu verwandeln, und das auf andere angewiesen ist. In Einsamkeit oder von anderen abgeschnitten kann sich niemand bilden. Und doch bleibt diese Bildung eine Arbeit des Subjekts, die ihm niemand abnehmen kann, schon gar nicht jemand, der es in ein Objekt verwandelt.

    Cut 10

    Der Rousseau ist da relativ unsentimental. Er sagt, ich will euch erklären, was für einen Vorteil der Mensch hat, dass er schwach geboren wird, vollkommen hilflos. Er erklärt, wie zerstörerisch es wäre, wenn er ohne Erfahrung gleich alle Kräfte hätte. Das haben die großen Verhaltensforscher unserer Zeit auf ein Gesetz gebracht und gut fundiert, was bei Rousseau bare Intuition war. An diesem Beispiel wird deutlich, dass diese Schwäche eine Funktion der Stärke hat. Wir haben eine ewige Entwicklungsfähigkeit, fast, also ewig für unsere Lebensspanne, und insbesondere haben wir sie am Anfang. Und es ist so merkwürdig, dass alle diese überzeugenden und einfachen Lehren der Pädagogik so schlecht in die pädagogische Praxis zu übersetzen sind.

    Sprecher:

    Die Schwäche des Individuums, seine Entwicklungsfähigkeit, die aus seiner Entwicklungsbedürftigkeit kommt, das ist die Passion der Hentigschen Pädagogik, seiner Kunst, immer wieder Anfänge zu ermöglichen.

    Zitator:

    Die Sprache räumt die Erfahrung auf und hält die auseinanderfallenden Phänomene zusammen....

    Sprecher:

    ...schreibt Hartmut von Hentig in seinem Buch „Aufgeräumte Erfahrung".

    Die Sprache, nicht die Lehrsätze! Sprache ist für ihn der Schlüssel zur Dechiffrierung der Welt. So sehr Hentig komplette Theorien und geschlossene Systeme ablehnt, so sehr vertraut er doch gewissen Prinzipien. Zum Beispiel: Denken ist wichtiger als Wissen, Beobachten ist wichtiger als Einordnen, Lernen ist besser als belehrt werden. Und vor allem: man muss sich für all das Zeit lassen.

    Sprecherin:

    1988 ließ sich Hartmut von Hentig vorzeitig emeritieren. Er bezog in Berlin eine Wohnung am Kurfürstendamm und nutzt dort die Zeit für Freunde, zum Schreiben und nach wie vor dafür, sich einzumischen – zum Beispiel mit Aufsehen erregenden Büchern wie „Die Schule neu denken". Er brachte eine große Gedichtsammlung heraus und die Reiseberichte „Fahrten und Gefährten." Zuletzt erschien ein langer Brief an seinen Neffen Tobias: „Warum muss ich zur Schule gehen"; es folgten das Buch über Rousseau und eines mit dem lakonischen Titel „Wissenschaft – Eine Kritik".

    Darin wendet er sich gegen den vorschnellen Glauben an die Objektivität von Wissen, vor allem gegen die – wie er immer wieder insistiert –

    Zitator:

    Flucht vor dem Denken ins Wissen.

    Sprecherin:

    Er schreibt:

    Zitator:

    Wissenschaft muss mehr sein als Beschaffung von Daten und die Feststellung von Beziehungen; Daten und Beziehungen, die kein Denken auslösen, sind nicht wert, gewusst zu werden.

    Sprecherin:

    In den vergangenen Jahren hat von Hentig auch gegen die Überschätzung von Computern in der Schule interveniert. Dabei will er nicht die Technik verteufeln. Aber er warnt davor, die Technologie zum Fetisch zu machen - so als könnte sie unsere Probleme lösen, uns gar das Denken abnehmen.

    Cut 11

    Ich denke, wir sind immer als Menschen und schon gar die neueren Gesellschaften mit dieser hochentwickelten Wissenschaft in der Gefahr, das Denken durch das Wissen zu ersetzen, das Denken ist immer riskant, das Denken ist für die meisten Leute irgendwie ein bisschen verschieden. Das Wissen, das wissenschaftlich erworbene, gilt als gesichert oder das Neueste muss sein, und dann kann ich nicht mehr nachdenken. So ist mein Urteil weggebügelt.

    In der Pädagogik wird das Wissen bei weitem überschätzt. Es ist wichtig, das wird man nie von mir hören, dass es unwichtig sei, aber weder in der Quantität noch in der Weise, in der wir es haben, nämlich einfach nachplappern bedeutet es was.

    Zweitens: Lernen gelingt bei weitem besser ohne Zwang als mit Zwang.Drittens: Lernen gelingt besser in einem Zusammenhang als in der Isolierung, das ist nicht wie die Fertigung von Autoteilen, gerade nicht - wir wissen das alle, wir wissen, dass eine Erinnerung an etwas bleibt, wenn sie mit dem oder dem, mit einer Erregung, vielleicht mit Musik, mit einem Geruch - zusammenhängt und schließlich, dieses alles kostet alle Menschen ganz unterschiedlich viel Zeit.

    Sprecher:

    Hartmut von Hentig ist fraglos der Pädagoge, der die Bildungsdebatten in Deutschland seit Anfang der 60er Jahre am nachhaltigsten beeinflusst hat. Aber er hat keine akademische Schule gegründet, das würde seinem Prinzip des Selbstdenkens widersprechen. Epigonen, die sich bequem in seinem Denkgebäude einrichten wollten, wären ihm zuwider; schon die Vorstellung des festen Gedankengebäudes macht ihn skeptisch. Lieber steigert er seine nomadische Kunst, Zelte auf Zeit zu errichten und wieder abzubauen.

    Cut 12

    Ich habe mir ja meine ganze Pädagogik zusammen gestohlen, aber mein eines großes Vorbild neben dem Sokrates ist der Rousseau, - der war aus der eigenen Biografie, aus den eigenen Qualen heraus und aus der eigenen liebevollen Wahrnehmung des Kindes Jean Jacques, an das er sich erinnert, so überzeugt, dass das anders gemacht werden könnte. Mir geht es genauso, ich bin so überzeugt. Diese Überzeugung ist so stark, dass ich denke, die muss sich doch anderen mitteilen lassen, dann werden die das auch machen und siehe da - die tun es ja auch in der Laborschule. Das ist wie eine Infektion, das von dem wenigen, was ich da vorgedacht habe, ausgegangen ist, es ist übergesprungen. Dazu gehört beim Sokrates diese wunderbare Grundfigur des Nichtwissens.

    Man muss hindurchgehen durch ein Stadium, in dem man etwas gründlich bezweifelt, über es gründlich verzweifelt, gründlich im Unklaren ist, um die Klarheit in der neuen Formel und in der neuen Form zu suchen, und dem entspricht bei dem Rousseau - wissen sie, seine Pädagogik erwächst aus der liebevollen Erkenntnis der Schwächen, die er selber hat, es ist ein große Pädagogik der Stärkung des Schwachen. Deine Schwächen sind nämlich alle zu was gut. Diese ganz Starken, diese ganz Harten, diese Gepanzerten, diese allwissenden Leute sind die entsetzlichsten.

    Aber in den Schwächen da steckt ein großes Stück unserer Menschlichkeit, wenn wir sie verarbeiten. - Wenn ich diese Schwächen liebevoll, wenn ich mich mit ihnen befreunde, will ich mal so sagen, dann kann ich etwas aus ihnen machen, dann wird das Individuum reich und groß. Und mit diesen Herren im Hinterrund, mit dem Sokrates und dem Rousseau mit zwei so großen, mit so zwei Riesen auf deren Schultern ich da stehen kann, kann ich ganz gut auch es einsam aushalten ne Weile.

    Sprecher:

    Hartmut von Hentig wird am 23. September 2005 achtzig Jahre alt. Er schreibt derzeit an der Geschichte seines Lebens. Diese Geschichte ist auch die von mehr als 40 Jahren Debatten um die Bildungsreform in Deutschland.

    Diese Debatten erleben seit den PISA-Studien eine stürmische Renaissance. Hartmut von Hentig ist darin immer noch eine der leidenschaftlichsten und frischesten Stimmen. Seine Begeisterung gilt den Kindern. Seine Idee ist, dass sie einen guten Ort zum Aufwachsen und Lernen brauchen. Sein Leiden ist, dass den meisten Schulen das immer noch nicht gelingt. Aber aus diesem Leiden entspringt seine Leidenschaft.

    Literaturhinweis:

    Die Schule neu denken.
    von
    Hentig, Hartmut von; Kartoniert
    Eine Übung in pädagogischer Vernunft. Beltz Taschenbücher Bd.119 279 S. 440g  
    2003
    Beltz, ISBN 3-407-22119-3 | KNV-Titelnr.: 11308083

    Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit.
    von
    Hentig, Hartmut von; Kartoniert
    Beck'sche Reihe Bd.1596 124 S. 19,5 cm 146g  
    2004
    Beck, ISBN 3-406-51103-1 | KNV-Titelnr.: 12868306

    Aufgeräumte Erfahrung

    Von Hentig, Hartmut von

    Hanser Verlag

    Fahrten und Gefährten.
    von
    Hentig, Hartmut von;
    Kartoniert
    Reiseberichte aus einem halben Jahrhundert 1936-1990. Beltz Taschenbücher Bd.120 406 S. 21 cm 545g  
    2002
    Beltz
    ISBN 3-407-22120-7 | KNV-Titelnr.: 10786506

    Warum muss ich zur Schule gehen?.
    von
    Hentig, Hartmut von;
    Kartoniert
    Eine Antwort an Tobias in Briefen. Beltz Taschenbücher Bd.153 102 S. 21 cm 171g  
    2004
    Beltz
    ISBN 3-407-22153-3 | KNV-Titelnr.: 12793690

    Wissenschaft.
    von
    Hentig, Hartmut von;
    Gebunden
    Eine Kritik. 297 S. 21 cm 442g  
    2003
    Hanser
    ISBN 3-446-20376-1 | KNV-Titelnr.: 11801236

    DIE ZEIT Finnland – Wenn die Schule lernt


    Wenn die Schule lernt

    Finnland ist bei Pisa wieder einmal Spitze. Warum das so ist, beschreibt Reinhard Kahl

     

    Andreas Schleicher würde seine kleinen Kinder am liebsten in Helsinki einschulen. Der internationale Pisa-Koordinator ist nicht der einzige Finnland-Fan: Ob Bundesministerin Edelgard Bulmahn, SPD, oder Karin Wolff, CDU, die Rivalin im hessischen Kultusministerium – alle haben im Norden nur Vorbildliches gefunden. Finnland könnte also der gemeinsame Nenner der zerstrittenen deutschen Bildungspolitik sein. Das Land hat bei der jüngsten Pisa-Studie noch einmal zugelegt. Spitze sind die Finnen nun nicht nur in »Literacy«, also im Verstehen von Texten, wie bereits bei Pisa 2000, sondern auch in Mathematik. Der Grund für die Steigerung sei das »durch und durch lernfähige Schulsystem«, sagt Schleicher. Um von den Finnen zu lernen, pilgern Lehrer aus Deutschland nach Norden. Zum Beispiel an die Puistolan Peruskoulu in Vantaa, einem Vorort Helsinkis in Flughafennähe. Eine ganz gewöhnliche Schule, sagen ihre Lehrer.


    Die Schule in Vantaa ist ein ideenreicher Neubau. Oberlicht gliedert den Raum. Pflanzen in Bibliothek, Computerlabor und Kantine. Also doch eine Vorzeigeschule? Nein, sagt die Lehrerin Eija Reinikainen und fragt, ob es denn in Deutschland nicht selbstverständlich sei, dass die besten Architekten Schulen bauen? Selbstverständlich ist den Finnen auch ihre Peruskoulu, die Gemeinschaftsschule, zu der in Finnland alle Kinder vom ersten bis zum neunten Schuljahr gehen. Deutsche Lehrer sind bei ihren Besuchen immer wieder verwundert, wie entspannt es da zugeht. »Wie können Schüler und Lehrer nur so freundlich miteinander umgehen?«

    Eija Reinikainen führt in ihre »kleine Klasse«, ein drittes Schuljahr. Die »kleinen Klassen« sind für Schüler mit Lernschwierigkeiten. Bei Eija Reinikainen sitzen an diesem Morgen nur vier Kinder. In der nächsten Stunde kommt noch eine Schulassistentin dazu. Eija – die Finnen sprechen sich mit Vornamen an – berichtet voller Stolz, dass sie nun langsam überflüssig wird und sich neue Aufgaben für den Rest des gerade drei Monate alten Schuljahres sucht. Denn die meisten der Kinder »mit Diagnose«, die sie mit der Einschulung bekommen hat, besuchen die 3a, »die große Klasse«, der Begriff normale Klasse wird vermieden.

    Zum Beispiel Christa und ihre Zwillingsschwester, Kinder einer depressiven Mutter. In der Vorschulklasse, die in Finnland fast alle Kinder besuchen, fielen die beiden auf. Psychologen untersuchten sie und diagnostizierten, dass sie beim Lernen wohl nie richtig mithalten werden. Christa ist zudem stark gehbehindert. »Hätte sie das Laufen so gelernt, wie Schüler in der alten Schule unterrichtet wurden, immer nur nach richtig oder falsch«, bemerkt Eija, »dann könnte sie bestimmt gar nicht laufen.« So, wie sie jetzt läuft, schwankend, aber doch sicher, hat sie ihre ganz eigene Weise gefunden. Nun kommt Christa nur noch montags zur ersten Stunde in die kleine Klasse, um aus ihrem Tagebuch vorzulesen. In der 3a liest sie inzwischen am besten. »Und Christa hatte so eine schlechte Prognose«, sagt Eija, »sie muss unbedingt Schauspielerin werden.« Selten sah man eine Lehrerin so begeistert.

    Viele Schüler bekommen einen individuellen Lehrplan

    In Finnland machen die meisten Kinder »mit Diagnose« in der dritten Klasse im Regelunterricht mit, während der Anteil deutscher Sonderschulen auf die Fünfprozentmarke zuläuft, eine in der Welt einmalige Quote. Viele finnische Kommunen haben ihre Sonderschulen aufgelöst. Aber es gibt in jeder Schule Sonderpädagogen, einen Schulkurator, eine Art Sozialarbeiter, der sich um Schüler mit Schwierigkeiten und ihre Familien kümmert, Schullaufbahnberater, Schulpsychologen und eine Schulkrankenschwester, die nicht nur Pflästerchen aufklebt, sondern auch für Kinder mit Liebeskummer da ist. Über Schüler, die Sorgen bereiten, wird bei einer wöchentlichen Konferenz mit dem jeweiligen Klassenlehrer gesprochen. Man fragt dabei nicht, wer Schuld hat, man überlegt: Was können wir tun?

    Eigene Kuratoren und Psychologen haben nur große Schulen. In Helsinki arbeiten 44 Schulpsychologen und 47 Kuratoren. Zum Vergleich: Im Berliner Bezirk Tiergarten, der etwa so viele Einwohner wie Helsinki hat, gibt es drei Schulpsychologen, die in ihren Büros die Wartelisten abarbeiten.

    Wenn Eijas Starterklasse aufgelöst ist, bekommen viele Schüler weiter Zusatzunterricht, einzeln oder in kleinen Gruppen. Insgesamt wird einem Viertel aller Schüler diese Unterstützung gegeben. Zusatzunterricht, erinnern sich ältere Lehrer, war früher ein Makel, heute ist er beliebt. Schwerbehinderten wird sogar ein »persönlicher Assistent« an die Seite gestellt.

    Pädagogisches Schlaraffenland? Keineswegs, rechnen die Spezialisten im Opetusneuvos Opetushallitus, Zentralamt für das Unterrichtswesen, vor. Finnland kennt keine Sitzenbleiber mehr, außer wenn ein Kind lange krank war. In Deutschland weist Pisa bei 38 Prozent der Schüler verzögerte Schulkarrieren aus. Das kostet Milliarden. Im 5 Millionen Einwohner zählenden Finnland gab es in den vergangenen Jahren jeweils zwischen 150 und 200 Jugendliche, die nach der 9. Klasse keinen Abschluss bekommen haben. Im 80 Millionen zählenden Deutschland bleiben jährlich über 100000 Jugendliche, etwa 10 Prozent des Jahrgangs, ohne Hauptschulabschluss. Ein Schüler in der finnischen Primarstufe ist dem Staat rund 5000 Euro wert, in Deutschland sind es 1500 Euro weniger. Später in der Oberstufe werden die finnischen Schüler billiger als die deutschen. Sie arbeiten selbstständiger und brauchen weniger Lehrer.

    Ein Geheimnis des finnischen Erfolges ist: Der Anfang ist das Entscheidende. Kinder mit Schwierigkeiten, und von denen gibt es auch beim Pisa-Sieger immer mehr, sollen früh Anschluss finden. Mit der großen Aufmerksamkeit für den Anfang hängt das zweite Erfolgsgeheimnis zusammen: die Individualisierung. Jedes Kind ist anders, lernt anders, hat andere Fehler. Je größer das Problem, umso individueller muss die Antwort der Schule sein. Viele Kinder bekommen ihren »individuellen Lehrplan«. Was als Umgang mit beeinträchtigten Kinder begann, wird langsam ein Prinzip des ganzen Systems.

    Das dritte durchaus offene finnische Geheimnis ist: Mit der Individualisierung wird die Gemeinschaft wichtiger. Eija Reinikainen spricht auch von Liebe und immer wieder von hyvinvointi, was Geborgenheit, Zugehörigkeit und Wohlfühlen bedeutet.

    Eija Reinikainen soll übrigens in zwei Jahren pensioniert werden. Sie hat bereits mit dem Schulleiter ausgemacht, als Honorarkraft weiterzumachen. Gewiss, Eija ist eine ganz besondere Lehrerin. Aber solche in ihre Schüler verliebten Lehrer finden sich in Finnland häufig. Die neuen finnischen Rahmenlehrpläne lassen ihnen Freiheit. Diese Standards setzen den Rahmen von der Vorschulklasse bis zum lukio, der Oberstufe, auf der Schüler in zwei oder auch in vier Jahren ihr Abitur machen können. Das schaffen mehr als 60 Prozent. Andere erwerben das Abitur an Berufsschulen. 72 Prozent eines Jahrgangs studieren.

    Die Schulaufsicht wurde Mitte der neunziger Jahre abgeschafft. Das Gesetz verpflichtet die Kommunen, für guten Unterricht zu sorgen. Die Schulen sind den Gemeinden verantwortlich.

    »Jeder Lehrer muss ein Forscher sein, der das Lernen der Kinder begreift«

    »Die Kinder sind wie ein Spiegel«, sagt Jorma Ojala, Professor für Erziehungswissenschaft im 250 Kilometer weiter nördlichen Jyväskylä, dem Zentrum der finnischen Erziehungswissenschaft. »Wenn die Lehrer sie nicht achten, dann achten auch die Kinder nicht ihre Lehrer.« Und der Professor fügt hinzu: »Früher dachte man, dass die Kinder uns Lehrer zu verstehen haben. Es ist aber umgekehrt. Lehrer haben die Kinder zu verstehen.« Das sind Sätze, die man überall hört. Häufig sprechen Lehrer, aber auch Eltern und Wissenschaftler von der alten Schule, von der sich Finnland seit der 1962 geplanten und Mitte der siebziger Jahre im ganzen Land begonnenen Reform längst verabschiedet hat. Ojalas Kollegin Pirjo Linnakylä, die im Konsortium der finnischen Pisa-Wissenschaftler für die Lesestudie zuständig ist, hatte noch in der Schule vor der Reform unterrichtet. »Damals war es so ähnlich wie in Deutschland« erinnert sie sich. Schüler, die nicht gut mitkamen, blieben sitzen, bekamen schlechte Noten, wurden vom Gymnasium verwiesen oder schon aus der Grundschule in die Sonderschule geschickt. »Wir kannten es ja nicht anders.« Der wichtigste Effekt der finnischen Gesamtschule ist für Professorin Linnakylä, dass nun Lehrer ihren Unterricht ändern müssen, wenn sie Schüler nicht erreichen. »Die Lehrer sind verantwortlich«, und das sagt sie mit Hochachtung, ohne Vorwurf.

    Die Universität wiederum ist für die Ausbildung der Lehrer verantwortlich. Die Hochschulen können auswählen. Sieben Bewerber kommen auf einen Studienplatz im Lehrerstudium. »Wir versuchen rauszubekommen, ob die Bewerber selbst denken«, sagt Matti Meri, Professor an der Universität Helsinki und Direktor der Abteilung für angewandte Erziehungswissenschaften. Bewerber müssen zum Beispiel einen pädagogischen Klassiker lesen und in einem ersten Essay zusammenfassen. Dann werden sie zum Interview eingeladen. »Jeder Lehrer muss ein Forscher sein«, meint Matti Meri, »der das Lernen der Kinder begreift und die Arbeit in der Schule analysiert.«

    Deshalb bekommen alle Studierenden sofort eine Patenklasse in einer Schule. Dort müssen sie ihren Praxisteil von 15 Semesterwochen absolvieren. Das ist Matti Meri noch zu wenig. Er ermuntert seine Studenten, so häufig wie möglich in ihrer Klasse zu hospitieren, dort ihren Blick zu schulen und sich selbst schon mal als Lehrer kennen zu lernen.

    Mit ihren Lehrern sind die Finnen rundum zufrieden. Ihr Beruf ist einer der meistgeachteten, wenn auch finnische Lehrer etwa ein Drittel weniger verdienen als ihre deutschen Kollegen. Ein aufregenderes Thema sind in Finnland derzeit die Schüler. Eine Umfrage ergab, dass sie mit der Schule keineswegs so zufrieden sind, wie man dachte. Das beunruhigt die Öffentlichkeit. Kirsi Lindroos, die neue Generaldirektorin des Zentralamtes für das Unterrichtswesen, hat nun das »Empowerment der Schüler« auf die Spitze ihrer Agenda gesetzt. »Dass die Schüler selbst die Schule mitentwickeln«, sagt sie, »ist jetzt unsere größte Herausforderung.« Sie lässt gute Ideen und Beispiele sammeln, aber im Alltag laufe das noch gar nicht gut«, fügt die Mutter von vier Kindern hinzu. Und worin sieht sie sonst ihre wichtigste Aufgabe? Sie zögert kurz und antwortet dann so bestimmt und unprätentiös, wie es nur Skandinavier können: »Im Wohlbefinden des ganzen Personals in den Schulen, damit es mit den Kindern immer besser und respektvoller umgeht.«

    (c) DIE ZEIT 09.12.2004 Nr.51

    Feindbild Lehrer, Feindbild Streber – DIE WELT

    Feindbild Lehrer, Feindbild Streber Unser Schulsystem erzeugt Angst vor Prüfungen, statt mit bestandenen Abschlüssen zu lockenvon Reinhard KahlNun wissen es alle: Deutschland hat ein Bildungsproblem. Auch kleine Verbesserungen im Pisa-Ranking ändern daran nichts. Deutschland hat aber auch ein Mentalitätsproblem: Häufig nämlich wird ein Flirt mit Katastrophenszenarien einer Liaison mit dem Gelingen vorgezogen. Es gibt auch einen Pisa-Masochismus. Und manchmal präsentiert die Bildungspolitik selbst das ganze Problem wie in der Nußschale: Die Pisa-Studie wird in Deutschland gleich dreimal vorgestellt. Erst gehen die Kultusminister mit den deutschen Ergebnissen an die Öffentlichkeit. Dann stellt Andreas Schleicher für die OECD die internationalen Resultate vor. Schließlich gibt Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn ihre Interpretation. Alle Versuche zu einer gemeinsamen Konferenz sind mißlungen. Wenn man sich nicht mal in der Präsentation der Diagnose einigen kann - wie schlecht ist es dann wohl erst um die Therapie bestellt?
    Es gibt einen gemeinsamen Nenner von Schulklima und Bildungsdebatte in Deutschland. Er lautet: Kleinkrieg und Ressentiment. Ein Beispiel. Zwei finnische Austauschschülerinnen in Berlin beschweren sich, daß es ihnen schwer fällt, in der deutschen Klasse zu lernen. Da sei ständig Unruhe. Mitschüler kämen eigentlich nur, um sich zu treffen. Sogar Lehrer hätten die beiden Finninnen schon gefragt, ob sie Probleme hätten, daß sie immer ganz genau mitbekommen wollten, was gerade unterrichtet wird. In Deutschland nennt man solche Schüler Streber. Ein Wort, das andere Sprachen nicht kennen oder sich als Lehnwort bei uns ausleihen. Der Streber ist ein Kollaborateur. Die beiden finnischen Schülerinnen sagen, daß sie es gewohnt sind, für ihr Lernen selbst verantwortlich zu sein und daß sie in der Schule natürlich lernen wollen. Was denn sonst?
    Schüler aus anderen Ländern fragen in Deutschland immer wieder: "Warum sind die Lehrer eigentlich eure Feinde?" Dann werden die Deutschen still. Diese Frage haben sie sich noch nie gestellt. Die latente Feindseligkeit fanden sie bisher ganz normal. Aber dann packen die deutschen Schüler aus, was sie zuweilen von ihren Lehrern zu hören bekommen. Sätze wie: "Ihr seid wie der Rotz an meinem Ärmel."
    Warum gehen in Deutschland viele Kinder zur Schule, als müßten sie zum Zahnarzt? Warum erinnert ihr Lernen zuweilen an Bulimie: Informationen sammeln, Prüfungen bedienen und sich wieder entlasten? Könnte es sein, daß deutsche Schüler häufig deshalb so widerwillig lernen, weil das Lernen ihnen eher als eine Art Fronarbeit erscheint und nicht etwa als das faszinierende Projekt des eigenen Lebens?
    Die neue Pisa-Studie gibt hier einen interessanten Hinweis. Diesmal nämlich wurde neben dem Verständnis von Texten, Mathematik und Naturwissenschaften auch die "Problemlösekompetenz" untersucht. Während in den schulbezogenen Tests die deutschen Resultate um den internationalen Mittelwert von 500 liegen, fallen die Ergebnisse beim Problemlösen deutlich besser aus. Dabei haben diese Aufgaben überwiegend eine mathematische Struktur. Nur sind sie alltagsnäher formuliert.
    Nehmen wir diese Mathe-Testaufgabe: Fritz läuft 100 Meter in 17 Sekunden. Wie lange braucht er für 1000 Meter? Dann antworten die meisten Schüler: in 170 Sekunden. Sie denken nicht darüber nach, daß man auf der mittleren Strecke nicht das gleiche Tempo hält wie bei 100 Metern. Im Alltag sind sie klüger. Warum jedoch regredieren sie in der Schule zum pawlowschen Automat? Sie lernen, intelligent zu gucken, damit der Lehrer denkt, sie beherrschten den Stoff und hätten verstanden, statt Fragen zu stellen, die nie dumm sind, wenn es die eigenen sind.
    Wir haben in unseren Schulen ein Entfremdungsproblem. Lernen wird häufig zum Mittel fürs bloße Überleben entwertet. Welche Noten brauche ich, um aufs Gymnasium zu kommen? Welche brauche ich, um auf dem Gymnasium zu bleiben? Wer das Nötigste geschafft hat, lehnt sich zurück, stellt häufig nur noch seinen Körper in der ungeliebten Anstalt ab und geht mit seiner Phantasie spazieren.
    Gute Schulen - die gibt es in Deutschland ja auch - können die Überlebensängste beruhigen. Sie vermitteln den Schülern, daß sie willkommen, ja: in der Schule zu Hause sind. Gewiß, der deutsche Schulneurotizismus hat etwas zu tun mit dem gegliederten System, in dem viele Schüler ständig abstiegsbedroht sind. Allerdings haben die deutschen Gesamtschulen, von einigen hervorragenden Beispielen abgesehen, dieses Problem auch nicht gelöst. Worauf also setzen? Auf die "Biographie" gelingender Schulen! Sie zeigen, was die Pisa-Studie weltweit nahelegt: Wenn es gelingt, die Angstintegration durch ein Lernen zu ersetzen, das Schülern Vorfreude auf sie selbst macht, steigen die Leistungen. Den Schulen ihre eigene Biographie zugestehen, damit auch Schüler dort an ihrer Biographie arbeiten; den Druck der Abschlüsse reduzieren und die Verlockung bestandener Anschlüsse steigern. Das könnte eine Abkehr vom deutschen Sonderweg in der Bildung weisen, über die jetzt zu diskutieren ist, jenseits des Bildungskrieges. Denn eines steht nun mal fest: Die Wirksamkeit der deutschen Schulen ist gering. Das betrifft die soziale Gerechtigkeit genauso wie das Kerngeschäft des Lernens.
    Reinhard Kahl, Fernsehjournalist und Autor, lebt in Hamburg
    Artikel erschienen am Mi, 8. Dezember 2004Artikel drucken © WELT.de 1995 - 2004

    taz Das System hat versagt


    Das System hat versagt

    Die dreigliedrige Schule missachtet die Individualität der Schüler. Stattdessen sollte
    sie zum Thinktank der Wissens- und Ideengesellschaft in Deutschland werden

    Fritz läuft 100 Meter in 17 Sekunden. Wie lange braucht er für 1.000 Meter? Viele deutsche Schüler antworten: 170 Sekunden. Könnte es also sein, dass die deutschen Schulen eine Dienst-nach-Vorschrift-Haltung einüben?

    Die Position der Deutschen in der Weltschulliga liegt wieder nur im Mittelfeld. Allerdings: Es gibt kleine Ausreißer. Ein Test galt der Kompetenz, Probleme zu lösen. Und siehe da: Darin sind die deutschen Schüler deutlich besser. Das gibt zu denken. Denn auch die Problemlöseaufgaben haben eine mathematische Struktur. Wie kommt es also, dass das explizite mathematische Wissen, das doch in der Schule geübt worden ist und tief verstanden sein sollte, den Schülern eher fremd bleibt - ihnen vielleicht sogar durch die Schule fremd geworden ist?

    Alle Befunde der neuen Studie laufen auf dieses Generalergebnis hinaus: Die Wirksamkeit der deutschen Schulen ist gering. Das System reproduziert soziale Ungerechtigkeit stärker als in jedem vergleichbaren Land der Welt. Bei gleichen Testwerten hat in Deutschland ein Kind von Akademikern eine dreimal größere Chance, das Abitur zu machen, als ein Kind von Facharbeitern.

    Viele dachten, das gegliederte deutsche Schulsystem, das für die Besten eine eigene Schulform hat, das Gymnasium, bringt eine starke Spitzengruppe hervor. Dass eine große "Risikogruppe" abgehängt wird, wundert niemand. Aber auch die Spitzengruppe der deutschen Schüler ist im Vergleich zu der Gruppe der jeweils Besten aus anderen Ländern schwach. Doch von Japan bis USA, von Neuseeland bis Finnland gehen die Schüler bis zum 9. oder 10. Schuljahr in eine Gemeinschaftsschule. Dann erst trennen sich die Wege. Langsam wird der Verdacht zur Gewissheit. Die deutsche Schule produziert Entfremdung. Lernen wird häufig zum Mittel fürs bloße Überleben entwertet. Welche Noten brauche ich, um aufs Gymnasium zu kommen? Welche brauche ich, um auf dem Gymnasium zu bleiben? Dieser Druck wird vom typischen deutschen Unterricht unterstützt, in dem immer zwei Dinge stören: die intelligente Frage und der Fehler.

    Beide sind ja so verwandt. Man kann nicht denken, ohne sich zu irren. Man kann nichts Neues herausfinden, ohne Fehler zu machen. Fehler zu verbieten läuft auf Denkverbot hinaus. Aber Fehlervermeidung ist das Charakteristische der deutschen Schulkultur.

    Die Hauptschwäche unseres gegliederten Systems ist nicht so sehr die Unfähigkeit, Begabungen zu erkennen und zu fördern. Die Hauptschwäche ist auch nicht, die Kinder stärker nach ihrer sozialen Herkunft zu sortieren als nach Talenten. Die Hauptschwäche des deutschen Schulsystems ist, dass es die Schulen aus der Verantwortung entlässt, sich um schwierige Schüler zu kümmern. Kinder mit Lernschwierigkeiten werden zu schwierigen, störenden und schließlich gestörten Kindern gemacht. Das ist in dem Ausmaß beispiellos im Vergleich zu allen anderen von Pisa untersuchten Ländern.

    In diesem deutschen System wird die Chance vertan, Kinder und Jugendliche in ihrer Individualität zu erkennen und anzuerkennen und ihnen die Möglichkeit zu geben, dabei etwas über ihr eigenes Lernen herauszufinden. Die frühe Einteilung der Schüler in höhere und nicht so hohe macht die Schule für viele zu einer angstbelasteten Veranstaltung. Diese Selektion vergiftet die Atmosphäre an deutschen Schulen, auch an den Gesamtschulen. Es klingt wie Hohn, wenn Schulforscher herausfinden, dass die Gesamtschulen mit ihrer internen Differenzierung in verschiedene Leistungsniveaus schärfer sortieren als das dreigliedrige System.

    Daraus folgt, dass ein bloßer Umbau unseres Schulsystems zu Gesamtschulen allein nichts verbessern würde, wenn nicht zugleich diese deutsche Neigung zum Herabstufen und Herabsetzen endlich aufgegeben würde.

    Nun argumentieren die einen, zwischen dem Pisa-Schock im Dezember 2001 und dem Test im Mai 2003 konnte sich doch gar nicht viel tun. Und es gäbe doch positive Anzeichen. Ergo, sagen sie, sind wir auf dem richtigen Weg. Das ist der Kammerton der Kultusministerkonferenz. Einige rot-grüne Politiker und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft werden das Ende des Tabus verkünden. Sie stellen das selektive Schulsystem zur Debatte. Richtig und dennoch ein Dilemma. Denn eine Reaktion auf dieses Argument wird in Deutschland die Fixierung auf den Ländervergleich Pisa-E sein, der im Sommer 2005 kommt. Dabei werden vermutlich Baden-Württemberg und Bayern wieder besser als Bremen und Nordrhein-Westfalen abschneiden.

    Das Problem: Überall, wo das Gymnasium das höchste Ziel ist, und mehr haben auch die Sozialdemokraten nicht zu bieten, wird die Verelendung der niederen Schülerkasten in Kauf genommen. Geht die Mehrheit der Kinder in höhere Schulen, wächst zugleich die Zahl derer, die bei nicht ganz glatten Leistungen das Urteil fürchten: Ihr seid die falschen Schüler auf der richtigen Schule. Der vermeintliche Erfolg, viele aufs Gymnasium gebracht zu haben, treibt die neurotisierende Seite unseres Systems noch weiter. Ich mache diesen Exkurs, um zu begründen, warum in den Südstaaten, wo das gegliederte System weniger stark zerklüftet ist und verteidigt wird, eher bessere Ergebnisse erwartet werden können. Aber wie soll die Öffentlichkeit diesen verwickelten Prozess verstehen? Wie bekommen wir endlich eine aufgeklärte und nicht mehr so ressentimentgeladene Debatte über die Schulen?

    So verhängnisvoll unser selektives System ist, so fragwürdig ist es dennoch, die Kritik daran und dessen Abschaffung jetzt ganz oben auf die Tagesordnung zu setzen. Binnen kurzem wird nur noch die große Statik des Makrosystems in einer technischen Weise diskutiert. Andere Themen müssen die öffentliche Debatte anstacheln. Zum Beispiel die Frage: Warum gehen in Deutschland viele Kinder zur Schule wie zum Zahnarzt? Warum wollen bei uns viele Jugendliche, wenn sie die Schule verlassen haben, mit Mathematik oder Literatur nie wieder etwas zu tun haben? Warum sehen wir in Ausgaben für Bildung immer noch eher Kosten als Investitionen in unsere Zukunft? Warum sind Schulen nicht die schönsten Häuser? Warum sind nicht die Besten Lehrer? Wie kann es sein, dass die Intelligenz der Schüler steigt, die Schulleistungen sinken?

    Dabei kommt man automatisch auf Fragen von Organisation und Struktur. Geht man diese direkt an, könnte hier in der bekannten Art des deutschen Bildungskrieges die Debatte enden, bevor sie richtig angefangen hat.

    Wir brauchen ein großes Brainstorming über Lernen und Bildung. Schulen müssen sich die Freiheit nehmen, das zu machen, was sie für richtig halten und verantworten können. Wir brauchen eine große Bürgerinitiative, viele Menschen, die Zeit, Ideen und Geld investieren. Schulen müssen die Zukunftswerkstätten einer Wissens- oder Ideengesellschaft werden.

    REINHARD KAHL

    taz Nr. 7533 vom 7.12.2004, Seite 12, 241 Kommentar REINHARD KAHL, taz-Debatte

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    NDR 4 Forum Pisa zum Zweiten

    Reinhard Kahl

    Pisa zum zweiten

    Oder warum deutsche Schulen nur mittelmäßig sind

    Eine Sendung von Reinhard Kahl

    Autor

    Sprecher eher informativ

    Zitator männlich
    Zitatorin
    Zitator / jugendlich, männlich:

     

     

    Autor

    Ein Grundschullehrer in Ahrensburg bei Hamburg fällt über einen seiner Schüler das Urteil:

    Zitator

    Andreas ist nicht für das Gymnasium geeignet.

    „Das ist kein Gym-Kind!"

    Autor

    Darin war sich der Lehrer ganz sicher. Kein Gym Kind. Und diese Geschichte wäre schon zu Ende, beziehungsweise eine von Hunderttausenden ähnlicher Schulgeschichten, die vom frühen Versagen, von Beschämung und Entmutigung erzählen, hätte der Schüler Andreas nicht einen Professor zum Vater. Professorenkinder kommen in Deutschland immer zum Gymnasium, fast immer - oder zur Waldorfschule. So auch Andreas. In der Waldorfschule lernte er die Geige zu lieben, begeisterte sich für Musik, spielte im Ahrensburger Jugendorchester. Die Musik entzündete ihn. Der Funke sprang vom Leiter des Orchesters auf ihn über. Aus dem schüchternen, zurückhaltenden Jungen wurde ein neugieriger. Er nahm am Wettbewerb „Jugend forscht" teil und wurde Bundessieger. Dann machte er Abitur. Mit 1,0.

    Er studierte Mathematik und Physik in Hamburg und setzte das Studium in Australien fort. Dort spezialisierte er sich auf ausgeklügelte Verfahren der Statistik. Er kam mit Forschern in Kontakt, die an einer internationalen Studie über Schülerleistungen in Mathematik und Naturwissenschaften arbeiteten, der sogenannten TIMS-Studie und erwarb sich dabei erste Meriten.

    Die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der Zusammenschluss der 30 stärksten Industrieländer, wurde auf ihn aufmerksam und engagierte ihn für ihre Abteilung, die Bildungsindikatoren errechnet. 1995, nach einer internationalen Bildungskonferenz, fuhr der neue junge Mann für Statistik im Fahrstuhl der Pariser OECD Zentrale zusammen mit Tom Alexander, damals Direktor des Education Department der Organisation.

    Zitator

    „Diese Experten reden viel, aber was passiert in Schulen eigentlich wirklich?"

    Autor

    fragte der Direktor.

    Zitator

    „Kriegt man das denn irgendwie raus?"

    Sprecher

    Am Wochenende darauf setzte sich der neue Mitarbeiter an den Computer und entwarf die Grundzüge des „Programme for International Student Assessment", kurz: Pisa.

    Autor

    Andreas heißt mit Nachnamen Schleicher. Mann nennt ihn auch Mister Pisa. Heute ist er der internationale Koordinator dieses größten Schülertests aller Zeiten.

    Sprecher

    Bei der ersten Pisa Studie hatte Schleicher im Jahr 2001 die deutschen Ergebnisse noch einmal nachrechnen lassen. Ihn erstaunte nicht, dass in Deutschland die schwächeren Schüler so schlecht abschneiden. Das, so vermutete er, sei unvermeidlich in einem gegliederten Schulsystem, das die besseren von den schlechteren Schülern trennt. Aber er konnte zunächst nicht glauben, dass auch die Leistungsspitze, so schlecht abschneidet, denn die hat in Deutschland ja anders als anderswo ihre eigene Schule. Das Gymnasium. Jetzt bei der zweiten Pisa Studie...

    Autor

    ... die Studie kommt nun alle drei Jahre...

    Sprecher

    ... jetzt also, beim zweiten Durchgang, wundert sich Schleicher nicht mehr. Im Gegenteil. Je feiner die erhobenen Daten sind und je genauer sie untersucht werden, desto deutlicher tritt für ihn das deutsche Bildungsproblem hervor

    Cut 1 Andreas Schleicher:

    Wenn sie sich die Leistungen im Bereich Naturwissenschaften ansehen, da könnte man sagen: na ja, gut, mit dem Bereich können wir leben. Aber was ist, wenn die Schüler am Ende ihrer Schulzeit sagen: ich habe jetzt Naturwissenschaften gemacht und damit will ich nie wieder etwas zu tun haben in meinem Leben? Ein großer Teil dieser Schüler ist total demotiviert, da haben wir zwar das Wissen noch vermittelt, aber die Fähigkeit, die Motivation dieser Menschen, weiter zu lernen, im Leben ihre Kompetenzen auszubauen, die haben wir unzureichend gefördert.

    Autor

    Die von Andreas Schleicher konzipierte und geleitetet Studie erschöpft sich ja keineswegs im Aufstellen einer Weltliga der Schulen, in der Deutschland der Anschluss an die Spitze trotz leichter Verbesserungen nicht gelingt. Die Pisa Studie gibt Einblicke in das, was Bildung ausmacht. Getestet werden die 15jährigen. Sind sie vom Lernen begeistert oder werden sie ausgerechnet durch die Schule gleichgültig gemacht? Können sie Probleme lösen und mit ihrem Wissen etwas anfangen, oder bedienen sie nur mehr oder weniger widerwillig den Schulbetrieb?

    Cut 2 Andreas Schleicher: 0´27

    Wie gut können junge Menschen, wenn sie in den Beruf kommen, Wissen anwenden, / kreativ neues Wissen schaffen, / inwieweit können sie Probleme lösen. /Inwieweit können wir miteinander arbeiten./ Heute kommen sie alleine nicht weiter, heute kommt es sehr darauf an, wie gut wir miteinander lernen, miteinander arbeiten können, also auf interpersonelle Kompetenzen, die wirklich viel weiter gehen als einfache Kommunikation. / Es reicht heute nicht mehr, die Leute mit Lernen zu füttern, wenn sie dann nicht weiter motiviert sind.

    Sprecher

    Deshalb untersucht Pisa auch kein Schulwissen. Die Studie ist nicht wie ein Wissenstest oder wie eine Klassenarbeit konzipiert. Sie fragt nach den Kompetenzen, nach dem Umgang mit Wissen, was können Schüler damit anfangen.

     

    Autor

    Nun bestätigt auch die zweite internationale Pisa Studie für Deutschland das enttäuschende Bild. Diesmal nahmen 41 Nationen teil. Im internationalen Vergleich sind allerdings nur 31 Industriestaaten.

     

    Sprecher

    Deutschland erreicht im Vergleich zu den Ergebnissen von vor drei Jahren geringe Verbesserungen. Sie gehen offenbar auf das Konto erhöhter Anstrengungen bei den Kindern aus den Mittelschichten. Deren Eltern wurden vom Pisa-Schock besonders irritiert. In Deutschland investieren sie inzwischen mehr als zwei Milliarden Euro jährlich in Nachhilfe.

     

    Cut 3a Prenzel 0´22

    Dieser große Abstand, der zu anderen OECD-Staaten 2000 bestand hat sich ein Stück verringert, Deutschland liegt irgendwo in diesem Mittelbereich auf dem internationalen Durchschnitt, wäre vielleicht für sich genommen auch nicht das Ergebnis wo man mit großer Begeisterung drauf reagiert aber in Relation eben zu dem Vergleich drei Jahre vorher, denke ich wo man sehen muss, da hat sich irgendetwas getan

     

     

    Autor

    Manfred Prenzel ist Koordinator der Pisa Studie in Deutschland, sozusagen der Pisa Chef. Außerdem ist er Direktor des Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften in Kiel.

    Cut 3b 0´24

    In einem Teilbereich der Mathematik gab es einen wirklich signifikanten Kompetenzzuwachs.

    Beim Lesen sind es sieben Punkte, das reicht nicht um signifikant zu werden. Die Tests, die haben einfach für sich selbst ein Zuverlässigkeitsproblem. Wenn man eine Person sozusagen zweimal hintereinander testen würde sind die Tests nicht unbedingt so, dass sie 100% genau das gleiche Ergebnis produzieren, das ist ähnlich wie beim Blutdruck messen.

     

    Autor

    Aber die deutschen Schulen bleiben zweitklassig. Ein Maßstab ist, wie gut Schulen die schwächeren Kinder fördern und wie sehr sie die leistungsstarken dazu anspornen, so gut wie möglich zu werden. In beidem sind die deutschen Schulen schwach. Vor allem ein Versagen ist skandalös:

    Sprecher

    Die deutschen Schulen entlassen fast ein Viertel der Schüler in eine neue Unterschicht von Bildungsarmen. Das sind 15jährige Schüler, die allenfalls das Niveau von Grundschülern erreichen. Sie haben Schwierigkeiten beim Lesen einfacher Texte und mit den Grundrechenarten. Die Studie nennt sie eine „Risikogruppe." Der Übergang zur Arbeitswelt ist bei diesen Schülern gefährdet. Diese Gruppe, wie gesagt, fast ein Viertel der Jugendlichen, ist im internationalen Vergleich besonders groß.

    Auch die Schere zwischen Schulen mit besseren und mit schlechteren Ergebnissen geht in Deutschland besonders weit auseinander, ohne dass die besseren deutschen Schulen, also die Gymnasien, im internationalen Vergleich hervorstechen würden.

     

    Autor

    Das vor drei Jahren schockierende Ergebnis der erst Pisa Studie wiederholt sich nun:

    In keinem vergleichbaren Land hängt der Schulerfolg der Kinder so sehr von Einkommen und Bildung der Eltern ab, wie in Deutschland. Bei gleichen Testwerten hat in Deutschland ein Kinde von Akademikern eine drei Mal größere Chance das Abitur zu machen, als ein Kind von Facharbeitern.

    Es bestätigt sich, die geringe Wirksamkeit deutscher Schulen. Dieses Ergebnis wird von einem weiteren Befund der Studie bestätigt. Denn erstmals wurde auch die sogenannte Problemlösekompetenz der Schüler untersucht. Und siehe da, darin sind die deutschen Schüler besser als in den Fächern...

    Cut 4 a Prenzel

    ... das ist ein Punktwert von 513, in dem Deutschland tatsächlich im Verhältnis zu anderen Ländern doch eine gewissen Stärke erkennen lässt.

     

    Autor

    Die größeren Fähigkeiten deutscher Schüler Probleme zu lösen, als die von Mathe Aufgaben gibt zu denken. Denn die Problemlöseaufgaben haben eine mathematische Struktur. Wie kommt es also, dass das explizit mathematische Wissen, also das, was doch in der Schule geübt worden ist und tief verstanden sein sollte, den Schüler eher fremd ist?

    Das stellt bei Pisa Chef Manfred Prenzel Fragen an die Schule:

     

    Cut 4b

    ...dass sie also an dieser Stelle möglicherweise ihre Kompetenzen gar nicht so recht wahrnimmt, sondern eigentlich, dass es Gebiete gibt, die für Schüler und Schülerinnen als tot erscheinen also man reproduziert das Wissen, das vor geraumer Zeit irgendwo von irgendwem gewonnen wurde und das muss man eben in der Schule sich Stück um Stück aneignen, reproduzieren und dann hat man was gelernt.

    Autor

    Bewirken unsere Schule eher Gleichgültig an ihren Themen als Interesse?

    Gehen Schüler in die Schule und stellen dort nur ihre Körper ab, während ihre Phantasie spazieren geht.

    Was fügt die Schule zum Lernen hinzu? Denn dieses lehrt ja die moderne Hirnforschung:

    Man kann nicht Nicht-Lernen.
    Halten wir fest:

    Sprecher

    Die Wirksamkeit der deutschen Schulen ist gering. Das System ist sozial ungerecht. Und die Schulen sind offenbar auch nicht sehr anspruchsvoll.

    Autor

    Die Ergebnisse andere Untersuchungen weisen in die gleiche Richtung. So fanden Forscher im Max-Planck-Institut für Bildungsforschung heraus, dass die Intelligenz der Schüler in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen ist, dass aber in der gleichen Zeit die Schulleistungen gesunken sind.

    Wie kommt das?

    Es muss ja wohl am Unterricht, ja an der ganzen Schulkultur liegen.

    Warum gehen in Deutschland viele Kinder zur Schule wie zum Zahnarzt?

    Warum erinnert ihr Lernen zuweilen an Bulimie: Informationen sammeln, Prüfungen bedienen und sich wieder entlasten?

    Was also ist los mit unseren Schulen?

     

    Atmo 1 Pausenhallengemurmel

    Sprecher

    Ein deutsches Gymnasium. Der Tag beginnt wenig einladend. Die Schüler warten im Foyer, sitzen auf dem Boden, spielen Karten, stehen herum.

    Die Klassenräume werden erst kurz vor Acht geöffnet

     

    Atmo 2 Chemie Unterricht – Kreidegeräusche / Sprechertext in einen wechselnden Rhythmus mit dieser Atmo bringen

    Autor

    Und dann wird der Stoff vermittelt. Schüler sollen aufnehmen, was Lehrer mit ihnen durchnehmen. Was drankommt, steht im Lehrerplan. Und der verlangt zumeist mehr, als zu schaffen ist.

    Alle haben wenig Zeit, manche haben nie Zeit, und dennoch herrscht viel Langeweile.

    Im Mittelpunkt der deutschen Tradition steht der sogenannte „fragend-entwickelnde Unterricht". Lehrer haben dabei ihr Ergebnis fest im Blick. Nach Vortrag und Tafelbild führen Lehrer mit ihren Fragen die Schüler Schritt für Schritt ans Ziel. So das Konzept. Jeder soll im gleichen Tempo den gleichen Weg in den gleichen kleinen Schritten zurücklegen.

    Die Lernenden werden als ideale Durchschnittsschüler auf durchaus hohem Niveau angesprochen. Aber werden sie auch erreicht?

    Cut 5a Elsbeth Stern:

    Dieser fragend-entwickelnden Unterricht nennt man übrigens auch "Osterhasenpädagogik", wollen sie wissen warum?

     

    Sprecher 1

    Fragt Elsbeth Stern vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.

     

    Cut 5b Elsbeth Stern:

    Der Lehrer versteckt das Wissen und die Schüler sollen es finden. So wird Wissen ja häufig in der Schule erworben. Wenn der Lehrer mir die Aufgaben vorgegeben hat und wenn dann genügend geübt wurde, dann kann man es. Aber sobald die Aufgaben von dem üblichen Format in der Schule abweichen, können viele deutsche Schüler die Aufgabe nicht mehr lösen, weil das Wissen träge und unflexibel ist, es war immer nur auf eine bestimmte Anforderung zugeschnitten.

     

    Autor

    Deutsche Lehrpläne sehen respektheischend aus. Dicke Bände. Man staunt, wenn man sie mit Lehrplänen aus Norwegen oder Schweden vergleicht, das sind Broschüren, oder das knapp 100 Seiten umfassende Heft aus Finnland, in dem alles steht, was der Staat an Ergebnissen von allen Schulstufen erwartet. Die deutschen Wälzer dokumentieren hohe und allerhöchste Ansprüche.

    Sprecher

    Anderswo hängt die Latte niedriger als bei uns. Aber fast alle bemühen sich, drüber zu springen. In Deutschland wird die Latte häufig so hoch gehängt, dass es viele vorziehen, lieber unter ihr durch zu kriechen. Und wenn man sich die deutschen Debatten um Pisa ansieht, geht es immer noch mehr um die Position der Latte, als ums Springen der Schüler.

    Cut 6a: Baumert

    Für mich ist diese Unterrichtsführung einer der Gründe, weshalb alle Lehrer/innen - und zwar aller Schulformen - immer die falschen Schüler haben.

    Sprecher

    .Jürgen Baumert, Direktor am Max Planck Institut für Bildungsforschung, sieht darin eine der Erbsünden deutscher Schulen

    Cut 6b: Baumert

    Also wenn sie das hören, ja woran liegt es, „ja ich habe zu viele unbegabte Schüler", das sagen Hauptschullehrer genauso: „ wir müssten viel mehr auf die Sonderschule überweisen". Im Gymnasium: „Ja es kommen zu viele ungeeignete Schüler aufs Gymnasium". Und dieses ist im internationalen Vergleich wirklich verblüffend. Wir haben in der Sekundarstufe, in der Mittelstufe die homogensten Lerngruppen der Welt. Wir haben eine Dreigliedrigkeit. Die (Schüler) sind leistungshomogenisiert, und trotzdem ist die Klage über zu große Heterogenität bei uns so groß wie in keinem anderen Land.

    Autor:

    Deutsche Lehrer wurden für die erste Pisa Studie gefragt, welche Schüler in ihrer Klasse wohl zu der sogenannten Risikogruppe gehörten, also zu denen, die nur die niedrigste Kompetenzstufe erreichten – oder nicht mal die. Das erschütternde Ergebnis:

    Zitator:

    Neun von 10 Schülern mit diesen eklatanten Lücken wurden von ihren Lehrern nicht als solche erkannt.

    Autor:

    Man muss sich fragen: kennen die Lehrer ihre Schüler nicht? Sind Lehrer so sehr von ihren Bildern überzeugt, die sie sich von ihrem Unterricht machen, dass die vor ihnen sitzenden Schüler übersehen?

    Sprecher

    Jürgen Baumert und seine Kollegen haben Lehrer gefragt – und zwar die vermeintliche Elite, Lehrer die an Lehrplänen mitarbeiten oder Schulbücher schreiben, ob und in welchem Alter Schüler schwierige Aufgaben lösen können oder schwierige Texte verstehen:

    Cut 7 Baumert

    Das Verblüffende war, alle Lehrerplanexperten sind der Meinung, dass die schwierigsten Aufgaben in der Hauptschule von etwa 60% gelöst werden, in der Realschule von 75 % und im Gymnasium von etwa 80 % gelöst werden und wenn man jetzt fragt, wie hoch sind denn die Lösungswahrscheinlichkeiten wirklich, dann sieht man, dass sie die leichtesten Aufgaben etwas zu schwer einschätzen, aber die schwierigsten Aufgaben grotesk unterschätzen, also von den 60 % Hauptschülern, die die schwierigen Aufgaben lösen sollen, ist die Lösungswahrscheinlichkeit 0.3 %, d.h. es gibt gar keinen Hauptschüler, der diese Aufgaben lösen kann. Und ähnlich grotesk ist die Verschätzung für die Realschüler, und von den Gymnasiasten sollen etwa 80 % die Aufgaben lösen, also sie sollen wirklich Expertenleser sein, 29 % sind es, d.h. also auch im Gymnasium gibt es eine groteske Unterschätzung der Schwierigkeiten von anspruchsvollen Leseaufgaben und unsere Frage ist: wie kommt denn das eigentlich?

    Autor

    Man wundert sich. Wir würden wohl auf die Barrikaden gehen, wenn das Gesundheitssystem Patienten, die gesund sind, für krank hält und Kranke für gesund.

    Jedenfalls haben deutsche Lehrer ein generalisiertes Bild von Schülern, das mit ihrer Wirklichkeit nicht übereinstimmt.

    Der einzelne Schüler, der dem Bild nicht entspricht, wird als Abweichender oder gar als Versager gesehen und – das weiß man aus der Psychologie: so wie man gesehen wird, so wird man dann auch. Dieser systematische Verkennungsvorgang an den deutschen Schulen lässt sich auch in nüchternen Zahlen ausdrücken.

    Sprecher

    12 % der Schüler werden am Anfang der Schulzeit zurück gestellt, weil sie nicht zu Schule passen. 24 % bleiben wenigstens einmal sitzen. In keinem anderen Land, außer in Portugal ist diese Quote so hoch.

    Autor:

    Die Hauptschwäche unseres dreigliedrigen Schulsystems ist nicht so sehr die Unfähigkeit, Begabungen zu erkennen und zu fördern. Die Hauptschwäche ist auch nicht, die Kinder stärker nach ihrer sozialen Herkunft zu sortieren als nach Talenten. Die Hauptschwäche des deutschen Schulsystems ist , dass es die Schulen aus der Verantwortung entlässt, sich um schwierige Schüler zu kümmern. Kinder mit Schwierigkeiten beim Lernen – und Lernen macht immer auch Schwierigkeiten – werden zu schwierigen, störenden und schließlich gestörten Kinder, werden zu Schulversagern gemacht. Das ist in dem Ausmaß beispiellos im Vergleich zu allen anderen von PISA untersuchten Ländern.

    In diesem deutschen System wird die Chance vertan, Kinder und Jugendliche in ihrer Individualität zu erkennen und anzuerkennen, und ihnen die Möglichkeit zu geben, dabei etwas über ihr eigenes Lernen herauszufinden – so dass gewissermaßen die Intelligenz der Schule selbst steigt. Die frühe Einteilung der Schüler in höhere und nicht so hohe, macht die Schule für viele zu einer Überlebensfrage, eine angstbelastet Veranstaltung. Diese Selektion, einwirklich belastetes Wort, aber man benutzt in der schule, diese Selektion vergiftet die Atmosphäre an deutschen Schulen, auch an den Gesamtschulen.

    So klingt es wie Hohn, wenn Schulforscher herausfinden, dass die Gesamtschulen mit ihrer internen Differenzierung in verschiedene Leistungsniveaus schärfer sortieren als das dreigliederige System.

    Sprecher

    Daraus folgt, dass ein bloßer Umbau unseres dreigliedrigen Schulsystems zu Gesamtschulen allein nichts verbessern würde, wenn nicht zugleich diese deutsche Neigung zum Herabstufen und Herabsetzen anderer endlich aufgegeben würde. Die PISA- Spitzenreiter Japan und Finnland kennen diesen deutschen Sortierwahn nicht. In Japan wie in Finnland werden alle Schüler bis zum 9. Jahrgang gemeinsam unterrichtet. In Schweden ist jede Differenzierung bis Klasse neun vom Gesetz ausdrücklich verboten. Auch die USA und Kanada kennen nur Schulen, in die bis zur 10. Klasse alle Kinder und Jugendliche gehen. Die deutsche Schulneurose...

    Zitator

    ... bin ich denn hier richtig?

    Gehöre ich Dazu?

    Bin ich nicht vielleicht doch auf der falschen Schule?

    Und was muss ich tun, damit niemand merkt, was ich nicht kann…

    Autor

    Diese deutsche Schulneurose ist in anderen Ländern weniger oder gar nicht ausgeprägt.

    2 Zitator / jugendlich, männlich:

    Ich erzähle dem Lehrer, was er erwartet, auch wenn ich es nicht verstehe. Mein Lehrer ist fest davon überzeugt, dass ich Mathematik verstehe und nur etwas faul bin. Jedenfalls gebe ich mir von Tag zu Tag Mühe, ihm diesen Eindruck zu vermitteln. Ich melde mich in der Stunde ein- bis zweimal, um etwas zu sagen.

    Sprecher

    Johann Kegler, inzwischen Student, hat als Schüler eines Berliner Gymnasiums unter der Bank seinen Alltag protokolliert. Eine ganz normale Mathematik Stunde zum Beispiel.

    2. Zitator / jugendlich, männlich:

    Was ich dann sage, habe ich mir vorher aus meinem Ordner raus geholt. Ansonsten verhalte ich mich still, höre ein bisschen Musik, lese in meinem Buch und schaue meinem Lehrer zustimmend in die Augen, wenn er mich beim Erklären seiner Aufgaben ansieht. Es ist die reine Strategiefähigkeit, mit der ich durch den Matheunterricht komme. Diesen Instinkt, zwei- bis dreimal in der Stunde fit zu sein, eignet man sich im Laufe der Jahre an.

    Sprecher

    Und die gleiche Art Unterricht sieht aus der Gegenperspektive so aus:

    Zitatorin

    Viele Jugendliche wollen überhaupt nichts lernen. Das hat mich jeden Tag neu entsetzt. Sie wollen verwertbare Abschlüsse, um „einen guten Beruf" zu bekommen, sie wollen das Abitur als zentralen Endzweck von Schule.

    Sprecher

    Das schreibt die Lehrerin Anne Fliegenhenn aus Münster:

    Zitatorin

    Dementsprechend lernen sie, was sie müssen. Neugier und Offenheit für die Anstrengung des eigenen Denkens sind ganz und gar nicht vorauszusetzen, noch nicht einmal Respekt vor Bildung überhaupt. Viele Eltern interessieren sich für die Schule nur und ausschließlich nur dann, wenn es um schlechte Noten ihrer Kinder geht. Wie soll man als junger Mensch allen Ernstes 13 Jahre Schule aushalten, wenn darin nichts Beglückendes, Befreiendes, Kräftigendes zu erwarten ist, sondern nur Mühsal auf dem Weg zum einzig erhofften und ersehnten Zertifikat, nach dem das Leben erst anfangen soll?"

    Autor

    Vermutlich werden viele Schüler der Diagnose der Lehrerin zustimmen, so wie vermutlich viele Lehrer der Beschreibung von Johann Kegler, als er noch Schüler eines Berliner Gymnasiums war, zustimmen

    Aber warum finden in unseren Schulen darüber kaum Gespräche zwischen Schülern und Lehrern statt?

    Woher kommen der Kleinkrieg, das Misstrauen, diese latente Feindlseeligkeit in unseren Schulen?

    Cut 8a: (Wolfgang Edelstein

    Ich bin immer wieder entsetzt, wirklich grundlegend entsetzt, über diese pausenlose Demütigungen, denen die Kinder ausgesetzt werden.

    Sprecher

    ...sagt ein Vater, leidgeprüft..

    Cut 8b: Edelstein

    Meine Tochter kommt aus der Schule gestern, sie ist in der zwölften Klasse. Sie kriegt ihre Geschichtsklausur zurück. Und was sagt ihr der Lehrer: Du kannst nur labern. Sie hat Stunden gesessen und diese Aufsätze geschrieben, viel Mühe und sie kriegt Vieren und er sagt: Du kannst halt nur labern. Und ich sage: soll ich ihm mal einen Brief schreiben? Und sie sagt: mach das bitte nicht, vielleicht hat er ja sogar recht. Aber ich meine, die braucht Tage um sich zu erholen

    Autor:

    Der Vater ist vom Fach: Wolfgang Edelstein, inzwischen emeritierter Direktor am Max Planck – Institut für Bildungsforschung in Berlin.

    Er hat die Dramen der Schule, hinter denen sich immer individuelle Tragödien verbergen, untersucht. Sie reimen sich immer wieder auf den gleichen misanthropischen Ton.

    1. Zitator und Zitatorin (2):

    Du gehörst nicht hierher.

    Du kannst nichts.

    Du störst.

    Autor:

    Viele Schüler und Eltern halten diesen vergifteten Urteilen nicht Stand. Schüler übernehmen sie in ihr Selbstbild. Eltern tragen es an ihre Kinder mit Strafpredigten weiter. Sie drohen und ermahnen:

    1 Zitator und Zitatorin (2) im Wechsel

    Streng dich endlich mehr an!

    Mach bloß nicht so viele Fehler.

    Stell dich nicht so an!

    Aus dir wird nie was!

    Dann musst du eben vom Gymnasium abgehen.

    Autor:

    Wolfgang Edelstein, geht gegen den Rat seiner Tochter in die Schule und spricht mit den Lehrern.

    Cut 9 Edelstein

    Ich rede mit der Mathematiklehrerin von Anna letztes Jahr. Also eine Studienrätin mit den Fächern Mathematik und Physik. Anna hat bei dieser Studienrätin konsistent immer Sechsen. Und ich meine, Sechs ist eine Unverschämtheit, weil es jede Entwicklungschance raubt, d.h. es ist intentional so gesetzt und ich rede mit ihr und frage sie, ob sie wirklich auf der Sechs beharrt. Und sie sagt: es ist meine Aufgabe unfähige Schüler auszulesen. Ich sage, wie bitte? Ich dachte, es ist ihre Aufgabe den Kindern etwas beizubringen. Darauf hat sie nicht reagiert. Ich sagte, haben sie die Ergebnisse von Timms, ...

    Sprecher:

    ....TIMMS, eine internationale Studie über die Kenntnisse der Schüler in Mathematik- und Naturwissenschaften...

    Cut 10 Edelstein

    ...darauf sagte sie: ist alles Nonsens. In Timss steht nämlich, dass die Mathematikleistungen schlechter sind, gerade bei den guten Mathematiklehrern, diesen hochprofessionellen, als bei den anderen. Ist alles Nonsens sagt sie. Und jetzt hat sie, die nicht mehr, jetzt ist sie ja in der Klasse zu einem anderen Lehrer gekommen und da hat sie eine Vier. Sie lebt seit letztem Jahr in dem Terror, dass sie diese Lehrerin in der dreizehnten Klasse noch mal kriegt.

    Sprecher:

    Wolfgang Edelstein fragt in seinen Studien danach, unter welchen Bedingungen sich das Wissen und das Erlernen von Wissen mit der eigenen Wahrnehmung verknüpft und schließlich zu einer Erfahrung sinnerfüllten Lernens führt?

    Cut 11 Edelstein

    Das heißt, ganz primitiv gesprochen, was macht mir Sinn? Und wenn sie Kinder fragen, ob das Lernen interessant ist, kriegen sie in der Regel bei ganz kleinen Kindern ganz klare Indikatoren dafür, dass sie das interessant finden, dass sie mehr lernen wollen. Und je mehr Erfahrung sie mit der Schule haben, desto mehr nimmt das ab. Ich habe mal eine Untersuchung gemacht über Lernfreude. Die Kleinen, also Erstklässler und Zweitklässler sind extrem hoch auf dieser Variable und schon in der dritten Klasse nimmt es ab, und von da an nimmt es kontinuierlich ab und es nimmt immer sprunghaft zu, wenn ein neues Fach kommt und im Laufe des ersten Jahres, in dem das Fach erfahren wird, nimmt es wieder ab.

    Autor

     

    Um die deutschen Schulprobleme zu verstehen, lohnt es sich den Unterricht nochgenauer anzusehen. Nicht wie ein Pädagoge, eher wie ein Ethnologe.

    Jürgen Baumert, der die Federführung der ersten Pisa-Studie hatte, ging ein Licht auf, als er Unterrichtsvideos aus der schon mehrfach zitierten Timms-Studie, die sich vor allem mit Mathematik befasste, aus Deutschland und Japan verglich. In Japan, das Europäer häufig für so gleichförmig halten, heißt in Mathematik die Maxime:

    Cut 12 Baumert

    Findet so viele Lösungen wie möglich. Nicht eine Lösung, sondern das Problem hat viele Lösungen, die unterschiedlich sind, jede Lösung hat Vorteile, hat Nachteile, wir wollen versuchen so viele Lösungen wie möglich zu finden. [In dieser Zeit geht dann der Lehrer durch die Reihen und guckt den Schülern über die Schulter. Also viele Lösungen, die üblicherweise kommen, hat er in seiner Unterrichtsvorbereitung stehen. Und er spricht dann mit Schülern, gibt nie Lösungen oder Ergebnisse vor, sondern regt Denken an; wenn einer nicht weiter kommt, stellt er `ne Frage, die zu der einen oder anderen Lösung führen kann, aber er formuliert das Problem eher neu, als dass er das Ergebnis mitteilt.]

    Autor

    Auch Wege, die nicht zum Ziel führen, gelten in Japans Klassen als interessant, manchmal sogar als interessanter als der routinierte, erfolgreiche Weg.

    Mathematikunterricht ist keine neutrale, rein kognitive Übung. Mathe-Unterricht ist eine Einführung in Denkweisen. Mathematik ist ein geistiges Initiationsritual.

    Wichtiger als der Stoff, wichtiger als Lehrpläne ist wie unterrichtet wird. Das zeigt der japanisch deutsche Vergleich

    [Cut 13 Jürgen Baumert

    Der deutsche Unterricht beginnt: die ersten fünf Minuten werden die Hausaufgaben kurz vorgestellt, noch mal kurz wiederholt, und dann wird ein neues Thema eingeführt, in einem sehr kurzschrittig, fragend entwickelnden Unterricht. Der Lehrer hat ein Ziel vor Augen. Und in einem sehr geschickten Verfahren bringt er die Schüler dazu, dass sie dem Beweis folgen und nach 20 Minuten beim Ergebnis sind. Das ist so wie ein Trichterverfahren, von einer sehr weiten Frage führt man es immer enger, konvergent, bis die Lösung, die Routine an der Tafel steht oder in den Heften der Schüler. Und dann folgt eine kurze Phase, wo noch eine Übungsaufgabe gemeinsam durchgerechnet wird und dann gibt's die Stillarbeit, wo sehr ähnliche, häufig nicht abgestufte Aufgaben gelöst werden, das ist eine typische deutsche Stunde.

    Sprecher:

    Dieser Unterricht stimuliert Schüler nicht zum Denken. Er ermuntert sie schon gar nicht, sich auf das unsichere Feld von Problemlösungen zu wagen.] Im typischen deutschen Unterricht, stören immer zwei Dinge.

    Zitator (1)

    Die intelligente Frage und der Fehler.

    Autor:

    Beide sind ja so verwand. Man kann nicht denken, ohne sich zu irren. Man kann nichts Neues heraus finden, ohne Fehler zu machen. Fehlerverbote laufen auf Denkverbot hinaus. Aber Fehlervermeidung ist das Charakteristische der deutschen Schulkultur.

    Die Pisa-Studie macht den Verdacht zum Befund:

    Sprecher

    Deutschen Schüler schneiden bei Aufgaben, die eigenständiges Denken verlangen schlecht ab.

    Cut 14: Baumert

    Wenn ein Individuum Fehler macht, da ist immer noch was Richtiges dran, und der versucht, seinen besten Beitrag zu geben. Das ist die eine Seite, sozusagen die Seite der Akzeptanz., was sind denn die Folgen, wenn wir dich mal ernst nehmen, kann das richtig sein und dann gibts 'nen neuen Ansatz. Bei uns geht’s eher: schnelle Korrektur durch den Lehrer oder, was noch schlimmer ist, der nächste Schüler wird gefragt, dann kommt die richtige Lösung.

    Cut 15a Stern

    Unsere Schule ist sehr leistungsorientiert, aber nicht lernorientiert;

    1. Sprecher:

    Elsbeth Stern, Forschungsgruppenleiterin am Max Planck Institut für Bildungsforschung.

    Cut 15b Stern

    Man unterscheidet in der Lehr- Lernforschung zwischen einer Leistungsorientierung, das ist: krieg ich meinen Abschluss mit guten Noten, damit ich damit Zugang zu weiteren Ausbildungsgängen habe. Lernorientiert heißt: habe ich die Mathematik wirklich verstanden. Habe ich verstanden, wie Phänomene zu erklären sind.
    Die Leistungsorientierung ist enorm bei uns, jeder Schüler tut gut daran, möglichst früh zu überlegen, wie er mit dem geringst möglichen Aufwand bestimmte Abschlüsse und Noten bekommt. Aber es interessiert überhaupt nicht, bis zum Pisa Schock, was können die Schüler, nur stimmen die Noten.

    Autor

    Das ist das große und wohl verheerende Missverständnis der deutschen Schule.

     

    Man spricht von Leistung, ja man beschwört sie, und verhindert durch eine verengte Leistungsvorstellung das Lernen. Denn Leistungen zu erbringen, heißt ja effektiv sein, fertig werden, auf das Produkt fixiert sein ...

    Sprecher:

    ... die Zeit der Leistung beginnt, wenn das Lernen und Forschen vorbei ist. Wird die Leistung zu früh verlangt, geht das auf Kosten der Zeit zum Lernen ...

    Autor:

    ...dann verführt man die Schüler so zu tun als ob sie schon verstanden hätten, was ihnen noch unklar ist. Das Dümmste und Schädlichste, was beim Lernen passieren kann.

    Macht bloss keine Fehler WDR

    © Westdeutscher Rundfunk Köln 2004

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    Ein Feature von Reinhard Kahl

    MACHT BLOSS KEINE FEHLER !

    Warum deutsche Schulen nur mittelmäßig sind

    Eine Feature von Reinhard Kahl

    1. Sprecherin

    Ein Grundschullehrer in Ahrensburg bei Hamburg fällt über einen seiner

    Schüler das Urteil:

    1. Zitator

    Andreas ist nicht für das Gymnasium geeignet.

    2. Zitatorin

    „Das ist kein Gym-Kind!"

    1. Sprecherin

    sagt man in Hamburg.

    2. Sprecher

    Darin war sich der Lehrer ganz sicher. Kein Gym Kind. Und diese

    Geschichte wäre schon zu Ende, beziehungsweise eine von

    Hunderttausenden ähnlicher Schulgeschichten, die vom frühen Versagen,

    von Beschämung und Entmutigung erzählen, hätte der Schüler Andreas

    nicht einen Professor zum Vater gehabt. Professorenkinder kommen in

    Deutschland immer zum Gymnasium, fast immer - oder zur Waldorfschule.

    So auch Andreas. In der Waldorfschule lernte er die Geige zu lieben,

    begeisterte sich für Musik, spielte im Ahrensburger Jugendorchester. Die

    Musik entzündete ihn. Der Funke sprang vom Leiter des Orchesters auf

    ihn über. Aus dem schüchternen, zurückhaltenden Jungen wurde ein

    1

    WDR 3 DISKURS, 07.12.2004

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    Ein Feature von Reinhard Kahl

    neugieriger. Er nahm am Wettbewerb „Jugend forscht" teil und wurde

    Bundessieger. Dann machte er Abitur. Mit 1,0.

    Er studierte Mathematik und Physik in Hamburg und setze das Studium in

    Australien fort. Dort spezialisierte er sich auf ausgeklügelte Verfahren der

    Statistik. Er kam mit Forschern in Kontakt, die an einer internationalen

    Studie über Schülerleistungen in Mathematik und Naturwissenschaften

    arbeiteten, der so genannten TIMS-Studie und erwarb sich dabei erste

    Meriten.

    Die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und

    Entwicklung, ein Zusammenschluss der 30 stärksten Industrieländer, wurde auf

    ihn aufmerksam und engagierte ihn für ihre Abteilung, die Bildungsindikatoren

    errechnet. 1995, nach einer internationalen Bildungskonferenz, traf der neue junge

    Mann für Statistik im Fahrstuhl der Pariser OECD Zentrale auf Tom Alexander,

    damals Direktor des Education Department der Organisation.

    1. Zitator

    „Die reden viel, aber was passiert in Schulen eigentlich wirklich?"

    1. Sprecherin

    fragte der Direktor.

    1. Zitator

    „Kriegt man das denn irgendwie raus?"

    2. Sprecher

    Am Wochenende darauf setzte sich der neue Mitarbeiter an den Computer und

    entwarf Grundzüge des „Programme for International Student Assessment", kurz:

    Pisa.

    1. Sprecherin

    2

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    Ein Feature von Reinhard Kahl

    Andreas heißt mit Nachnamen Schleicher. Mann nennt ihn auch Mister Pisa.

    Heute ist er der internationale Koordinator dieses größten Schülertests aller

    Zeiten.

    2. Sprecher

    Bei der ersten Pisa Studie hatte Schleicher im Jahr 2001 die deutschen Ergebnisse

    noch einmal nachrechnen lassen. Ihn erstaunte nicht, dass in Deutschland die

    schwächeren Schüler schlecht abschneiden. Das, so vermutete er, sei

    unvermeidlich in einem gegliederten Schulsystem, das die besseren von den

    schlechteren Schülern trennt. Aber er konnte zunächst nicht glauben, dass auch

    die Leistungsspitze, so schlecht abschneidet, denn die hat in Deutschland ja

    anders als anderswo ihre eigene Schule. Das Gymnasium. Jetzt bei der zweiten

    Pisa Studie...

    3. Sprecher

    ... die Studie kommt nun alle drei Jahre...

    2. Sprecher

    ... jetzt also, beim zweiten Durchgang, wundert sich Schleicher nicht mehr. Im

    Gegenteil. Je feiner die erhobenen Daten sind und je genauer sie untersucht

    werden, desto deutlicher tritt für ihn das deutsche Bildungsproblem hervor

    Cut 1 Andreas Schleicher:

    Wenn sie sich die Leistungen im Bereich Naturwissenschaften ansehen, da

    könnte man sagen: na ja, gut, mit dem Bereich können wir leben. Aber was ist,

    wenn die Schüler am Ende ihrer Schulzeit sagen: ich habe jetzt

    Naturwissenschaften gemacht und damit will ich nie wieder etwas zu tun haben

    in meinem Leben? Ein großer Teil dieser Schüler ist total demotiviert, da haben

    wir zwar das Wissen noch vermittelt, aber die Fähigkeit, die Motivation dieser

    Menschen, weiter zu lernen, im Leben ihre Kompetenzen auszubauen, die

    haben wir unzureichend gefördert.

    2. Sprecher

    3

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    vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden.

    Ein Feature von Reinhard Kahl

    Die von Andreas Schleicher konzipierte und geleitetet Studie erschöpft sich ja

    keineswegs im Aufstellen einer Weltliga der Schulen, in der Deutschland der

    Anschluss an die Spitze nicht gelingt. Die Pisa Studie gibt Einblicke in das, was

    Bildung ausmacht. Getestet werden die 15jährigen. Sind sie vom Lernen

    begeistert oder werden sie ausgerechnet durch die Schule gleichgültig gemacht?

    Können sie Probleme lösen und mit ihrem Wissen etwas anfangen, oder bedienen

    sie nur mehr oder weniger widerwillig den Schulbetrieb?

    Cut 2 Andreas Schleicher:

    Entscheidend ist, wie gut können junge Menschen, wenn sie in den Beruf kommen,

    Wissen anwenden, / kreativ neues Wissen schaffen, / inwieweit können sie Probleme

    lösen. /Inwieweit können wir miteinander arbeiten./ Heute kommen sie alleine nicht

    weiter, heute kommt es sehr darauf an, wie gut wir miteinander lernen, miteinander

    arbeiten können, also auf interpersonelle Kompetenzen, die wirklich viel weiter gehen

    als einfache Kommunikation. / Es reicht heute nicht mehr, die Leute mit Lernen zu

    füttern, wenn sie dann nicht weiter motiviert sind.

    2. Sprecher

    Deshalb untersucht Pisa nicht das Schulwissen. Die Studie ist nicht wie ein

    Wissenstest oder wie eine Klassenarbeit konzipiert. Sie fragt nach den

    Kompetenzen, nach dem Umgang mit Wissen.

    1. Sprecherin

    Nun bestätigt auch die zweite internationale Pisa Studie für Deutschland das

    enttäuschende Bild. Diesmal nahmen 41 Nationen teil. Im internationalen Ranking

    sind es allerdings nur 31 Industriestaaten.

    3. Sprecher

    Deutschland erreicht im Vergleich zu den Ergebnissen von vor drei Jahren geringe

    Verbesserungen. Sie gehen offenbar auf das Konto erhöhter Anstrengungen bei

    den Kindern aus den Mittelschichten. Deren Eltern wurden vom Pisa-Schock

    besonders irritiert. In Deutschland investieren sie inzwischen mehr als zwei

    Milliarden Euro jedes Jahr in Nachhilfe.

    2. Sprecher

    Aber die deutschen Schulen bleiben zweitklassig. Ein Maßstab ist, wie gut sie die

    schwächeren Kinder fördern und wie sehr sie die leistungsstarken dazu

    anspornen, so gut wie möglich zu werden. In beidem sind sie schwach. Vor allem

    ein Versagen ist skandalös:

    4

    WDR 3 DISKURS, 07.12.2004

    Macht bloß keine Fehler!

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    Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder

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    Ein Feature von Reinhard Kahl

    1. Sprecherin

    Die deutschen Schulen entlassen fast ein Viertel der Schüler in eine neue

    Unterschicht von Bildungsarmen. Das sind 15jährige Schüler, die allenfalls das

    Niveau von Grundschülern erreichen. Sie haben Schwierigkeiten beim Lesen

    einfacher Texte und mit den Grundrechenarten. Die Studie nennt sie eine

    „Risikogruppe." Der Übergang zur Arbeitswelt ist bei diesen Schülern gefährdet.

    Diese Gruppe, wie gesagt, fast ein Viertel der Jugendlichen, ist im internationalen

    Vergleich besonders groß.

    3. Sprecher

    Auch die Schere zwischen Schulen mit besseren und mit schlechteren

    Ergebnissen geht in Deutschland besonders weit auseinander, ohne dass die

    besseren deutschen Schulen, also die Gymnasien, im internationalen Vergleich

    hervorstechen würden.

    1. Sprecherin

    Die geringe Wirksamkeit deutscher Schulen zeigt sich auch in einem weiteren

    Befund der Studie:

    3. Sprecher

    In keinem vergleichbaren Land hängt der Schulerfolg der Kinder so sehr von

    Einkommen und Bildung der Eltern ab, wie in Deutschland. Bei gleichen

    Testwerten hat in Deutschland ein Kind von Akademikern eine drei Mal größere

    Chance das Abitur zu machen, als ein Kind von Facharbeitern.

    2. Sprecher

    Die Wirksamkeit der deutschen Schulen ist gering. Das System ist sozial

    ungerecht. Und die Schulen sind offenbar auch nicht sehr anspruchsvoll.

    1. Sprecherin

    In Mathematik sind die Leistungen deutscher Schüler bei Routineaufgaben

    noch über dem internationalen Durchschnitt. Sie fallen allerdings ab, sobald die

    Aufgaben anspruchsvoller werden.

    3. Sprecher

    5

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    Ein Feature von Reinhard Kahl

    Den deutschen Schüler mangelt es an Selbständigkeit, Zusammenarbeit und

    Freude am Lernen.

    2. Sprecher

    Andere Untersuchungen, etwa aus dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung,

    zeigen allerdings, dass die Intelligenz der Schüler steigt. Aber auch dort wird in

    Tests über längere Zeiträume festgestellt, dass ihre Schulleistungen sinken.

    Wie kommt das?

    Warum gehen in Deutschland viele Kinder zur Schule wie zum Zahnarzt?

    Warum erinnert ihr Lernen zuweilen an Bulimie: Informationen sammeln,

    Prüfungen bedienen und sich wieder entlasten?

    Was ist mit unseren Schulen los?

    Atmo 1 Pausenhallengemurmel

    1. Sprecherin

    Ein deutsches Gymnasium. Der Tag beginnt wenig einladend. Die

    Schüler warten im Foyer, sitzen auf dem Boden, spielen Karten,

    stehen herum.

    Die Klassenräume werden erst kurz vor Acht geöffnet

    Atmo 2 Chemie Unterricht – Kreidegeräusche / Sprechertext in einen wechselnden Rhythmus mit

    dieser Atmo bringen

    2. Sprecher

    Und dann wird der Stoff vermittelt. Schüler sollen aufnehmen, was

    Lehrer mit ihnen durchnehmen. Was drankommt, steht im Lehrplan.

    Und der verlangt zumeist mehr, als zu schaffen ist.

    Alle haben wenig Zeit, manche haben nie Zeit, und dennoch herrscht

    viel Langeweile.

    Im Mittelpunkt der deutschen Tradition steht der sogenannte „fragendentwickelnde

    Unterricht". Lehrer haben dabei ihr Ergebnis fest im

    Blick. Nach Vortrag und Tafelbild führen Lehrer mit ihren Fragen die

    Schüler Schritt für Schritt ans Ziel. So das Konzept. Jeder soll im

    gleichen Tempo den gleichen Weg in den gleichen kleinen Schritten

    zurücklegen.

    Die Lernenden werden als ideale Durchschnittsschüler auf durchaus

    hohem Niveau angesprochen. Aber werden sie auch erreicht?

    Cut 3a Elsbeth Stern:

    Diesen fragend-entwickelnden Unterricht nennt man übrigens auch

    "Osterhasenpädagogik", wollen sie wissen warum?

    1. Sprecherin

    Fragt Elsbeth Stern vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.

    Cut 3b Elsbeth Stern:

    Der Lehrer versteckt das Wissen und die Schüler sollen es finden. So wird

    Wissen ja häufig in der Schule erworben. Wenn der Lehrer mir die Aufgaben

    vorgegeben hat und wenn dann genügend geübt wurde, dann kann man es.

    Aber sobald die Aufgaben - das haben ja Pisa und Timms zutage gebracht -

    von dem üblichen Format in der Schule abweichen, können viele deutsche

    Schüler die Aufgabe nicht mehr lösen, weil das Wissen träge abgespeichert und

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    Ein Feature von Reinhard Kahl

    unflexibel ist, denn es war immer nur auf eine bestimmte Anforderung

    zugeschnitten.

    2. Sprecher

    Deutsche Lehrpläne sehen respektheischend aus. Dicke Bände. Man staunt,

    wenn man sie mit Lehrplänen aus Norwegen oder Schweden vergleicht, das

    sind Broschüren, oder das knapp 100 Seiten umfassende Heft aus Finnland, in

    dem alles steht, was der Staat an Ergebnissen von allen Schulstufen erwartet.

    Die deutschen Wälzer dokumentieren hohe und allerhöchste Ansprüche.

    3. Sprecher

    Tatsächlich ist es so, dass die detaillierten Lehrpläne hier zu Lande von Lehrern

    kaum gelesen werden. Die Pläne machen vor allem ein schlechtes Gewissen.

    Hingegen werden die verständlichen und knapp gefassten Schriften, in denen

    die erfolgreichen PISA-Staaten ihre Erwartungen an Schulen formulieren, sogar

    von den Eltern gelesen.

    2. Sprecher

    Anderswo hängt die Latte niedriger als bei uns. Aber fast alle bemühen sich,

    drüber zu springen. In Deutschland wird die Latte häufig so hoch gehängt, dass

    es viele vorziehen, lieber unter ihr durch zu kriechen. Und wenn man sich die

    deutschen Debatten um Pisa ansieht, geht es immer noch mehr um die Position

    der Latte, als um Springen der Schüler.

    Das deutsche, dreigliedrige Schulsystem rühmt sich ja seiner Differenziertheit.

    Zitatorin

    Keine Einheitsschule!

    2. Sprecher

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    Ein Feature von Reinhard Kahl

    Aber bei genauerem Hinsehen erweist es sich als starr in seinen Leitbildern.

    Individuen haben in ihrer jeweiligen Einmaligkeit von Talenten und Fehlern in

    deutschen Schulen schlechte Karten.

    Denn die Lehrer fragen hier: passt der Schüler in die Schule? Sie fragen nicht:

    passt der Unterricht zu den Schülern? Häufig unterrichten sie einfach ihre

    Fächer, nicht aber die Schüler.

    Jürgen Baumert, Direktor am Max Planck Institut für Bildungsforschung, sieht

    darin eine der Erbsünden deutscher Schulen

    Cut 4: Baumert

    Für mich ist diese Unterrichtsführung einer der Gründe, weshalb alle

    Lehrer/innen - und zwar aller Schulformen - immer die falschen Schüler

    haben. Also wenn sie das hören, ja woran liegt es, „ja ich habe zu viele

    unbegabte Schüler", das sagen Hauptschullehrer genauso: „ wir müssten viel

    mehr auf die Sonderschule überweisen". Im Gymnasium: „Ja es kommen zu

    viele ungeeignete Schüler aufs Gymnasium". Und dieses ist im internationalen

    Vergleich wirklich verblüffend. Wir haben in der Sekundarstufe, in der

    Mittelstufe die homogensten Lerngruppen der Welt. Wir haben eine

    Dreigliedrigkeit. Die (Schüler) sind leistungshomogenisiert, und trotzdem ist

    die Klage über zu große Heterogenität bei uns so groß wie in keinem anderen

    Land.

    2. Sprecher:

    Deutsche Lehrer wurden für die erste Pisa Studie gefragt, welche Schüler in

    ihrer Klasse wohl zu der sogenannten Risikogruppe gehörten, also zu denen,

    die nur die niedrigste Kompetenzstufe erreichten – oder nicht mal die. Das

    erschütternde Ergebnis:

    1. Zitator:

    Neun von 10 Schülern mit diesen eklatanten Lücken wurden von ihren Lehrern

    nicht als solche erkannt.

    2. Sprecher:

    Man muss sich fragen: kennen die Lehrer ihre Schüler nicht? Sind Lehrer so sehr

    von ihren Bildern überzeugt, die sie sich von ihrem Unterricht machen, dass sie die

    vor ihnen sitzenden Schüler übersehen?

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    3. Sprecher

    Jürgen Baumert und seine Kollegen haben Lehrer gefragt – und zwar die

    vermeintliche Elite, Lehrer die an Lehrplänen mitarbeiten oder Schulbücher

    schreiben, ob und in welchem Alter Schüler schwierige Aufgaben lösen können

    oder schwierige Texte verstehen:

    Cut 5: Baumert

    Das verblüffende war: alle Lehrplanexperten bis auf eine ganz kleine Minderheit

    sind der Meinung, dass die wesentlichen Anforderungen unabhängig von der

    Schwierigkeit bis zum Ende der achten Jahrgangsstufe erledigt sind. Sie sind

    der Meinung, dass die schwierigsten Aufgaben in der Hauptschule von etwa

    60% gelöst werden, in der Realschule von 75 % und im Gymnasium von etwa

    80 % gelöst werden und wenn man jetzt fragt, wie hoch sind denn die

    Lösungswahrscheinlichkeiten wirklich, dann sieht man, dass sie die leichtesten

    Aufgaben etwas zu schwer einschätzen, aber die schwierigsten Aufgaben

    grotesk unterschätzen, also von den 60 % Hauptschülern, die die schwierigen

    Aufgaben lösen sollen, ist die Lösungswahrscheinlichkeit 0.3 %, d.h. es gibt gar

    keinen Hauptschüler, der diese Aufgaben lösen kann. Und ähnlich grotesk ist

    die Verschätzung für die Realschüler, und von den Gymnasiasten sollen etwa

    80 % die Aufgaben lösen, also sie sollen wirklich Expertenleser sein, 29 % sind

    es, d.h. also auch im Gymnasium gibt es eine groteske Unterschätzung der

    Schwierigkeiten von anspruchsvollen Leseaufgaben und unsere Frage ist: wie

    kommt denn das eigentlich?

    2. Sprecher:

    Man wundert sich. Wir würden wohl auf die Barrikaden gehen, wenn das

    Gesundheitssystem Patienten, die gesund sind, für krank hält und Kranke für

    gesund.

    3. Sprecher:

    Jedenfalls haben deutsche Lehrer ein generalisiertes Bild von Schülern, das mit

    ihrer Wirklichkeit nicht übereinstimmt.

    Der einzelne Schüler, der dem Bild nicht entspricht, wird als Abweichender oder

    gar als Versager gesehen und – das weiß man aus der Psychologie: so wie

    man gesehen wird, so wird man dann auch. Dieser systematische

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    Ein Feature von Reinhard Kahl

    Verkennungsvorgang an den deutschen Schulen lässt sich auch in nüchternen

    Zahlen ausdrücken.

    1. Zitator

    12 Prozent der Schüler werden am Anfang der Schulzeit zurück gestellt, weil

    sie nicht zur Schule passen. 24 Prozent bleiben wenigstens einmal sitzen. In

    keinem anderen Land, außer in Portugal ist diese Quote so hoch.

    2. Sprecher:

    Die Hauptschwäche unseres dreigliedrigen Schulsystems ist nicht so sehr die

    Unfähigkeit, Begabungen zu erkennen und zu fördern. Die Hauptschwäche ist

    auch nicht, die Kinder stärker nach ihrer sozialen Herkunft zu sortieren als nach

    Talenten. Die Hauptschwäche des deutschen Schulsystems ist , dass es die

    Schulen aus der Verantwortung entlässt, sich um schwierige Schüler zu

    kümmern. Kinder mit Schwierigkeiten beim Lernen – und Lernen macht immer

    auch Schwierigkeiten – werden zu schwierigen, störenden und schließlich

    gestörten Kinder, werden zu Schulversagern gemacht. Das ist in dem Ausmaß

    beispiellos im Vergleich zu allen anderen von PISA untersuchten Ländern.

    In diesem deutschen System wird die Chance vertan, Kinder und Jugendliche in

    ihrer Individualität zu erkennen und anzuerkennen, und ihnen die Möglichkeit zu

    geben, dabei etwas über ihr eigenes Lernen herauszufinden – so dass

    gewissermaßen die Intelligenz der Schule selbst steigt. Selektion vergiftet die

    Atmosphäre in Deutschland, auch an den Gesamtschulen.

    So klingt es wie Hohn, wenn Schulforscher herausfinden, dass die

    Gesamtschulen mit ihrer internen Differenzierung in verschiedene

    Leistungsniveaus schärfer sortieren als das dreigliederige System.

    3. Sprecher

    Daraus folgt, dass ein bloßer Umbau unseres dreigliedrigen Schulsystems zu

    Gesamtschulen allein nichts verbessern würde, wenn nicht zugleich diese

    deutsche Neigung zum Herabstufen und Herabsetzen anderer zum Thema

    10

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    gemacht und tatsächlich zivilisiert würde. Die PISA- Spitzenreiter Japan und

    Finnland kennen diesen deutschen Sortier- und Selektionswahn nicht. In Japan

    wie in Finnland werden alle Schüler bis zum 9. Jahrgang gemeinsam

    unterrichtet. In Schweden ist jede Differenzierung bis Klasse neun vom Gesetz

    ausdrücklich verboten. Auch die USA und Kanada kennen nur Schulen, in die

    bis zur 10. Klasse alle Kinder und Jugendliche gehen. Die deutsche

    Schulneurose...

    Zitatorin

    ... bin ich denn hier richtig?

    Gehöre ich Dazu?

    Bin ich nicht vielleicht doch auf der falschen Schule?

    Und was muss ich tun, damit niemand merkt, was ich nicht kann…

    2. Sprecher

    Diese deutsche Schulneurose ist in anderen Ländern weniger oder gar nicht

    ausgeprägt.

    Aber bevor wir uns in Ländern, die bei Pisa gut abschneiden umsehen,

    untersuchen wir diese deutsche Schulneurose noch etwas genauer.

    3. Zitator / jugendlich, männlich:

    Ich erzähle dem Lehrer, was er erwartet, auch wenn ich es nicht verstehe. Mein

    Lehrer ist fest davon überzeugt, dass ich Mathematik verstehe und nur etwas

    faul bin. Jedenfalls gebe ich mir von Tag zu Tag Mühe, ihm diesen Eindruck zu

    vermitteln. Ich melde mich in der Stunde ein- bis zweimal, um etwas zu sagen.

    1. Sprecherin

    Johann Kegler, inzwischen Student, hat als Schüler eines Berliner

    Gymnasiums unter der Bank seinen Alltag protokolliert. Eine ganz normale

    Mathematik Stunde zum Beispiel.

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    3. Zitator / jugendlich, männlich:

    Was ich dann sage, habe ich mir vorher aus meinem Ordner raus geholt.

    Ansonsten verhalte ich mich still, höre ein bisschen Musik, lese in meinem Buch

    und schaue meinem Lehrer zustimmend in die Augen, wenn er mich beim

    Erklären seiner Aufgaben ansieht. Es ist die reine Strategiefähigkeit, mit der ich

    durch den Matheunterricht komme. Diesen Instinkt, zwei- bis dreimal in der

    Stunde fit zu sein, eignet man sich im Laufe der Jahre an.

    1. Sprecherin

    Und die gleiche Art Unterricht sieht aus der Gegenperspektive so aus:

    Zitatorin

    Viele Jugendliche wollen überhaupt nichts lernen. Das hat mich jeden Tag neu

    entsetzt. Sie wollen verwertbare Abschlüsse, um „einen guten Beruf" zu

    bekommen, sie wollen das Abitur als zentralen Endzweck von Schule.

    1. Sprecherin

    Das schreibt die Lehrerin Anne Fliegenhenn aus Münster:

    Zitatorin

    Dementsprechend lernen sie, was sie müssen. Neugier und Offenheit für die

    Anstrengung des eigenen Denkens sind ganz und gar nicht vorauszusetzen, noch

    nicht einmal Respekt vor Bildung überhaupt. Viele Eltern interessieren sich für

    die Schule nur und ausschließlich nur dann, wenn es um schlechte Noten ihrer

    Kinder geht. Wie soll man als junger Mensch allen Ernstes 13 Jahre Schule

    aushalten, wenn darin nichts Beglückendes, Befreiendes, Kräftigendes zu

    erwarten ist, sondern nur Mühsal auf dem Weg zum einzig erhofften und

    ersehnten Zertifikat, nach dem das Leben erst anfangen soll?"

    12

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    1. Sprecherin

    Vermutlich werden viele Schüler der Diagnose der Lehrerin zustimmen, so wie

    sie vermutlich der Beschreibung von Johann Kegler, als er noch Schüler eines

    Berliner Gymnasiums war, zustimmt.

    Aber warum finden in unseren Schulen darüber kaum Gespräche zwischen

    Schülern und Lehrern statt?

    Der Schüler Johann Kegler, hatte ohne Pisa und erziehungswissenschaftliche

    Forschung den Kern des Problems verstanden.

    3. Zitator / jugendlich, männlich:

    „Die beiden großen Fehler der Schule sind folgende: Erstens die Zeiteinteilung:

    Niemand kann sich in einer Dreiviertelstunde wirklich effektiv mit einer Sache

    auseinandersetzen. Wenn man sich gerade eingearbeitet hat und zu verstehen

    beginnt, klingelt es schon. Während diese erste Sache eigentlich einfach zu ändern

    wäre, ist der zweite Fehler weitaus schwerer zu beheben. Die Art und Weise, wie

    einem der Stoff vermittelt wird. Auf schmutzigen Tafeln, in kahlen Räumen mit

    kreischender Kreide. In Räumen, die schlecht belüftet sind und in denen man in Reih

    und Glied sitzt. Von Lehrern, die verkrampft oder schlaff sind und sich hinter ihren

    Notenbüchern verstecken.

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    2. Sprecher

    Mitsommernacht in Berlin. Am kleinen Wannsee feiern Jugendliche aus fast

    allen Kontinenten. Für die internationalen Gäste ist es Abschied und für einige

    Deutsche schon wieder die Rückkehr. Ein Jahr Schüleraustausch ist vorbei.

    „Stellt Euch vor," schwärmt eine Schülerin, „am ersten Tag nach den Ferien

    haben die Lehrer ihre Handynummern an uns verteilt!" Seit wenigen Tagen ist

    sie aus Stockholm zurück. Dort ging sie ein Jahr zur Schule. Auf dem Rasen

    um sie herum stehen ihre staunenden Berliner Mitschüler und etwas

    gelangweilt dreinschauende Amerikaner, Kanadier und Neuseeländer. „Was ist

    denn daran so aufregend?" fragt eine Stimme mit englischem Akzent. „Na, die

    Lehrer waren jederzeit für uns da," antwortet die Rückkehrerin, „auch

    nachmittags und sie waren irgendwie..." „Freunde," ergänzt eine amerikanische

    oder kanadische Stimme. „Ja, man konnte mit ihnen über alles reden."

    Der Himmel wird schon türkis, da fragt ein junger Amerikaner die Deutschen:

    „Warum sind die Lehrer eigentlich eure Feinde?" Jetzt wird es still. Die Berliner,

    eben noch so eloquent, suchen nach Worten. Diese Frage haben sie sich noch

    nie gestellt. Den Kleinkrieg in der Schule fanden sie bisher ganz normal. Nun

    aber bricht es aus ihnen heraus, wie bei einem Tribunal: „Ihr seid wie der Rotz

    an meinem Ärmel, hat unser Deutschlehrer mindestens einmal die Woche

    gesagt," erzürnt sich ein Abiturient von einem der vornehmsten Gymnasien der

    Stadt. „So ein arroganter Scheißkerl," kommentiert angewidert das Mädchen,

    das in Schweden war. „Uhr seid eben die blödesten Schüler auf der ganzen

    Welt, habe ich es euch nicht schon immer gesagt?" zitiert jemand seine nach

    Pisa derart auftrumpfende Mathelehrerin.

    2. Sprecher

    Woher kommen der Kleinkrieg, das Misstrauten, diese latente Feindlichkeit in

    unseren Schulen?

    Cut 5: (Wolfgang Edelstein

    Ich bin immer wieder entsetzt, wirklich grundlegend entsetzt, über diese

    pausenlose Demütigung, der die Kinder ausgesetzt werden.

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    1. Sprecherin

    ...sagt ein Vater, leidgeprüft..

    Cut 6: Edelstein

    Meine Tochter kommt aus der Schule gestern, sie ist in der zwölften Klasse.

    Sie kriegt ihre Geschichtsklausur zurück. Und was sagt ihr der Lehrer: Du

    kannst nur labern. Sie hat Stunden gesessen und diese Aufsätze

    geschrieben, viel Mühe und sie kriegt Vieren und er sagt: Du kannst halt nur

    labern. Und ich sage: soll ich ihm mal einen Brief schreiben? Und sie sagt:

    mach das bitte nicht, vielleicht hat er ja sogar recht. Aber ich meine, die

    braucht Tage um sich zu erholen

    1. Sprecherin

    Der Vater ist vom Fach: Wolfgang Edelstein, inzwischen emeritierter Direktor

    am Max Planck – Institut für Bildungsforschung in Berlin.

    Er hat die Dramen der Schule, hinter denen sich immer individuelle Tragödien

    verbergen, untersucht. Sie reimen sich immer wieder auf den gleichen

    misanthropischen Ton.

    1. Zitator und Zitatorin (2):

    Du gehörst nicht hierher.

    Du kannst nichts.

    Du störst.

    2. Sprecher:

    Viele Schüler und Eltern halten diesen vergifteten Urteilen nicht Stand.

    Schüler übernehmen sie in ihr Selbstbild. Eltern tragen es an ihre Kinder mit

    Strafpredigten weiter. Sie drohen und ermahnen:

    1 Zitator und Zitatorin (2) im Wechsel

    Streng dich endlich mehr an!

    Mach bloß nicht so viele Fehler.

    Stell dich nicht so an!

    Aus dir wird nie was!

    Dann musst du eben vom Gymnasium abgehen.

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    1. Sprecherin:

    Wolfgang Edelstein, geht gegen den Wunsch seiner Tochter in die Schule und

    spricht mit den Lehrern.

    Cut 7 Edelstein

    Ich rede mit der Mathematiklehrerin von Anna letztes Jahr. Also eine Studienrätin

    mit den Fächern Mathematik und Physik. Anna hat bei dieser Studienrätin

    konsistent immer Sechsen. Und ich meine, Sechs ist eine Unverschämtheit, weil

    es jede Entwicklungschance raubt, es ist nicht kompensierbar, d.h. es ist

    intentional so gesetzt und ich rede mit ihr und frage sie, ob sie wirklich auf der

    Sechs beharrt. Und sie sagt: es ist meine Aufgabe unfähige Schüler auszulesen.

    Ich sage, wie bitte? Ich dachte, es ist ihre Aufgabe den Kindern etwas

    beizubringen. Darauf hat sie nicht reagiert. Ich sagte, haben sie die Ergebnisse

    von Timms, ...

    3. Sprecher:

    ....TIMMS, eine internationale Studie über die Kenntnisse der Schüler in

    Mathematik- und Naturwissenschaften...

    Cut 8 Edelstein

    ...darauf sagte sie: ist alles Nonsens. In Timss steht nämlich, dass die

    Mathematikleistungen schlechter sind, gerade bei den guten

    Mathematiklehrern, diesen hochprofessionellen, als bei den anderen. Ist alles

    Nonsens sagt sie. Und jetzt hat sie, die nicht mehr, jetzt ist sie ja in der Klasse

    zu einem anderen Lehrer gekommen und da hat sie eine Vier. Sie lebt seit

    letztem Jahr in dem Terror, dass sie diese Lehrerin in der dreizehnten Klasse

    noch mal kriegt.

    1. Sprecherin:

    Wolfgang Edelstein fragt in seinen Studien danach, unter welchen Bedingungen

    sich das Wissen und das Erlernen von Wissen mit der eigenen Wahrnehmung

    verknüpft und schließlich zu einer Erfahrung sinnerfüllten Lernens führt?

    Cut 9 Edelstein

    Das heißt, ganz primitiv gesprochen, was macht mir Sinn? Und wenn sie Kinder fragen, ob das Lernen interessant

    ist, kriegen sie in der Regel bei ganz kleinen Kindern ganz klare Indikatoren dafür, dass sie das interessant finden,

    dass sie mehr lernen wollen. Und je mehr Erfahrung sie mit der Schule haben, desto mehr nimmt das ab. Ich habe

    mal eine Untersuchung gemacht über Lernfreude. Die Kleinen, also Erstklässler und Zweitklässler sind extrem

    hoch auf dieser Variable und schon in der dritten Klasse nimmt es ab, und von da an nimmt es kontinuierlich ab

    und es nimmt immer sprunghaft zu, wenn ein neues Fach kommt und im Laufe des ersten Jahres, in dem das Fach

    erfahren wird, nimmt es wieder ab.

    16

    WDR 3 DISKURS, 07.12.2004

    Macht bloß keine Fehler!

    © Westdeutscher Rundfunk Köln 2004

    Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen

    Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder

    vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden.

    Ein Feature von Reinhard Kahl

    2. Sprecher

    Um die deutschen Schulprobleme zu verstehen, lohnt es sich den Unterricht

    genauer anzusehen. Nicht wie ein Pädagoge, eher wie ein Ethnologe.

    Jürgen Baumert, der die Federführung der ersten Pisa-Studie hatte, ging ein

    Licht auf, als er Unterrichtsvideos aus Deutschland und Japan aus der schon

    mehrfach zitierten Timms-Studie verglich, die sich vor allem mit Mathematik

    befasste. In Japan, das Europäer häufig für so gleichförmig halten, heißt in

    Mathematik die Maxime:

    Cut 10 Baumert

    Findet so viele Lösungen wie möglich. Nicht eine Lösung, sondern das

    Problem hat viele Lösungen, die unterschiedlich sind, jede Lösung hat

    Vorteile, hat Nachteile, wir wollen versuchen so viele Lösungen wie möglich

    zu finden. In dieser Zeit geht dann der Lehrer durch die Reihen und guckt den

    Schülern über die Schulter. Also viele Lösungen, die üblicherweise kommen,

    hat er in seiner Unterrichtsvorbereitung stehen. Und er spricht dann mit

    Schülern, gibt nie Lösungen oder Ergebnisse vor, sondern regt Denken an;

    wenn einer nicht weiter kommt, stellt er `ne Frage, die zu der einen oder

    anderen Lösung führen kann, aber er formuliert das Problem eher neu, als

    dass er das Ergebnis mitteilt.

    3. Sprecher

    Auch Wege, die nicht zum Ziel führen, gelten in Japans Klassen als interessant,

    manchmal sogar als interessanter als der routinierte, erfolgreiche Weg.

    2. Sprecher

    Mathematikunterricht ist keine neutrale, rein kognitive Übung. Mathe-Unterricht

    ist eine Einführung in Denkweisen. Mathematik ist ein geistiges Initiationsritual.

    Wichtiger als der Stoff, wichtiger als Lehrpläne ist wie unterrichtet wird.

    Cut 11 Jürgen Baumert

    Der deutsche Unterricht beginnt: die ersten fünf Minuten werden die Hausaufgaben

    kurz vorgestellt, noch mal kurz wiederholt, und dann wird ein neues Thema

    eingeführt, in einem sehr kurzschrittig, fragend entwickelnden Unterricht. Der

    Lehrer hat ein Ziel vor Augen. Und in einem sehr geschickten Verfahren bringt er

    die Schüler dazu, dass sie dem Beweis folgen und nach 20 Minuten beim Ergebnis

    sind. Das ist so wie ein Trichterverfahren, von einer sehr weiten Frage führt man

    es immer enger, konvergent, bis die Lösung, die Routine an der Tafel steht oder in

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    WDR 3 DISKURS, 07.12.2004

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    Ein Feature von Reinhard Kahl

    den Heften der Schüler. Und dann folgt eine kurze Phase, wo noch eine

    Übungsaufgabe gemeinsam durchgerechnet wird und dann gibt's die Stillarbeit, wo

    sehr ähnliche, häufig nicht abgestufte Aufgaben gelöst werden, das ist eine

    typische deutsche Stunde.

    2. Sprecher:

    Dieser Unterricht stimuliert Schüler nicht zum Denken. Er ermuntert sie schon gar

    nicht, sich auf das unsichere Feld von Problemlösungen zu wagen. Im typischen

    deutschen Unterricht, stören immer zwei Dinge.

    1. Zitator

    Die intelligente Frage und der Fehler.

    2. Sprecher:

    Dabei sind beide so verwand. Man kann nicht denken, ohne sich zu irren. Man

    kann nichts Neues heraus finden, ohne Fehler zu machen. Fehlerverbote laufen

    auf Denkverbot hinaus. Aber Fehlervermeidung ist das Charakteristische der

    deutschen Schulkultur.

    Die Pisa-Studie macht den Verdacht zum Befund:

    3. Sprecher

    Deutsche Schüler schneiden bei Aufgaben, die eigenständiges Denken verlangen

    schlecht ab.

    Cut 12: Baumert

    Wenn ein Individuum Fehler macht, da ist immer noch was Richtiges dran, und der

    versucht, seinen besten Beitrag zu geben. Das ist die eine Seite, sozusagen die

    Seite der Akzeptanz. Sie nutzen Fehler teilweise, um sie bis zum Ende

    durchzuspielen, um dann zu gucken, was sind denn die Folgen, wenn wir dich mal

    ernst nehmen, kann das richtig sein und dann gibts 'nen neuen Ansatz. Bei uns

    geht’s eher: schnelle Korrektur durch den Lehrer oder, was noch schlimmer ist,

    der nächste Schüler wird gefragt, dann kommt die richtige Lösung, sieht man in

    Japan seltener.

    Cut 13a Stern

    Unsere Schule ist sehr leistungsorientiert, aber nicht lernorientiert;

    1. Sprecherin:

    Elsbeth Stern, Forschungsgruppenleiterin am Max Planck Institut für

    Bildungsforschung.

    Cut 13b Stern

    Man unterscheidet in der Lehr- Lernforschung zwischen einer

    Leistungsorientierung, das ist: krieg ich meinen Abschluss mit guten Noten, damit

    ich damit Zugang zu weiteren Ausbildungsgängen habe. Lernorientiert heißt: habe

    ich die Mathematik wirklich verstanden. Habe ich verstanden, wie Phänomene zu

    erklären sind.

    Die Leistungsorientierung ist enorm bei uns, jeder Schüler tut gut daran, möglichst

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    WDR 3 DISKURS, 07.12.2004

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    Ein Feature von Reinhard Kahl

    früh zu überlegen, wie er mit wenig Aufwand bestimmte Abschlüsse und Noten

    bekommt. Aber es interessiert nicht, bis zum Pisa Schock, was können die

    Schüler, nur stimmen die Noten.

    3. Sprecher:

    Das ist das große und wohl verheerende Missverständnis der deutschen Schule.

    2. Sprecher:

    Man spricht von Leistung, ja man beschwört sie, und verhindert durch eine

    verengte Leistungsvorstellung das Lernen. Denn Leistungen zu erbringen, heißt ja

    effektiv sein, fertig werden, auf das Produkt fixiert sein ...

    3. Sprecher:

    ... die Zeit der Leistung beginnt, wenn das Lernen und Forschen vorbei ist. Wird

    die Leistung zu früh verlangt, geht das auf Kosten der Zeit zum Lernen ...

    2. Sprecher:

    ...dann verführt man die Schüler so zu tun als ob sie schon verstanden hätten,

    was ihnen noch unklar ist. Das Dümmste und Schädlichste, was beim Lernen

    passieren kann. Wenn der Faden reißt, weil man aufgehört hat Fragen zu stellen

    und stattdessen intelligent klingende Antworten gibt oder lieber schweigt, was

    dann?

    3. Sprecher:

    Dann müsste man eigentlich das Tempo verlangsamen. Tatsächlich wird dann der

    Druck erhöht und man verlangt von den Schülern:

    1. Zitator

    Lernt schneller. Nutzt die Zeit.

    2. Sprecher:

    Ganz falsch sagt Deutschlands renommierteste Lernforscherin Elsbeth Stern:

    Cut 14 Stern

    Zeit haben ist ein wichtiger Faktor. Und zwar stressfreie Zeit, wo ich mich mit

    einem Problem auseinandersetzen muss. Diese Zeit sollte nicht im

    Klassenkontext sein, sondern unter kontrollierten Bedingungen nachmittags, in

    einer Ganztagsschule, wo man selber bestimmen kann, wo man noch etwas

    nachzuholen hat.

    2. Sprecher

    Und noch ein anderer Zeitfaktor ist wichtig. Man nennt ihn neuerdings

    SWR 2 Die Freude am Unterschied / Alfred Hinz

    SÜDWESTRUNDFUNK

    SWR2 Eckpunkt - Manuskriptdienst

     

    Die Freude am Unterschied

    Alfred Hinz und die Erfolgsgeheimnisse eines Schulleiters

     

    Autor: Reinhard Kahl

    Redaktion: Anja Brockert

    Regie: Hans-Peter Schnicke

    Sendung Samstag 4.12.2004:, 10.05 Uhr, SWR 2

    ___________________________________________________________________

     

    Bitte beachten Sie:

    Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.

    Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen

    Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

     

    Mitschnitte von allen Sendungen der Redaktion Eckpunkt (Montag bis Freitag 10.05 bis 10.30 Uhr) sind beim  Landesmedienzentrum Karlsruhe (LMZ) erhältlich.

     

    Bestellungen an das LMZ: Telefon 0721-8808-20, Fax 8808-69

     

    e-mail: hschneider@lmz-bw.de

    _______________________________________________________________

     

    manuskript

     

     

     

    Zitatorin:

    Wenn Du merkst, dass Du auf einem toten Pferd sitzt, dann steig ab.

     

    Sprecher:

    Mit dieser Weisheit der Dakota Indianer beginnt Alfred Hinz häufig seine Vorträge – und vor Einladungen zu Vorträgen kann sich der Leiter der Bodenseeschule kaum noch retten. Seine Schule ist ein Beispiel dafür, dass auch in Deutschland Schulen gelingen können. Die Stimmung ist gut. Lernen macht überwiegend Freude. Und die Leistungen sind sogar sehr gut. Aber Schulleiter Alfred Hinz denkt nicht dauernd an Leistung, Leistung und immer nur Leistung.

     

    Cut 1 (Hinz):

    Schule ist Stätte der Personenwerdung, Wissensvermittlung kann sie gar nicht verhindern. Wir haben keine Fächer mehr. Wir haben die Fächer abgeschafft. Kinder müssen komplexe Sachen bekommen und nicht detailliertes Wissen. Die Beziehung unter den Dingen herstellen bedeutet, Erkenntnisse vermitteln.

     

    Sprecher:

    Alfred Hinz spricht vor Eltern, die ihre Kinder an der Bodenseeschule anmelden wollen. Der Andrang ist groß. Die Grundschule ist die beliebteste weit und breit. Neben der Grundschule leitet Hinz auch die dazu gehörige Haupt- und die Werkrealschule.

     

    Cut 2 (Hinz):

    Wir werden sehen, wie den Kindern die Vernetzung gut tut. Sie wird Ihnen gut tun.  Sie werden neidisch werden auf ihre Kinder, Sie werden jammern, dass Sie nicht selbst unsere Schule besuchen dürfen und das gefällt mir eigentlich dann sehr gut.

    (Atmo)

     

    Sprecher:

    Keine Fächer. Vernetzter Unterricht. Außerdem: „Freie Stillarbeit“. Das sind gewöhnungsbedürftige Wörter. Aber die Eltern verstehen schnell, dass diese Art Schule mit ihrer Arbeitswelt viel mehr zu tun hat als die vertrauten Raster von Fächern und Lehrplan. Die Bodensee Schule vernetzt Fächer zu Handlungsfeldern - fast so wie im richtigen Leben.

     

    Cut 3 (Hinz):

    Wir haben den Tag sehr sauber strukturiert. Das ist, glaube ich, ganz wichtig. Wir haben uns von diesem elenden 45-Minuten-Raster völlig gelöst. Das kann man natürlich in einer Ganztagesschule viel leichter als in einer Halbtagsschule. Wir haben keine Glocke mehr, gar nichts.

     

    Sprecher:

    Alfred Hinz, wie gesagt, ist der Schulleiter. Wenn er im Sommer 2005 pensioniert wird, will er so richtig ausschwirren. Dann kann er die vielen Vortragseinladungen annehmen, die er jetzt noch absagen muss. Eigentlich möchte er allerdings noch gar nicht pensioniert werden. Es gibt auch, was seine Tatkraft und den wachen Geist betrifft, überhaupt keinen Grund dazu. Aber so ist es, das Beamtengesetz. Fast immer schematisch und einschränkend. Alfred Hinz allerdings ist keiner, der sich von einem Korsett einschnüren lässt.

     

    Cut 4 (Hinz):

    Ich bin ein alter Hauptschullehrer und war sehr unzufrieden mit meinem Unterricht, als ich gesehen habe, was bei der Mühe, die ich mir gegeben habe, dann herauskam. Übrigens, mit Hauptschulleuten kann man am meisten über Schulreformen reden und streiten und die machen auch mit - wobei ich anderen Menschen nicht zu nahe treten will  - aber da sind die richtigen pädagogischen Cowboys dabei. Wir haben dann gesagt: so kann es nicht weitergehen. Was müsste man ändern? Und wir haben Gott sei Dank nicht geglaubt, wir müssten das Rad neu erfinden, sondern ich bin dann wirklich durch alle  die Reformschulen gegangen, die es wirklich wert sind, dass man sie anschaut, ich habe die Leute besucht und durch menschliche Kontakte habe ich erkannt, was wir tun müssen.

     

    Sprecher:

    Die Bodensee Schule wurde 1971 gegründet. Die Gründung ging von Eltern aus. Man spricht immer noch von den Gründungseltern. An dieser Schule wurde der sogenannte „Marchtaler Plan“ entscheidend mit entwickelt. Alfred Hinz gilt als  treibende Kraft und Ideengeber dieses reformpädagogischen Konzepts, nach dem bereits mehr als 20 Schulen in Südwestdeutschland  arbeiten.

    Die Bodenseeschule, ihre pädagogisches Konzept, der Marchtaler Plan und auch Alfred Hinz selbst sind katholisch. Manch einer stutzt nun und fragt...

     

    Zitatorin:

    ...und trotzdem so progressiv?

     

    Sprecher:

    Andere fragen zurück: Warum sagen Sie „trotzdem“?  

    Egal ob die Beobachter trotzdem sagen oder es mit weil versuchen - sie staunen über die Bodensee Schule St. Martin, so der vollständige Name dieser katholischen  Schule in Friedrichshafen. 

    Wer die Schule betritt, spürt sofort: Das hier ist eine ganz andere Schule. Aber was ist anders?

    Gehen wir zuerst in die Grundschule. Vielleicht in Klasse eins? Das geht nicht, denn die wurde abgeschafft. Dafür gibt es „Familienklassen“ mit Kindern aus den Jahrgängen eins, zwei und drei. Die Kinder sitzen in der Klasse an Tischen oder am Boden, manche kauern auf dem Teppich im Flur. Dazwischen ist viel Bewegung. Auffällig ruhige Bewegung. Nichts von dem Chaos, das häufig befürchtet wird, wenn in der Schule nicht alles durchorganisiert ist. Wer nicht gerade unterwegs ist, um sich Material aus den gefüllten Regalen zu holen, den Lehrer zu fragen oder einen anderen Schüler zu suchen, der helfen könnte, der arbeitet an etwas, zählt, liest, liest vor – oder er sinniert ein wenig. Die meisten Kinder sind in Grüppchen.  

     

    Cut 5 (Schülerin):

    Dann können die Älteren den Jüngeren oft helfen. Ich bin in der Zweiten, sie ist in der Dritten, jetzt kann sie mir das ein bisschen zeigen. (Atmo)

     

    Sprecher:

    Wie sich die Kinder gegenseitig helfen, führt in dieser Klasse zu einer – man möchte sagen - wunderbaren Zeit- und Lehrervermehrung.

     

    Cut 6 (Bucher):

    Die Kinder lernen von den Kindern manchmal sogar besser als von mir. Die sind unbefangener und haben manchmal noch einen direkteren Bezug und lassen sich von Gleichaltrigen auch mehr sagen. Ich denke, das ist ein ganz großer Vorteil.

     

    Sprecher:

    Michael Bucher, der Lehrer, hat – so scheint es - die Übersicht und ist für die Kinder ansprechbar.

    Eine Grundidee dieser Schule heißt Individualisierung und Gemeinschaft. Die Individualisierung soll der Einzeigartigkeit eines jeden Kindes Rechnung tragen. Und je mehr die Kinder als Individuen wahrgenommen werden, um so deutlicher wird, dass sie aufeinander angewiesen sind, also Gemeinschaft brauchen. Individualisierung heißt nicht Vereinzelung. Und Gemeinschaft bedeutet nicht die Herrschaft des Gleichschritts. Individualisierung und Gemeinschaft sind Pole. Sie erzeugen starke Kraftfelder.

     

    Cut 7 (Hinz):

    Die Grundstruktur ist aber, dass wir kapiert haben, dass die Kinder einmalig sind, dass jedes Kind für sich einmalig ist. Da kann ich doch nicht morgens einen Einheitsbrei über die Kinder gießen und sagen „Jetzt lernt euch”, würde man im Ruhrgebiet sagen, lernt euch, sondern da muss ich fragen: Was passiert jetzt mit der kleinen Annika da hinten, die ich vielleicht gestern in dem und dem Zustand zurückgelassen habe? Was habe ich mir heute überlegt?

     

    Sprecher:

    Jedes Kind als ein Individuum zu sehen, bedeutet natürlich auch, dafür zu sorgen, dass es beim Lernen genau da anknüpfen kann, wo es tatsächlich steht. Und jedes Kind steht woanders. Manche können schon bei der Einschulung lesen. Andere werden vielleicht zwei Jahre dafür brauchen.

    Kann die übliche Pädagogik, die sagtWir müssen die Kinder erst mal auf den gleichen Stand bringen“, nicht leicht dazu führen, dass sich die einen bald langweilen, bei anderen der Faden reißt und mancher irgendwann nicht mehr mitkommt? Individualisierung ist also etwas sehr praktisches.

    Jeden Morgen haben die Kinder in der Familienklasse in den beiden ersten Stunden Freiarbeit. Da staunen manche Besucher. So viel Verschiedenheit? Kinder unterschiedlichen Alters, und jedes Kind macht etwas anderes?

    Den Besuchern wird klar: Sie glauben an die homogene Gruppe, das Ideal der deutschen Schule. Gleichaltrige Schüler und ein Lehrplan, der für alle den gleichen Unterricht vorsieht. Das Ziel ist dann die - so sagt man – „begabungsgerechte“ Schule mit einer möglichst homogen Schülerschaft. Die folgt ja auf die Grundschule, als Hauptschule, Realschule und Gymnasium und – das vergisst man leicht – als Sonderschule für fast 5 % der Kinder. Dieser hohe Anteil ist übrigens einmalig auf der Welt.

    An der Bodenseeschule hingegen glaubt man nicht mehr an den Vorteil dieser Homogenität, sondern an den großen Vorteil, ja das Glück verschieden zu sein.

    Michael Bucher, der Klassenlehrer in der Familienklasse, scheint Heterogenität regelrecht zu lieben:

     

    Cut 8 (Bucher):

    Je homogener eine Gruppe ist, desto eingeschränkter sind die Beziehungsmöglichkeiten, und je heterogener so eine Gruppe ist, gerade mit verschiedenen Jahrgängen, ergeben sich einfach viel mehr Möglichkeiten, Beziehungen aufzubauen, Beziehungen zu pflegen, und für Kinder ergibt sich ebenfalls die Möglichkeit, in Beziehungen hineinzuwachsen. Wenn die Einser, also die Erstklässler kommen, dann sind sie meistens noch ziemlich erschrocken und kommen ganz schüchtern rein, aber sie müssen gar nicht vorne dran stehen, dazu sind die Zweier und Dreier schon da, die sie an die Hand nehmen, die sie vom Bus abholen, die sie zum Bus bringen. Den Zweiern, das merkt man dann, gibt es einen richtigen Schub, wenn sie nicht mehr die Kleinen sind, sondern die Einser dazukommen, und die Dreier wachsen sowieso um zehn Zentimeter innerhalb der ersten Schulwoche, weil sie dann merken: ich bin der Große. So können sie in Verantwortung reinwachsen und Verantwortung auch richtig wahrnehmen. (Atmo)

     

    Regie: Atmo Gitarre / Gesang

     

    Sprecher:

    Nach der Freiarbeit holt Michael Bucher die Gitarre aus der Ecke.

    Danach geht es weiter mit dem sogenannten „vernetzten Unterricht“. Der Lehrer legt eine CD mit der Alpensymphonie von Richard Strauss ein.

     

    Regie:

    Atmo / Musik Alpensymphonie und Unterricht

     

    Sprecher:

    Mit dieser Musik beginnt ein Projekt im vernetzten Unterricht. Thema: Das Wasser.

     

    Regie:

    Aus der Atmo Unterrichtsgespräch bzw. O-Ton Lehrer:

    „Wie war´s denn? Der heißt Richard Strauss. Bei den ersten Sachen, die er komponiert hat, da sah er ungefähr so aus ....“

     

    Sprecher:

    Und nun zeigt der Lehrer ein Kinderfoto von Richard Strauss. Die  Schüler sind aufmerksam, fast ergriffen. Als laute die Botschaft: Seht her, das steckt in Menschen drin. Auch in euch!

     

    Regie:

    Atmo Unterrichtsgespräch, Fortsetzung:

    ...und da hat er ein Stück über einen Wanderer komponiert, der morgens ganz früh aufsteht....

     

    Sprecher:

    Von der Stimmung an der Bodenseeschule sind Besucher sofort angetan. Es herrscht eine einladende, arbeitsame und freundliche Atmosphäre. Und: Es herrscht Respekt. Und zwar gegenseitiger Respekt von Lehrern und Schülern, oder sagen wir besser: zwischen Erwachsenen und Kindern. Zum Respekt kommt die Neugier, die sich erst mal auf die anderen Menschen richtet und dann auch auf die Sachen. Im Raum steht gewissermaßen die Frage: Wer bist Du? Und die Überzeugung: Jeder ist anders; jeder ist auf andere Weise interessant und auch liebenswert, wenn auch nicht sofort und wohl auch nicht jederzeit.

    Dieses Fluidum, verschieden sein zu dürfen - wie kommt das zustande? Und wie wird das häufig befürchtete Chaos vermieden, wenn man diese Verschiedenheit nicht nur zulässt, sondern regelrecht fördert?

    Die Antwort des Schulleiters Alfred Hinz: Sich Zeit lassen und den Kindern Zeit geben. Dabei bezieht er sich  auf die italienische Pädagogin und Ärztin Maria Montessori:

     

    Cut 9 (Hinz): 
    Diese freie Stillarbeit, die die Kinder ausgiebig machen, nicht nur eine Stunde pro forma, sondern richtig zwei bis drei Stunden täglich. Montessori sagt: eine große Arbeit eines Kindes benötigt 60 Zeitminuten. Da können sie übrigens die Uhr nach stellen. Wenn ein Kind es schafft, polarisiert zu arbeiten. Polarisiert heißt: Ich habe mir jetzt ein Thema ausgesucht, z.B., ich will jetzt Brüche gleichnamig machen, ich, Ute, will jetzt Brüche gleichnamig machen, nicht der Lehrer. Polarisiert heißt: ich versenke mich in das Material. Sie können neben dem Kind singen und klatschen; wenn es gelungen ist, lässt es sich nicht abbringen und es beendet seine Arbeit. Die Beendigung der Arbeit ist fast wichtiger als der Beginn, das vergessen die Pädagogen völlig. Wie lege ich mein Material zurück? Wo sichere ich, in einer sauberen kulturellen Form, mein Ergebnis. Und wenn sie so ein Kind anschauen, ihm ins Gesicht schauen, dann sieht es - ja, es klingt altmodisch, aber: es sieht glücklich aus. Dann haben wir die Fächer im Grunde wirklich abgeschafft. Nur die Zugänge haben wir nicht abgeschafft, und das hilft natürlich epochal dabei, endlich an einem Thema zu arbeiten - das sind uralte pädagogische Überlegungen - vier bis sechs Wochen täglich an einem Stück zu arbeiten. Nur das fällt dann richtig tief in die Seele des Kindes hinein, alles andere kann sich doch gar nicht  verwurzeln

     

    Sprecher:

    Bei Schulleiter Hinz kommt jedes Gespräch über die Schule bald zu der Frage: Was ist das Kind? Vor allem: Wer ist dieses Kind, diese kleine Annika, dieser Paul?

     

    Cut 10 (Hinz):

    Wenn ich einem Kind eine Würde zuspreche - wie muss ich mit einem Menschen umgehen, von dem ich meine, er hätte eine Würde? Und ein Kind will lernen, stellen sie sich das vor, das glaubt kein Lehrer. Aber wenn ich diesen Jugendlichen fragen würde: Willst du dumm bleiben? Da würde der doch nicht sagen: Na klar. Der will lernen. Ich muss also nur sehen, wie ich das schaffe.

     

    Sprecher:

    Aber gibt es nicht auch an dieser Schule Probleme mit nachlassender Motivation? Und was macht man mit Schulversagern ?

     

    Cut 11 (Hinz):

    Wir haben keine Schulversager. Ich sage das wirklich. Wir nehmen jeden so, wie er ist. Wenn einer schwach begabt ist, dann ist er das. Wissen sie, ich habe immer einen Spiegel unter meinem Schreibtisch und wenn ich mit  den Kindern arbeite und einer sagt wieder: Herr Hinz, ich kapiere das nie, ich kann nie die Prozentrechnung lernen, mein Leben lang nicht, dann hole ich den Spiegel raus und da gucken wir rein und sagen: wer bist du? Was kannst du? Wenn ich den  jungen Menschen so annehme, dann kann er sogar die minimale Anlage der Mathematik, die noch in ihm schlummert, rausholen, weil er in seiner Würde ernstgenommen wurde.

     

    Sprecher:

    Na gut, wird manch einer denken, so kann man es mit Kindern in der Grundschule  machen. Aber wie geht es weiter? Am nächsten Morgen besuchen wir eine der Hauptschulklassen der Bodenseeschule. Es ist noch nicht 8 Uhr. Die meisten Schüler sind schon da. Sie begrüßen ihren Lehrer mit Handschlag, holen sich ihr Material und beginnen zu arbeiten, ohne Kommando oder Klingelzeichen - einfach so, als ginge es um sie selbst! Dabei sind wir in einer siebten Klasse, die Schüler in der Pubertät. Aber vom täglichen Kleinkrieg oder dem „pädagogischen Lazarett Hauptschule“ ist hier nichts zu spüren. Klassenlehrer Franz Gresser:

     

    Cut 12 (Gresser):

    Die Ruhe in der Schule kommt einfach daher, dass jeder weiß, er macht das Richtige für sich, d.h. er ist zufrieden mit dem, was er macht und er weiß, dass ich mich um ihn kümmere. Er kann ganz sicher sein, er weiß, wenn er den Strecker hoch streckt, dann komme ich zu ihm, dann weiß er ganz sicher, dass ich komme, er muss kein Jahr oder keine zehn Jahre warten, wie manche Kinder. Ich komme dann spätestens nach fünf Minuten und dann können wir uns um das Problem kümmern; das Problem ist dann auch meistens beseitigt und dann kann er wieder ganz zufrieden weiterarbeiten.

     

    Sprecher:

    Die Schule bietet eine – wie man hier sagt – vorbereitete Umgebung: den Raum, die Zeit und vor allem die Gelassenheit zum Lernen. Sie schafft viele Gelegenheiten. Sie riskiert das eigentlich Selbstverständliche: Lernen ist eine Aktivität der Schüler. Lernen ist eine Strategie, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen. Dazu ermutigen die Lehrer. Dahin zieht – oder erzieht - die gesamte Organisation des Alltags.

     
    Cut 13 (Schüler):
    Jeden Tag wäre es gut, wenn wir Deutsch und Mathematik machen würden, und ich habe jetzt schon ein bisschen Mathematik gemacht, und jetzt mache ich halt auch noch  Deutsch. // Wir müssen eigentlich nicht so das machen, was der Lehrer sagt, wir machen ja die Karten und so weit, wie wir kommen.

     

    Sprecher:

    Das pädagogische Konzept führt zum Erfolg.

                           

    Cut 14 (Hinz):

    Wir haben in Baden-Württemberg in der neunten und zehnten Klasse zentral von Stuttgart gestellte Arbeiten, vom Kultusministerium, das ist ja auch ein Gradmesser, und die schaffen wir mit einer Hand. Ich sage das so lapidar, trotz oder vielleicht gerade wegen der freien Arbeit.  Ich bin davon überzeugt, dass das eigentlich der Beweis ist, dass Schule sich ändern muss, weil wir auch bessere Schulleistungen im alten Sinne abliefern, ganz einfach.

     

    Sprecher:

    Nicht weit von Friedrichshafen, hinter den Bodenseehügeln, residiert Deutschlands feinste Schule im Schloss Salem. Der Leiter der Schulen Schloss Salem, Bernhard Bueb, gesteht, ein Fan der Bodenseeschule zu sein.

     

    Cut 15 (Bueb):

    Was ich an der Bodenseeschule erlebt habe, war Begeisterung von Kindern, Arbeitshaltung, Konzentration, alles Eigenschaften, die selten sind in der Schule. Wir blicken mit Bewunderung auf die Bodenseeschule.

    Um das aufzubauen, was die Bodenseeschule jetzt ist, müssen sie einen langen Atem haben. Das geht ja nicht innerhalb von drei Jahren, sondern es muss eine Kultur entwickelt werden, dann müssen Personen gefunden werden, die das machen, die auch zu der Mehrarbeit bereit sind. Was die da arbeiten, ist erheblich mehr als das, was ein normaler Lehrer tut, aber sie tun es mit Begeisterung, sie empfinden das nicht als Belastung.

     

    Sprecher:

    Die Bodensee Schule, die als katholische Schule zwar vom Staat finanziert wird, aber den Status einer Privatschule hat, kann sich die Lehrer aussuchen. Aber sollte das nicht überall eine Selbstverständlichkeit sein? So wie in Finnland oder Schweden? Man stelle sich irgendeine Fabrik vor, deren Mitarbeiten ihr vom Fabrikministerium und den nachgeordneten Verwaltungen zugewiesen werden! 

     

    Die Bodenseeschule ist Ganztagsschule. Arbeitsgemeinschaften etwa in  Elektrotechnik, im Holzwerken oder in der Druckerei gibt es schon am späten Vormittag. Und am Nachmittag steht dann wieder Unterricht auf dem Plan. Der Tag wird rhythmisiert. Wir gehen wieder in die 7. Hauptschulklasse mit. Dort gibt es jetzt ein Projekt im vernetzen Unterricht. Geschichte, Naturwissenschaft, auch Deutsch. Thema ist das Mittelalter.

     

    Cut 16 (Atmo und O-Ton):

    Junge: Also wir vier haben das Referat Essen und Kochen im Mittelalter gemacht Wir haben dazu auch was gekocht, so ein alltägliches Essen von so ziemlich jedem.

    Mädchen: Da gab es meistens Gemüsesuppe oder Haferschleim zum Essen.

     

    Sprecher:

    Auch Schulleiter Alfred Hinz ist vorbei gekommen. Er löffelt seine Gemüsesuppe und schwärmt vom Brot, das die Schüler gebacken haben.

     

    Cut 17 (Hinz / Interviewer):

    Also Leistung so zu präsentieren halte ich für eine hohe Kultur der Schule. Und das wiederum kann man natürlich auch am Nachmittag besser als morgens, denn die morgendlichen Stunden braucht man einfach für die Freiarbeit, die kognitiven Leistungen. Und am Nachmittag ist das natürlich auch ein Teil davon,  aber so was Erlebnisorientiertes....Ich sage immer wieder, es muss eine Balance sein zwischen kognitiver Leistung, emotionaler Leistung und sozialer Leistung. Es ist 14.45. Und die Kinder sind so frisch. Es gibt ja noch eine zweite Leistungskurve nach 14 Uhr. Also man kann auch jetzt kognitiv etwas abrufen. Aber wenn das natürlich mit dem Erleben verbunden ist – also besser kann ich es mir nicht vorstellen.

     

    Sprecher:

    Um 15.40 Uhr geht auch die Bodenseeschule zu Ende. Fast 8 Stunden Schule – ist das vielleicht nicht doch etwas viel? Was wäre, fragen wir Kinder, die gerade von der Zirkus AG kommen, wenn die Schule am Nachmittag gestrichen würde? Wäre das nicht eigentlich ganz schön?

     

    Cut 18 (Schülerinnen):

    Das wäre traurig. Das fände ich schade. Ich habe Zirkus und Schwimmen. // Ich habe Zirkus und  Hörspiele. // Also wenn man sich eine FG ausgesucht hat, die Spaß macht, ist es schön, aber wenn man sich eine FG ausgesucht hat, die keinen Spaß macht, dann geht der Nachmittag ganz lange, aber wenn es Spaß macht, dann dauert es nur wie eine Minute oder so.

     

    Sprecher:

    Man fragt sich: Wenn Schule so sein kann wie die von Alfred Hinz inspirierte Bodenseeschule, wenn die Besuchswünsche schon Wartelisten füllen und so viele Gäste begeistert sind - warum machen andere nicht längst nach? Hängt es vielleicht doch mehr als man denkt von der Persönlichkeit des Schulleiters ab? Was hindert die anderen Schulen?

     

    Cut 19 (Hinz):

    Wir kriegen Besuch aus ganz Europa und alle sind immer ganz begeistert und loben uns und das brauchen wir auch. Wir sind ja auch Menschen. Dann gehen sie heim und dann denke ich oft: warum macht ihr das nicht auch, warum fangt ihr nicht einfach an? Da muss es eine Urangst in den Menschen geben. Vielleicht, weil sie Macht verlieren. Ich glaube, das ist es. Machtverlust ist für den normalen Lehrer tödlich. Irgendwo hat der Macht. Vielleicht ist das rudimentär in uns drin. Aber man muss die Macht abgeben.

     

    Sprecher:

    Oder sollte man Macht vielleicht  anders definieren? Etwa so, wie es die Philosophin Hannah Arendt versucht hat als sie schrieb:

     

    Zitatorin:

    Macht kommt von Mögen.

     

    Sprecher:

    Damit meinte sie, dass Macht entsteht, wenn Menschen zusammen etwas wollen. Zu diesem Zusammen-Wollen gehört eine Vorstellung vom gelungenen Leben. Leben – nicht bloß Überleben. 

    Die Pädagogik des Alfed Hinz verzichtet nicht aufs risikoreiche Leben zugunsten eines vermeintlichen „sicheren“ Funktionierens. Seine Schule zeigt, dass in einer lebendigen Schule das Funktionieren gar kein Problem ist.

    Voraussetzung ist aber, dass die Schule nicht neutral sein will. Und man gerät hier ins Nachdenken: Kann Pädagogik überhaupt neutral sein? Wurde Schule vielleicht zu weit in ein Feld verschoben, auf dem nur Inhalte gelernt werden sollen, und wo nicht erzogen wird, wo man Werte eher als Privatmeinung zurück hält?

    Sollten wir „Erziehung“ nicht so verstehen wie in der Bodensee Schule: Die Kinder in eine Welt der Erwachsenen hinein ziehen, in eine Welt, die die Erwachsenen für richtig halten und für die sie einstehen?

    Alfred Hinz sagt, dass er für seine Ideen Zeugnis ablegen will. Er scheut solche Worte vor dem Mikrophon. Aber Alfred Hinz legt tatsächlich dieses Zeugnis ab: Es kommt auf die Personen an. Zumal auf die des Schulleiters. Beziehungen sind das wichtigste Geflecht, das Wurzelgeflecht der Schule.

    Auch die kognitive Psychologie erkennt, wie sehr Leistungen vom Lernmilieu abhängen. Werden die Schüler als Individuen geachtet, oder werden sie argwöhnisch beobachtet, als gelte es, die blinden Passagiere zu finden und von Bord zu weisen?   

     

    Cut 20 (Hinz)

    Die Schule, die wir machen, die ist mühsam, aber sie ist unglaublich erfolgreich und dadurch für Lehrer gleichzeitig sehr erholsam. Es scheint ja schizophren zu sein; was kann mühsam und gleichzeitig erholsam sein. Wir wissen, das gibt es ja im menschlichen Leben sehr häufig. Wenn man sich angestrengt hat, ist man nachher sehr befriedigt und wenn das nicht dabei herauskäme, würden wir das nicht schaffen. Wir machen das jetzt seit zwanzig Jahren, dass wir in dieser klaren Struktur arbeiten, und nach zwanzig Jahren kann ich sagen: das ist keine Alltagsfliege mehr.

     

    Sprecher:

    Was ist das Erfolgsgeheimnis des Schulleiters Alfred Hinz? Er antwortet darauf mit dem Hinweis auf das Offensichtliche: Es komme auf die Achtung gegenüber den Kindern an. Solche Worte sind leicht zu glatt. Er macht dann eine Pause. Die Pause ist beredeter als manche Theorie.

     

    Cut 21 (Hinz):

    Wenn wir sagen, dieses Kind hat eine Würde und zwar priori, weil es geschaffen ist und es ist ein - wie sagen die Theologen, die sagen immer was tolles, die sagen, das ist ein ”Gedanke Gottes”. Gott sei Dank gibt es auch solche Theologen. Ich kenne nur solche, die anderen nehme ich nicht wahr, und es hilft mir enorm, wenn der sagt - also da stockt mir manchmal der Atem - wenn der sagt: ”Splitter Gottes”. Wie werde ich diesem Splitter gerecht? Das hilft mir immer wieder, auch schwierige Situationen zu überstehen, denn wir haben ja auch ganz normale Kinder, die sich auch mal fehlverhalten, ist doch klar, wie wir Menschen alle. Wie gehe ich jetzt damit um, das ist der entscheidende Punkt an unserer Schule. Wir beschämen das Kind nicht, indem wir es in die Ecke stellen oder auf die Eselbank wie früher. Ich meine, da gibt es ja heute raffiniertere Methoden, da war die Eselbank ja sauber gegenüber diesen ganz fiesen Methoden. Stattdessen sagen wir deutlich, was Sache ist, und dann sagen wir: und jetzt fangen wir neu an. Sehen sie, und daher kriegen wir die Kraft.     

     

    Sprecher: 

    Seine Ideen hat Hinz nie mit Macht durchsetzen müssen. Eher mit Freude. Als ein lebendiges Beispiel dafür, dass man das, was man für richtig hält, einfach tun kann. Eher den Schutt von den Wegen räumen als völlig neue Wege planieren. 

     

    Cut 22 (Hinz):

    Im Grunde läuft es immer auf die gleiche Sache heraus: wie gehen wir mit Unterschieden um. Das ist bis ins Gymnasium, bis in die Universität  doch das Problem und dem kann man doch wirklich nicht mit dem althergebrachten, dem alleinigem Frontalunterricht gerecht werden. Das sieht jede Hausfrau ein. Warum nicht die Pädagogen? Und ich wollte auch nicht nur reden, denn das zieht einen dann so tief runter, weil man immer wieder merkt, was man denn eigentlich geändert hat. Dann muss man einmal den Sprung wagen und wirklich radikal, im Sinne von der Wurzel aus, etwas tun. Man kann nur vom Kind ausgehend alles neu beleben und man belebt sich damit selbst. Ich bin davon überzeugt, dass man sich selbst neu belebt.

     

    Sprecher:

    Die an der Bodensee Schule entwickelten Ideen werden von einer Reihe anderer katholischer Schulen praktiziert. Sie nennen sich  „Marchtaler Plan-Schulen.“ Der Namen bezieht sich auf das Kloster Marchtal, in dem sich diese Schulen regelmäßig treffen. Mehr als 20 sind es inzwischen. 

     

    Zum Schluss drängt sich dann doch noch eine Frage an Alfred Hinz auf. Was sagt denn der Bischof zu all' dem?

     

    Cut 23 (Hinz / Interviewer):

    Der ist stolz auf uns. Der hat natürlich begriffen, dass wir Religion auch nicht mehr als Fach in fünfundvierzig Minuten haben, das ist ja genauso ein Käse wie Erdkunde in fünfundvierzig Minuten, sondern dass wir vernetzen und Religion ist natürlich das Vernetzungsfach überhaupt. Er hat sofort begriffen: die machen ja hier viel mehr als in den zwei mal fünfundvierzig Minuten. Also auch kirchenpolitisch sehr klug, dass er uns das Dekretum unterschrieben hat. Also, ich als Bischof hätte das auch sofort gemacht. Ich würde noch ganz andere Sachen machen.  Was würden sie machen? Ausgehend von unserem Menschenbild müsste man eine Einheitsschule machen. Nicht eine Gesamtschule, wie sie jetzt ist, sondern eine Einheitsschule, und über die müsste man reden. Das wäre die Schule für die Demokraten und die brauchen wir. Das bedeutet ja nicht, dass man die Individualisierung unterlässt. Im Gegenteil, erst mal ist es ein Reichtum, unterschiedliche Intelligenzen, unterschiedliche Anlagen zu haben. Der Umgang mit Heterogenität, das ist das Problem von deutschen Schulen. Von daher müssten alle im Sinne der Würde des Kindes einheitlich behandelt werden. Da sind dann alle, der ganz schwach Begabte wie auch der ganz stark Begabte, gleich wertvoll.

     

    PS 12 Pisa, System & die Debatte

    PÄDAGOGIK - P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

    Pisa, das zerklüftete System und die unmögliche Debatte

    Nicht so leicht, diese Dezember-Kolumne. Pisa steht vor der Tür und geschrieben wird Anfang November. Nach etwas Grübeln riskiere ich einen Text, der vor dem 7. 12. interessant und danach hoffentlich nicht überholt sein soll. Wer darauf besteht, dass nur gelingen kann, was auch schief gehen darf, ist dieses Experiment schuldig. Also: Am 7. Dezember werden die Ergebnisse der zweiten internationalen Pisa-Studie beschert. Diesmal sind mehr als 40 Länder im Vergleich.

    Nehmen wir an, nur die Kinder der vom Pisa-Schock heftig irritierten deutschen Mittelschichten haben sich leicht verbessert, aber die Wirksamkeit der Schulen hat keinen erkennbaren Fortschritt gemacht. Nehmen wir an, Pisa bescheinigt erneut, dass unsere Schulen fast ein Viertel der Schüler in eine neue Unterschicht von Bildungsarmen entlassen. Und die Schere zwischen Schulen mit besseren und mit schlechteren Ergebnissen schließt sich hierzulande nicht, während es Länder gibt, bei denen dieser Abstand ohnehin geringer ist und weiter verringert wird. Nehmen wir ferner an, es mangelt unseren Schülern an Zusammenarbeit und Freude am Lernen. Und was, wenn sich sogar beweisen lässt, dass die Jugendlichen viel mehr Potential haben, als die Schule herausfordert? Noch die letzte Annahme, dass es den erfolgreichen »Bildungsnationen« gelingt, ihre Schulen langsam in autonome, »lernende Organisationen« zu entlassen, in denen sich Leistungen und Lernfreunde der Schüler verbessern.

    Debatte?

    Es wird einige geben, die werden argumentieren, zwischen dem Pisa-Schock im Dezember 2001 und dem Test im Mai 2003 konnte sich doch gar nicht viel tun. Und es gäbe doch positive Anzeichen. Ergo, sagen sie, sind wir auf dem richtigen Weg. Das könnte der Kammerton der KMK sein. Einige rot-grüne Politiker werden das Ende des Tabus verkünden. Sie stellen das selektive Schulsystem zur Debatte. Eine Reaktion darauf wird die Fixierung auf den Ländervergleich Pisa-E sein, der aber erst im Sommer 2005 kommt. Und was, wenn dann auch wieder Baden-Württemberg und Bayern besser als Bremen und NRW sind? Überall, wo das Gymnasium das höchste Ziel ist, und mehr haben auch die Sozialdemokraten nicht zu bieten, wird die Verelendung der niederen Schülerkasten in Kauf genommen. Geht die Mehrheit der Kinder in höhere Schulen, wächst die Zahl derer, die bei nicht ganz glatten Leistungen das Urteil fürchten müssen, ihr seid die falschen Schüler auf der richtigen Schule. Der vermeintliche Erfolg, viele aufs Gymnasium gebracht zu haben, treibt die neurotisierende Seite unseres System an. Ich mache diesen Exkurs, um zu begründen, warum in den Südstaaten, wo das gegliederte System weniger stark zerklüftet ist und verteidigt wird, eher wieder bessere Ergebnisse erwartet werden können. Aber wie soll die Öffentlichkeit diesen verwickelten Prozess verstehen? Wie bekommen wir endlich eine aufgeklärte und nicht mehr so ressentimentgeladene Debatte über die Schulen?

    Debatte!!

    So verhängnisvoll unser selektives System ist, so fragwürdig scheint es mir, seine Kritik und Abschaffung jetzt ganz oben auf die Tagesordnung zu setzen. Ich fürchte, dass wir dann binnen kurzem nur die große Statik des Makrosystems in einer technischen Weise diskutieren und dabei den Nerv des Themas abermals töten.

    Ich glaube, andere Themen müssten die öffentliche Debatte anstacheln. Zum Beispiel, warum gehen in Deutschland viele Kinder zur Schule wie zum Zahnarzt? Warum wollen bei uns viele Jugendliche, wenn sie die Schule verlassen haben, mit Mathematik oder Literatur nie wieder etwas zu tun haben? Warum sehen wir in Ausgaben für Bildung immer noch eher Kosten als Investitionen in unsere Zukunft? Warum sind Schulen nicht die schönsten Häuser? Warum ist es nicht unser Ehrgeiz, dass die Besten Lehrer werden? Wie kann es sein, dass die Intelligenz der Schüler steigt, aber ihre Schulleistungen sinken?

    Auf die Fragen von Organisation und Struktur kommt man dabei sowieso. Meine Befürchtung ist, wir könnten in der bekannten Art des deutschen Bildungskrieges bei den Organisations- und Strukturfragen schon enden und mit ihnen untergehen, bevor wir richtig angefangen haben. Damit jetzt wirklich was passiert, dürfen wir diese Debatte nicht der großen Politik und den Leitartiklern in den Medien überlassen. Wir brauchen eine etwas andere »Polytik« mit vielen Anfängen. Auch das ist ja eine Falle der System- und Strukturdebatte über das gegliederte Schulsystem, dass es die Illusion fördert, es komme auf zentrale Stellschrauben an. So suspensiert man sich vom Handeln.

    Handeln!!!

    Wir brauchen jetzt ein großes Brainstorming über Lernen und Bildung. Schulen müssen sich die Freiheit nehmen, das zu machen, was sie für richtig halten und verantworten können. Wir brauchen eine große Bürgerinitiative, viele Menschen, die Zeit, Ideen und Geld investieren. Schulen müssen die Zukunftswerkstätten einer Wissens- oder »Ideengesellschaft« werden, wie der Bundespräsident ganz richtig sagt.

    P. S.

    Georg Bernhard Shaw hat es in seiner Weise auf den Punkt gebracht. »Man gibt immer den Verhältnissen die Schuld für das, was man ist. Ich glaube nicht an die Verhältnisse. Diejenigen, die in der Welt vorankommen, gehen hin und suchen sich die Verhältnisse, die sie wollen, und wenn sie die nicht finden können, schaffen sie die selbst.«

    P.P.S.

    Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de

    DIE ZEIT 49 Der Unverzagte über Pisa Chef Manfred Prenzel

     

    Der Unverzagte

     

    In wenigen Tagen wird der Kieler Erziehungswissenschaftler Manfred Prenzel die offiziellen Ergebnisse der neuen Pisa-Studie präsentieren. Ein Porträt  Von Reinhard Kahl

     

    Er sieht heute etwas müde aus. Sonst denkt man immer, Manfred Prenzel käme frisch aus den Ferien. An diesem Nachmittag im November wird er gleich auf einem Podium in Lübeck Platz nehmen. Zuvor hat er das Manuskript der neuen Pisa-Studie (Programme for International Student Assessment) beim Verlag abgegeben. Pisa 2003 heißt sie, weil die Daten im Jahr 2003 erhoben wurden. Sie soll zeigen, was sich seit der Vorgängerstudie (Pisa 2000), die Deutschlands Schulen ein schlechtes Zeugnis ausstellte, verändert hat. 400 Seiten mit Tabellen und Interpretationen darüber, was die deutschen 15-Jähringen können - im Vergleich zu den Gleichaltrigen aus mehr als 40 Ländern. Der innerdeutsche Vergleich der Bundesländer folgt im kommenden Sommer. In der zweiten Runde  des größten Schultests aller Zeiten hat Manfred Prenzel die Stafette von Jürgen Baumert, dem bekanntesten deutschen Bildungsforscher, übernommen. Nun ist er »Mr. Pisa«, Koordinator des Konsortiums der deutschen Pisa-Wissenschaftler.

    Ein wenig graust ihm davor, dass die Öffentlichkeit jetzt wieder nur interessiert, wo wir in der Weltliga der Schulen stehen, seit die deutsche Presseagentur am Wochenendeerste Daten aus einer Rohfassung der Studie veröffentlicht hat. Dabei ist Prenzel anderes wichtiger: Wie lernen unsere Kinder? Und warum lernen sie in Deutschland eher unfroh und häufig schlecht? Auf den 400 Seiten wird man manche Antwort finden, aber wie er andeutet, stellen sich ihm vor allem neue Fragen. Welche? Darüber will er nicht reden. Denn eigentlich sind die Ergebnisse bis zum 7. Dezember top secret. Und Prenzel wird sich dran halten.

     

    Manfred Prenzel ist nach Lübeck zur Abschlussveranstaltung eines Modellversuchs zur Qualitätsverbesserung in Schulen gekommen. Vertreter aus Ministerien und Lehrer sind angereist. Vor dem abendlichen Entenessen steht eine Podiumsdiskussion auf dem Programm. Da wird kritisiert, dass die Keller der Ministerien voll mit den Abschlussberichten von Versuchen seien, die dann doch nie Modell geworden sind. 90 Minuten Grundsatzdebatte. Das Thema der Diskussion ist bezeichnend: "Mit dem Mut der Verzweifelung - Zur Reformsituation in Deutschland."

    Manfred Prenzel nimmt die Brille ab, reibt sich die Augen und blickt auf den Tisch, als wolle er sagen, ich kann das nicht mehr hören. Aber dann antwortet er mit leiser Stimme und räumt ein, ja, so waren viele Modellversuche, überidealisiert und wirkungsschwach, wie unsere Schulen. Seit einiger Zeit, fährt er fort, suchen wir nicht mehr den Stein der Weisen, auf dem die Wahrheit für alle steht, sondern bauen Netzwerke mit Schulen, die tatsächlich ihren Unterricht verändern und dabei selbst lernen.

    Inmitten der ins Grundsätzliche verliebten Bildungsveteranen provoziert  Prenzel, schon weil er große Worte meidet, zumal die moralisierenden. Er fragt: »Kann man denn mit den Kategorien Mut oder Verzweifelung begreifen, ob Schüler in der Schule lernen?« Er möchte auf die Schüler und aufs Lernen zu sprechen kommen. An diesem Nachmittag vergeblich. So mahnt er die an ihren Befindlichkeiten interessierten Schul- und Kultusbeamten: »Fröhlich und unverzagt zu sein, gehört zur Professionalität!« Er empfiehlt ihnen die Pfadfinder als Vorbild und setzt gegen die deutsche Schwere die Mentalität der bei Pisa erfolgreichen Länder. Sie stellen das Lernen und den Unterricht ins Zentrum und sind dabei entspannter und fröhlicher.

    Manfred Prenzel ist Pragmatiker. Allerdings einer, wie man ihn häufiger ein paar hundert Kilometer weiter nördlich findet. Einer mit Ideen, Phantasie und Neugier. Kein Buchhalter oder Sachzwängler, die in Deutschland häufig die Gegenfront zu den nölenden Idealisten bilden. Bis zur Ente bleibt Manfred Prenzel nicht. Er fährt mit seinem Mini-Van zurück nach Kiel. Er hat Kinder. Nach der Manuskriptabgabe kommt jetzt der Rattenschwanz von Korrekturen. Und morgen ist wieder ein voller Tag im IPN, dessen Direktor er ist.

    Das Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften in Kiel gehört zu den von Bund und Ländern finanzierten Leibniz-Instituten. Auch hier war Jürgen Baumert sein Vorgänger. Der hatte das Institut Anfang der neunziger Jahre vor der drohenden Schließung gerettet und auf die empirische Schulforschung ausgerichtet. Als Baumert 1996 zum Max-Planck Institut für Bildungsforschung nach Berlin ging, wurde ein frisch gebackener, noch unbekannter Professor für Pädagogische Psychologie aus Regensburg nach Kiel bestellt, der damals 45 Jahre alte Manfred Prenzel. Erst vier Jahre war er Professor. Lang dauerte der für deutsche Uni-Karrieren typische Wartestand als wissenschaftlicher Assistent bei Hans Schiefele und als Oberassistent bei Heinz Mandl in München.

    Die Münchner Schule hat ihn geprägt. Prenzel spricht mit Erfucht von Schiefele, bei dem er schon Pädagogik studiert hatte. Lernen und Leistung, so dessen Grundidee, sind ohne Interesse und Motivation nicht zu denken. Aber die bloß auf Stoffvermittlung bedachte Schule ignoriert diesen Antrieb der Schüler. Von Mandel hat auf ihn ein gemäßigter Konstruktivismus abgefärbt: Wer lernt, schaffe sich damit seine Welt. Das vorhandene Wissen und gute Lehrer erleichtern das Lernen. Aber lernen muss jeder selbst. Und dazu gehört ganz wesentlich der Austausch. Lernen ist letztlich das Bilden von Netzen, inneren und äußeren. Das sieht man in den meisten Schulen noch anders. Ein Skandal? Ja. Doch Manfred Prenzel will keine Konfrontation, lieber dreht er diesen Sachverhalt um 180 Grad und fragt listig: Was passiert, wenn tatsächlich der innere Antrieb der Schüler geachtet wird? Was kommt in Gang, wenn die Kooperation unter ihnen gefördert wird? Dann verbessern sich auch deren Leistungen. Das zeigen Modellversuche, auf die er setzt und die er häufig evaluiert hat. Zum Beispiel das große Projekt Sinus, das in den Mathe und Naturwissenschaftsunterricht intelligente Aufgaben geschleust hat.

    Zu denjenigen, die dem eigenen Schultraumata auf der Spur sind, gehört er nicht. Prenzel hat unter seiner Schule im fränkischen Forchheim nicht gelitten, aber er erinnert sich, dort schon früh mit dem Beobachten begonnen zu haben. Dabei ist ihm aufgefallen, dass manche Mitschüler gelitten und dass sich viele gelangweilt haben. Was sich in so einer Klasse und in den Köpfen von Menschen wirklich abspielt, wollte er mit seinem Studium der Pädagogik, Psychologie und Soziologie heraus kriegen. Damit ist er längst noch nicht fertig. Eigentlich sind ihm die vorhandenen Instrumente seiner Wissenschaft noch viel zu grob.

    Deshalb führte er zum Beispiel mit seiner Mitarbeiterin Tina Seidel Videostudien über den Physikunterricht durch. Dabei konnten sie beobachten, wie im ersten Jahr des Unterrichts bei den Schülern häufig das Bild dieses Fachs grau wird. Vor allem Jungs haben anfangs die hohe Erwartung, dass endlich die eigene Kompetenz gefragt ist. Aber auf die kommt es im Unterricht gar nicht an. Und wenn Schüler erstmal ihre Sendeantennen und dann auch die Empfangsantennen einfahren, wird es schwer, sie wieder heraus zu fordern. »Kinder werden unterschätzt,« so heißt nicht erst seit Pisa, Prenzels Zusammenfassung seiner Forschungen.

    Wie fast alle Beobachter der internationalen Bildungsszene blickt der Kieler interessiert nach Skandinavien. Ihn faszinieren der respektvolle Umgang, den Schüler und Lehrer miteinander pflegen, die Mischung aus Gelassenheit und Zielstrebigkeit -  und die Ergebnisse. Aber zu dem Aufruf, es den Finnen und Schweden gleich zu tun, und das selektive deutsche System durch Gemeinschaftsschulen bis Klasse neun zu ersetzen, will er sich nicht hinreißen lassen. »Was wäre denn, wir bekämen schwedische Strukturen und alles andere bliebe beim Alten?«, fragt er. Große Strategiedebatten in der Schulpolitik sind nicht seine Sache. Manfred Prenzel sieht sich nicht mit dem Fernglas auf dem Feldherrenhügel hoch über der Bildungslandschaft. Er zoomt lieber ganz nah an das feine Gewebe des Unterrichts, untersucht die Motivation der Schüler, die Kommunikationsstrategien der Lehrer und die Atmosphäre dazwischen. Und er glaubt daran, auf vielen Baustellen in den Schulen ließe sich die müde Seele des Systems nachhaltiger beleben.

     

    Bereits Johan Amos Comenius verlangte vor mehr als 400 Jahren, "Lehrer, lehrt weniger, damit die Schüler mehr lernen können." Manfred Prenzel will diese Intuition in überprüfbare Forschung bringen. Auch mit dem Risiko widerlegt zu werden. Aber die Ergebnisse sprechen für seine häufig wiederholte Diagnose, dass Schulen, nicht nur die deutschen, längst noch nicht ihr Bestes geben.

    Während jetzt alle über 2003 reden, ntlicht wird, arbeiten Manfred Prenzel und seine Mitarbeiter längst an Pisa 2006 und denken an Pisa 2009. Sie wollen noch näher ans Lernen ran und planen Längsschnittstudien, in denen sie Schüler über längere Zeit begleiten. Auch für Pisa 2006 wird Manfred Prenzel die Federführung in Deutschland haben. Dann wird auch wieder ein Nachfolger für Jürgen Baumert gesucht, als Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.

    DIE ZEIT Finnlland Wenn die Schule lernt

    DIE ZEIT


    51/2004 

    Wenn die Schule lernt

    Finnland ist bei Pisa wieder einmal Spitze. Warum das so ist, beschreibt Reinhard Kahl

    Andreas Schleicher würde seine kleinen Kinder am liebsten in Helsinki einschulen. Der internationale Pisa-Koordinator ist nicht der einzige Finnland-Fan: Ob Bundesministerin Edelgard Bulmahn, SPD, oder Karin Wolff, CDU, die Rivalin im hessischen Kultusministerium – alle haben im Norden nur Vorbildliches gefunden. Finnland könnte also der gemeinsame Nenner der zerstrittenen deutschen Bildungspolitik sein. Das Land hat bei der jüngsten Pisa-Studie noch einmal zugelegt. Spitze sind die Finnen nun nicht nur in »Literacy«, also im Verstehen von Texten, wie bereits bei Pisa 2000, sondern auch in Mathematik. Der Grund für die Steigerung sei das »durch und durch lernfähige Schulsystem«, sagt Schleicher. Um von den Finnen zu lernen, pilgern Lehrer aus Deutschland nach Norden. Zum Beispiel an die Puistolan Peruskoulu in Vantaa, einem Vorort Helsinkis in Flughafennähe. Eine ganz gewöhnliche Schule, sagen ihre Lehrer.

    Die Schule in Vantaa ist ein ideenreicher Neubau. Oberlicht gliedert den Raum. Pflanzen in Bibliothek, Computerlabor und Kantine. Also doch eine Vorzeigeschule? Nein, sagt die Lehrerin Eija Reinikainen und fragt, ob es denn in Deutschland nicht selbstverständlich sei, dass die besten Architekten Schulen bauen? Selbstverständlich ist den Finnen auch ihre Peruskoulu, die Gemeinschaftsschule, zu der in Finnland alle Kinder vom ersten bis zum neunten Schuljahr gehen. Deutsche Lehrer sind bei ihren Besuchen immer wieder verwundert, wie entspannt es da zugeht. »Wie können Schüler und Lehrer nur so freundlich miteinander umgehen?«

    Eija Reinikainen führt in ihre »kleine Klasse«, ein drittes Schuljahr. Die »kleinen Klassen« sind für Schüler mit Lernschwierigkeiten. Bei Eija Reinikainen sitzen an diesem Morgen nur vier Kinder. In der nächsten Stunde kommt noch eine Schulassistentin dazu. Eija – die Finnen sprechen sich mit Vornamen an – berichtet voller Stolz, dass sie nun langsam überflüssig wird und sich neue Aufgaben für den Rest des gerade drei Monate alten Schuljahres sucht. Denn die meisten der Kinder »mit Diagnose«, die sie mit der Einschulung bekommen hat, besuchen die 3a, »die große Klasse«, der Begriff normale Klasse wird vermieden.

    Zum Beispiel Christa und ihre Zwillingsschwester, Kinder einer depressiven Mutter. In der Vorschulklasse, die in Finnland fast alle Kinder besuchen, fielen die beiden auf. Psychologen untersuchten sie und diagnostizierten, dass sie beim Lernen wohl nie richtig mithalten werden. Christa ist zudem stark gehbehindert. »Hätte sie das Laufen so gelernt, wie Schüler in der alten Schule unterrichtet wurden, immer nur nach richtig oder falsch«, bemerkt Eija, »dann könnte sie bestimmt gar nicht laufen.« So, wie sie jetzt läuft, schwankend, aber doch sicher, hat sie ihre ganz eigene Weise gefunden. Nun kommt Christa nur noch montags zur ersten Stunde in die kleine Klasse, um aus ihrem Tagebuch vorzulesen. In der 3a liest sie inzwischen am besten. »Und Christa hatte so eine schlechte Prognose«, sagt Eija, »sie muss unbedingt Schauspielerin werden.« Selten sah man eine Lehrerin so begeistert.

    Viele Schüler bekommen einen individuellen Lehrplan

    In Finnland machen die meisten Kinder »mit Diagnose« in der dritten Klasse im Regelunterricht mit, während der Anteil deutscher Sonderschulen auf die Fünfprozentmarke zuläuft, eine in der Welt einmalige Quote. Viele finnische Kommunen haben ihre Sonderschulen aufgelöst. Aber es gibt in jeder Schule Sonderpädagogen, einen Schulkurator, eine Art Sozialarbeiter, der sich um Schüler mit Schwierigkeiten und ihre Familien kümmert, Schullaufbahnberater, Schulpsychologen und eine Schulkrankenschwester, die nicht nur Pflästerchen aufklebt, sondern auch für Kinder mit Liebeskummer da ist. Über Schüler, die Sorgen bereiten, wird bei einer wöchentlichen Konferenz mit dem jeweiligen Klassenlehrer gesprochen. Man fragt dabei nicht, wer Schuld hat, man überlegt: Was können wir tun?

    Eigene Kuratoren und Psychologen haben nur große Schulen. In Helsinki arbeiten 44 Schulpsychologen und 47 Kuratoren. Zum Vergleich: Im Berliner Bezirk Tiergarten, der etwa so viele Einwohner wie Helsinki hat, gibt es drei Schulpsychologen, die in ihren Büros die Wartelisten abarbeiten.

    Wenn Eijas Starterklasse aufgelöst ist, bekommen viele Schüler weiter Zusatzunterricht, einzeln oder in kleinen Gruppen. Insgesamt wird einem Viertel aller Schüler diese Unterstützung gegeben. Zusatzunterricht, erinnern sich ältere Lehrer, war früher ein Makel, heute ist er beliebt. Schwerbehinderten wird sogar ein »persönlicher Assistent« an die Seite gestellt.

    Pädagogisches Schlaraffenland? Keineswegs, rechnen die Spezialisten im Opetusneuvos Opetushallitus, Zentralamt für das Unterrichtswesen, vor. Finnland kennt keine Sitzenbleiber mehr, außer wenn ein Kind lange krank war. In Deutschland weist Pisa bei 38 Prozent der Schüler verzögerte Schulkarrieren aus. Das kostet Milliarden. Im 5 Millionen Einwohner zählenden Finnland gab es in den vergangenen Jahren jeweils zwischen 150 und 200 Jugendliche, die nach der 9. Klasse keinen Abschluss bekommen haben. Im 80 Millionen zählenden Deutschland bleiben jährlich über 100000 Jugendliche, etwa 10 Prozent des Jahrgangs, ohne Hauptschulabschluss. Ein Schüler in der finnischen Primarstufe ist dem Staat rund 5000 Euro wert, in Deutschland sind es 1500 Euro weniger. Später in der Oberstufe werden die finnischen Schüler billiger als die deutschen. Sie arbeiten selbstständiger und brauchen weniger Lehrer.

    Ein Geheimnis des finnischen Erfolges ist: Der Anfang ist das Entscheidende. Kinder mit Schwierigkeiten, und von denen gibt es auch beim Pisa-Sieger immer mehr, sollen früh Anschluss finden. Mit der großen Aufmerksamkeit für den Anfang hängt das zweite Erfolgsgeheimnis zusammen: die Individualisierung. Jedes Kind ist anders, lernt anders, hat andere Fehler. Je größer das Problem, umso individueller muss die Antwort der Schule sein. Viele Kinder bekommen ihren »individuellen Lehrplan«. Was als Umgang mit beeinträchtigten Kinder begann, wird langsam ein Prinzip des ganzen Systems.

    Das dritte durchaus offene finnische Geheimnis ist: Mit der Individualisierung wird die Gemeinschaft wichtiger. Eija Reinikainen spricht auch von Liebe und immer wieder von hyvinvointi, was Geborgenheit, Zugehörigkeit und Wohlfühlen bedeutet.

    Eija Reinikainen soll übrigens in zwei Jahren pensioniert werden. Sie hat bereits mit dem Schulleiter ausgemacht, als Honorarkraft weiterzumachen. Gewiss, Eija ist eine ganz besondere Lehrerin. Aber solche in ihre Schüler verliebten Lehrer finden sich in Finnland häufig. Die neuen finnischen Rahmenlehrpläne lassen ihnen Freiheit. Diese Standards setzen den Rahmen von der Vorschulklasse bis zum lukio, der Oberstufe, auf der Schüler in zwei oder auch in vier Jahren ihr Abitur machen können. Das schaffen mehr als 60 Prozent. Andere erwerben das Abitur an Berufsschulen. 72 Prozent eines Jahrgangs studieren.

    Die Schulaufsicht wurde Mitte der neunziger Jahre abgeschafft. Das Gesetz verpflichtet die Kommunen, für guten Unterricht zu sorgen. Die Schulen sind den Gemeinden verantwortlich.

    »Jeder Lehrer muss ein Forscher sein, der das Lernen der Kinder begreift«

    »Die Kinder sind wie ein Spiegel«, sagt Jorma Ojala, Professor für Erziehungswissenschaft im 250 Kilometer weiter nördlichen Jyväskylä, dem Zentrum der finnischen Erziehungswissenschaft. »Wenn die Lehrer sie nicht achten, dann achten auch die Kinder nicht ihre Lehrer.« Und der Professor fügt hinzu: »Früher dachte man, dass die Kinder uns Lehrer zu verstehen haben. Es ist aber umgekehrt. Lehrer haben die Kinder zu verstehen.« Das sind Sätze, die man überall hört. Häufig sprechen Lehrer, aber auch Eltern und Wissenschaftler von der alten Schule, von der sich Finnland seit der 1962 geplanten und Mitte der siebziger Jahre im ganzen Land begonnenen Reform längst verabschiedet hat. Ojalas Kollegin Pirjo Linnakylä, die im Konsortium der finnischen Pisa-Wissenschaftler für die Lesestudie zuständig ist, hatte noch in der Schule vor der Reform unterrichtet. »Damals war es so ähnlich wie in Deutschland« erinnert sie sich. Schüler, die nicht gut mitkamen, blieben sitzen, bekamen schlechte Noten, wurden vom Gymnasium verwiesen oder schon aus der Grundschule in die Sonderschule geschickt. »Wir kannten es ja nicht anders.« Der wichtigste Effekt der finnischen Gesamtschule ist für Professorin Linnakylä, dass nun Lehrer ihren Unterricht ändern müssen, wenn sie Schüler nicht erreichen. »Die Lehrer sind verantwortlich«, und das sagt sie mit Hochachtung, ohne Vorwurf.

    Die Universität wiederum ist für die Ausbildung der Lehrer verantwortlich. Die Hochschulen können auswählen. Sieben Bewerber kommen auf einen Studienplatz im Lehrerstudium. »Wir versuchen rauszubekommen, ob die Bewerber selbst denken«, sagt Matti Meri, Professor an der Universität Helsinki und Direktor der Abteilung für angewandte Erziehungswissenschaften. Bewerber müssen zum Beispiel einen pädagogischen Klassiker lesen und in einem ersten Essay zusammenfassen. Dann werden sie zum Interview eingeladen. »Jeder Lehrer muss ein Forscher sein«, meint Matti Meri, »der das Lernen der Kinder begreift und die Arbeit in der Schule analysiert.«

    Deshalb bekommen alle Studierenden sofort eine Patenklasse in einer Schule. Dort müssen sie ihren Praxisteil von 15 Semesterwochen absolvieren. Das ist Matti Meri noch zu wenig. Er ermuntert seine Studenten, so häufig wie möglich in ihrer Klasse zu hospitieren, dort ihren Blick zu schulen und sich selbst schon mal als Lehrer kennen zu lernen.

    Mit ihren Lehrern sind die Finnen rundum zufrieden. Ihr Beruf ist einer der meistgeachteten, wenn auch finnische Lehrer etwa ein Drittel weniger verdienen als ihre deutschen Kollegen. Ein aufregenderes Thema sind in Finnland derzeit die Schüler. Eine Umfrage ergab, dass sie mit der Schule keineswegs so zufrieden sind, wie man dachte. Das beunruhigt die Öffentlichkeit. Kirsi Lindroos, die neue Generaldirektorin des Zentralamtes für das Unterrichtswesen, hat nun das »Empowerment der Schüler« auf die Spitze ihrer Agenda gesetzt. »Dass die Schüler selbst die Schule mitentwickeln«, sagt sie, »ist jetzt unsere größte Herausforderung.« Sie lässt gute Ideen und Beispiele sammeln, aber im Alltag laufe das noch gar nicht gut«, fügt die Mutter von vier Kindern hinzu. Und worin sieht sie sonst ihre wichtigste Aufgabe? Sie zögert kurz und antwortet dann so bestimmt und unprätentiös, wie es nur Skandinavier können: »Im Wohlbefinden des ganzen Personals in den Schulen, damit es mit den Kindern immer besser und respektvoller umgeht.«

    PS 11 ´04 Count Down Pisa

    PÄDAGOGIK - P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

    Countdown Pisa

    Am 7. Dezember ist es so weit. Dann werden die Ergebnisse der zweiten internationalen Pisa-Studie veröffentlicht. Schon im September reagierte Deutschland fiebrig auf den OECD-Report »Bildung auf einen Blick«. Ein paar Tage später streute die ebenfalls von der OECD durchgeführte Lehrerstudie Salz in die deutsche Bildungswunde. Die paranoische Fraktion sah schon OECD-Verschwörer am Werk. Tatsächlich moderte der Deutschland-Bericht der Lehrerstudie seit März in KMK-Schubladen. Erst nachdem Ergebnisse mehrmals in den Zeitungen standen, gab sich dieser Club, dessen Temperament ein bayerischer Minister mit der griechischen Landschildkröte verglichen hatte, einen Ruck.

    OECD-Quittung

    Die meisten Daten im jährlichen Bildungsreport der OECD sind nicht neu. Schon lange investieren die Deutschen zu wenig Geld. Doch vielen Menschen erschließen sich nun bisher verborgene Zusammenhänge. Dass man hierzulande auch mit Vertrauen in die nächste Generation geizt, wollte man lange nicht sehen. Viele Kinder werden mit einer bösen Botschaft vergiftet, die da lautet: Ob du dazu gehörst, ist zweifelhaft. Man mag es nicht glauben, Studienanfänger hören in Fächern, die auf ihre Härte stolz sind, »die Hälfte von ihnen gehört nicht hierher, wer es nicht hören will, wird es bei der Zwischenprüfung fühlen.« Die OECD-Quittung: Wir sind Schlusslicht bei den Studienanfängern und an der Spitze bei den Abbrechern. Wie die Indikatoren für das Gefühl von Zugehörigkeit, sind in unseren Schulen auch die für Verantwortung niedrig. Klar, wenn sich die Schule wie eine zur Bewährung ausgesetzte Vorstrafe aufs spätere Leben anfühlt, wird man das, was dort getrieben wird, nicht als sein Eigenes erleben.

    Aber können sich die Deutschen Alternativen vorstellen? Schaffen wir es, wie die Finnen, zu sagen: »Kein Kind darf beschämt werden?« Werden wir, wie die Schweden, irgendwann ins Schulgesetz schreiben: »Sortieren findet bis Klasse neun nicht statt?« Glauben die meisten Deutschen im Grunde ihres Herzens überhaupt, dass eine entneurotisierte Schule die besten OECD-Ernten einfährt? Es ist so: »Heterogenität« ist erfolgreicher und sogar sexy. Die Liste der Gründe dafür wird immer länger. Die werden nach dem 7. 12. auch unsere müden Debatten beflügeln.

    Populismus

    Die ganze Misere hängt ja tief im kollektiven Imaginären. Deshalb brauchen wir so dringend Bilder des Gelingens! Die könnten in diesem Land, das zuletzt einen Rechtschreibkrieg führte, weil der so schöne Déjà-vu-Erlebnisse verschafft, sogar friedensstiftend wirken. Apropos. Im September konnte man hier lesen, wie Ministerpräsident Christian Wulff großspurig ankündigte, den unfähigen Kultusministern das Heft in Sachen Rechtschreibreform aus der Hand zu nehmen. Nun ist der Sommer vorbei. Das Populismus-Projekt ist im Rohr krepiert. Aber Wulff spürt, Bildung wird das Thema der Saison, und sagte sich, auf in den Ring, die Tagesordnung bestimmen und sich als mutiger Entscheider zeigen. So macht sich Christian der Große auf, den KMK-Knoten eigenhändig zu zerschlagen. »Ich kündige.« Ohne Wissen. Ohne Abstimmung. Einfach nur so, aus purer Entschlossenheit. Schon am Tag drauf wird er kleinlaut und sondert in Interviews nichts als Klischees ab. In der Kultusministerkonferenz solle nicht mehr der Langsamste das Tempo bestimmen. Sie sei nicht innovativ. Und so teuer. 2,5 Millionen zahle Niedersachsen im Jahr für lauter arrogante Bürokraten. Das klingt wie zum Zitieren bei BILD gedichtet. Heiße Luft. Nehmen wir das Geld. Täglich zahlt das verschuldete Niedersachsen sieben Millionen Euro bloß an Zinsen.

    Man sollte Wulff nicht zu viel politisches Kalkül unterstellen. Die prompten Reaktionen seiner CDU-Kollegen aus Hessen und Stuttgart zeigten, da ist in Hannover keine Strategie, außer der des Egos. Profilierungspanik. Bald fiel Wulff ein, nein, abschaffen wolle er die KMK gar nicht, worauf der Austritt seines Landes doch hinausliefe. Nur erneuern. In der KMK solle künftig nicht mehr die Einstimmigkeit (Vetoprinzip) gelten. Aber was das heißt, hatte er sich auch wieder nicht überlegt. Wenn Länder durch Mehrheitsbeschlüsse überstimmt werden können, dann würde aus dem Abstimmungs- und Handlungsvermeidungsorgan KMK eine Bildungsregierung. Dann bestimmten Mehrheiten über unterlegene Bundesländer. Das wäre das Ende des Föderalismus.

    Modernitätsformel

    Vielleicht bekommt ein anderer Niedersachse Recht. Wilhelm Busch aus Ebergötzen. »Erstens kommt es anders ...« Und vielleicht merken wir inmitten des in sich verhedderten Föderalismus und all der OECD-Diagnosen, wie klar und einfach die Modernitätsformel der erfolgreichen Bildungsnationen ist. Dort gibt es eine starke, aber kleine politische Zentrale. Sie organisiert den Konsens über Ziele und sorgt für die nötigen Ressourcen. Ansonsten, alle Macht den Schulen, Hochschulen und den vor Ort Handelnden. Die dritte Instanz heißt Evaluation: Rechenschaft geben. Diese moderne Dreifaltigkeit braucht keinen kleinstaatlichen Bildungsföderalismus. Der ist nämlich das Problem. Die KMK ist ein Symptom.

    P. S.

    Wir brauchen unter dem Dach eines prinzipiellen Konsens vielfältige Bildungslandschaften mit eigenwilligen Schulen. Was wir haben, ist ein regulierungswütiger, häufig demütigender Zentralismus. Und das gleich 16 Mal. Dessen Kopfgeburten müssen dann in der KMK ewig abgestimmt werden. Daraus wird nie was.

    P.P.S.

    Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de

    Badische Zeitung 18. 10. Interview zu den „Treibhäusern“

    MON - Montagsseite

    18. Oktober 2004 / MON 1


    Wir können auch anders!

    Reinhard Kahl zeigt Schulen, die Lust und Leistung steigern - nicht in Finnland, sondern in Friedrichshafen, Jena oder Potsdam / Von Petra Kistler

    E in Film macht Schule. Er zeigt ungewöhnliche Bilder: eigenwillige Lernorte mit fröhlichen Schülern, selbstbewussten Lehrern, zufriedenen Eltern, überdurchschnittlichen Leistungen. Nicht im fernen Finnland, Schweden oder Kanada, sondern mitten in Deutschland: in Friedrichshafen am Bodensee, in Potsdam, Jena, Eichstätt, Hamburg oder Herten. "Treibhäuser der Zukunft" nennt der Hamburger Journalist und Filmautor Reinhard Kahl diese Klassen- und Lehrerzimmer. Es sind Schulen, in denen sich Lust und Leistung nicht beißen, sondern steigern. BZ: Was ist das Geheimnis dieser Schulen? Kahl: Die Grundhaltung: Jedes Kind wird so akzeptiert, wie es ist. Alle Schüler sind willkommen, keiner wird als fremder Passagier betrachtet, der eigentlich nicht in diese Schule, in diese Klasse gehört.


    "Es macht mehr Spaß, wenn wir leuchtende Augen hervorrufen statt böse Blicke zu ernten."



    Reinhard Kahl

    BZ: Wie kamen Sie auf die Idee, sich an Schulen in Deutschland umzuschauen?
    Kahl: Wer nach Pisa von den erfolgreichen finnischen Schulen berichtete, bekam häufig zu hören: "Jaja, die Finnen, so sind sie halt. Aber wir sind keine Finnen". Ich wollte zeigen, dass es auch bei uns eine neue Schul- und Lernkultur gibt, die Mut zu Veränderungen macht. Es gibt in Deutschland eine lange Tradition der Reformpädagogik - zum Beispiel die Jenaplan-Schulen mit altersgemischten Gruppen, die 1933 in Deutschland geschlossen werden mussten.

    BZ: Wie haben Sie die "Treibhäuser der Zukunft" gefunden?
    Kahl: Man spricht mit Leuten, wird auf Unbekanntes aufmerksam gemacht, trifft Repräsentanten, die überzeugen. Ich hatte wohl einen Schutzengel. Die Recherche war wie ein Rubbellos, bei dem mit verstärktem Reiben immer mehr zum Vorschein kommt.

    Ungewohnte Bilder I: "Kopfhörer aufsetzen", sagt die strenge Lehrerin. "Und jetzt wird geübt!" Ihre Zöglinge, brav in den Kabinen des Sprachlabors sitzend, führen den Befehl aus. Gelernt wird auf Befehl, frontal von vorne. Lernen wird zur Fronarbeit.
    BZ: Etliche Ihrer Treibhäuser sind kirchliche Schulen. Nur Zufall?
    Kahl: Eine wichtige Bedingung fürs Gelingen ist ein gewisser Konsens. Dass Schulen die Lehrerinnen und Lehrer zugeteilt bekommen, ist ein unglücklicher Umstand - man stelle sich doch nur mal eine Schraubenfabrik vor, in der die Ingenieure, Kaufleute und Arbeiter vom Schraubenministerium eingestellt werden. Dass eine Schule sich die Lehrer aussucht, die zu ihr passen, ist eine Minimalbedingung fürs Funktionieren.

    BZ: In Ihrer Filmdokumentation taucht keine Waldorfschule auf. . .
    Kahl: . . . und keine Helene-Lange-Schule in Wiesbaden, keine Laborschule in Bielefeld, keine private Montessorischule. Ich wollte nicht auf die üblichen Verdächtigen zurückgreifen. Ich wollte Schulen zeigen, die unter Normalbedingungen arbeiten. Bei denen nicht sofort eingewandt werden kann: Ja die, ja unter den besonderen Bedingungen - aber bei uns ist dies alles nicht möglich. Es gibt eine doch unglaubliche Palette von Erklärungen, nach denen es den Schulen entweder zu gut, zu schlecht oder sonst wie geht und sie prinzipiell nicht anders können. An den Schulen gibt es ein Verliebtsein in den Opferstatus. Meine Botschaft ist: Veränderungen sind möglich, die Zukunft hat bereits begonnen.

    Ungewohnte Bilder II: Es ist noch nicht 8 Uhr. Der Lehrer ist bereits im Klassenzimmer. Die ersten Schüler kommen, geben ihm die Hand. Sie holen sich Material aus den Regalen und legen los. Sie fangen an, ohne dass es geklingelt hätte. Niemand hat sie zum Lernen aufgefordert. Es gibt keine Fächer, dafür vernetzten Unterricht und altersgemischte Gruppen. "Es ist ein Vorteil, verschieden zu sein", sagt Rektor Alfred Hinz von der Bodenseeschule St. Martin in Friedrichshafen, die im Mittelpunkt von Kahls Films steht. Jede Schule kann etwas tun, sagt er: Klemmt ein Taschentuch zwischen Klöppel und Glocke - und schafft endlich diesen elenden 45-Minuten-Takt ab. Leistung? "Die Anforderungen schaffen wir mit einer Hand", sagt der Rektor.

    BZ:
    Auffallend an Ihrem Film ist, es wird nicht gejammert: Nicht über die Schüler, nicht über die Kollegen, die Eltern oder die Kultusminister.
    Kahl: Das war wirklich so, ich habe nichts rausgeschnitten. Sicher, die Ressourcen an den Schulen könnten besser sein, aber sie sind auch nicht so schlecht. Trotzdem gibt es immer noch die Einstellung: Wir können nichts ändern. Das ist der Versuch, sich selbst in eine nichtsouveräne Position zu bringen: Wir sind abhängig, wir sind Opfer, andere sind für uns zuständig.

    BZ: Was sind für Sie Kriterien für eine gute Schule?
    Kahl: Das Gefühl der Zugehörigkeit, die Schüler und Lehrer müssen sich dort wohl fühlen. Dann wird auch der Ort wichtig, bei einer solchen Schule haut man nicht um 13 Uhr so schnell wie möglich ab. Dann kann es sein, dass Schüler, die krank werden, es schade finden, dass sie nicht zur Schule gehen können, während wir immer noch das Gefühl "Hurra, hurra, die Schule brennt" haben. Wir müssen erkennen, dass die Verschiedenheit als Reichtum und nicht als Mangel angesehen wird. Das vier-oder fünfgliedrige Schulsystem - die Sonderschulen werden stets schnell vergessen - muss überwunden werden. Jürgen Baumert vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat mal gesagt: In Deutschland hängt die Latte so hoch, dass es besser ist, unten durchzukriechen als drüberzuspringen.

    BZ: Es gibt doch immer mehr Jugendliche, die Nichtleistung "cool" finden. Im Klassenzimmer stehen sich dann feindliche Fronten gegenüber.
    Kahl: Weil man die Sache nicht als die eigene ansieht. Weil man nicht daran glaubt, dass Lernen bedeutet, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen. Der Streber ist demnach eine Art Kollaborateur, der mit dem feindlichen System der Schule, der Lehrer, der Behörden einen Pakt eingeht.

    Ungewohnte Bilder III: Jean-Pol Martin, Professor an der Universität Eichstätt, geht einmal in der Woche in die Schule. Er unterrichtet nicht selbst, er macht Schüler zu Lehrern. "Unterrichten heißt, Widersprüche entstehen lassen, damit sie geklärt werden", sagt er.

    BZ:
    Wenn die Arbeit in den Treibhaus-Schulen mehr Zufriedenheit schafft, warum schlagen dann nicht mehr Schulen den Reformkurs ein?
    Kahl: Weil sie sich nicht trauen. Es bräuchte kluge Strategien, die vermitteln, welche Schritte man heute und welche man besser erst morgen macht.

    BZ: Welche Schulen machen sich auf den Weg?
    Kahl: Oft haben sie eine Mischung zwischen Leiden an der Sache und der Erfahrung, dass Veränderungen gelingen können. Wie beim Spruch der Bremer Stadtmusikanten: Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal. Es macht mehr Spaß, leuchtende Augen hervorzurufen statt böse Blicke zu ernten.

    BZ: Wie kann die Reform vorangebracht werden?
    Kahl: Es muss zum Beispiel eine Debatte darüber geführt werden, dass die guten Lehrer in die Schulen gehen sollen - und die schlechten eben nicht. Vieles, was jetzt als Reform von oben kommt, hat ja auch so einen Beigeschmack von Bestrafung. Die Reformen müssen stärker in die Regie der Schulen gegeben werden. Man muss sich auf Wichtiges konzentrieren. Wer eine Sache gut macht, macht alles andere besser. Nicht diese Panik, wie sollen wir dies alles schaffen. Deshalb ist es so wichtig, sich die Beispiele anzuschauen, wo es funktioniert.

    BZ: Ihr Film findet großes Interesse bei Eltern und Lehrern.
    Kahl: Das Interesse - vor allem von Gymnasien - ist enorm. Ich könnte jeden Abend irgendwo auftreten. Dieses Interesse widerspricht ja auch ein bisschen dem Bild von der Klagegemeinschaft. Es ist wie bei den Schulen: Man verliebt sich zu schnell in dieses Misslingen.

    - "Treibhäuser der Zukunft"- die 115-minütige Fassung gibt es als VHS-Video (15 Euro) oder als Dreifach-DVD (29 Euro) mit rund 14 Stunden Film, Interviews, Exkursen. Beides zu beziehen: Deutscher Kinder- und Jugendstiftung oder Beltz-Verlag, www.dkjs.de oder Telefon: 030 / 25 76 76 25.


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    Petra Kistler

    Redaktion Reportage

    Badische Zeitung

    Basler Strasse 88

    79115 Freiburg

     

    Telefon:  0761 /  4965020

    Mobil:     0171 / 1403631 

     

     

     

    Universitas Das letzte Gefecht der ABC Schützen

     

     

    Als im Sommer eine unvermutete Allianz verschiedener Zeitungen – zumindest

    ihrer Chefredakteure –, Schriftsteller und Politiker diverser Provenienz

    sich aus unterschiedlichsten Gründen auf die Rechtschreibreform einschossen,

    musste man den Eindruck gewinnen, die Einheit der deutschen Sprache

    stünde auf dem Spiel und es drohe ein Zustand anarchischer Beliebigkeit.

    Alles halb so schlimm, findet Reinhard Kahl und hofft, dass sich am Ende der

    Debatte die Einsicht durchsetzt, dass der Vielfalt, ja gar dem „Fehler"ein gewisser

    und oftmals nützlicher Reiz innewohnt.

     

    Das letzte Gefecht?

    Der endlose Rechtschreibkrieg und das Land der ABC-Schützen

    Reinhard Kahl

    Der Sommer ist vorbei. Der neue Duden steht auf dem Schreibtisch und ist

    noch dicker als der alte. Wie dick war eigentlich Dudens Duden? Eine Ernte von

    „5000 neuen Wörtern" annonciert jetzt der Verlag. Die CD zum Buch ist auch

    schon auf der Festplatte. Das automatische Programm ist inzwischen ja viel

    wichtiger als das griffbereite Buch. „Die Installation verläuft selbsterklärend",

    steht auf dem Cover. Stimmt. Und Korrekturen durch das Rechtschreibprogramm

    kommen jetzt viel seltener und sind zumeist akzeptabel. Der neue Duden

    ist großzügiger. So einfach könnte das alles also sein. Und tatsächlich liest

    man seit einigen Tagen, es ist Mitte September, kaum noch etwas über den

    deutschen Rechtschreibkrieg. Nur noch ein paar Meldungen über Nachhutgefechte.

    „Welt" und „Spiegel" schreiben immer noch „dass" und „hier zu

    Lande". Interessant, dass in dieser Hinsicht nicht die Autoren schreiben, sondern

    ein Programm. Aber wen interessiert eigentlich ob hier dass oder daß

    steht? Wem fällt das auf? Worum eigentlich ging es diesen Sommer im deutschen

    Rechtschreibkrieg?

    Die zweite Augustwoche war interessant. Montag morgen. Das Feuilleton der

    FAZ: „Es genügt ihre Anweisungen zu ignorieren," steht da. Und: „Dieser Klüngel

    hat uns nichts zu sagen." Hans Magnus Enzensberger, schon einst ein angry

    young man der deutschen Literaturszene, ruft – schon wieder erzürnt

    zum zivilen Ungehorsam auf. Gegen „unsere Vormünder" rebelliert der Schriftsteller.

    Wir lesen eine Abrechnung mit der „Unbelehrbarkeit der ministerialen

    Ignoranten." Es klingt so wie, endlich, jetzt machen wir Revolution.

    Weiter mit Enzensberger. Auf ins letzte Gefecht. Gegen wen? Gegen diejenigen,

    die sich „sklavisch an die Vorschriften von Amtsinhabern" halten, „die selber

    nicht imstande sind, einen vernünftigen deutschen Satz hervorzubringen."

    Letztere seien die Kultusminister. Diesen Oberidioten gehorchen die Unteridi-

    oten „auf die servilste Art und Weise". Das seien die Lehrer. Gute Gelegenheit

    diesen gleich noch eins überzuziehen. „Sie sind allesamt praktisch unkündbar,

    selbst einen Narren oder Alkoholiker loszuwerden verbietet das Beamtenrecht."

    Schon recht. Das sollte man ändern. Aber was hat das mit

    der Rechtschreibreform tun? Im Ressentiment hängt halt alles mit allem zusammen

    und am Ende ist der Rechthaber der einzige Mensch, umzingelt von

    Unzurechnungsfähigen. Die Kultusminister, „ein Kreis von Legasthenikern, der

    es zu Ämtern gebracht hat". Vollstrecker des Stammtischs wissen es. Die

    Rechtschreibung muss Chefsache werden.

    Einer der neuen Chefs heißt Christian Wulff, niedersächsischer Ministerpräsident.

    Er nimmt den Legasthenikern in der Kultusministerkonferemz das Heft

    aus der Hand und will mit den anderen Präsidenten zurück in den alten Zustand.

    Ein paar Landeshäuptlinge, die mitmachen wollen, hat er schon gefunden. Seitdem

    findet er morgens Stapel zustimmender Post auf dem Schreibtisch und

    nicht mehr nur den Protest wegen Sparen und Sozialabbau.

    Mitte der Woche. Zwei andere Chefs schließen sich der Revolution an, die von

    „Spiegel" und Springer-AG , Aust und Döpfner. Und auch viele andere Zeitungen

    sind voll vom Aufbegehren gegen das Rechtschreibdiktat. Die Deutschen

    schwelgen in einer ihrer geliebten Katastrophen. Diese ist immerhin fast gratis,

    gleichsam die erste Schnäppchenkatastrophe.

    Am Anfang stand ja der plausible Anspruch, eine Rechtschreibreform solle

    Klarheit schaffen – und zwar ganz eindeutig und vorerst endgültig. Dieses Vorhaben

    ist nun nach manchen Reformen der Reform vorerst gescheitert. Aber

    ihre „Rückname", wie Spiegelchef Stefan Aust eigensinnig in der Hausmittelung

    des Magazins buchstabiert, wird nicht so flächendeckend sein, wie sich das

    4

    die Romantiker der neuerdings „klassisch" genannten alten Schreibe vorstellen.

    Das ist ja das Schöne. Selbst die Protagonisten der Kehrtwende sind in

    ihrer Performanz viel unvollkommener, eigenwilliger und auch interessanter,

    als wenn sie Normen proklamieren und sich blamieren. Zum Beispiel Peter

    Müller, Ministerpräsident in Saarbrücken. Der frisch erweckte Orthografiepopulist

    bekennt, wie froh er nun sei, bald wieder „Sauerststoffflasche" mit einem

    f weniger schreiben zu dürfen. Falsch, Peter. Setzen! Auch nach den Regeln

    seiner alten Schreiborthopädie müssen hier drei f sein, ganz anders als bei der

    bei unseren Rechthabern, so beliebten Flussschifffahrt, die nach altem Recht

    mit zwei f auskommt. Ob zwei oder drei f hängt davon ab, ein Vokal oder Konsonant

    folgt. Die neue Rechtschreibung hat auf diese geregelte Unregelmäßigkeit

    verzichtet. Aber wer will eigentlich noch in dieses Geheimwissen eingeweiht

    werden? Müssen wir diesen Regeln wirklich folgen? Warum werden nicht

    die Varianten mit zwei und drei f freigegeben? Dann wäre Frieden. Die deutsche

    Fehlerinquisition könnte sich wichtigeren Aufgaben zuwenden.

    Die komplizierte deutsche Rechtschreibung steht ja nicht erst seit gestern am

    Pranger. Denn Normalsterbliche wie Stefan Aust und Peter Müller mussten

    sich nicht nur als Schüler, sondern lebenslang mit einem Schreibsystem

    quälen, dessen Regeln oft nur für 60 Prozent der Fälle galten und daneben

    40 Prozent Ausnahmen produzierten. Deshalb war zunächst ja auch fast jedermann

    für eine Reform. Außerdem hatte das endlose Rechtschreibprojekt seit

    dem kalten Krieg und später unter den Vorzeichen von Entspannungspolitik

    noch eine ganz andere Funktion. Die Einheit der deutschen Sprache wahren!

    Das konnte man sich in Deutschland am besten als Ergebnis neuer, einheitlicher

    Rechtschreibregelungen vorstellen: Bundesrepublikund DDR zusammen

    mit Österreich, der Deutschschweiz und sogar Lichtenstein im Boot.

    Wie so oft gelingt eine deutsche Einigung nicht und produziert auf geheimnisvolle

    Weise Zerwürfnisse, eben weil es ja immer nur die eine Wahrheit geben

    darf. Irgendetwas von Religionskrieg tönt durch diesen Kulturkampf immer

    noch hindurch. So wie wir auf unserem deutschen Sonderweg auch diesen nicht

    enden wollenden 30-jährigen Bildungskrieg haben. Haben sich die Deutschen

    mit vielen ihrer Probleme so sehr angefreundet, dass sie von ihnen nicht mehr

    Wissenswelten - Rechtschreibreform - Reinhard Kahl

    5

    lassen wollen? Natürlich, man könnte sagen, alles nur Sommertheater. Aber

    in diesem Stück geht es inzwischen so bitter ernst und humorlos zu, wie das

    wohl nur teutonische Stämme fertig bringen. Im August sind sich viele Deutsche

    tatsächlich einig, es drohe wieder mal Chaos. Selbst die Fraktionsvorsitzende

    der Grünen im Bundestag, Karin Göring-Eckardt sieht die ganze Sache

    „zur Anarchie führen". Wer Deutschland in diesen Tagen nur aus dem Feuilleton

    kennt, der müsste tatsächlich glauben, die Basis der Kultur würde weggeätzt,

    das Schlimmste droht: Beliebigkeit. Und, das scheint dort nun wirklich

    das Allerschlimmste, jeder macht, was er will.

    Kaum vorstellbar, dass es vor 1901 keine staatlich erlassene Rechtschreibung

    gab. Damals wucherten barocke Ungetüme, zu denen auch noch unsere

    Großschreibung von Substantiven gehört. Jacob Grimm, der große Wörter- und

    Geschichtensammler schrieb klein, sein Bruder allerdings war da ganz anderer

    Meinung. Man konnte sich entscheiden. Vielfalt war möglich.

    Tatsächlich hatte bereits Duden, dessen Maxime ja hieß, „schreib wie du

    sprichst", etwas anderes bewirkt als das, was er beabsichtigt hatte. Der Vereinfachungsversuch

    öffnet der großen Normierung der Schrift Tor und Tür.

    Das passte hervorragend ins DIN-Zeitalter der ersten industriellen Moderne,

    in der die Deutschen Weltmeister wurden. Auch die jüngste, eher zahme Rechtschreibreform

    lebt noch von dem Traum einer alle Zweifelsfälle berücksichtigenden

    und ordnenden zentralistischen Regelungskraft.

    Der neuerliche Ausbruch eines deutschen Kulturkampfes ist ein merkwürdiges

    Amalgam. Anarchistische Töne mischen sich mit der Sehnsucht nach der

    eindeutigen Vorgabe, die den Schreibenden von aller Kontingenz entlasten soll.

    Die List des ganzen Theaters ist doch erfreulich: Der Zwangscharakter einer

    orthopädischen Schreibweise ist in Deutschland dahin. Manche nennen das

    Chaos. Seit Dudens Normierung liefen wir in sprachlichen Einlagen. Ausgerechnet

    die Doppelherrschaft von alter und neuer Rechtschreibung hat nun in

    den vergangenen Jahren ganz unbeabsichtigt einen enormen Zivilisationsgewinn

    gebracht. Die alte Leitdifferenz von „richtig – falsch", die immer nur eine

    Möglichkeit durchgehen lässt, wird nun im Alltag von der überlegenen Unterscheidung

    „möglich – nicht möglich" durchsetzt und langsam ersetzt. „Mög-

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    lich – nicht möglich", das ist etwas ganz anderes als die befürchtete Beliebigkeit,

    gar Anarchie im Schreiben! Schreiben wir doch Schifffahrt mit zwei oder

    drei f, mit einem f aber lieber nicht. Reicht das nicht?

    Und: Wenn die Dinge nicht ganz aufgehen, dann gehen sie weiter. Und die Sprache

    ist für die Überdeterminierung eines Systems, das nicht nur nach einem Algorithmus

    programmiert, das beste Beispiel. Fehlertoleranz ist der wichtigste

    Begriff in Theorien über lernende Organisationen.

    Und seien wir ehrlich: Wer morgens die „FAZ" liest, mit der alten Rechtschreibung,

    die dort die „bewährte Rechtschreibung" genannt wird und dann zur

    „Süddeutschen" greift, mit ihrer nach eigenen Redaktionsregeln modifizierten

    neuen Rechtschreibung und dann vielleicht noch die „taz", mit linientreuer

    neuer Rechtschreibung, fällt dem überhaupt was auf? Ob achtmal nun mit oder

    ohne Bindestrich geschrieben wird, groß oder klein, ist das wichtig?

    Stellen wir uns doch mal Schulen vor, in denen Lehrer begründen müssen, warum

    sie die Schreibweise eines Wortes als falsch anstreichen. Man wird dann

    erkennen, dass es sehr oft mehrere akzeptable Möglichkeiten und vor allem,

    dass es sehr unterschiedliche Arten von Fehlern gibt. Und natürlich, vieles geht

    nicht. Man muss sich verständlich machen, seinen Stil finden.

    Vielleicht sollten unsere Don Quijotes, die in den Krieg für die eine ganze wahre

    und richtige Rechtschreibung ziehen, zwischendurch mal Goethe lesen. Wir

    empfehlen als Tagesmotto: „Ihr seht schon ganz manierlich aus, kommt mir nur

    nicht absolut nach Haus." Goethe wusste, das Absolute ist tödlich. Also halten

    wir es mit dem Meister aus Weimar. Er war gar nicht zimperlich, schrieb seinen

    Namen mal mit H und mal ohne, oder auch Göthe. Das sollte ein Schüler

    mal wagen!

    Wissenswelten - Rechtschreibreform - Reinhard Kahl

    PS 10 Führung? Führung! Führung?!!

    PÄDAGOGIK - P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

    Führung? Führung! Führung?!!

    Die Tür doppelt gepolstert und mit Leder bezogen. Im Halbdunkel die fast unnahbare Respektsperson, der Herr Oberstudiendirektor. Schüler betraten den Raum bloß, um sich einen Verweis abzuholen, und auch für Lehrer war er unnahbar. Wie ein Landgerichtspräsident wachte der Direx darüber, dass nichts schief geht.

    Führung?

    Diese Figur war 1968 zumeist schon so hohl, dass es nicht schwer fiel, sie vom Sockel zu stoßen. Dann folgten Versuche mit der Gremiendemokratie. Schulleiter – immer häufiger auch Schulleiterinnen – wurden Moderatoren. Sie wollten sich am liebsten unsichtbar machen. Lehrer sollten das Gefühl haben, an allen Entscheidungen irgendwie mitzuwirken. Aber eben nur irgendwie. Tatsächlich ziehen Schulleiter, die offiziell keine Macht beanspruchen ihre Fäden im Hintergrund und bereiten das Feld für schwer durchschaubare Seilschaften. Nichts änderte sich daran, dass Lehrer alles in allem Einzelkämpfer blieben und sich häufig wie verbeamtete Freiberufler verhalten. Sie unterrichten zumeist immer noch Fächer und nicht Schüler. Die Tür zum Klassenzimmer bleibt geschlossen.

    Gegen diesen Mainstream wird von vielen angerudert. Nach den internationalen Studien über die Schülerleistungen steht der Unterricht im Zentrum. Auch die Bildungsverwaltung sieht ein, dass die unvermeidlichen Veränderungen nicht als Blaupausen fernab in Ministerien ersonnen werden können, um sie dann den Schulen einzukopieren.

    Margret Ruep, Präsidentin des Oberschulamtes in Tübingen, eine Vertraute von Annette Schavan, hat jetzt das Konzept der »Lernenden Organisation« auf Schule und Schulverwaltung übertragen. Schulleiter nennt sie »die wichtigsten Gelingensfaktoren.« Sie sollen wie die misslungenen Moderatoren Hierarchien schleifen, aber dann soll keine Leere bleiben. Schulleiter sollten in ihrer Schule »Dialoge in Gang bringen.« Sie seien für die Schule nach außen verantwortlich und müssten ihrerseits die Lehrer für die Leistungen ihrer Schüler verantwortlich machen. Kurz: das Prinzip Rechenschaftspflicht wird eingeführt. In jedem Betrieb ist das selbstverständlich. Aber es ist eine Tatsache: Die meisten Lehrer in Deutschland fühlen sich kaum für Ergebnisse ihrer Arbeit verantwortlich. Zuletzt brachte die Grundschulstudie Iglu ans Licht, dass Lehrer auf die Frage, worin sie Gründe für schlechte Ergebnisse ihrer Schüler sehen, ihren Unterricht an letzter Stelle nannten.

    Seufzen

    Brandenburgs Kultusminister Steffen Reiche rief in der letzten Woche der Sommerferien die nahezu 1000 Schulleiter des Landes zusammen und ermunterte sie, die Schulerneuerung vor Ort in die Hand zu nehmen. Da ging ein Seufzen durch die Reihen. Auch das noch. Eine fröhlich blickende Frau im Auditorium schüttelte über ihre Kollegen den Kopf. Ulrike Kegler. Sie leitet die staatliche Montessori Gesamtschule in Potsdam und leidet unter der »Infantilität« ihrer Kollegen. Es empört sie, wie verächtlich in Lehrerzimmern über Schüler gesprochen wird. Und auf Schulleiterkonferenzen hört sie ebenfalls die beliebte Frage: Wer hat Schuld? Dabei hatte sie hier endlich Debatten darüber erwartet, was die Schulen denn selbst tun könnten.

    Was macht Ulrike Kegler anders? Über Schüler verächtlich zu sprechen ist an ihrer Schule verboten. Das sei die große Ausrede von Lehrern, die sich nicht in die Karten blicken ließen. Aber es macht natürlich keinen Sinn, Lehrer die eigentlich Angst haben und sich selbst überfordern, weil sie alles allein machen wollen, noch weiter in die Defensive zu treiben.

    Für einen neuen Typ von Schulleitung, die ihre Schule mit sich selbst ins Gespräch bringt, sie sogar kräftig aufmischt, steht Enja Riegel. Die ehemalige Leiterin der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden hat die Abkehr vom Leben im fremden Auftrag vorgelebt. Sie ließ Wände einreißen und schickte Schüler während der Pubertät hinaus ins Leben. Lehrer wurden selbstständiger und arbeiten in Teams. So gewannen die Lehrer Macht. Aber auch die Schulleiterin erweiterte ihre Macht. Diese Art von Macht ist keine Nullsummenspiel. Sie wird nicht verteilt, sondern produziert. Die Philosophin Hannah Arendt schrieb in diesem Zusammenhang: »Macht kommt von mögen.« Im englischen Wort Power erklingt etwas von dieser Gestaltungsmacht, der viele in Deutschland nicht so recht trauen.

    Für Ulrike Kegler aus Potsdam hat das Wort Führung inzwischen seinen autoritären Klang verloren. Dabei findet sie Anregungen ausgerechnet bei Wirtschaftswissenschaftlern. Sie zitiert Hans Hinterhuber von der Universität Innsbruck. »Wer gezielt Fragen stellen kann, der führt. Denn er weiß um sein Nichtwissen. Führende, die ihr eigenes Nichtwissen akzeptieren, laden die Mitarbeiter zur Zusammenarbeit ein.«

    Führen!

    Kegler findet bei dem Wirtschaftsprofessor formuliert, was sie sich nicht zu sagen traute: »Jeder kann ein Führender sein.« Praktisch heiße Führung, andere in ein Feld hinein ziehen, das man selbst gut vorbereitet hat. Auch das alte Wort Respekt ändert seine Bedeutung. Es bedeutet nicht mehr aufsehen, sondern anerkennen. Im Wortsinn: Re-spekt. Es geht darum, wie man zurückblickt.

    P. S.

    Amerikaner sprechen von Empowerment. Schwer zu übersetzen. Ermächtigung? Sie meinen den Fluss der Macht von oben nach unten. Das sind in Deutschland noch gewöhnungsbedürftige Gedanken.

    P.P.S.

    Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de

     

     

     

     

    WDR u.a. Kommentar: Wulff & die KMK

    WDR 3 Tageszeichen /  27. 9. 04

     

    Schon wieder Bildungskrieg?

    Will Ministerpräsident Wulff die KMK abschaffen oder will er sie zur Bildungsregierung machen? 

    Von Reinhard Kahl
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    Langsam verzieht sich schon wieder der Qualm vom deutschen Bildungsschlachtfeld, auf dem an diesem Wochenende der niedersächsische Ministerpräsident – pardon - herum ballerte. Und etwas resigniert könnte man sagen, das Feld ist anschließend noch etwas verwüsteter als zuvor. Jedes Mal das gleiche. Wo doch die Bildung, die wir Deutsche so hoch halten, eine der wichtigsten Kultivierungsleistungen sein soll.

    Der 30jährige Bildungskrieg, der letzte Religionskrieg der uns noch geblieben, ist nicht vorbei.

     

    Wir glaubten ja gerade den Rechtschreibkrieg hinter uns zu haben, bei dem es vor allem um Trennungsregeln, Kommas und die 3 „F“ der Flussschifffahrt ging. Auch da kämpfte Christian Wulff ganz vorn mit. Im September kündigte er an, den unfähigen Kultusministern das Heft in Sachen Orthografie aus der Hand zu nehmen. Nun ist der Sommer vorbei. Das Populismus Projekt ist im Rohr krepiert. Aber Wulff spürt, Bildung wird das Thema der Saison und er sagt sich, auf in den Ring, die Tagesordnung bestimmen und sich als mutiger Entscheider präsentieren. So macht sich Christian der Große auf, den KMK Knoten eigenhändig zu zerschlagen. „Ich kündige den Staatsvertrag.“ Unbeschwert von Wissen, denn es gibt gar keinen Staatsvertrag. Ohne Abstimmung. Einfach nur so, aus purer Entschlossenheit. Schon am Tag drauf wird er kleinlaut und spricht in Interviews nichts als Klischees. In der Kultusministerkonferenz solle nicht mehr der Langsamste das Tempo bestimmen. Sie sei nicht innovativ. Und so teuer. 2,5 Millionen zahle Niedersachsen im Jahr für lauter arrogante Bürokraten. Das klingt wie für BILD zum Zitieren gedichtet. Heiße Luft. Nehmen wir das Geld. Täglich zahlt das verschuldete Niedersachsen sieben Millionen Euro bloß an Zinsen.

     

    Man sollte Wulff nicht zu viel politisches Kalkül unterstellen. Die prompten Reaktionen seiner CDU Kollegen aus Hessen und Stuttgart zeigen, da ist in Hannover keine Strategie, außer der des Egos. Profilierungspanik. Schon Samstag Abend in den Tagesthemen wirkte er nur noch tollpatschig, als Anne Will ihn aufs Glatteis führte. Kurz vor dem Einbruch fiel ihm ein, nein, nein, abschaffen wolle er die KMK ja gar nicht, worauf der Austritt eines Landes aber hinaus liefe. Nur erneuern. In der KMK solle künftig nicht mehr die Einstimmigkeit, das berühmte Vetoprinzip gelten. Das klingt moderat, richtig vernünftig. Aber was das heißt, hatte er sich auch wieder nicht überlegt. Wenn Länder künftig tatsächlich durch Mehrheitsbeschlüsse überstimmt werden können, dann würde aus dem Abstimmungs- und Handlungsvermeidungsorgan, das die KMK ja ist, eine Art Bildungsregierung. Dann bestimmte die Mehrheit der Bundesländer über die unterlegenen. Das wäre das Ende des Föderalismus. Wer glaubt eigentlich eine so mit Macht gestärkte KMK würde Entscheidungen fördern und Deutschland vielleicht sogar dem Bildungsfrieden näher bringen? Und was will Wulff nun wirklich? Die KMK abschaffen oder sie zu einer dritten machtvollen Instanz neben den Ländern und dem Bund erhöhen?

     

    Man sieht, der Föderalismus ist das Problem. Die KMK ist nur das Symptom. Wir haben in der Bildung einen regulierungswütigen, häufig die Akteure demütigenden Zentralismus. Und den haben wir gleich 16 Mal. Dessen Kopfgeburten müssen dann in der KMK ewig abgestimmt werden. Daraus wird nie was.

     

    Wir brauchen unter dem Dach eines prinzipiellen Konsenses eine gute Klimapolitik, damit in durchaus vielfältigen Bildungslandschaften eigenwillige Schulen gedeihen. Wer weiß, vielleicht bringt uns die Wulffsche Attacke am Ende doch einer Lösung näher? Vielleicht merken wir inmitten des mit sich verhedderten Föderalismus und all der deprimierenden OECD-Diagnosen, wie klar und einfach die Modernisierungsformel der erfolgreichen Bildungsnationen ist. Dort gibt es eine starke, aber kleine politische Zentrale. Sie organisiert vor allem den Konsens über Ziele und sie sorgt für die nötigen Ressourcen. Ansonsten, alle Macht den Schulen, Hochschulen und den vor Ort Handelnden. Eine dritte Instanz heißt Evaluation: Rechenschaft geben. Diese moderne Dreifaltigkeit ermöglicht, wovon wir in Deutschland immer nur sprechen: Vielfalt.

    27. 9. taz Kommentar Wulff & die KMK

    TROTZ WULFF - POLEMIK STIMMT: DIE KULTUSMINISTERKONFERENZ SCHADET

    Vom Schaden des Bildungsföderalismus

    Christian der Große zerschlägt eigenhändig den Knoten der Kultusministerkonferenz (KMK). Ohne Wissen, ohne Abstimmung, einfach nur so, aus purer Entschlossenheit. "Ich kündige." Man sollte Wulff nicht zu viel politisches Kalkül unterstellen. Die Reaktionen seiner CDU-Kollegen aus Hessen und Stuttgart zeigen: Da ist in Hannover keine Strategie, außer der des Egos. Profilierungspanik.

    Beim von Wulff forcierten Rechtschreibkrieg klang er ähnlich martialisch. Den unfähigen Kultusministern das Heft aus der Hand nehmen und so. Nun ist Populismus-Projekt 1 im Rohr krepiert. Was bleibt, ist die deutsche Bildungskrise. Auf in den Ring. Wer setzt die Tagesordnung? Wer zeigt den Mut des Entscheiders? Nur: Abends in Tagesthemen wirkte der Bär aus Osnabrück nur noch tollpatschig, als Anne Will ihn aufs Glatteis führte. Kurz vor dem Einbruch fiel ihm ein, nein, nein, abschaffen wolle er die KMK ja gar nicht, worauf der Austritt eines Landes hinaus liefe. Nur erneuern. In der KMK solle künftig nicht mehr die Einstimmigkeit (Vetoprinzip) gelten. Aber was das heißt, hatte er sich auch noch nicht überlegt. Denn wenn Länder durch Mehrheitsbeschlüsse überstimmt werden können, dann würde aus dem Abstimmungs- und Handlungsvermeidungsorgan KMK eine Bildungsregierung. Dann bestimmten Mehrheiten über unterlegene Bundesländer. Das wäre das Ende des Föderalismus.

    Wir sollten uns an den erfolgreichen Bildungsnationen orientieren. Deren Modernitätsformel ist einfach: Es gibt eine Zentrale, die den Konsens über Ziele und die Ressourcen organisiert. Und dann alle Macht den Schulen, Hochschulen und allen anderen vor Ort Handelnden. Die dritte Instanz heißt Evaluation: der Öffentlichkeit Rechenschaft geben. Diese moderne Dreifaltigkeit braucht keinen kleinstaatlichen Bildungsföderalismus. Der ist nämlich das Problem. Die KMK ist ein Symptom. Wir brauchen unter dem Dach eines prinzipiellen Konsenses vielfältige Bildungslandschaften mit eigenwilligen Schulen. Was wir haben, das ist ein regulierungswütiger Zentralismus. Und den gleich sechzehn Mal. Dessen Kopfgeburten müssen in der KMK ewig abgestimmt werden. Daraus wird nie was." REINHARD KAHL

    taz Nr. 7472 vom 27.9.2004, Seite 11, 48 Zeilen (Kommentar), REINHARD KAHL

     

    taz 24.9. Würdige Pädagogen


    Würdige Pädagogen

    Die deutschen Lehrer sollten nicht bloß Fachwissen verehren, sondern endlich die Kinder wertschätzen lernen. Nur so können sie wirksam und nachhaltig Wissen vermitteln

    Vielen Ärzten graut es vor Lehrern. Die wüssten alles und vor allem wüssten sie alles besser. "Lehrer", sagen die Mediziner, "ist ein Symptom." Gut, das sind Vorurteile. Es gibt viele Lehrer, die es widerlegen. Aber gerade von denen hört man die schärfste Kritik an diesem Habitus einer falschen Souveränität, denn er macht deutsche Lehrer so auffällig und inzwischen so unzeitgemäß: Sie pochen aufs Wissen statt aufs Lernen. Zu den skandalösen Ergebnissen der OECD-Lehrerstudie gehört, dass die meisten Lehrer in Deutschland ein Vorurteil gegen das Lernen haben, zumindest wenn es um sie selbst geht. Ihre Bereitschaft zur Fortbildung ist ganz niedrig.

    Betrachten wir den deutschen Lehrkörper wie eine Beuyssche soziale Skulptur. Lehrer orientieren sich hierzulande noch am alten Bild vom Wissensbesitzer. Nach einem langen Studium, darin sind unsere Pädagogen Weltspitze, wird von ihnen dann bis zum Vorruhestand im Unterricht der Stoff vermittelt - nur 7 Prozent halten überhaupt bis zum Pensionsalter durch.

    Das Selbstverständnis des Wissensbesitzers stammt aus zwei Konzepten des 19. Jahrhunderts. Das eine ist das des Bildungsbürgers. Mit viel angelesenem Wissen hat er sich über eine Welt erhoben, die zu verändern ihm in einer bürgerlichen Revolution nie gelang. (Hallo, Achtundsechziger!)

    Das andere Konzept ist das des Fachmanns. Ausgestattet mit einem prallen Rucksack voller Wissen, liefert er Wertarbeit am Werkstoff oder am Schülermaterial. Damit konnte dieses Land im Industriezeitalter Weltmeister werden.

    Blicken wir noch etwas genauer auf den Bildungsbürger. Er überspielte seine politische Resignation mit inneren Werten. Er trieb seine Ideale hoch und höher. Im wirklichen Leben wurde er dabei misanthropisch. Als Misanthrop galt in der Antike ja ein Mensch, der andere nicht für würdig findet, mit ihm zusammenzuleben.

    Wenn aber im Jahr 2004 an einem renommierten Gymnasium, das so stolz ist auf Latein und Griechisch, die stehende Rede eines Deutschlehrers vor seinen Schülern heißt, "ihr seid der Rotz an meinem Ärmel", dann spricht hier der Verächter, der seit Generationen mit wechselnden Argumenten weiß, dass mit den heutigen Schülern nichts mehr los ist.

    Das kann er mit seinem schöngeistigen Alter Ego oder mit progressiven Aufklebern auf dem Golf durchaus vereinbaren. Natürlich reden nicht alle Lehrer so. Nicht mal die meisten. Aber dieser Unterstrom von Verachtung und Beschämung ist in unseren Schulen noch immer stark. Herabsetzung und Selektion sind die stärksten Spuren des deutschen Sonderweges in der Bildung. In ihnen bewegen sich Lehrer als Experten ihrer Fächer und als Stundengeber.

    In der Grundschule, wo bekanntlich Kinder und nicht Fächer unterrichtet werden, findet man deshalb auch einen ganz anderen Lehrertyp. Zumeist sind es Lehrerinnen. Aber sobald in unseren Schulen das disziplinäre System der Fächer seine Herrschaft übernimmt, wird es für Lehrer, die es anders machen wollen, übermächtig. Es gibt zu denken, dass sich das Gymnasium, wo sich Lehrer als Historiker, Germanisten oder Chemiker verstehen und höchstens nebenher Spezialisten fürs Lernen sind, als die am wenigsten wirksame Schule herausgestellt hat.

    Bei der Hamburger LAU-Studie (Lernausgangslagen Untersuchung), für die sämtliche Schüler getestet wurden, konnten im Gymnasium zwischen der siebten und neunten Klasse, zumal bei den Jungen, keine nennenswerte Kompetenzzuwächse gemessen werden. Was passiert da eigentlich? "Da unterrichten Lehrer", sagt Wolfgang Edelstein, emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, "mit einem Rezeptwissen, das sie von den Feldwebeln Friedrichs des Großen kaum unterscheidet."

    Die Bodensee-Schule in Friedrichshafen hingegen ist leistungsmäßig Spitze, obwohl sie den herkömmlichen Fachunterricht weitgehend aufgegeben hat. Obwohl? Nein, weil sei ihn aufgegeben hat. Aber die meisten von uns neigen im Zweifelsfall häufig noch dazu "obwohl" zu sagen. Wenn wir unsere Innenbeleuchtung einschalten, erkennen wir uns als Verwandte der kritisierten Lehrer und als potenzielle Verbündete beim Umbau eines Systems, in dem das Belehren dem Lernen im Weg steht.

    Dass die Ergebnisse der OECD Lehrerstudie die Öffentlichkeit so erregen und dass inzwischen jede Bildungsdiagnose dieses Land fiebrig macht, zeigt auch eine andere Seite. Die geistigen Modelle des 19. Jahrhunderts überzeugen nicht mehr. Aber können sich die Deutschen Alternativen vorstellen?

    In Kanada zum Beispiel spricht man vom Teacher as a Learner und sieht darin den entscheidenden Impuls, damit Schüler mit selbst reguliertem Lernen ihr Leben in die eigenen Hände nehmen. Seit mehr als zehn Jahren verbringen in Schweden Lehrer 35 volle 60-Minuten-Stunden die Woche in der Schule. Das war die wichtigste Schulreform am Wendekreis der Pädagogik. Sie hat dazu geführt, dass Lehrer die Schule für sich selbst zu einem Lebensmittelpunkt machen und damit auch für ihre Schüler.

    Die Gewerkschaften haben diese Reform gegen manchen Widerstand bei ihren Mitgliedern durchgesetzt. Das Ziel, den Beruf zeitgemäßer zu machen und damit die Würde der Pädagogen zu erhöhen, war stärker als die Liebe zum verfügbaren Nachmittag. Statt vereinzelt Stunden geben, mehr Zusammenarbeit, heißt die Maxime.

    Zugleich wurden Schulen selbstständig. Jede schwedische Schule hat ihren Etat, der sich nach der Zahl der Schüler bemisst. Die Schule entscheidet, ob sie demnächst in Fortbildung oder ins Gebäude investiert. Natürlich stellt der Schulleiter in Absprache mit dem Kollegium neue Lehrer ein und handelt auch Gehälter aus.

    Seitdem werden in Schweden Lehrer mehr und mehr als Lotsen in die Zukunft angesehen und weniger als Echo aus der Vergangenheit. Und immer häufiger proklamieren Vordenker der schwedischen Schule wie Eskil Frank von der pädagogischen Hochschule Stockholm: Die besten Lehrer sollten in der Vorschule unterrichten. Das ist der Kern: Wertschätzung der Kinder und Jugendlichen statt Verehrung des Fachwissens. Die List der Sache ist: So entsteht ein viel wirksameres und nachhaltigeres Wissen als beim deutschen Bulimielernen.

    Nun sagen alle: Wir müssen die Lehrerbildung ändern. Ja, auch das. Aber so viel Zeit haben wir nicht mehr. Man stelle sich vor, Siemens erklärt, das neue Handy kommt erst nach einer Reform des Ingenieurstudiums. Absurd. Die Lehrer müssen jetzt neben ihrer Arbeit die Bildung ihrer Professionalität betreiben. Dafür verdienen sie jede materielle Unterstützung und alle Anerkennung.

    Die beste Lehrerbildung wird der Umbau der deutschen Schule sein. Der steht am 7. Dezember wieder ganz oben auf der Tagesordnung. Dann werden die Ergebnisse der zweiten internationalen Pisa-Studie veröffentlicht.

    REINHARD KAHL

    taz Nr. 7470 vom 24.9.2004, Seite 12, 241 Kommentar REINHARD KAHL, taz-Debatte

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    …und nun die Lehrer /OECD Lehrerstudie

    Reinhard Kahl

    ...und nun die Lehrer

    OECD Lehrerstudie wird veröffentlicht

     

    Schon wieder eine Schelte für die Deutschen Schulen. Diesmal sind die Lehrer dran. Und abermals ist es die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die kritisch und im Ton etwas verwundert auf dieses Land blickt. Seine Lehrer sind nur was die Bezahlung betrifft Weltspitze. Um ihre Professionalität ist es nicht gut bestellt.

     

    Diese OECD Lehrerstudie „Attracting, Developing and Retaining Effective Teachers“ – also wie man wirksame Lehrer bekommt, fördert und behält – kann man nicht mit der großen Schülerstudie Pisa vergleichen, für die Hunderttausende von Fünfzehnjährigen alle drei Jahre weltweit getestet werden. Die Lehrerstudie basiert auf Analysen der Bildungssysteme. Experteninterviews wurden ausgewertet. Zur Beurteilung der 24 teilnehmenden Länder fuhren internationale Experten durch die Welt.

     

    Schon im vergangenen Dezember zitierten Zeitungen aus dem Reisebericht der Experten, die durch Deutschland gefahren waren. Da war wenig schmeichelhaftes zu lesen: „Schule und Unterricht seien geschlossene Veranstaltungen. Vermisst wurde auf allen Stufen des Systems die Rechenschaftslegung. Weder Lehrer noch Schulen müssten in Deutschland darüber Auskunft geben, was sie leisten und ob sie ihre Ziele erreichen.

     

    Seit März liegt der deutsche Teil der internationalen Studie der Kultusministerkonferenz vor. Auf eine Stellungnahme konnten sich die 16 Minister offenbar nicht so leicht einigen. Aber morgen werden nun die im Manuskript 77 Seiten füllenden OECD Bemerkungen zu Lehrern in Deutschland in Berlin von den Kultusministern der Öffentlichkeit vorgestellt.    

    Aber in der fiebrigen deutschen Bildungserregung schreiben seit Tagen schon einige Zeitungen über die Studie und auch uns liegt das Dokument vor, das mit Sicherheit wieder für Wirbel sorgen wird. Gerade in Deutschland, wo die meisten Lehrer lieber belehren, als die Schüler in eine gute Kultur des Lernens hinein zu ziehen, wuchern ja die Ressentiments.

    So ist es nützlich zu unterscheiden zwischen „den Lehrern,“ über die jeder sein Urteil hat und den institutionellen Vorgaben für die Lehrerausbildung und für den Beruf.

    Deutsche Lehrer, so die OECD werden in ihren Fächern gut und vor allem sehr lange ausgebildet. Aber reicht ein Studium der Germanistik, der Chemie oder Geographie? Nein! Zu kurz kommt, so die Gutachter der OECD, dass Lehrer ja nicht nur Fächer, sondern vor allem Schüler unterrichten sollen. Die Lernkompetenzen der Schüler werden zu wenig gefördert. Das kooperative Lernen, also die Zusammenarbeit der Schüler werde nur schwach stimuliert. Viel Einwegkommunikation herrscht im Klassenzimmer und das selbstgelierte Lernen werde ungenügend  angeregt. Ließt man diesen Mangelkatalog, dann erscheinen die Schwächen beim Lernen der Schüler wie ein Spiegel des deutschen Lehrerberufs. Hauptmangel ist Kooperation. Aber der Einzelkämpfer ist nicht mehr zeitgemäß nicht als Lehrer und schon gar nicht als Schüler.

    Der Schwede Mats Ekholm war einer der internationalen OECD Experten, deren Bericht morgen veröffentlicht wird. Nach einer anderen Reise durch Deutschland sagte er:

    Einspielung 1  Mats Ekholm

    „In  Deutschland sehe ich mehr einen befehlsführenden Lehrer. Da bin ich erstaunt, wie man in Deutschland die Zukunft vorzubereiten versucht. Ich sehe, dass man in Deutschland mit seiner Schule mehr für alte Zeit arbeitet..“

      

    Die Deutschen Lehrer gehören, wie gesagt, weltweit zu den am besten verdienenden und zugleich zu den unzufriedensten.

    Es ist eine Tatsache: viele Lehrer in Deutschland sind enttäuschte Fachleute. Wie Schüler lernen, das haben sie nicht studiert und was es heißt zu lehren, kam im Studium auch nicht vor. Um eine Berufswissenschaft, wie sie etwa Mediziner haben, sind Lehrer in ihrer Ausbildung betrogen worden, sagt der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Wolfgang Edelstein. Dann unterrichten sie, wie sie es Schüler selbst gelernt haben. So reproduziert sich ein überholtes Schulsystem.

     

    Kurz bevor im Dezember die zweite internationale Pisa Studie erscheint, steht uns erst mal in den Medien eine Debatte über Lehrer ins Haus. Man muss fürchten, dass da kollektiv alte Rechnungen beglichen werden. Aber wenn sich der Bildung in diesem Land etwas ändern soll, wird es Zeit abzurüsten. Wie sonst soll die Schule endlich als Lernort kultiviert werden. Häufig genug erinnert die Schule ja an ein Schlachtfeld.

    Der Psychiater und Lernforscher Manfred Spitzer kann davon ein Lied singen:

     

    Einspielung 2  Spitzer

    „Wir haben in Deutschland mehr psychosomatische Klinikbetten als der Rest der Welt. Und in der Hälfte dieser Betten liegen Lehrer. Wenn sie 20 Jahre auf verlorenem Posten kämpfen, dann gehen sie kaputt dabei.“ 

     

    Aber Lehrer sind natürlich nicht nur Opfer. Lehrer verkörpern die Schule, ja man muss sagen, sie repräsentieren die Welt gegenüber der nächsten Generation. Was also ist ein guter Lehrer, fragen wir den Psychiater, Hirn- und Lernforscher Manfred Spitzer.

     

    Einspielung 3  Spitzer

     Als Psychiater kann ich etwas ganz einfaches dazu sagen: es gibt Psychotherapieforschung: die Therapie wird was, wenn Therapeut und Patient schon in den ersten Stunden zueinander finden, wenn sie ein tragfähiges Bündnis aufbauen und emotional positiv zueinander eingestellt sind. Ich bin mir sicher, das ist in der Schule nicht anders.

    Ich habe Kinder, ich bekomme das erzählt  ha, ha, jetzt habe ich euch wieder mal eins rein gewürgt. Oder gar, wenn ein Lehrer eine Arbeit schreiben lässt und dann schreibt ein Drittel der Klasse eine sechs. Was denkt sich der Lehrer eigentlich?

     

     

    These zur Schule i n Virtuelle Akademie der Naumann Stiftung

    Reinhard Kahl

     

    Was ist mit Treibhäusern der Zukunft gemeint ?

    Weshalb ist es so wichtig, dass wir Schulen nicht als enorme Förderbänder zur Wissensvermittlung betreiben, sondern als Orte kultivieren?

     

    Das Zeitalter der Globalisierung ist tatsächlich eines der Glokalisierung. Viel wird davon abhängen, wie und ob Orte gelingen, an denen Wissen, Kompetenzen und Ideen gebildet werden. Menschen brauchen Wurzeln und Flügel. Schon heute übertrifft die Wirksamkeit des Bildungskapitals in der Wirtschaft die Effekte anderer Kapitale. Lernen ist nicht länger ein Vorrecht von Kindheit und Jugend. Lernen wird zur überragenden Idee nachindustrieller Gesellschaften.

     

    Lernen ist in Deutschland allerdings häufig noch negativ besetzt. Stärker als in anderen Ländern haben viele Menschen die Schule als Beschämung erlebt, an die sie nicht mehr erinnert werden wollen. Warum wird Kindern immer noch so häufig mit der Zukunft und dem "späteren Leben" gedroht, statt sie dazu einzuladen?

     

    Die Situation ist günstig. Der Glaube an die alte Schule, die sich Lernen eher als bittere Medizin vorstellt, zerbröselt im Zeichen von Pisa und anderen OECD-Studien. Zumal in der Wirtschaft erweist sich,  dass Wertschätzung eine Voraussetzung für Wertschöpfung ist.

     

    Wäre das nicht die Stunde für größere Bündnisse? Sozusagen ein pädagogischer Frieden nach dem immer noch nicht so ganz beendeten dreißigjährigen deutschen Bildungskrieg? In Ländern mit erfolgreichen Schulen ist Bildung nicht das Hackbrett, sondern tatsächlich ein Gemeinschaftsfeld der Politik. Ob wir das auch in Deutschland schaffen?

     

    Ich bin davon überzeugt, dass eine Schule, die als „Treibhaus“ Zukunft erzeugt – denn die Wiederholung der Vergangenheit ist ja auch eine Möglichkeit, die viele ängstliche Menschen vorziehen, - dass dies eine Schule sein muss, in der man als Schüler sicher und „zu Hause“ sein kann. Eine Schule, in der man nicht beschämt wird. Die Schule als ein geschützter Ort, an dem man sich aus sich heraus wagen kann.  

     

    Muss man unter diesem Aspekt nicht noch einmal über unser gegliedertes Schulsystem nachdenken?  Und zwar nicht unter dem Aspekt – wie manch einer fürchtet- einer Gleichmacherei, gewissermaßen einer pädagogischen LPG. Nein! Vielmehr eine Schule, die so viel Sicherheit und Vertrauen schenkt, dass jeder Mensch sein Eigenes wagen und produktiv ins Spiel bringen darf, ja soll. Dafür braucht jeder, aber zumal ein Kind fehlerfreundliche Entwicklungsbedingungen. Das geht nicht an einer Schule, der die Lebenslüge, die falschen Schüler zu haben, so nahe gelegt wird. Das ist ein schlechter Anreiz für  Lehrer zu verstehen, welch Reichtum und Wunder in jedem Menschen steckt!

     

    Damit wir solche Schulen bekommen, brauchen wir allerdings auch insgesamt ein gute „Klimapolitik“ den Schulen, namentlich den Schülern und Lehrern gegenüber. Und last not least gehört dazu auch etwas von ihnen zu verlangen! Kein Appeasement! Kein: „ist doch egal“.

     

    Darüber muss Verständigung geschaffen werden, ja, wirklich Verständigung, das ist nicht ganz gratis!

    Und dafür brauchen wir, finde ich eine „zivilgesellschaftliche“ Plattform. Menschen, die sich zum Handeln und zum Leben verabreden. Das wäre auch ein Vorbild für Kinder und Jugendliche.     

    DIE ZEIT OECD Mit Bildung können arme Länder reich werden

    DIE ZEIT


    39/2004 

    »Mit Bildung können arme Länder reich werden«

    Die neue OECD-Bildungsstudie stellt Deutschland erneut kein gutes Zeugnis aus

    Die jährliche Vorstellung des OECD-Berichts Education at a Glance (Bildung auf einen Blick) ist inzwischen so etwas wie die Bilanzpressekonferenz des globalisierten Bildungssystems. Aber in keiner der 30 Industrienationen, die sich zur OECD zusammengeschlossen haben, werden die Ergebnisse so fieberhaft erwartet wie in Deutschland. Noch ehe die Studie Anfang der Woche vorlag, sorgten Schlagzeilen über den drohenden internationalen Rückfall deutscher Schulen und Hochschulen hierzulande für Aufregung. Dabei ist weder diese Warnung neu noch die brisanteste Aussage des diesjährigen OECD-Berichts. Der hält noch ganz anderen Sprengstoff bereit. So erteilen die OECD-Experten der derzeit populären These von der »Ausbildung nach Bedarf« eine klare Absage. Mit dieser Vorgabe sollen beispielsweise künftig in Hamburg 50 Prozent der Stellen in den Geistes- und Sprachwissenschaften gekürzt werden (ZEIT Nr. 35). Die OECD dagegen postuliert: Bildung ist eine Investition ins Humankapital. Und je mehr Menschen studieren, umso besser. So weist der Bericht nach, dass jene Länder, in denen die Zahl der Hochschulabschlüsse seit 1995 um mehr als fünf Prozent gestiegen ist, sinkende Arbeitslosenquoten und steigende Einkommen haben. Und jedes zusätzliche Jahr Bildung, das eine Bevölkerung im Durchschnitt genießt, steigere das Bruttoinlandsprodukt um drei bis sechs Prozent.

    »Von einer Inflation durch hohe Abschlüsse kann überhaupt keine Rede sein«, folgert Andreas Schleicher, Chef der Abteilung für Bildungsanalysen in der Pariser OECD-Zentrale. »Im Gegenteil«, sagt er, »mit Bildung können arme Länder reich werden.« Daraus folgt aber auch: Reiche Länder, die ihr Humankapital verwahrlosen lassen, werden künftig verarmen.

    Das Paradebeispiel für eine »erfolgreiche Bildungsnation« ist Finnland. Hätte man dort vor 25 Jahren lediglich »nach Bedarf« ausgebildet, würde die Firma Nokia möglicherweise noch immer Stiefel und Gummiwaren herstellen. Stattdessen steht heute die Errichtung der »Kommunikationsgesellschaft« als Staatsziel in der finnischen Verfassung. Und das wird unter anderem dadurch definiert, dass mindestens 70 Prozent künftiger Generationen studieren sollen. Heute beginnen in Finnland tatsächlich 71 Prozent eines Jahrgangs ein mindestens vierjähriges Studium.

    Auch andere Nationen setzen auf Qualifikation. In Australien studieren 77, in Schweden 75 und in den USA 64 Prozent. In Deutschland dagegen nehmen gerade einmal 35 Prozent der Schulabsolventen ein Studium an einer Universität oder Fachhochschule auf. Und nur 19 Prozent legen am Ende auch tatsächlich ein Examen ab – das ist eine der niedrigsten Quoten der OECD-Länder (zum Vergleich: In Finnland erreichen 45 Prozent eines Jahrgangs einen Hochschulabschluss).

    Auch die betriebliche Ausbildung hat Schwächen – flexibel macht sie nicht Dafür loben Deutsche gern ihr »duales System«, also die besondere Kombination von betrieblicher und schulischer Ausbildung. Doch auch das kommt im OECD-Bericht nicht ohne Blessuren weg: Zwar sorge es für einen vergleichsweise reibungslosen Übergang in den Beruf, aber auf Dauer erweise sich die betriebliche Lehre als zu unflexibel. Je länger ehemalige Lehrlinge ihren Beruf ausüben, desto höher ist ihr Risiko, arbeitslos zu werden. Das Umsteigen auf andere Tätigkeiten fällt ihnen schwer. Das zeigen nicht nur internationale, sondern auch innerdeutsche Vergleiche mit Absolventen von Berufsfachschulen – obwohl in Deutschland Fachschulen häufig als zweite Wahl gelten für Jugendliche, die keine Lehrstelle gefunden haben.

    Angesichts der ungewissen beruflichen Zukunft legen solche beruflichen Schulen eine gute Grundlage. Das zeigt auch ein vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung durchgeführter Vergleich mit Schweden. Dort findet die berufliche Ausbildung in der Schule statt. Die größere Neigung der Schweden, später ihren Beruf zu wechseln, wird mit der schulischen Übung im Lernen und Umlernen erklärt.

    Auf diese Flexibilität, die in der allseits beschworenen Wissensgesellschaft immer notwendiger wird, bereitet das deutsche Bildungssystem allenfalls mäßig vor. Auch hat sich hierzulande noch nicht durchgesetzt, dass gute Bildungsabschlüsse auch Anschlüsse an weitere Bildungsstufen bieten. Diesen von der OECD angemahnten »Paradigmenwechsel« exerzieren erfolgreiche Ländern bereits vor: Wer etwa in Australien seine Ausbildung als Krankenpfleger gut beendet, kann als Mediziner weitermachen. Wer als Programmierer glänzt, schließt daran Informatik oder vielleicht Physik an, häufig nach einem Zwischenspiel im Beruf. Eine solche Durchlässigkeit fehlt in Deutschland.

    Mit Geld allein ist es jedenfalls nicht getan. Aber ohne entsprechende Investitionen in Bildung ändert sich auch nichts. Während die OECD-Länder durchschnittlich 12,7 Prozent der öffentlichen Haushalte für Bildung aufwenden (Tendenz steigend), verharrt Deutschland seit 1995 unverändert bei 9,7 Prozent. Bei den öffentlichen Ausgaben in Kindergärten und Grundschulen steht Deutschland sogar am Ende der OECD-Skala. Nur die Lehrergehälter sind hierzulande spitze.

    Aber gibt es denn gar keine Verbesserungen, Herr Schleicher? Danach habe er auch gesucht, gesteht der in Hamburg geborene Mathematiker, aber gefunden habe er »eigentlich nichts«. Selbst die Erhöhung der Studienanfängerquote seit 1995 von 28 auf 35 Prozent, die die OECD lobt, werde vom Geburtenrückgang wieder wettgemacht. Am meisten sorgt sich Schleicher, dass das deutsche Schulsystem eine neue Unterschicht geradezu produziere. 23 Prozent der 15-Jährigen gehören wegen ihrer schwachen Leistungen zur so genannten Risikogruppe – Jugendliche, bei denen es fraglich ist, ob sie je in einen Beruf kommen.

    Möglicherweise wird diese Prozentzahl sogar bald überholt sein. Denn die Angabe stammt noch aus der ersten Pisa-Studie, die im Jahr 2001 veröffentlicht wurde. Inzwischen ist die Auswertung der zweiten internationalen Pisa-Studie fast abgeschlossen. Sie wird am 7. Dezember veröffentlicht. Für Bildungspolitiker hat der Pisa-Countdown längst begonnen. Manche fürchten allerdings, er könne ein Countdown für den deutschen Niedergang werden.

    taz 16. 9. 04 Eine Schule für alle steigert die Intelligenz und das Bruttosozial

     


    kommentar

    Eine Schule für alle steigert die Intelligenz - und das Bruttosozialprodukt

    Das Komische ist, die Daten im jährlichen OECD-Bildungsreport sind nicht neu. Schon lange investieren die Deutschen viel zu wenig Geld. Noch älter ist allerdings die Tradition, mit Vertrauen in die nächste Generation zu geizen. Unser viergliedriges Schulsystem - wer vom dreigliedrigen spricht, vergisst, dass wir fast fünf Prozent in Sonderschulen aussondern, weltweit einmalig - hält für viele Kinder die Botschaft bereit: Ob du dazugehörst, ist zweifelhaft. Noch immer wird Studienanfängern in Fächern, die auf ihre Härte stolz sind, verkündet: "Die Hälfte von Ihnen gehört nicht hierher - wer es nicht hören will, wird es bei der Zwischenprüfung fühlen."

    Die Quittung: Wir sind Schlusslicht bei den Studienanfängern und an der Spitze bei den Abbrechern. Sogar in der Sonderschule für Lernbehinderte werden Kinder gestestet, ob sie nicht eigentlich in die Anstalt für geistig Behinderte gehören. Das Ergebnis: Das Gefühl, sich zugehörig zu fühlen, ist in unseren Schulen katastrophal niedrig. Auch das ist inzwischen gemessen. Es ist ja klar, wer die Schule wie eine zur Bewährung ausgesetzte Vorstrafe aufs spätere Leben ansieht, macht lieber ein intelligentes Gesicht und blufft, statt zu lernen. Auch Gesamtschulen, die mit ihren ausgetüftelten Kursen die Selektion auf die Spitze treiben und das Leben als Verschiebebahnhof präsentieren, sind keine Lösung.

    Die Deutschen müssen sich endlich trauen, wie die Finnen zu sagen: "Kein Kind darf beschämt werden." Sie müssen wie die Schweden ins Schulgesetz schreiben: "Sortieren findet bis Klasse neun nicht statt." Aber die meisten Deutschen glauben im Grunde ihres Herzens gar nicht, dass eine entneurotisierte Schule die beste Pisa-Ernte einfährt.

    Eine Schule für alle steigert die Intelligenz eines jeden - und erhöht sogar das Bruttosozialprodukt. Es ist bewiesen. Nun müssen die Deutschen nur noch daran glauben. Die ganze Misere hängt tief im kollektiven Imaginären. Wir brauchen Bilder des Gelingens! Und es wird darauf ankommen, nicht gleich wieder den alten deutschen Bildungskrieg anzuzetteln. Auch das ist eine Lehre der erfolgreichen Länder: Bildung ist ein Gemeinschaftsfeld der Gesellschaft und kein Hackbrett der Politik

    Die Debatte über den Unsinn des deutschen Sonderwegs hat die Politik ergriffen. Gut so. Aber selbst die Klientel der Grünen schickt ihre Kinder am liebsten aufs heilige Gymnasium - und dann: nichts wie durch. Aber Heterogenität ist erfolgreicher und sogar sexy. "REINHARD KAHL

     

     

    DRadio Berlin Kommentar zur OECD Studie

    DeutschlandRadio Berlin - 16. September 2004 • 09:52
    URL: http://www.dradio.de/dlr/sendungen/fazit/303479/

    14.9.2004
    Die Zukunft gehört dem Humankapital
    Überlegungen zur OECD-Studie
    Ein Kommentar von Reinhard Kahl
    Schultafel mit alter und neuer Rechstschreibung (Foto: AP)
    Schultafel mit alter und neuer Rechstschreibung (Foto: AP)
    Die jährlich vorgestellte Studie "Bildung auf einen Blick" stellt Deutschland in diesem Jahr ein schlechtes Zeugnis aus: Im Vergleich zu anderen Industrienationen seien die Ausgaben für Bildung hier zu niedrig, das Schulsystem veraltet, die vorschulische Betreuung auf niedrigem Niveau. Dies ist nur ein Vorgeschmack auf die im Dezember erscheinende zweite PISA-Studie.

    Heute hat in Deutschland der zweite Count Down Pisa begonnen. Wieso schon wieder Pisa und weshalb ein zweiter Count Down? Am 7. Dezember werden die Ergebnisse der zweiten Runde im internationalen Schülervergleich veröffentlicht.

    Zumindest einer kennt bereits die Ergebnisse, das ist Andreas Schleicher, der bei der OECD in Paris die Abteilung für Bildungsindikatoren leitet. Heute stellte er nur die jährliche OECD Studie "Bildung auf einen Blick" vor. Die wird jedes Jahr im September veröffentlicht. Die aufgeregten Reaktionen in der Öffentlichkeit zeigen, wie fiebrig der deutsche Bildungskörper reagiert.

    Beginnen wir zur Abkühlung mit Zahlen, allerdings solchen, bei denen sich die Deutschen die Augen reiben. In Finnland beginnen 71 Prozent der jungen Leute ein mindestens vierjähriges Studium. In Schweden sind es sogar 75 Prozent.

    Wo führt das hin, wenn jeder studiert, fragen sich viele Deutsche. Die OECD kann solche Fragen mit ihrer neuesten Bildungsanalyse beantworten. Länder, in denen der Anteil von Menschen mit Abschlüssen in Hoch- und Fachschulen seit 1995 um mehr als 5 Prozent gestiegen ist, haben sinkende Arbeitslosenquoten und steigende Einkommen. Jedes zusätzliche Jahr Bildung, das eine Bevölkerung im Durchschnitt genießt, steigert das Bruttoinlandsprodukt um drei bis sechs Prozent.

    Nicht nur bei den Finnen und Schweden studieren die meisten jungen Leute. Australien ist Spitzenreiter: da sind es sage und schreibe 77 Prozent, auch in den USA sind es 64 Prozent der Schulabsolventen. Und in Deutschland? 35 Prozent nehmen ein Studium auf. Aber viele brechen es ab. Nur 19 Prozent verlassen eine Uni oder Fachhochschule mit Examen. Bei den Studienabbrechern sind wir Spitzenreiter.

    Es ist kein Zufall, dass hierzulande entgegen aller Rhetorik das Misstrauen gegen zu viel Bildung so groß ist. Man sieht in ihr häufig noch den schweren Rucksack voll von trägem Wissen. Eine Last, die viele Menschen im Grunde verabscheuen und nur widerwillig auf sich nehmen. Dabei wird in Ländern, die die OECD "erfolgreiche Bildungsnationen" nennt, Bildung mehr und mehr als ein Auftrieb erlebt, der viele Menschen begeistert und tatsächlich höher bringt.

    Blicken wir eben noch mal auf die Zahlenseite, die Bilanz. Der Anteil an Investitionen für Bildung liegt in Deutschland mit 5,3 Prozent knapp unter dem OECD Durchschnitt, 5,6 Prozent, aber weit entfernt von Ländern, mit denen sich dieses Land vergleichen müsste, etwa den USA mit 7,3 Prozent oder Aufsteigern wie Korea mit 8,2 Prozent. "Mit Bildung können arme Länder reich werden", sagt heute die OECD mit Blick auf den fernen Osten und in den hohen Norden. Der Satz gilt auch umkehrt: Reiche Länder, die ihr Humankapital verwahrlosen lassen, werden verarmen.

    Wirksame Bildung wird immer weniger zur Erfüllung des Bedarfs für bestehende Berufe konzipiert. Darin sieht die OECD einen Paradigmenwechsel. Bildung gilt als Investition ins Humankapital. Hätten die Finnen vor 25 Jahren, als bei Nokia noch Stiefel und andere Gummiwaren hergestellt wurden, überlegt für welchen Bedarf sie ausbilden sollen, wer würde heute diese Firma kennen? "Kommunikationsgesellschaft" steht inzwischen als Staatsziel in der finnischen Verfassung. Definiert wurde es unter anderem damit, dass zumindest 70 Prozent künftiger Generationen studieren.

    Die Vorstellung der OECD Studie "Bildung auf einen Blick" ist inzwischen so etwas wie die Bilanzpressekonferenz des globalisierten Bildungssystems. Deutschland investiert zu wenig Geld, vor allem aber zu wenig Vertrauen in die nächste Generation.

    Mehr Geld muss sein, aber mehr Geld allein bringt keine Besserung. In erfolgreichen Ländern wird das System der Bildungsabschlüsse durch eines der Anschlüsse an Berufe oder weitere Bildungsstufen ersetzt. Wer seine Ausbildung als Krankenpfleger in Australien gut beendet, kann als Mediziner weiter machen. Wer als Programmierer glänzt, schließt daran Informatik oder vielleicht Physik an, häufig nach einem Zwischenspiel im Beruf. Lehrer und Professoren sehen ihre Arbeit bestätigt, wenn möglichst vielen ihrer Eleven gute Anschlüsse gelingen. Sie wollen ihre Qualitätsansprüche nicht dadurch beweisen, dass eine hoch gelegte Latte nur von wenigen jungen Leuten genommen wird.

    Am meisten besorgen muss uns, dass das deutsche Schulsystem regelrecht eine neue Unterschicht produziert. 23 Prozent der 15-Jährigen gehören wegen ihrer schwachen Leistungen zur sogenannten Risikogruppe - Jugendliche, bei denen es fraglich ist, ob sie je in einen Beruf kommen.

    Möglicherweise wird die Zahl 23 Prozent sogar bald überholt sein. Denn die Angabe stammt noch aus der ersten Pisa-Studie aus dem Jahr 2000. Inzwischen ist die Auswertung der zweiten internationalen Pisa Studie fast abgeschlossen. Sie wird am 7. Dezember veröffentlicht. Als heute die OECD Bildungsbilanz vorgestellt wurden, sprach man in Berlin nur noch über den 7. Dezember. Der Count Down Pisa hat begonnen. Manche fürchten allerdings, er könne ein Count Down Deutschland werden.



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    Hamburger Abendblatt über „Treibhäuser der Zukunft“




    Kultur / MedienTreibhäuser der Zukunft: Wo Schule noch funktioniert
    Bildung: Es gibt sie doch, Schulen, die Spaß machen und Leistung bringen. Ein Film zeigt ansteckende Beispiele aus Deutschland

    Von Ruth Kastner

    Hamburg - Seit dem Pisa-Schock wird die Liste der Mängel im deutschen Bildungssystem rauf und runter diskutiert, verändert hat sich wenig. Aber der Schock hat zumindest den Blick geweitet auf andere Formen von Schule.

    Wegweisende Beispiele hat jetzt der Hamburger Filmautor Reinhard Kahl in seinem Film "Treibhäuser der Zukunft. Wie Schulen in Deutschland gelingen" zusammengetragen. Das Ergebnis ist so überzeugend, dass die vier politischen Stiftungen (Friedrich-Ebert, Friedrich Naumann, Konrad Adenauer, Heinrich Böll) gemeinsam zur Präsentation ins Zeise-Kino luden und den PISA-Erfinder Andreas Schleicher gleich dazu.

    Kahls Film hat eine stimulierende Botschaft: Es geht also doch! Schule, die Spaß macht, Lehrer, die engagiert sind und Leistungen weit über dem Durchschnitt erzielen.

    Was ist das Geheimnis dieser Schulen? Die Grundhaltung zunächst, dass jedes Kind so genommen wird, wie es ist. Nicht die im dreigliedrigen System angestrebte homogene Lerngruppe bringt die Schüler voran, vielmehr die heterogene, oft sogar altersgemischte Gruppe, in der die Großen den Kleinen auf die Sprünge helfen. "Es ist ein Vorteil, verschieden zu sein", sagt Rektor Alfred Hinz von der Bodensee-Schule in Friedrichshafen.

    Sämtliche im Film vorgestellten Schulen sind Ganztagsschulen, alle haben sich vom 45-Minuten-Takt der Schulstunde verabschiedet. Schüler wie Lehrer arbeiten überwiegend im Team, selbstständig. Schule ist keine Belehrungsanstalt, die ermüdet, ("man kann keinen Einheitsbrei über alle Kinder gießen"), sondern ermöglicht aktives Erfahren, Erleben, Erlernen. Die Lehrer sind oftmals handverlesen, und sie sind alle bereit, ihren Arbeitstag ganz in der Schule zu verbringen. Keiner käme auf die Idee, einen Stress-Test zu verlangen.

    Der Schulalltag ist klar strukturiert, Phasen konzentrierten Lernens wechseln mit Phasen von Bewegung und Spiel. Projektarbeit und vernetztes Lernen nehmen großen Raum ein. Nicht allein kognitives, sondern auch emotionales und soziales Lernen spielen eine große Rolle. "Lernen ist eine Aktivität des ganzen Menschen", heißt es etwa in der Jena-Plan-Schule.

    Zensuren spielen, wenn überhaupt, nur noch eine untergeordnete Rolle, ebenso nebensächlich werden Klassenarbeiten. "Problemkinder" werden nicht aussortiert, sie werden mitgenommen.

    Experten kommen zu Wort, Pädagogen wie Hartmut von Hentig, ein McKinsey-Berater, Hirnforscher und Psychologen. Alle stimmen einen Abgesang auf die deutsche Tradition des fragend entwickelnden Unterrichts an und plädieren für Schulen als Lebensorte, in denen die Lust auf Lernen gedeiht. So ein Film gehört ins Fernsehen - zur besten Sendezeit.

    "Treibhäuser der Zukunft" die 115-minütige Fassung gibt es als VHS-Video (15 Euro) und ab Oktober auch als Dreifach-DVD (29 Euro) mit ca. 14 Stunden Film, Interviews, Exkursen. Beides zu beziehen: Deutsche Kinder- und Jugendstiftung oder Beltz Verlag, www.dkjs.de oder Telefon 030/25 76 76 25 erschienen am 11. September 2004 in Kultur / Medien zurückLinks im WWW:
    www.dkjs.de


    Über die Filmvorführung in den Zeise Hallen /Naumann Stiftung

    http://www.fnst.org/webcom/show_article.php/_c-449/_nr-215/_p-1/i.html


    (Bild anzeigen)"Ganztagsschulen" heißt die Antwort der deutschen Bildungspolitik auf den PISA-Schock. Doch es reicht nicht aus, die bisherigen, wenig erfolgreichen Schulkonzepte einfach in den Nachmittag hinein zu verlängern. Der Journalist Reinhard Kahl zeigt in seinem Film "Treibhäuser der Zukunft. Wie in Deutschland Schulen gelingen", dass es auch ganz anders geht: Schulen können Lebensorte sein, in denen Schüler mit Begeisterung lernen, in denen Lust und Leistung, Individualität und Zusammenarbeit keine Gegensätze sind. Vergangenen Sonntag zeigte die Friedrich-Naumann-Stiftung den Film in Hamburg.

    „Dieser Film gehört in die Kinos“ schrieb nach der Uraufführung Nelson Killius von McKinsey & Company. Die taz lobte den Film, auch die Welt schrieb positiv und die ZEIT jubelte: „Zu schön, um wahr zu sein, müsste der rundum besorgte Deutsche da denken. Ist aber wahr, und zwar hier.“ – Und das in einem Land, in dem man zuweilen den Eindruck hat, Kulturkämpfe um die Bildung seien der letzte Religionskrieg, der uns in Deutschland noch geblieben ist?

    In Hamburg griffen nun auf Initiative des Büro Hamburg der Friedrich-Naumann-Stiftung die vier großen parteinahen Stiftungen den Ball auf. Gemeinsam mit der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung sowie mit den Eltern- und Schülerkammern präsentierten sie den Film in Hamburg als eine Kino-Matinee am Sonntag, den 5. September. Es kamen mehr als 400 Gäste, die zum Teil auf dem Fußboden saßen und auf Treppen standen. Fernsehen, Radio und Presse berichteten. Und alle waren begeistert.

    (Bild anzeigen)Als besonderer Gast zur Matinee kam auf Einladung der Friedrich-Naumann-Stiftung aus Paris ein Experte, der auch im Film kurz auftritt: Andreas Schleicher von der OECD, Erfinder und internationale Koordinator der PISA Studie. Er argumentierte auch gegen den häufigen Einwand, dass beim Lernen, wenn es Spaß macht, automatisch die Leistung auf der Strecke bleibe. Im Gegenteil: Lust und Leistung können sich gegenseitig steigern.

    Bleiben noch einige Millionen Menschen in Deutschland, die noch nicht von der „ansteckenden Gesundheit gelingender Schule“ infiziert sind. Es gilt also noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten, damit Schule sich wandelt: weg von der Belehrungsanstalt der Industriegesellschaft, hin zu Lebensorten, in den sich Kinder zu selbständigen und kooperativen Persönlichkeiten bilden können, wie sie es in der Wissens- und Informationsgesellschaft sein müssen.

    (Bild anzeigen)FNSt-Stipendiaten planen zur Zeit Filmvorführungen in Halle, Magdeburg, Jena und Mannheim. Außerdem bietet die Virtuelle Akademie der Friedrich-Naumann-Stiftung noch bis zum 24.9.2004 ein kostenloses, multimediales Informationsangebot zum Film an: http://ganztagsschulen.virtuelle-akademie.fnst.de

    Jöran Muuß-Merholz
    Büro Hamburg der Friedrich-Naumann-Stiftung

    E & W: Der deutsche Rechtschreibkrieg

     

    Joseph Beuys erfand die „soziale Plastik“,

    um mit seiner Kunst die Mythen

    des Alltags erkennbar zu machen. Eine

    hervorragende soziale Plastik ist

    mit dem deutschen Rechtschreibkrieg

    gelungen, wenn auch ganz unfreiwillig.

    Natürlich, man könnte sagen, alles

    nur Sommertheater. Aber in diesem

    Stück geht es so bitter ernst und

    humorlos zu, wie das wohl nur teutonische

    Stämme fertig bringen. Es droht

    wieder mal Chaos. Darin sind sich

    zwar nicht alle, aber doch ganz viele

    einig. Selbst die Fraktionsvorsitzende

    der Grünen im Bundestag, Karin

    Göring-Eckardt, sieht die ganze Sache

    „zur Anarchie führen“. Wer Deutschland

    in diesen Tagen nur aus dem

    Feuilleton kennt, der müsste tatsächlich

    glauben, die Basis der Kultur

    würde weggeätzt, das Schlimmste

    droht: Beliebigkeit. Am Ende weiß

    niemand mehr, woran er sich halten

    soll. Und, das scheint dort nun wirklich

    das Allerschlimmste, jeder macht,

    was er will.

     

    Den Vogel schießt Reiner

    Kunze ab, der als Schriftsteller

    länger nicht mehr

    hervorgetreten ist: „Ich habe

    schon mal gegen eine

    Mauer gekämpft . . . seit

    acht Jahren kämpfe ich wieder gegen eine

    Mauer, die diesmal durch meine

    Sprache verläuft . . .“ Wer bietet mehr?

    Westerwelle. Für ihn ist die Gelegenheit

    günstig, die Abschaffung der Kultusministerkonferenz

    zu fordern. Darüber

    könnte man streiten, sogar mit guten

    Argumenten, aber selten war eine Debatte

    so wenig komplex wie diese und

    selten war ein Sommertheater zugleich

    so aufschlussreich.

     

    Es ist Zeit, von der Bühne ins Parkett zu

    wechseln. Wer mehrere Zeitungen liest,

    die Süddeutsche in einer leicht überarbeiteten

    neuen Rechtschreibung, die

    Welt in einer etwas anders definierten

    Hausschreibe, die sich noch an der Reform

    orientiert, schließlich die Neue

    Züricher, die wie der Rest der Schweiz

    schon lange „dass“ statt „daß“ schreibt

    und schließlich die FAZ nach ihrem

    Wortregister, das sie die „bewährte“

    Rechtschreibung nennt, und wer ohnehin

    alte und neue Bücher hat, fällt

    dem der Unterschied überhaupt auf?

    Und was ist daran so skandalös, mal

    Schifffahrt und mal Schiffahrt zu lesen?

     

    Also, worum geht es, wenn man die Eitelkeiten

    der Westerwelles abzieht? Im

    Rechtschreibkrieg blühen noch mal

    deutsche Neurosen auf. Der alte Hang

    zu Religionskriegen und Kulturkämpfen.

    Dieses ganz rigorose Entwederoder-

    Denken, dessen erstes Gebot

    heißt: Habe keine andere Wahrheit neben

    mir, selbst wenn es nur um Kommaregeln

    geht. Die gute Nachricht allerdings

    ist, dass diese üppige Scheinblüte

    den Auflösungsprozess des Neurotizismus

    selbst beschleunigt. Die

    Doppelherrschaft von alter und neuer

    Rechtschreibung hat unbeabsichtigt einen

    enormen Zivilisationsgewinn gebracht.

    Die alte Leitdifferenz von

    „richtig – falsch“, die immer nur eine

    Lösung durchgehen lässt, wird nun im

    Alltag von der überlegenen Unterscheidung

    „möglich – nicht möglich“

    durchsetzt und langsam abgelöst.

    „Möglich – nicht möglich“, das ist etwas

    ganz anderes als die befürchtete

    Beliebigkeit, gar Anarchie im Schreiben!

    Dass Regeln, sobald es mehr als eine

    gibt, sich aneinander stoßen und nie

    wirklich aufgehen, das ist nur für Pedanten

    eine Not. Es ist tatsächlich ein

    Glück. Wenn die Dinge nicht ganz aufgehen,

    dann gehen sie weiter. Die meisten

    Menschen schreiben so wie wie sie

    wollen.

     

    Wie sie wollen? Von der Betonung dieses

    Satzes hängt doch alles ab. Die Welt

    empörte sich am 14. August: „Das Chaos

    in Sachen Rechtschreibung ist perfekt.

    Die Deutschen schreiben, wie sie wollen.

    32 Prozent schreiben derzeit nach

    Gefühl, mischen dabei noch die alten

    und die neuen Regeln.“

    Die behauptete Beliebigkeit, „die schreiben

    nur noch, wie sie wollen“ ist nicht

    von großem Vertrauen geprägt. In diesem

    Fall braucht man keine Regulative,

    sondern harte Vorschriften. Wenn man

    hingegen mit Achtung sagt, der schreibt

    wie er will, dann könnte es doch sein, er

    oder sie will etwas ausdrücken und das

    ist alles andere als banal.

    Man stelle sich vor, es gäbe eine Rechtsprechkommission?

    Der erste Nebeneffekt

    wäre, dass viele glaubten, ohne bei

    ihr nachzufragen keine rechten Sätze

    mehr bilden zu können. Tatsächlich ist

    Einschüchterung ein Nebeneffekt unserer

    strikten Rechtschreiborthopädie.

    Die Zeit ist also günstig für eine intelligentere

    Rechtschreibdebatte. Wie gelingt

    es, zumal in den Schulen, den

    Zwangscharakter der Orthografie zu

    lockern und nicht in die Kehrseite des

    Zwangs oder die Verwahrlosung zu verfallen?

    Albert Einstein sagte: „Zwei Dinge

    bedrohen ständig die Welt, Ordnung

    und Unordnung.“ Rechtschreibung wäre

    eine wunderbare Übung für eine Balance

    jenseits der simplen Entweder-

    Oder-Mechanik.

    Der Regelperfektionismus, in dem sich

    die Anhänger der einzig richtigen alten

    und der allein richtigen neuen Schreibweise

    nur so übertreffen, produziert jedenfalls

    mehr Probleme als er löst und

    genau darin liegt eine List des tumben

    Krieges um die Rechtschreibreform, auf

    die man setzen kann.

     

    Man erinnere sich, dass es vor 1901 keine

    staatlich erlassene Rechtschreibung

    gab. Damals wucherten barocke Ungetüme,

    zu denen auch noch unsere

    Großschreibung von Substantiven gehört.

    Jacob Grimm, der große Wörterund

    Geschichtensammler, schrieb klein.

    Ein Individuum konnte sich entscheiden.

    Vielfalt war möglich. Tatsächlich

    hatte bereits Duden, dessen Maxime ja

    hieß, „schreib wie du sprichst“, etwas anderes

    bewirkt als das, was er beabsichtigt

    hatte. Der Vereinfachungsversuch öffnete

    der großen Normierung der Schrift Tor

    und Tür. Das passte hervorragend ins

    DIN-Zeitalter der ersten industriellen

    Moderne, in der die Deutschen Weltmeister

    wurden. Die durchregulierte Rechtschreibung,

    zumal in ihrer engen und

    ängstlichen Auslegung, sozialisierte für

    die Massenproduktion. Diese brauchte

    strikte Normen. Kreativität und Ideen

    hingegen brauchen Spielräume. Auch

    die jüngste, eher zahme Rechtschreibreform

    lebt noch von dem Traum einer

    alle Zweifelsfälle berücksichtigenden und

    ordnenden zentralistischen Regelungskraft.

    Aber wissen diejenigen, die nun

    nach der „bewährten“ oder „klassischen“

    Rechtschreibung nostalgieren, wonach

    sie sich sehnen?

     

    Im Kampf der Rechtschreiber wird es einen

    Kompromiss geben. Entweder-Oder

    geht nicht mehr. Die Reform wird nicht

    fallen. Viele alte Schreibweisen kehren

    als Varianten zurück.

    Eine große Chance und wirkliche Herausforderung

    für die Schule wäre nun,

    aus dem gewonnen Spielraum etwas zu

    machen. Können wir uns vorstellen,

    dass Lehrer begründen müssen, warum

    sie die Schreibweise eines Wortes als

    falsch anstreichen? Nicht mehr Regeln

    exekutieren, sondern Antworten geben.

    Reinhard Kahl

    DIE WELT Schulen ziehen Konsequenzen

    Schulen ziehen Konsequenzen aus der Pisa-Studie

    In einigen Schulen Deutschlands hat die Zukunft bereits begonnen. Nach dem Pisa-Schock suchen Pädagogen und Politiker nach dem richtigen Weg, aus der Bildungs-Misere. Dazu gehören auch die Überarbeitung herkömmlicher Unterrichtsmethoden und eine Wandlung des negativ besetzten Bildes deutscher Schulen. Am Sonntag wurde in den Zeise-Kinos ein Film vorgestellt, der diesen Prozess dokumentiert. "Treibhäuser der Zukunft - Wie in Deutschland Schulen gelingen" heißt die Dokumentation, in der Bildungseinrichtungen vorgestellt werden, in denen Lernen und Lehren keine Last sondern Lust sind, Schulen die Kinder und Jugendliche hungrig machen und nicht satt.

    Eine von diesen ist das Gymnasium Klosterschule in St. Georg. Schulleiter Ruben Herzberg erläuterte, welche Reformen, trotz der Eingebundenheit in ein Schulsystem möglich sind: "Wir haben beispielsweise das Pausenklingeln abgeschafft." Statt der klassischen Unterrichtsstunde von 45 Minuten Länge gibt es jetzt 90-minütige Unterrichtsphasen. Schüler und Lehrer orientieren sich nicht mehr am Klassenverbund, sondern bilden so genannte Jahrgangs-Teams.

    "Bei Lehrern Schülern und Eltern hat Pisa ein Nachdenken über andere Unterrichtsformen freigesetzt", sagte Andreas Schleicher, der Erfinder und Koordinator der internationalen Pisa-Studie bei der OECD in Paris, der für die Filmvorführung nach Hamburg gereist war. Gleichzeitig kritisierte er, dass in der Politik, viel zu wenig geschehe. Hier werde noch immer über die Mängel des Schulwesens diskutiert, während andere Länder längst Konsequenzen aus der vor drei Jahren veröffentlichten Pisa-Studie gezogen hätten. "Japan hat ähnlich verkrustete Bildungsstrukturen wie Deutschland. Dort gibt es inzwischen einen Nationalen Bildungsrat, der Reformen zielgerichtet umsetzt."  mk


    Artikel erschienen am Mon, 6. September 2004

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    DIE ZEIT Leitstern am Lehrerhimmel

    DIE ZEIT


    37/2004 

    Leitstern am Lehrerhimmel

    Neue Schulen brauchen eine andere Führung. Der alte »Direx« hat ausgedient. Gefragt sind jetzt Ideengeber und Motivatoren

    Als in Brandenburg die letzte Ferienwoche anbrach, lud Kultusminister Steffen Reiche zu einem denkwürdigen Treffen. Er bat die fast tausend Schulleiter seines Bundeslandes nach Berlin, um sie dort auf das neue Schuljahr einzuschwören. »90 Prozent des Erfolgs Ihrer Schulen«, feuerte der Minister seine Gäste an, »hängen von Ihnen ab.« Nun wäre es zwar fatal, wenn Lehrer und Schüler nur zu zehn Prozent am Lernerfolg beteiligt wären, dennoch enthält die ministerielle Übertreibung einen wahren Kern. Allmählich sehen die Bildungspolitiker ein, dass es beim notwendigen Veränderungsprozess in deutschen Schulen nicht auf ministerielle Blaupausen ankommt, sondern vor allem auf das Personal vor Ort – und dabei fällt den Direktoren der wichtigste Part zu. Illustration: Caroline Ronnefeldt für DIE ZEIT www.caroline-ronnefeldt.de

    »Man kann die Rolle der Schulleiter kaum überschätzen«, sagt Jürgen Baumert vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Er hat die Wirkung der Männer und Frauen an der Schulspitze schon untersucht, lange bevor er die Federführung der ersten Pisa-Studie übernahm. Nun beginnt sich seine Erkenntnis allmählich in allen Kultusministerien durchzusetzen.

    So hat Margret Ruep, Präsidentin des Oberschulamtes in Tübingen und Vertraute der baden-württembergischen Kultusministerin Annette Schavan, ein Buch über die Lernende Organisation Schulverwaltung verfasst. Darin bezeichnet sie Schulleiter als »die wichtigsten Gelingensfaktoren« für den Reformprozess. Sie müssten in ihrer Schule »Dialoge in Gang bringen«, Hierarchien schleifen und Orientierung bieten. Die Leiter seien für die Schule nach außen verantwortlich und müssten im Inneren die Lehrer für die Leistungen ihrer Schüler verantwortlich machen. Damit fordert Margret Ruep nichts anderes als die Einführung des Prinzips der Rechenschaftspflicht – etwas, das in jedem Wirtschaftsunternehmen selbstverständlich ist.

    Bislang war es allerdings mit dem Gestaltungsspielraum deutscher Schulvorsteher nicht weit her. Sie durften weder neues Personal einstellen noch altes entlassen, ja sie konnten noch nicht einmal gute Lehrer mit einer Gehaltserhöhung oder Beförderung belohnen und schlechte abmahnen. In kaum einem anderen Industrieland, das zeigt eine Erhebung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), haben Schulleiter so wenig Einfluss auf Belegschaft, Gehälter und Budget wie in Deutschland. Bildungsbehörden versorgten die Schulen mit neuen Lehrern wie mit Tafeln oder Radiergummis. Dass ein Schulleiter sich einen neuen Kollegen vorher anschauen durfte, war nicht vorgesehen. Warum auch? Nach der Verwaltungslogik tragen ja alle Kandidaten das Gütesiegel des staatlich geprüften Beamten und sind gleich geeignet.

    Das führte zu einer »Lebenslüge« in deutschen Lehrerzimmern, wie die Hamburger Schulleiterin Nele Degenhardt klagt. Schwächen bei Lehrern zu benennen galt als Tabu. Über tatsächliche Probleme werde im Lehrerzimmer nur getuschelt wie über Familiengeheimnisse, sagt Degenhardt. Das belegt auch die Grundschulstudie Iglu. Als in deren Rahmen die deutschen Lehrer nach den Gründen für schlechte Ergebnisse ihrer Schüler befragt wurden, fiel ihnen alles Mögliche ein – vom schlechten Einfluss der Eltern bis zum Fernsehprogramm –, nur nicht eventuelle eigene Versäumnisse. Mögliche Mängel in der Lehrerarbeit rangierten in der Befragung an letzter Stelle. Ein Klima konstruktiver Kritik entsteht so nicht.

    Um dies zu ändern, sind nun fast alle Bundesländer dabei, die Rolle der Schulleiter aufzuwerten. »Es gibt eine Tendenz, die Verantwortung dorthin zu geben, wo sie hingehört: in die Hände der Schulleitungen«, sagt Peter Zimmermann, stellvertretender Vorsitzender der Bundes-Direktoren-Vereinigung und Leiter des Gymnasiums am Kaiserdom in Speyer. Noch ist der Kompetenz-Zuwachs bescheiden. Doch zumindest dürfen die Schulleiter in Rheinland-Pfalz inzwischen bei so genannten schulscharfen Einstellungen, in denen für eine freie Stelle ein ganz bestimmter Lehrer gesucht wird, über die Bewerber entscheiden. Und in den Gymnasien hat bei den meisten Beförderungen zum Oberstudienrat der Schulleiter das letzte Wort. Ist jedoch eine so genannte Funktionsstelle zu besetzen, etwa die Koordination der Oberstufe, hat der Direktor nur eine beratende Stimme – obwohl es sich um eine zentrale Position an seiner Schule handelt.

    In Berlin sind die Schulleiter seit kurzem offiziell »Dienstvorgesetzte« für alle Lehrer ihrer Schule. Bisher war dies die Behörde. Nun trägt der Schulleiter die volle pädagogische Gesamtverantwortung und schreibt regelmäßig Beurteilungen seiner Mitarbeiter. »Jetzt kann ich einen Kollegen auch einmal ganz offiziell loben«, freut sich der Leiter des Berliner Beethoven-Gymnasiums, Wolfgang Harnischfeger.

    Freilich ist diese offensive Rolle des Schulleiters gewöhnungsbedürftig. »Wer hat schon gern einen Chef?«, fragt skeptisch der Erdkundelehrer York Zebuhr vom Beethoven-Gymnasium. Bisher sei die Arbeit zwischen Lehrern und Direktor von Kollegialität geprägt gewesen. Niemand musste Angst haben, Kritik zu üben. Das, so fürchtet Zebuhr, könne sich nun ändern. Schulleiter Harnischfeger sieht die neue Regelung dagegen positiv: »Mit den Lehrern ist es wie mit Delfinen – wenn man sie bestrafen will, dann tauchen sie ab. Aber sie können ungeheure Kunststücke vollbringen, wenn man sie streichelt.«

    Nicht jeder gute Lehrer weiß auch, wie man eine Schule managt

    Wie aber erwirbt man sich als Schulleiter solche Fähigkeiten der Personalführung? Lange Zeit meinte man, Schulleiter hätten keine besondere Ausbildung nötig. Vielerorts wurden diese Posten nur nach pädagogischer Begabung und Dienstalter verteilt, ganz so, als ob ein guter Lehrer, der es lange genug in einer Schule ausgehalten hat, automatisch auch weiß, wie man eine Schule managt. Heute bieten verschiedene Bundesländer wie Bayern, Baden-Württemberg oder Hessen eigene Seminare und Übungen zu Personalführung, Schulrecht oder Schulentwicklung an, in denen sich Schulleiter auf freiwilliger Basis weiterbilden können. Auch Universitäten wie Kaiserslautern, Kassel oder Hagen bieten Kurse an – meist im Fernstudium –, welche die angehenden Schulmanager jedoch selbst bezahlen müssen. Einen anderen Weg geht Niedersachsen. Vom kommenden Herbst an können neue Schulleiter einen erfahrenen Kollegen für die erste Zeit als Coach an die Seite gestellt bekommen.

    Inzwischen erscheint sogar ein eigenes Journal namens Pädagogische Führung. Dabei war der Begriff »Führung« in vielen Schulen lange tabu. Der Schuldirektor wurde nur gebraucht, wenn ein Lehrer mit einem Schüler nicht mehr fertig wurde. Dann wurde dem Unverbesserlichen gedroht, ihn zum »Direx« zu schicken. Im Übrigen war es für Leute, die sich als verbeamtete Freiberufler verstehen, Ehrensache, niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Schulleiter agierten bestenfalls als Moderatoren im Kollegium. Konferenzen leiteten sie selten selbst, sondern überließen dies den Kollegen. Diese sollten das Gefühl haben, an allen Entscheidungen mitzuwirken.

    Um das heikle Wort »Führung« zu vermeiden, wurde sogar versuchsweise von Leadership in den Schulen gesprochen. Doch mittlerweile bekennt man sich wieder zu dem Begriff. »Führung heißt doch nicht befehlen«, stellt Erika Risse klar, die das Elsa-Brändström-Gymnasium in Oberhausen leitet und die Pädagogische Führung mit herausgibt. Zwar gibt sie zu: »Wir haben eine Zeit lang diskutiert, ob wir die Zeitschrift nicht umbenennen.« Doch dann blieb es bewusst bei dem irritierenden Namen.

    »Es geht nicht darum, dass wir Schulleitern definieren, was richtig ist«, erklärt Risse. Aber fast alle Schulen hätten in den vergangenen Jahren Leitbilder aufgestellt und ihre Ziele in Schulprogramme geschrieben. Nun müsse das Gewollte auch durchgeführt werden – und da müsse sie als Schulleiterin eben drängen und manchmal vorangehen. Mitherausgeber Rainer Brockmeyer, der vor Jahren die Denkschrift Haus des Lernens verfasste und die Bertelsmann Stiftung berät, ergänzt: »Eine Idee muss von einer Person verkörpert werden.« Und gute Schulleiter seien Kristallisationspunkte von Veränderung.

    Die erfolgreiche Rektorin versteht sich als Menschensammlerin

    Das wohl bekannteste Beispiel für diesen neuen Typus ist Enja Riegel, die 20 Jahre lang die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden führte. Diese Reformschule wurde durch ihre überragenden Ergebnisse beim Pisa-Test berühmt – ihre Schüler hatten mehr als ein Jahr Vorsprung gegenüber denen anderer Schulen. Nun beschreibt Enja Riegel, die mittlerweile pensioniert ist, ihre Erfolgsstrategie in dem Buch Schule kann gelingen (S. Fischer). Demnach leitete Riegel ihre Schule wie eine Menschensammlerin. Traf sie jemanden, der durch pädagogische Arbeit überzeugte, fragte sie stets an, ob der- oder diejenige nicht Interesse hätte, irgendwann an der Helene-Lange-Schule zu unterrichten. Auch gute Referendare und Praktikanten, interessante Künstler oder Regisseure kamen in Riegels Talentkartei. Da sie als Schulleiterin normalerweise darauf warten musste, dass ihr ein Lehrer zugeteilt wurde, brauchte sie einen langen Atem. Es dauerte manchmal Jahre, bis sie beim Schulamt einen Bedarf anmelden konnte, auf den jemand aus der Kartei passte.

    In der Arbeit mit Schülern und Lehrern lautete Riegels oberstes Prinzip: »Nicht wegsehen.« Sie ließ Wände einreißen und sorgte dafür, dass Schüler während der Pubertät außerschulische, reale Erfahrungen machten. Auch die Lehrer der Helene-Lange-Schule wurden zur Selbstständigkeit ermutigt und zum Teamunterricht. Das fördert nicht nur den Austausch innerhalb des Kollegiums, sondern bringt auch Stärken und Schwächen zum Vorschein – was in Wiesbaden konstruktiv genutzt wurde. So erweiterten alle ihre Kompetenzen (auch die Schulleiterin) und legten den Grundstein zum Erfolg.

    Ulrike Kegler, Leiterin der staatlichen Montessori-Gesamtschule in Potsdam, litt lange unter der »Infantilität der Kollegen«, wie sie sagt. Oft werde in Lehrerzimmern nur verächtlich über Schüler gesprochen, auf die jede Schuld abgewälzt werde. Auch auf Konferenzen der Rektoren und Direktoren hörte Kegler immer wieder die Frage: Wer hat Schuld? Konstruktive Debatten darüber, was die Schulen selbst für ihren Erfolg tun könnten, erlebte sie selten.

    Mittlerweile hat sie an ihrer Potsdamer Schule kräftig »Klimapolitik« betrieben, wie sie das nennt. In ihrem Lehrerzimmer ist es zum Beispiel verboten, verächtlich über Schüler zu sprechen. Lehrer, die sich dem nicht anpassen wollten, haben die Schule verlassen. Dafür hält Ulrike Kegler, ähnlich wie Enja Riegel, ständig nach Kollegen Ausschau, die in die Schule passen. Manchmal, sagt die Schulleiterin, müssten die Lehrer regelrecht aus ihren Verstecken herausgelockt werden. Der Erfolg gibt ihr Recht. Die Montessori-Gesamtschule hat den Innovationspreis für Schulen in Brandenburg erhalten und steht bei den erstmals in diesem Bundesland durchgeführten Vergleichsarbeiten zum Abschluss der zehnten Klasse in ihrem Bezirk an der Spitze.

    Buchtipp: Armin Lohmann, Dorothea Minderop: Führungsverantwortung der Schulleitung Luchterhand 2004, Euro 21,90

    PS 9

    PÄDAGOGIK - P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

    Endlich. Eine deutsche Revolution

    »Es genügt ihre Anweisungen zu ignorieren.« Und: »Dieser Klüngel hat uns nichts zu sagen.« Der alte Enze-Benze, so nannte der Kabarettist Wolfgang Neuss den vielversprechenden Hans Magnus Enzensberger, als dieser noch ein angry young man war, ruft zum zivilen Ungehorsam auf. Gegen »unsere Vormünder« rebelliert noch mal der greise Schriftsteller. In der FAZ lesen wir seine Abrechnung mit der »Unbelehrbarkeit der ministerialen Ignoranten.« Es geht um den Rechtschreibkrieg, immer noch und schon wieder. Dazu ist ja nun wirklich fast alles gesagt, inklusive, dass es wohl die deutscheste aller so genannten Reformen ist, immer mit dem Beigeschmack von Bürgerkrieg. Enzensberger riecht diesen »fauligen Mundgeruch«, den »das schöne Wort Reform angenommen hat.« Doch er macht mit und mimt den ungnädigen Meister der Vergrundsätzlichung.

    Ressentiment

    Auf ins letzte Gefecht. Nicht diese modrige Reform, sondern Revolution. Gegen wen? Gegen diejenigen, die sich »sklavisch an die Vorschriften von Amtsinhabern« halten, »die selber nicht imstande sind, einen vernünftigen deutschen Satz hervorzubringen.« Letztere sind die Kultusminister. Diesen Oberidioten gehorchen die Unteridioten »auf die servilste Art und Weise«. Das sind die Lehrer. Gute Gelegenheit, ihnen gleich noch eins überzuziehen. »Sie sind allesamt praktisch unkündbar; selbst einen Narren oder Alkoholiker loszuwerden verbietet das Beamtenrecht.« Schon recht. Das sollte man ändern. Aber was hat das mit der Rechtschreibreform zu tun? Im Ressentiment hängt halt alles mit allem zusammen und am Ende ist der Rechthaber der einzige Mensch, umzingelt von Unzurechnungsfähigen. Die Kultusminister, »ein Kreis von Legasthenikern, der es zu Ämtern gebracht hat«, mit ihrer pädagogischen Mischpoke, alles verrottet. Was tun? Vollstrecker des Stammtischs wissen es. Die Rechtschreibung muss Chefsache werden. Der erste neue Chef heißt Christian Wulf, niedersächsischer Ministerpräsident. Er nimmt den Legasthenikern in der KMK das Heft aus der Hand und will mit den anderen Präsidenten zurück zum alten Zustand. Vier Landeshäuptlinge, die mitmachen wollen, hat er schon gewonnen. Seitdem findet er morgens Stapel zustimmender Post auf dem Schreibtisch und nicht mehr nur den Protest wegen Sparen und Sozialabbau. Was für eine Melange. Ein genialischer Autor, der Führungsanspruch von Politikern, denen die anderen Felle davon schwimmen und die Rückkehr zur alten Schreibweise, gehüllt ins Pathos der Verweigerungsevolution.

    Evolution

    Dabei hat sich die Evolution des Schreibens längst auf einen zivileren Schauplatz verschoben, jenseits der Heroenkämpfe um neue oder alte Schreibweise. Ausgerechnet die Doppelherrschaft von alter und neuer Rechtschreibung hat in den vergangenen Jahren ganz unbeabsichtigt diesen enormen Zivilisationsgewinn gebracht. Die alte Leitdifferenz von »richtig – falsch«, die immer nur eine Möglichkeit durchgehen lässt, wird nun im Alltag von der überlegenen Unterscheidung »möglich – nicht möglich« durchsetzt und langsam ersetzt. »Möglich – nicht möglich«, das ist etwas ganz anderes als die befürchtete Beliebigkeit, gar Anarchie im Schreiben!

    Tatsächlich kehrt in die Schrift wieder ein Hauch von dem zurück, was die Dynamik der gesprochenen Sprache auszeichnet. Man stelle sich vor, es gäbe eine Rechtsprechkommission? Der erste Nebeneffekt wäre, dass viele glaubten, ohne bei ihr nachzufragen keine rechten Sätze mehr bilden zu können. Nein, der Regelperfektionismus, in dem sich die Anhänger der einen richtigen alten und die der allein richtigen neuen Schreibweise nur so übertreffen, produziert inzwischen mehr Probleme, als er löst.

    Dass Regeln, sobald es mehr als eine gibt, sich aneinander stoßen und nie wirklich aufgehen, das ist nur für Pedanten eine Not. Es ist tatsächlich ein Glück. Ein Glück für jede Evolution. Wenn die Dinge nicht ganz aufgehen, dann gehen sie weiter.

    Wollen

    Die meisten schreiben doch sowieso, wie sie wollen. Wie sie wollen? Von der Betonung dieses Satzes »Wie sie wollen« hängt doch alles ab.

    Die behauptete Beliebigkeit und gefürchtete Verwahrlosung »die schreiben, wie sie wollen« ist nicht von großem Vertrauen geprägt. Dann braucht man keine Regulative, sondern Vorschriften. Aber wenn man mit etwas Achtung sagt, der schreibt, wie er will, dann könnte es doch sein, er oder sie will etwas, und das ist alles andere als banal.

    Mal im Ernst. Wer morgens die FAZ liest, mit der alten Rechtschreibung, die dort geheimnisvoll die »bewährte Rechtschreibung« genannt wird, und dann zur Süddeutschen greift, mit ihrer nach eigenen Redaktionsregeln modifizierten neuen Rechtschreibung und dann vielleicht noch die taz, mit linientreuer neuer Rechtschreibung, fällt dem überhaupt was auf?

    P. S.

    Vielleicht sollten unsere Don Quichottes, die in den Krieg für die eine ganz richtige Rechtschreibung ziehen, zwischendurch mal Goethe lesen. Er sagte: »Ihr seht schon ganz manierlich aus, kommt mir nur nicht absolut nach Haus.« Das Absolute ist tödlich. Es hat, wie jede andere Perfektion, keine Zukunft.

    Also halten wir es mit dem Meister aus Weimar. Er war gar nicht zimperlich, schrieb seinen Namen mal mit H und mal ohne, oder auch Göthe. Das sollte ein Schüler mal wagen! Ja, er sollte es wagen. Vor allem sollte er Goethe lesen, der übrigens ein großer Freund von Fehlern war.

    P.P.S.

    Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de

    These in der Virtuellen Akademie der Naumann Stiftung

    Reinhard Kahl

     

    Was ist mit Treibhäusern der Zukunft gemeint ?

    Weshalb ist es so wichtig, dass wir Schulen nicht als enorme Förderbänder zur Wissensvermittlung betreiben, sondern als Orte kultivieren?

     

    Das Zeitalter der Globalisierung ist tatsächlich eines der Glokalisierung. Viel wird davon abhängen, wie und ob Orte gelingen, an denen Wissen, Kompetenzen und Ideen gebildet werden. Menschen brauchen Wurzeln und Flügel. Schon heute übertrifft die Wirksamkeit des Bildungskapitals in der Wirtschaft die Effekte anderer Kapitale. Lernen ist nicht länger ein Vorrecht von Kindheit und Jugend. Lernen wird zur überragenden Idee nachindustrieller Gesellschaften.

     

    Lernen ist in Deutschland allerdings häufig noch negativ besetzt. Stärker als in anderen Ländern haben viele Menschen die Schule als Beschämung erlebt, an die sie nicht mehr erinnert werden wollen. Warum wird Kindern immer noch so häufig mit der Zukunft und dem "späteren Leben" gedroht, statt sie dazu einzuladen?

     

    Die Situation ist günstig. Der Glaube an die alte Schule, die sich Lernen eher als bittere Medizin vorstellt, zerbröselt im Zeichen von Pisa und anderen OECD-Studie. Zumal in der Wirtschaft erweist sich,  das Wertschätzung eine Voraussetzung für Wertschöpfung ist.

     

    Wäre das nicht die Stunde für größere Bündnisse? Sozusagen ein pädagogischer Frieden nach dem immer noch nicht so ganz beendeten dreißigjährigen deutschen Bildungskrieg? In Ländern mit erfolgreichen Schulen ist Bildung nicht das Hackbrett, sondern tatsächlich ein Gemeinschaftsfeld der Politik. Ob wir das auch in Deutschland schaffen?

     

    Ich bin davon überzeugt, dass eine Schule, die als „Treibhaus“ Zukunft erzeugt – denn die Wiederholung der Vergangenheit ist ja auch eine Möglichkeit, die viele ängstliche Menschen vorziehen, - dass dies eine Schule sein muss, in der man als Schüler sicher und „zu Hause“ sein kann. Eine Schule der man nicht beschämt wird. Die Schule als ein geschützter Ort, an dem man sich aus sich heraus wagen kann.  

     

    Muss man unter diesem Aspekt nicht noch einmal über unser gegliedertes Schulsystem nachdenken?  Und zwar nicht unter dem Aspekt – wie manch einer fürchtet- einer Gleichmacherei, gewissermaßen einer pädagogischen LPG. Nein! Vielmehr eine Schule, die so viel Sicherheit und Vertrauen schenkt, dass jeder Mensch sein Eigenes wagen und produktiv ins Spiel bringen darf, ja soll. Dafür braucht jeder, aber zumal ein Kind fehlerfreundliche Entwicklungsbedingungen. Das geht nicht an einer Schule, der die Lebenslüge, die falschen Schüler zu haben, so nahe gelegt wird. Das ist ein schlechter Anreiz für  Lehrer zu verstehen, welch Reichtum und Wunder in jedem Menschen steckt!

     

    Damit wir solche Schulen bekommen, brauchen wir allerdings auch insgesamt ein gute „Klimapolitik“ den Schulen, namentlich den Schülern und Lehrern gegenüber. Und last not least gehört dazu auch etwas von ihnen zu verlangen! Kein Appeasement! Kein: „ist doch egal“.

     

    Darüber muss Verständigung geschaffen werden, ja, wirklich Verständigung, das ist nicht ganz gratis!

    Und dafür brauchen wir, finde ich eine „zivilgesellschaftliche“ Plattform. Menschen, die sich zum Handeln und zum Leben verabreden. Das wäre auch ein Vorbild für Kinder und Jugendliche.     

    taz / Die list der rechtschreibreform


    Die list der rechtschreibreform

    Ade, normen! Die doppelherrschaft von alter und neuer rechtschreibung hat in den vergangenen jahren einen zivilisationsgewinn gebracht
    VON REINHARD KAHL

    Die deutschen schwelgen in einer ihrer geliebten katastrophen. Diese ist immerhin fast gratis. Die erste schnäppchenkatastrophe. Am Anfang stand der plausible anspruch, eine rechtschreibreform solle klarheit schaffen - und zwar ganz eindeutig und vorerst endgültig. Dieses vorhaben ist nach manchen reformen der reform vorerst gescheitert. Aber ihre "Rückname", wie Spiegel-chef Stefan Aust eigensinnig in der hausmittelung des magazins buchstabiert, wird nicht so flächendeckend sein, wie sich das die romantiker der neuerdings "klassisch" genannten alten schreibe vorstellen. Das ist ja das schöne. Selbst die protagonisten der kehrtwende sind in ihrer performanz viel unvollkommener, eigenwilliger und auch interessanter, als wenn sie normen proklamieren und sich blamieren.

    Zum beispiel Peter Müller, ministerpräsident in saarbrücken. Der frisch erweckte orthografiepopulist bekennt, wie froh er nun sei, bald wieder "sauerstoffflasche" mit einem f weniger schreiben zu dürfen. Falsch, Peter. Setzen! Auch nach den regeln seiner alten schreiborthopädie müssen hier drei f sein, ganz anders als bei der von unseren rechthabern so beliebten flussschifffahrt, die nach altem recht mit zwei f auskommt. Das hängt davon ab, ob aufs f ein vokal oder konsonant folgt.

    Die neue rechtschreibung hat auf solche geregelten unregelmäßigkeiten verzichtet. Aber wer will eigentlich noch in solch geheimwissen eingeweiht werden? Müssen wir diesen regeln wirklich folgen? Warum werden nicht die varianten mit zwei und drei f freigegeben? Dann hätten wir frieden. Basta. Die ganze deutsche fehlerinquisition könnte sich wichtigeren aufgaben zuwenden. Und dieser artikel wäre jetzt zu ende. Aber wir müssen weiter machen und können nicht umhin, ein paar hier in den vergangenen jahren bereits vorgetragene argumente zu wiederholen.

    Die komplizierte deutsche rechtschreibung steht ja nicht erst seit gestern am pranger. Denn normalsterbliche wie Stefan Aust und Peter Müller mussten sich nicht nur als schüler, sondern lebenslang mit einem schreibsystem quälen, dessen regeln oft nur für 60 prozent der fälle galten und daneben 40 prozent ausnahmen produzierten. Deshalb war zunächst ja auch jedermann für eine reform.

    Kaum vorstellbar, dass es vor 1901 keine staatlich erlassene rechtschreibung gab. Damals wucherten barocke ungetüme, zu denen auch noch unsere großschreibung von substantiven gehört. Jacob Grimm, der große wörter- und geschichtensammler, schrieb klein. Ein individuum konnte sich entscheiden. Vielfalt war möglich. Der große Goethe hatte regelrecht lust daran, gleiche wörter verschieden zu schreiben, selbst seinen namen mit h oder ohne, mal mit ö oder mit oe. Dann nahm Duden dem regierungsrath in preußen sein h, und viele beamte sahen ihre autorität und würde bedroht. Bismarck drohte seinen staatsdienern und diplomaten strafen an, wenn sie die neue mode mitmachten.

    Tatsächlich hatte bereits Duden, dessen maxime ja hieß, "schreib wie du sprichst", etwas anderes bewirkt als das, was er beabsichtigt hatte. Der vereinfachungsversuch öffnet der großen normierung der schrift tor und tür. Das passte hervorragend ins din-zeitalter der ersten industriellen moderne, in der die deutschen weltmeister wurden. Die durchregulierte rechtschreibung, zumal in ihrer engen und ängstlichen auslegung, sozialisierte für die massenproduktion. Sie braucht strikte normen, die unbedingt einzuhalten sind. Kreativität und ideen brauchen spielräume. Auch die jüngste, eher zahme rechtschreibreform lebte noch von dem traum einer alle zweifelsfälle berücksichtigenden und ordnenden zentralistischen regelungskraft. Dieser zentralismus provoziert. Aber wissen diejenigen, die nun nach der "bewährten" oder "klassischen" rechtschreibung nostalgieren, wonach sie sich sehnen?

    Der neuerliche ausbruch eines deutschen kulturkampfes ist ein merkwürdiges amalgam. Anarchistische töne mischen sich mit der Sehnsucht nach der eindeutigen Vorgabe, die den schreibenden von aller kontingenz entlasten soll.

    Das schönste beispiel gab vergangene Woche die FAZ. Am montag eröffnete Hans Magnus Enzensberger mit einem halali gegen die obrigkeit und am ende der woche verlangt der leitartikel das machtwort der ministerpräsidenten. Manch einer traute seinen augen nicht: "Es genügt, ihre anweisungen zu ignorieren." Und: "Dieser klüngel hat uns nichts zu sagen." Der alte Enze-Benze, so nannte der kabarettist Wolfgang Neuss den viel versprechenden Hans Magnus, als dieser noch ein angry young man war, ruft zum zivilen ungehorsam gegen "unsere vormünder" auf. Erst riecht es nach revolution und führt dann doch zur muffigen vergrundsätzlichung des stammtischs. Enzenberger polemisiert gegen diejenigen, die sich "sklavisch an die vorschriften von amtsinhabern" halten, "die selber nicht imstande sind, einen vernünftigen deutschen satz hervorzubringen". Letztere sind die kultusminister. Diesen oberidioten gehorchen die unteridioten "auf die servilste art und weise". Das sind die lehrer.

    Gute gelegenheit, ihnen gleich noch eins überzuziehen. "Sie sind allesamt praktisch unkündbar; selbst einen narren oder alkoholiker loszuwerden, verbietet das beamtenrecht." Schon recht. Das sollte man ändern. Aber was hat das mit der rechtschreibreform zu tun? Im ressentiment hängt halt alles mit allem zusammen, und am ende ist der rechthaber der einzige mensch weit und breit, umzingelt von unzurechnungsfähigen.

    Gut gebrüllt Enze, aber was tun? Die vollstrecker am stammtisch wissen es. Die rechtschreibung muss chefsache werden, Christian Wulf, bitte übernehmen sie. Der niedersächsische ministerpräsident kündigt nun an, den legasthenikern in der kmk das heft aus der hand zu nehmen, und will mit anderen präsidenten zurück in den alten zustand. Vier landeshäuptlinge, die mitmachen wollen, hat er schon gefunden. Seitdem findet er morgens stapel zustimmender post auf dem schreibtisch und nicht mehr nur den protest wegen sparen und sozialabbau. Was für eine melange. Ein genialischer autor, der führungsanspruch von politikern, denen die anderen felle davonschwimmen, und die rückkehr zur alten schreibweise, gehüllt ins pathos der verweigerungsevolution.

    Aber lassen wir uns nicht blenden. Kein weg führt zurück zur alten schreibweise. Alte und neue, wie auch die umgestrickte neue alte rechtschreibung müssen sich vom monotheistischen ersten gebot, habe keine andere orthografie neben mir, verabschieden. Die list des ganzen theaters ist doch erfreulich: der zwangscharakter einer orthopädischen schreibweise ist in deutschland dahin. Manche nennen das chaos. Seit Dudens normierung liefen wir in sprachlichen einlagen. Ausgerechnet die doppelherrschaft von alter und neuer rechtschreibung hat nun in den vergangenen jahren ganz unbeabsichtigt einen zivilisationsgewinn gebracht. Die alte leitdifferenz von "richtig/falsch", die immer nur eine möglichkeit durchgehen lässt, wird nun im alltag von der überlegenen unterscheidung "möglich/nicht möglich" durchsetzt und langsam ersetzt. "Möglich/nicht möglich", das ist etwas ganz anderes als die befürchtete beliebigkeit, gar anarchie im schreiben!

    Tatsächlich kehrt in die schrift wieder ein hauch von dem zurück, was die dynamik der gesprochenen sprache auszeichnet. Man stelle sich vor, es gäbe eine rechtsprechkommission? Der erste nebeneffekt wäre, dass viele glaubten, keine rechten sätze mehr bilden zu können, ohne bei ihr nachzufragen. Nein, der regelperfektionismus, in dem sich die anhänger der einen richtigen alten und der allein richtigen neuen schreibweise nur so übertreffen, produziert inzwischen mehr probleme, als er löst, und das schafft dabei etwas neues: kontingenz. Es gibt mehr als eine möglichkeit.

    Dass regeln, sobald es mehr als eine gibt, sich aneinander stoßen und nie wirklich aufgehen, das ist nur für pedanten eine not. Es ist tatsächlich ein glück. Ein glück für jede evolution. Wenn die dinge nicht ganz aufgehen, dann gehen sie weiter. Und die sprache ist für die überdeterminierung eines systems, das nicht nur nach einem algorithmus programmiert, das beste beispiel. Seien wir dankbar für die rechtschreibinszenierung. Sie kommt gerade richtig. Der abschied vom strikten entweder-oder-denken steht an. Fehlertoleranz ist der wichtigste begriff in theorien über lernende organisationen. Eine eng ausgelegte rechtschreibung, egal welche, ist eine initiation in eine reduzierte denk- und handlungsgrammatik. Abweichungen werden rot angestrichen und zum ausschuss erklärt. Im übergang zu einer zweiten, nachindustriellen moderne streifen wir diese zwangsjacken ab.

    Stellen wir uns also schulen vor, in denen lehrer begründen müssen, wenn sie die schreibweise eines wortes als falsch anstreichen. Man wird dann erkennen, dass es sehr oft mehrere akzeptable möglichkeiten und vor allem, dass es sehr unterschiedliche arten von fehlern gibt. Und natürlich, vieles geht nicht. Man muss sich verständlich machen, einen stil finden. Aber was ist das: rechtschreibung?

    Vielleicht sollten unsere Don Quichottes, die in den krieg für die eine ganze richtige rechtschreibung ziehen, zwischendurch mal Goethe lesen. Goethe wusste, das absolute ist tödlich. Es hat, wie jede andere perfektion, keine zukunft.

    taz Nr. 7433 vom 12.8.2004, Seite 15, 319 TAZ-Bericht REINHARD KAHL

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    Rezension WDR Lernen & Selbstbestimmen

    Westdeutscher Rundfunk Köln

    Anstalt des öffentlichen Rechts

    Appellhofplatz 1

    D - 50 600 Köln

    Sendemanuskript-Hörfunk

    WDR 1 WDR 2 WDR 3 WDR 4 WDR 5

    Datum

    11.7.04

    Sonntag

     

    Uhrzeit - von
    12.05-13.00

    bis

     

    von

     

    bis

     

    Dauer

     

    Sendereihe

    Gutenbergs Welt „Schul-Zeit"

    Titel

    Buchsendung mit Gisela Corves

    Folge / Untertitel

    Manfred Spitzer, Lernen - Gehirn-Forschung und die Schule des Lebens
    Manfred Spitzer, Selbststimmen

    Rezensent:

    Reinhard Kahl

    Moderator(in):

    Thomas Nachtigall

    Bearbeiter(in):

    Band-Nr.

     

    Band (von - bis)

     

    Band-Länge

    Mitwirkende:

     

    Aufnahmedatum

    Aufnahme/Studio

    Ton und Technik / Schnitt

    Regie / Produktion

    Kostenstelle / Kostenträger

    203110/1131450

    verantwortliche(r) Redakteur(in)

    Thomas Nachtigall

    Übernahme

    Programmbereich

    PG Wort WDR 3

    Koproduktion

    Programmgruppe

    Ressort: Feature und Literatur

    Verlag

    Ó

    Zur Beachtung! Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf es weder vervielfältigt, verbreitet oder zur öffentlichen Wiedergabe benutzt werden.

    WDR 3 Gutenbergs Welt / Gisela Corves

    Reinhard Kahl

    Lernen und Selbstbestimmen

    - Auf die Atmosphäre kommt es an

     

    Am Lernen und an der Fähigkeit das eigene Leben selbst zu bestimmen, hängt wie gut wir uns in eine Zukunft navigieren, die weniger denn je, die Fortsetzung der Vergangenheit sein wird. Lernen und Selbstbestimmen sind allerdings auch Schlagworte. Sie werden in Büchern traktiert, die den direkten Weg zum Erfolg weisen und andere leere Versprechungen machen. Für die beiden Bücher von Manfred Spitzer mit den Titeln „Lernen" und „Selbstbestimmen" gilt dieser Vorbehalt nicht. Spitzer ist Direktor der psychiatrischen Uniklinik in Ulm. Seine Bücher sind Beispiele für eine Klarheit, mit der uns deutsche Wissenschaftler nicht gerade verwöhnen.

     

    Furore macht nun schon seit mehr als einem Jahr sein Buch, „Lernen - Gehirn-Forschung und die Schule des Lebens". Spitzers neues Buch „Selbstbestimmen" präzisiert, was die Seele des Lernens ist, nämlich eine Vorfreude von Menschen auf sich selbst.

    Dieser Gedanke ruft allerdings bei manch einem Widerstand hervor. Dürfen beim Lernen tatsächlich Lust und Leistung Hochzeit feiern? Ist Lernen nicht dann am wirksamten, wenn wir uns zwingen Wissenshäppchen einzunehmen wie bittere Medizin? Und wächst unserer Selbstbestimmung nicht beim Überwinden des Widerwillens? Spitzers Antwort:

    Cut 1 0´40 Manfred Spitzer

    Sie können auch mit negativen Dingen ganz schnell lernen. Sie legen nur ein einziges Mal die Hand auf die heiße Herdplatte und machen das nie mehr wieder. Sie wissen, das lassen Sie jetzt bleiben.

    Aber der Punkt ist der, auf diese Weise, aversiv mit Strafe und Wehtun und Schmerzen lernen sie nur, was sie nicht tun sollen, und nicht wo es lang geht. Das geht nur positiv.

    Wenn wir wollen, dass in 30 Jahren Problemlösen angesagt ist und auch funktioniert, dann brauchen wir eine positive Lernumgebung heute in den Schulen

    Manfred Spitzer ist Wissenschaftler und ein Ratgeber der ankommt. Denn viele Menschen sehnen sich nach einer optimistischeren Idee vom Lernen. Er hat übrigens außer in Medizin auch in Philosophie promoviert und Psychologie studiert. Zweimal war er Gastprofessor in Harvard.

     

    Als Spitzer vor einiger Zeit nach Schwäbisch Gmünd zu einem Vortrag eingeladen wurde, bemühten sich 7000 Menschen um Karten. Das muss etwas bedeuten. Im gleichen Jahr kam der Hirn- und Lernforscher noch viermal in die schwäbische Kleinstadt und jedes Mal war die Stadthalle zu klein und er sich nicht zu groß für diesen Auftritt.

    So schreibt er auch. Klug und unprätentiös. Spitzer fasst in seinem Buch „Lernen" den Stand der Forschung zusammen und berichtet von eigenen Studien, die zeigen, dass Lernen in Entspannung und mit Vertrauen am besten gelingt, Dann nämlich...

    Cut 2 26´15

    ... werden hier vorne im Gehirn erzeugte opiumähnliche Stoffe ausgeschüttet, und was macht das? Das macht Spaß. Wir können besser denken. Und wenn sie besser denken, bleibt es besser hängen und das wollen wir ja beim lernen.

    „Das Gehirn", sagt Spitzer. „kann nichts anderes als lernen und das macht ihm die allergrößte Freude" – außer man zwingt es oder setzt es unter Stress. Lernen, Denken, Handeln: das ist die Kombination auf die es ankommt, wenn man Neues schaffen und Probleme lösen will. Lernen ist kein gedankenloser Wissenskonsum, kein Kopieren und gleich wieder vergessen, dieses häufig an Bulimie erinnernde Schulritual.

    Seine These: „Das Gehirn lernt immer!" - Aber zuweilen lernt es auch Angst, Lernbehinderung und Selbstblockade – zumal in unseren Lernvollzugsanstalten

    Cut 3 31´20

    Puls hoch, Blutdruck hoc, Muskeln an. Das ist der Zustand der Angst: Fight, Fright, Flight: Sie sind auf Kampf oder Flucht vorbereitet. / Huch ! -

    Wenn sie in einer Prüfung Angst haben, darf man sie nichts Schwieriges fragen. Wenn der Prüfling denken muss, dann stürzt er ab.

    Aber es könnte ja einer sagen, wunderbar, machen wir doch Latein mit dem Rohrstock... Sie kriegen dabei die Lateinvokabeln schon rein, nur wann immer sie die wieder raus holen, holen sie die Angst mit raus. Und was kann man mit dem unter Angst Gelernten nicht mehr machen? Probleme lösen. Nun weiß heute keiner von uns, wie die Welt in 30 Jahren aussieht. Das müssten wir aber eigentlich wissen, wenn wir Kinder und Jugendlichen auf die Bewältigung ihrer Probleme in 30 Jahren vorbereiten wollen. Daraus folgt, dass wir ihnen keinen Kleinkram beibringen sollten, weil der sich sowie ändert.

    Die neue Schule, die Spitzer vorschwebt und zu deren Erforschung er jüngst ein neues Institut gegründet hat, das Transferzentrum Neurowissenschaften und Lernen, die neue Schule ist weniger der Körper eines Lehrplans als eine Umgebung, die Schülern signalisiert, willkommen, gut dass ihr da seid. Keiner wird verdächtigt ein blinder Passagier zu sein. Für diese Grundsicherheit bedanken sich die Lernenden damit das Risiko einzugehen, selbständig zu agieren und selbst zu denken. Die fehlerfreundliche Schule ist eine, in der man mehr leistet und in der man am Ende weniger Fehler macht, oder immer neue und intelligentere Fehler macht, statt der dummen, alten Fehler.

    Die Veränderung des Schulklimas wäre also die Zukunftsinvestition mit den vermutlich höchsten Erträgen, Spitzer zeigt, das ist kein Wohlfühlluxus. So ist es auch kein Zufall, dass inzwischen die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die bereits die Pisa Studie durchführt, eine neue Studie „Pisa für Erwachsene" vorbereitet. Lernen wird die wichtigste Produktivkraft und es zeigt sich, dass Wertschätzung die wichtigste Voraussetzung fürs Lernen wird – und auch für Wertschöpfung.

    Eine häufig in seinen beiden Büchern „Lernen" und „Selbstbestimmen" variierte These von Spitzer heißt: „Jedes Gehirn ist das Protokoll seiner Benutzung." Wir agieren als das bisherige Ergebnis unserer Geschichte, aber wir können sie steuern, ja wir können – auf der Basis dessen, was wir bisher geworden sind, selbst bestimmen. Wache Gegenwart ist der intelligente Zustand in dem Lernen und Selbstbestimmen gelingen.

    Warum wird hier zu lande Kindern immer noch so häufig mit der Zukunft und dem "späteren Leben" gedroht, statt sie dazu einzuladen?

    Was ist los an unserer Schulen?

    In seinen Büchern weist Spitzer nach, dass die Hirnaktivität von Schülern den ganzen lieben Tag nie so schwach ist wie ausgerechnet am Schulvormittag. Ein Skandal. Und der andere Skandal:

    Cut 4

    Ich bin Psychiater und ich weiß ein bisschen was über die Krankenhäuser. Deutschland hat mehr psychosomatische Klinikbetten als der Rest der Welt zusammengenommen. Und die sind voller Lehrer.

    Erklärungsbedürftig ist ja weniger, dass wir lernen, als was uns am Lernen hindert. Die beiden Bücher von Manfred Spitzer bieten die Entdeckung des Selbstverständlichen. Das ist eine aufregendende Lektüre. Wer sich mit den oft noch aktuellen Hypotheken einer schwarzen Pädagogik nicht abfinden will, findet in den Büchern des Psychiaters, Hirn- und Lernforschers Manfred Spitzer sogar ein neues pädagogisches Testament.

    Manfred Spitzer, Lernen - Gehirn-Forschung und die Schule des Lebens, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg, Berlin 2002, € 29.80

    Manfred Spitzer, Selbststimmen – Gehirnforschung und die Frage; Was sollen wir tun? Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg, Berlin 2003, € 29.95

    Die WELT über die Treibhäuser

    Ein Film und eine Botschaft

    Schule soll auch Spaß machen können

    Schule macht keinen Spaß. Das weiß doch jedes Kind. Umso mehr muss man wohl die Erwachsenen belobigen, die sich mit viel Verve darum bemühen, den Schulalltag für Kinder so angenehm wie möglich zu gestalten. Der Journalist Reinhard Kahl hat das einmal versucht. "Treibhäuser der Zukunft. Wie in Deutschland Schulen gelingen", heißt sein 115-minütiger Film, vorgestellt vor ein paar Tagen in einem großen Berliner Kinosaal im Beisein von Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD).

    Das Publikum ist gerührt, wenn es Kinder sieht, die ganz offensichtlich freiwillig zur Schule gehen, die Freude daran haben, etwas fürs Leben zu lernen. Und es sieht, dass es entgegen den vielen Negativschlagzeilen viele Lehrerinnen und Lehrer in diesem Land gibt, die mit Idealismus, Tatkraft und einer großen Portion Lebensfreude täglich an ihr Werk gehen. Die Kinder selbst, das will uns Kahls Film lehren, honorieren das mit Leistung.

    Reinhard Kahl hat sich mit seinem Kamerateam im Schulalltag herumgeschlagen. Er ist ein guter Interviewer und Beobachter. Bis zur Begleitmusik passt alles in dem Film - die Dramaturgie, die Kameraführung. Man lacht sehr viel. Dass Kahl selbst ein Parteigänger ist, dass er sich nur zu gerne in alternative Schulprojekte verliebt, kann und will er wahrscheinlich auch gar nicht verhehlen.

    Dass er einen Propagandafilm für das Bundesministerium, das das Projekt finanziert hat, gedreht habe, weist er aber zurück. "Ich habe mir nicht reinreden lassen - das war meine Bedingung." Auf Verdruss dürfte der Film bei Bulmahn aber keinesfalls gestoßen sein.

    Kahls Film hat viel Pathos, aber auch Leidenschaft. Er glaubt Schulen in Jena, Eichstätt, Hamburg und anderswo gefunden zu haben, die "Lebensorte geworden sind".

    Sie alle haben die Schulglocke abgeschaltet, den 45-Minuten-Takt der Schulstunden aufgelöst und das Notensystem in seiner Bedeutung relativiert. Sie alle sind Ganztagsschulen - die Reformpädagogik prägt den Schulalltag. Ob diese Schulen bei der Bildungsstudie Pisa gut abgeschnitten haben, erfährt man nicht.  JoP


    Artikel erschienen am 9. Juli 2004

    Filmpremiere in Berlin:

    . JULI 2004

    Filmpremiere in Berlin: "Wie in Deutschland Schulen gelingen"

    Kahls Film wird Schule machen: darin sind sich die meisten Besucher der Erstaufführung einig. Die zweistündige Version der Dokumentation sucht innerhalb der Bildungsreihe "Archiv der Zukunft" nach Beispielen gelungener Ganztagsschulen – und wird an praktisch allen Schulformen fündig: an Gymnasien, Hauptschulen, Gesamtschulen, Internaten, Sportschulen und Grundschulen.

    "Ich hoffe, dass aus dem Funken ein Feuer wird, das lange brennt", sagte Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn wenige Augenblicke vor Beginn der Filmpremiere von Reinhard Kahls "Treibhäuser der Zukunft - Wie in Deutschland Schulen gelingen". "Der Film zeigt ein beeindruckendes Porträt von Schulen, Ganztagsschulen, die gelingen", erläutert Bildungsministerin Bulmahn. "Er"soll einer breiten Öffentlichkeit die Vision einer Schule als Lebensmittelpunkt zeigen", so die Ministerin weiter. Schulen also, die "neue Kultur des Lernens" vorleben. Für die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung betonte die Vorsitzende Heike Kahl die Bedeutung von Kahls Film: "Wir versuchen den Leuten zu zeigen, dass Licht in der Bildungslandschaft kommt." Verantwortung für den Umbau der Schulen in Deutschland trägt Heike Kahl zufolge aber nicht nur der Staat, sondern auch die Zivilgesellschaft: "Ich hoffe auf die Sogwirkung des Films". "Treibhäuser der Zukunft" kann ab September im Rahmen der Initiative "Archiv der Zukunft" über die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung bezogen werden.


      
    Vorstellung von Kahls Film "Treibhäuser der Zukunft - Wie in Deutschland Schulen gelingen" am 1. Juli 2004 im Berliner CinemaxX                                                           

    Licht für neue Schulen

    Der Film, der bereits in einer Vorfassung auf der Startkonferenz zum Bundesinvestitionsprogramm im September 2003 gezeigt und der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wurde, hat in der Bildungswelt große Erwartungen geweckt: Die Kino-Vorstellung im Berliner Cinemaxx mit rund 500 Sitzplätzen war bereits eine Woche zuvor restlos ausgebucht. An diesem Abend - 1. Juli - sind die Kinoränge gefüllt: Politiker, namhafte Bildungsfachleute, zahlreiche Pädagogen und Schülerinnen und Schüler sowie Journalisten im Cinemaxx. Sie vermitteln in Kinosaal 3 einen heiteren, zuversichtlichen Eindruck: viel Vorfreude auf den Film und konzentrierte Lebendigkeit sprudelt von den Kinorängen.

    "Der Film möchte den Erreger einer ansteckenden Gesundheit einschleppen", spricht Reinhard Kahl per Mikrofon in den bereits halb abgedunkelten Kinoraum. Kino ist immer auch ein Raum für Wunscherfüllungen. An diesem Abend werden nicht Wünsche genährt, sondern die Hoffnung erfüllt, dass die Schulen der Zukunft bereits Wirklichkeit geworden sind. "Dabei wurde mir bewusst, welche große Bedeutung die Bilder hinter den Bildern haben", so Kahl weiter. Der Film soll die kollektiven Fantasien von gelingenden Bildungshäusern ansprechen, er möchte Ganztagsschulen zeigen, die Vorbilder sind. Gute Beispiele eben, die in den Köpfen der Menschen weiterleben und ihnen "Mut zur Veränderung machen", sagt Kahl.



    Vorfreude auf den Film

    Die Saat guter Schulen
     

    Dunkelheit im Kinosaal: Die Suche von Kahl nach gelingenden Ganztagsschulen beginnt mit einer Kameraeinstellung auf eine öffentliche Uhr am Kirchturm. Alle klassischen Zeit- und Raumvorstellungen – so Kahls Kommentar im Off – werden an den Schulen der Zukunft aufgebrochen. Die Kamera macht an einer Baustelle Halt: eine Schule wird gebaut. Bauarbeiter füllen das Fundament des zukünftigen Gebäudes mit Zement. Die Bilder sind auf behutsame Weise mit Musik von Nyman unterlegt. Die Filmmusik dieses Komponisten steht "symbolisch für Aufbruch und sie soll vorantreiben", sagt Kahl.

    Der Überraschungscoup des Films: Die "Treibhäuser der Zukunft" gibt es nicht in einem fernen El Dorado, sondern sie blühen mitten unter uns, mitten in Deutschland - in West und Ost, Nord und Süd. Dazu Elisabeth von Thadden in der Zeit vom 1. Juli 2004: "Kahl macht den Ideologen gut gelaunt einen Strich durch die Rechnung, denn alle Schultypen sind dabei, aus allen Teilen des Landes: die evangelische Ganztags-Gesamtschule Gelsenkirchen; ein bayerisches katholisches Gymnasium; eine Jena-Plan-Schule, die in Jena von der Vorschule bis zum Abitur führt; die Bodenseeschule, eine Grund-, Haupt- und Werkschule in Friedrichshafen; die Montessori-Schule in Potsdam; die multikulturelle Brennpunkt-Schule Max Brauer in Hamburg. Alles dabei."

    Neue Schulkulturen entdecken

    Kahls Film ist alles, nur kein Märchen aus 1001 Nacht. In 115 kurzweiligen Minuten entwickelt er die Vision einer neuen Schul- und Lernkultur in Deutschland, die ja bereits an einigen Orten Wirklichkeit geworden ist - von den Schülerinnen und Schülern selbst gestaltete Wirklichkeit. Diese mit Bedeutung und Lust am Lernen aufgeladenen Orte sollen Erreger einer Schulkultur werden, die die Individualität der einzelnen Schülerinnen und Schüler anerkennt, so wünscht es Kahl: "Je mehr Zeit eine Schule hat, desto unvermeidlicher wird die Frage nach ihrer Kultur," kommentiert Kahl im Off. 

    Der Ursachenforschung mit Hartmut von Hentig, Elsbeth Stern, Hirnforscher Manfred Spitzer oder PISA-Koordinator Andreas Schleicher, die gravierende Mängel im deutschen Bildungssystem diagnostizieren, stellt Kahl Beispiele gelungener Ganztagsschulen in Deutschland gegenüber. "Taylorisierte Belehrungsanstalten", die die Schülerinnen und Schüler auf eine monotone Arbeit in der Industriegesellschaft vorbereiteten werden durch zukunftsfähige Schulen abgelöst. Kahl kommentiert: "Lernen gerät in die Nähe von Fronarbeit. Immerhin verhalf diese Schule, die das eigene Leben auf eine ferne Zukunft vertröstet, der deutschen Wirtschaft an die Weltspitze. Im Übergang zur Wissensgesellschaft wird eintönige Arbeit an Maschinen delegiert. Den Unternehmen bleibt nichts anderes übrig, als lernende Organisation zu werden. Menschen müssen eigene Ideen mit ins Spiel bringen".

    Zu schön, um wahr zu sein?

    Kulturen des Lernens, die die Kreativität, Eigenverantwortung und den Eigensinn der Kinder und Jugendlichen fördern, entdecken die Zuschauer mit Kahl an der Bremer Grundschule Borchshöhe und der Jena-Plan-Schule: "Die Jena-Plan-Schule ist ein anziehender Ort geworden. Zu schön um wahr zu sein? Es ist wahr." Man erstaunt ob solcher Beispiele - immer wieder. Kahls Kommentare versuchen, die Zuschauer zu erden und Einwände von Kritikern zu überprüfen: Traut euren Augen, lautet seine Botschaft, schaut genauer, aber auch durchaus kritisch hin auf die guten Beispiele, statt nur die Misere an Deutschlands Schulen zu beklagen.

    "Wir suchen nach Schulen, die gelingen, nach Lehrern, die sich trauen und nach Ideen, die bei Schülern zünden", erläutert Kahl. Ein solches Biotop ist die "Bodenseeschule St. Martin" in Friedrichshafen, die auch im Mittelpunkt des Filmes steht: "Die Grundschule ist die beliebteste weit und breit". Wie gelingt es ihr zu gelingen?

    Es gibt keine Fächer, dafür vernetzten Unterricht und altersgemischte Lerngruppen. Dabei traut man seinen Augen nicht: "Es ist noch keine acht Uhr – die Schüler arbeiten, als ginge es um sie selbst, einfach so, ohne Kommando, ohne Klingelzeichen oder auf den Schulgong zu warten", so der Filmkommentar. Die Kinder sind in der 7 Klasse Hauptschule und finden eine vorbereitete Umgebung zum Lernen vor. Ihr Lehrer ist auch schon da, aber der wird kaum wahrgenommen, sondern ist "Gastgeber"  - im Hintergrund.

    Spontaner Applaus während der Sequenzen von der Bodenseeschule zeigt, wie wirkungsvoll die Bilder von dem Lebensort Schule sind. Die Kinder, die auch noch sehr erfolgreich lernen, begreifen ihre Schule als Lebensort mit Ritualen, Regeln und Revieren. Kommentar: "Sie kultivieren Rhythmen". Diese ermöglichen eine Balance zwischen kognitiven, emotionalen und sozialen Leistungen.



    Rektor Alfred Hinz von der "Bodenseeschule St. Martin"

    "Verschiedenheit anerkennen und Gemeinschaft kultivieren"

    Die Rhythmisierung des Schultags ist ein Schlüssel für bessere Lernleistungen der Kinder und Jugendlichen an der Bodenseeschule: Arbeitsgemeinschaften gibt es bereits am späten Vormittag und Unterricht auch Nachmittags. Die Eltern interessieren sich für die Schule nicht zuletzt deshalb besonders stark, weil ihre Kinder an der Schule bessere Leistungen erbringen. Dazu der Kommentar: "Auf Bewertungen wird nicht verzichtet. Aber sie kommen von außen. Der Innenraum der Schule wird gedehnt, die Köpfe klarer, das Lernen wird nachhaltiger".

    Dementsprechend nennt Kahl die Rhythmisierung auch den "vierten Pädagogen".
    Schloss Salem bei Friedrichshafen, die evangelische Ganztagsgesamtschule in Gelsenkirchen, das Ganztagsgymnasium Klosterschule, die Montessori-Gesamtschule in Potsdam, die Friedrich-Ludwig-Jahn-Schule (ein Leistungszentrum für Sport) und die multinationale Max Brauer Schule in Hamburg: Allen gemeinsam ist ihnen trotz ihrer Verschiedenheit das Gelingen von Leben und Lernen an einem geschützten Ort: "Verschiedenheit anerkennen und Gemeinschaft kultivieren, das ist die Basis für exzellente Leistungen". Kahls Film endet mit dem ermutigenden Befund: "Der Umbau der deutschen Schulen hat begonnen".

    Die Zustimmung, die "Treibhäuser der Zukunft" bei den Zuschauern auslöst, ist groß: starker Applaus von den Kinorängen - und noch ehe die Lichter wieder angehen, haben die Bilder von gelingenden Schulen bei den Zuschauern der Filmpremiere viel Bedarf zum Dialog freigesetzt.

    Hartmut von Hentig: "Mich beglücken diese Bilder von Kindern"

    Ein Versammlung illustrer und überaus anregender Gäste findet sich zum Gespräch in der Film-Lounge zusammen: Neben Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn und dem brandenburgischen Kultusminister Steffen Reiche sind Hartmut von Hentig, Elsbeth Stern, Heike Kahl, aber auch viele Protagonisten des Film zugegen.

    Große Freude über den Film zeigte die graue Eminenz der Pädagogik, Bildungsforscher Hartmut von Hentig. Ihm widmete Kahl kurz vor der Kinovorstellung den Film unter eine Bedingung: er müsse ihm auch gefallen. Hartmut von Hentig: "Mich beglücken diese Bilder von Kindern: Die Aufnahmen sind so genial wie der Kommentar des Films". "Der Film", ergänzt der charismatische Bildungsexperte, "kann in die Geschichte der Pädagogik eingehen". Hartmut von Hentig nimmt die Widmung freudig an, nur der Titel des Films – merkt er kritisch an - sei viel zu künstlich.

    Kognitionspsychologin Elsbeth Stern lobte die Weitsicht des Films: "Wir müssen eine neue Idee von Schule haben". Der Film – so Stern weiter –"weckt positive Emotionen, ohne zu idealisieren".



    Bildungsforscher Hartmut von Hentig im Gespräch mit Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn

    "Der Film wird eine Bibel der Reformpädagogik"

    Für Jean-Pol Martin, der Didaktik der französischen Sprache und Literatur an der Universität Eichstätt lehrt, hat der Film einen Meilenstein gesetzt: "Der Film wird eine Bibel der Reformpädagogik: sehr gut gemacht, sehr einfühlsam und tiefgehend - und er macht Lust auf Nachahmung". Martin, der in "Treibhäuser der Zukunft" ein innovatives Modell für Unterricht vorstellt - Schülerinnen und Schüler als Lehrende - wünscht sich außerdem, dass in der Schule kommuniziert werde wie im Internet: "Das Internet bringt alle Menschen zusammen, und es funktioniert wie ein Gehirn". Darin war er sich mit dem Kommunikationswissenschaftler und Zukunftsforscher Heiner Benking vom Open Forum einig, der in Kahls Film ein großes Potential erblickte: "Der Film rüttelt auf und macht wach".

    Farah Lenser, ebenfalls vom Open Forum, wurde von "Treibhäuser der Zukunft" geradezu überwältigt: "Ich war immer gegen Ganztagsschulen, weil ich mich an die eigenen Schulerlebnisse erinnert fühlte. Das so was möglich ist, hat mich überwältigt", so die Kommunikationstrainerin.

    Ganztagsschulen unumkehrbar

    "Kahl hat bei den Leuten Vertrauen geweckt: Sie sind ein Spiegelbild seiner selbst geworden", erklärt Hans-Konrad Koch, Leiter der Unterabteilung Bildungsreform im Bundesministerium für Bildung und Forschung.

    Große Wirkung von "Treibhäuser der Zukunft" versprechen sich auch Ute Busch und Ruben Herzberg vom Ganztagsgymnasium Klosterschule: "Mich hat die Hingabe beeindruckt, mit der die Kinder und Jugendlichen ihre Schulen gestalten", so Busch, die auch stellvertretende Vorsitzende des Hamburger Ganztagsschulverbandes ist. "Der Film bietet unglaublich viele Anregungen für Experten: er sollte in Kinos laufen und einer interessierten Öffentlichkeit gezeigt werden".



    Ute Busch und Ruben Herzberg von "GanztagsGymnasium Klosterschule" in Hamburg nach der Kinovorstellung

    Ruben Herzberg fügt hinzu: "Wichtig ist die Botschaft, dass die neuen Schulen nicht nur attraktiver, sondern auch erfolgreicher sind". Ginge es übrigens nach Ute Busch würde der Film möglichst vielen Politikern gezeigt. "So kann er mehr Wirkung entfalten". Für Ruben Herzberg hat Kahls Film außerdem gezeigt, dass Ganztagsschulen praktisch unumkehrbar geworden sind. "Es gibt keine gesellschaftliche Gruppe mehr, die behauptet, dass Ganztagseinrichtungen vom Teufel wären", erinnert Herzberg. "Der Film sollte in vielen Lehrerbildungseinrichtungen vor Ort gezeigt werden".

    Da passt es gut, dass Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn von Kollege und Kultusminister Steffen Reiche aus Brandenburg das Versprechen erhielt, er wolle Kahls "Treibhäuser der Zukunft" seinen Schulleiterinnen und Schulleitern vorstellen.

     

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    EXTERNE LINKS

    Deutsche Kinder- und Jugendstiftung
    www.dkjs.de/

    Reinhard Kahl
    www.reinhardkahl.de/

    INTERNE LINKS

    Ganztagsschultour Rheinland-Pfalz
    Buhlmann in Rheinland-Pfalz

    Ein Gespräch mit Reinhard Kahl
    "Wir haben Schulen, die gelingen"

    Kahls Kurzfilm "Treibhäuser der Zukunft"
    Begeisterung, die begeistert

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    taz Blaupausen für den Spaß am Lernen


    Blaupausen für den Spaß am Lernen

    In Schulen sieht Lernen heute noch oft aus wie im Industriezeitalter. In einem Film von Reinhard Kahl kommt der Lehrplan nicht vor. Der Publizist zeigt Schulen und Lernorte, an denen fröhliche Schüler auftreten, selbstbewusste Lehrer - und Eltern, die sich freuen, dass die Schulfächer abgeschaftt werden
    VON CHRISTIAN FÜLLER

    Ohne Finnland. Ohne Schweden. Vergeblich wartet man auf die skandinavischen Musterschulen. Kann das sein? Dass jemand einen Film über Schulen dreht, ohne die allüberall zitierten Lernorte des hohen Nordens zu zeigen? Es geht offenbar. Seit Pisa die Deutschen und die Deutschen sich mit Pisa martern, ist das Finnlandisieren und das Schwedeln ein weit verbreitete Unsitte. Reinhard Kahls Film erliegt ihr nicht.

    Kahls Schauplätze sind andere. Die Max-Brauer-Gesamtschule in Hamburg und die Bodenseeschule in Friedrichshafen. Wir sehen die Jenaplanschule in Jena und Schulen tief im Westen, in Gelsenkirchen und Essen. Überall in Deutschland findet der Bildungspublizist und taz-Autor Orte, die er "Treibhäuser der Zukunft" nennt. Die Pathetik, die darin steckt, verfliegt schnell. Denn Kahl spricht nicht über Schulen. Er führt uns hinein, er schließt Lernorte für uns auf, von denen wir gar nicht wussten, dass Klassen- und Lehrerzimmer so überhaupt aussehen können. Lernen scheint anders zu werden - auch in Deutschland.

    Dass er nicht fremdelt, ist also der erste Vorzug, den der 115-minütige Streifen hat. Der zweite, vielleicht bedeutsamere ist der: Es wird nicht gejammert, kaum einer schimpft, niemand lädt die Schuld für das vermaledeite Lernen bei anderen ab. Es kommen keine Lehrer vor, die über untätige Kultusminister oder faule Schüler schimpfen. Der Grundton des Personals, das zu Wort kommt, ist ein selbstbewusster. Das ist sehr ungewöhnlich.

    "Kopfhörer aufsetzen", sagt eine strenge Lehrerin. "Und jetzt wird geübt!" Ihre Zöglinge, säuberlich in die Kabinen eines Sprachlernlabors einsortiert, führen den Befehl aus. Das Premierenpublikum lacht über die Szene aus den 70er-Jahren. Fehlte nur das Fließband, von dem sich die Schüler die Wissenshäppchen nehmen und in den Kopf stecken. Im Grunde geht dieses Lachen fehl. Denn das Lernen, das aus dem Industriezeitalter stammt, gibt es heute noch. Lernen auf Befehl, nach Lehrplan, frontal von vorne - das ist nicht etwa die Ausnahme, sondern heute die bedauerliche Regel.

    Reinhard Kahl versucht mit seinem Film, plausibel zu machen, dass Schule so langweilig nicht weitergehen darf. Dabei skandalisiert er das alte Lernen kaum. Und macht um das neue Lernen für die Wissensgesellschaft auch kein großes Gewese. Kahl kann dokumentieren, dass das Lernen in der Zukunft ein anderes sein wird. Das mehr mit Begreifen, mit Experimentieren und Forschen zu tun hat als mit Pauken. Dafür sammelt Kahl viele Beispiele. Einen Professor etwa, der im katholischen Eichstätt die Universität verlässt und in die Schule geht. Nur unterrichtet Jean-Pol Martin nicht etwa selbst. Er macht die Schüler zu Lehrern, die KlassenkameradInnen unterrichten sich gegenseitig - mit aller Nonperfektion und Improvisation, die das mit sich bringt. "Unterrichten heißt", so erklärt der Professor sein Prinzip, "Widersprüche entstehen lassen, damit sie geklärt werden."

    Man kann viele der großen Worte, die Film bisweilen macht, getrost beiseite legen. Denn es gibt so viel Beispiele, dass man ein ziemlich gutes Bild davon bekommt, wie das Lernen im Wissenszeitalter aussehen wird. Die Kernelemente sind, fast in allen modernen Schulen: den Stundenplan abschaffen. Den Lehrplan zurechtstutzen und auf den individuellen Schüler herunterbrechen. Die Lehrer den ganzen Tag in die Schule holen. Teams von Schülern bilden - und sie dann zwischen die Fächer am richtigen Leben selber forschen zu lassen. Dort, an den Schnittstellen der Fächer, entsteht neue Erkenntnis. So sieht man es den Rektor der Bodenseeschule Albert Hinz einer Elternschaft berichten - die nun völlig hingerissen ist, obwohl ihr Schulleiter ihr doch gerade alle Sicherheit des Lehrplans geraubt hat.

    Der große Nachteil der Pädagogen ist, dass sie, wenn sie beschreiben sollen, wie gutes Lernen aussieht, furchtbar ins Schwafeln kommen. Bildung ist ein so wahnsinnig komplexer Prozess, dass am Ende eines Lehrervortrags oft unglaubliche Banalitäten herauskommen. Der Vorteil von Kahls Film ist, dass dort Lehrer das Prinzip neue Schule in unnachahmliche, ganz einfache Sätze packen. Hartmut von Hentig sagt: "Eine Unterrichtseinheit, eine Stunde muss ein Erlebnis haben, es muss aufregend sein." Die Rektorin der Montessori-Gesamtschule in Potsdam, Ulrike Kegler, sagt: "Wir dürfen die Schüler nicht beschämen." Und der Mann von der Bodenseeschule: Jeder Lehrer kann etwas tun, die sollen sich bloß nicht rausreden. Und das erste wäre, so Hinz: ein Taschentuch zwischen Klöppel und Glocke klemmen - damit man den elenden 45-Minuten-Takt der Regelschule endlich loswerden könne.

    Spaß, Respekt, Ruhe, Konzentration, Selbstbewusstsein. Und das alles ohne Unterbrechung durch dieses schreckliche Klingeln. Wo gibt es das schon an deutschen Schulen? Ist es nicht geradezu eine fest verbürgte kulturelle Tradition, dass Kinder in der Schule getrost abschalten können, weil sie genau wissen: Mit dem Leben hat das, was zwischen acht und eins in den Klassenzimmern vor sich geht, nun garantiert nichts zu tun. Aufwachen, so liefert der Hirnfoscher Manfred Spitzer den Beweis, im physiologischen Sinne Erwachen, das tun die Köpfe der Kinder erst: nach dem großen Gong. Dann geht das Leben weiter.

    Es ist allerdings auch richtig: Der Film von Reinhard Kahl hat enervierende Passagen. Weil er das notorische Anti-Spaß- und Gleichmacherprinzip der deutschen Schule ersetzt durch ein ebenso ubiquitäres "Wir können auch anders": Schule geht nur individuell und mit Freude. Wer sich darüber echauffiert, ist freilich selbst schuld. Denn Kahl will doch ausdrücklich ein Archiv der Zukunft anlegen. Die alte Tour ist nicht die seine. Das die Schule zwar schlecht sei, aber man nun mal nichts ändern könne.

    Wie viel Verwirrung an der Grenzlinie von alter und neuer Schule, von Ernst und Spaß am Lernen noch immer herrscht, mag der Fehlgriff eines der kundigsten Beobachter der deutschen Bildungsszene zeigen: "Warum erinnert uns das", so rästelt Torsten Harmsen in der Berliner Zeitung über Kahls Schulen, "an die nach Pisa so arg gescholtene Kuschelpädagogik der Siebziger?" Das ist ein Salto rückwärts. Denn Pisa widerlegt doch die Regelschule und nicht etwa die Reformschule. In der Bodenseeschule gibt es keine Fächer mehr, kein Klingeln und keine Belehrer, dafür offensichtlich viel Konzentration und Spaß. Wenn die Schüler dieser Schule aber Komptenztests wie den von Pisa spielend bestehen, wo gibt es dann, bitte sehr, noch ein einziges Argument für die deutsche Stino-Schule?

    Einen Vorwurf muss man Kahl machen. Er hätte jene Zitate, in denen die Ganztagsschule als die Chance bezeichnet wird, mit Datum kenntlich machen sollen. So bringt er viele der Pädagogen, die diese Auffassung seit langem vertreten, in den Verdacht, Propagandisten des Ganztagsschulprogramms der aktuellen Bundesregierung zu sein. Das hat die Zukunft nicht nötig.

    Reinhard Kahl: "Treibhäuser der Zukunft - Wie in Deutschland Schulen gelingen". Zu beziehen für 15 Euro via Mail bei der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung: info@dkjs.de

    taz Nr. 7402 vom 7.7.2004, Seite 18, 238 TAZ-Bericht CHRISTIAN FÜLLER

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    PS 7 Raum und Zeit

    PÄDAGOGIK - P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

    Raum & Zeit

    »Der Raum ist der dritte Pädagoge«, sagte der 1994 verstorbene Begründer der »Reggiopädagogik«, Loris Malaguzzi. In den kommunalen Vorschulen der norditalienischen Reggio Emilia Romagna begann man schon in den 80er Jahren, Kinder als Forscher und Dichter anzusehen. Respekt und Neugier wurden als kognitive und moralische Tugenden entdeckt. Der schöne Satz vom Raum als dem dritten Pädagogen kommt nun erneut nach Deutschland. Diesmal erreicht er die Schulen als vermeintlich schwedische Maxime. Atmosphäre und Architektur, also eine gut gestaltete und intelligent vorbereitete Umgebung, sind für das Gelingen der Bildung entscheidend. Diese Einsicht trat auch in Skandinavien ihren Siegeszug in den Vorschulen an. Die Brisanz des Satzes vom dritten Pädagogen wird deutlich, wenn man ihn vollständig zitiert: »Die anderen Kinder sind der erste Pädagoge. Lehrer sind der zweite und der Raum ist der dritte Pädagoge.« Die Zeit noch als vierten Pädagogen hinzuzufügen, wäre gewiss in Malaguzzis Sinn. Betrachtet man die hierzulande üblichen Klassenzimmer unter dem Aspekt dieser vier Pädagogen, dann wird schlagartig klar, was schief läuft. Die deutsche Schule setzt traditionell nur auf den einen Pädagogen, den Lehrer, überfordert und schwächt ihn.

    Karg und linear

    Für eine große Zahl von Grundschulen gilt das nicht mehr. Aber die meisten Schulräume sind schmucklos. Das Interieur ist häufig zum Verzweifeln karg. Die Zeit wird so linear konstruiert, dass sie fast zum Punkt schrumpft. Kein Wunder, dass die meisten Lehrer behaupten, gar keine Zeit zu haben, und dass sich ihre Schüler in der verklumpten Zeit langweilen. Der übliche »fragend entwickelnde Unterricht« kommt durchaus mit einem leeren Raum aus, ganz so als seien die Schüler gar nicht anwesend – was ja irgendwie stimmt. Wo man nicht Individuum sein darf, wird das Unumgängliche zum notwendigen Übel. Weder Kooperation noch Gemeinschaft bilden sich. Von Eleganz und Schönheit ganz zu schweigen. Erst wenn die Verschiedenheit nicht als Abweichung und Nachteil angesehen wird, hört der Raum auf, Container zu sein und kann ein reizvoller Ort werden. Und weil die Verschiedenen jeweils ihre Eigenzeit haben, kommen Rhythmen auf. Sind Raum und Zeit als Koordinaten für Differenzen erst mal akzeptiert, dann entstehen in Schulen Lernlandschaften. Dürfen die Pfade des Verstehens verschlungen sein, werden Raum und Zeit immer komplexer, ja intelligenter. Gibt es aber in der Klasse nur den einen Pädagogen, der unaufhörlich sendet, und sollen die Schülerempfänger nur auf seine Frequenz eingestellt sein, wird bald der ganze Raum eine einzige Quelle von Störungen. Jetzt erschließt sich auch, was Raum ist: gedehnte Zeit, also Gegenwart. Wenn Gegenwart nichts gilt, wenn alles in die angebliche Zukunft treibt, wird der Raum zum schmalen Korridor, den man nicht schätzt, in dem man sich nicht aufhalten und schon gar nicht einrichten will. Folglich heißt die Parole, wenn Gegenwart verloren geht und wenn der Raum zu nichts mehr einlädt: »Ich hab keine Zeit«.

    Will man allerdings das Wissen auf direktem Weg und möglichst schnell in die Köpfe der Schüler transportieren, braucht man den leeren Raum und die lineare Zeit. Das Ganze hat nur einen Nachteil: Die meisten Schüler werden nicht erreicht. Sie schalten nach und nach ab. Ist aber die Schule ein gestalteter Raum und eine rhythmisierte Zeit, also eine Welt zur »Personwerdung«, wie es Alfred Hinz von der Bodensee-Schule ausdrückt, dann lässt sich die Vermittlung von Wissen gar nicht vermeiden.« Was deutschen Pädagogen, die in den letzten Jahren Skandinavien entdecken, als erstes auffiel, war ja, dass Leistung dort gar nicht so sehr im Zentrum steht. Aber die Besonderheit jedes Einzelnen wird respektiert und das alltägliche Versprechen von Zugehörigkeit gibt man vorbehaltlos. Genau das bekommt der Leistung. Diese Einsicht kann man auf die deutsche Debatte um die Ganztagsschule übertragen. Die Umgründungen sind ein Anlass, Raum und Zeit der Schule neu zu vermessen. Ganztagsschulen bieten die Chance, den Unterricht als engen Kanal zum Durchschleusen von trägen Wissenspaketen zu weiten. Man sieht an der Bodensee-Schule, der Jena-Plan-Schule in Jena, der Montessori-Gesamtschule in Potsdam und an vielen anderen deutschen Schulen, die gelingen, wie reich die soziale und kognitive Ernte ausfällt, wenn Lehrer mit den anderen drei Pädagogen kooperieren, ja zuweilen spielen.

    Eine Frage der Kultur

    Aber wehe einer Schule, die als gestresste, gegenwartslose und verwahrloste Vormittagsschule ganztägig wird. Die hält keiner aus. Auf diese List kann man natürlich setzen. Je mehr Zeit eine Schule hat, umso dringender stellt sich die Frage nach ihrer Kultur. Gewiss. Andererseits ertragen viele das, was eigentlich nicht auszuhalten ist, doch viel zu lange.

    Wenn sich jetzt Schulen, nur um an Mittel für den Ausbau einer Kantine zu kommen, zur Ganztagsschule erklären und ihre Schüler nachmittags zwei Stunden in der Kantine von einer schnell angelernten Kraft (»Erste-Hilfe-Kurs«) die Hausaufgaben »betreuen« lassen, und das heißt häufig, die Zeit totzuschlagen, dann könnte es uns in Deutschland gelingen, auch noch diese gute Idee zu diskreditieren. Da seien die guten Beispiele vor. Außerdem setzen wir auf den 7. Dezember 2004. Da werden die Ergebnisse der zweiten internationalen Pisa-Staffel veröffentlicht.

    P. S.

    Josef Brodsky schrieb: »Ob ihrs glaubt oder nicht, die Evolution hat ein Ziel: Schönheit.«

    P.P.S.

    Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de

    DIE ZEIT Lust an der Leistung

    DIE ZEIT


    28/2004 

    Die Lust an der Leistung

    Ein Dokumentarfilm macht Mut: Es gibt auch in Deutschland Schulkonzepte, die funktionieren

    Ein Kind liegt am Zeugnistag auf dem Bett und weint bitterlich. Ein quälendes Zeugnis? Ach wo. Langsam quillt der Kummer aus ihm heraus: Zeugnistag, das heißt Ferien. Die Lehrerin, die Klasse, das Gebäude werden so fehlen. „Morgen darf ich nicht in die Schule.“ Das gibt’s. Wenn Schule gelingt.

    Nun hat der Bildungsexperte Reinhard Kahl, der auch für die ZEIT schreibt, einen Film gedreht, der von solchen gelingenden Schulen handelt, nicht in Kanada, nicht in Skandinavien, sondern gleich um die Ecke, in Deutschland: Treibhäuser der Zukunft. Wer nicht mehr glauben wollte, dass auch hierzulande Schulen Lebensorte sein können, die zum Lernen Zeit lassen, in denen Lust und Leistung, Selbstständigkeit und Zusammenarbeit kein Widerspruch sind, der wird seinen Augen kaum trauen. Kahl macht den Ideologen gut gelaunt einen Strich durch die Rechnung, denn alle Schultypen sind dabei, aus allen Teilen des Landes: die evangelische Ganztags-Gesamtschule Gelsenkirchen; ein bayerisches katholisches Gymnasium; eine Jena-Plan-Schule, die in Jena von der Vorschule bis zum Abitur führt; die Bodenseeschule; eine Grund-, Haupt- und Werkschule in Friedrichshafen; die Montessori-Schule in Potsdam; die multikulturelle Brennpunkt-Schule Max Brauer in Hamburg. Alles dabei. Und Experten wie Hartmut von Hentig, die Bildungsforscherin Elsbeth Stern, der Hirnforscher Manfred Spitzer (siehe obiges Gespräch), der Unternehmensberater Jürgen Kluge, die Familienexpertin Gisela Erler begründen in Kommentaren, warum diese Schulen gelingen.

    Gemeinsam ist allen Beispielen, dass die Lehrer die Verschiedenheit von Menschen nicht als Nachteil empfinden, dass sie möglichst über den ganzen Tag eine Lernkultur schaffen, in der sich Konzentration und Entspannung abwechseln können. Kinder schleppen Quittenkisten, stehen im Labor, im Tonstudio, stecken in Laubhütten, balancieren auf dem Hochseil, und immer geht von den Bildern die Faszination des motivierten Lernens aus, der ansteckenden Lust am Gelingen. Mit Lehrern, die sich als Gastgeber verstehen. Zu schön, um wahr zu sein, müsste der rundum besorgte Deutsche da denken. Ist aber wahr, und zwar hier.

    Reinhard Kahl: Treibhäuser der ZukunftWie in Deutschland Schulen gelingen; Archiv der Zukunft 2004, 115 Minuten, zu beziehen über die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung, Tempelhofer Ufer 11, 10963 Berlin, 15,– Euro

    Wolfgang Edelstein wird 75; SZ

    Wurzeln und Flügel

    Der MPI-Bildungsforscher Wolfgang Edelstein wird 75


    Sein Leben nennt er das eines Nomaden. 1938 emigrierte die jüdische Familie von Freiburg nach Island. Da war Wolfgang Edelstein neun Jahre alt. In der deutschen Grundschule wurde der ¸¸Jud" vom Lehrer Kiefer geprügelt und gedemütigt. Aber er hatte auch seinen Lehrer Löhlein, der war freundlich und bot die Resonanz, ohne die keine Bildung gelingt. So erlebte Edelstein schon als Kind, wofür er später als einer der Direktoren des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Begriffe fand: Inklusion und Exklusion. Werden Schüler in der Schule willkommen geheißen oder werden sie wie blinde Passagiere behandelt? Ambivalenz ist immer noch ein Potential, mit dem er Leiden in Leidenschaft verwandelt. Der Emeritus, der am 15. Juni seinen 75 Geburtstag feiert, wirkt jugendlich. Einer, der noch etwas vor hat.


    Cohn-Bendits Lehrer


    Aus dem Land der Selektion vertrieben, lernte Wolfgang Edelstein in Island eine Gesellschaft kennen, die Kindern und Jugendlichen verspricht: Jeder gehört dazu, jeder ist ganz gut und alle werden gebraucht. Zum Studium der Linguistik, Philosophie und diverser Sprachen ging der deutsche Jude mit isländischem Pass 1949 nach Grenoble und später nach Paris. Dann holte ihn ein Freund als Lehrer an das Internat Odenwaldschule. An dieser legendären ersten deutschen Gesamtschule wurde Edelstein Studienleiter. Die Konferenz schickte Kollegen zu Recherchen ins Ausland oder zum Weiterstudium an die Uni. Deren Arbeit übernahmen die anderen. ¸¸Die Schule hat einen Daniel Cohn-Bendit zu Daniel Cohn-Bendit gemacht," erinnert sich dessen Lehrer Wolfgang Edelstein. Nebenher promovierte er in Heidelberg in mittellateinischer Philologie.


    Anfang der sechziger Jahre traf er den in Bildungssachen engagierten Rechtsanwalt und polyglotten Menschensammler Hellmut Becker. Als der Senat der Max-Planck Gesellschaft einem Institut für Bildungsforschung grünes Licht gab, schrieben Edelstein und Alexander Kluge, damals Mitarbeiter in der Kanzlei von Hellmut Becker, in einer Nacht dafür das Konzept. Hellmut Becker wurde Gründungsdirektor, Wolfgang Edelstein der erste wissenschaftliche Mitarbeiter und später selbst Direktor.


    In diesem Institut lernte der Isländer, die Staatsangehörigkeit hatte er behalten, erst mal Schulen und Hochschulen anderer Länder kennen. Er studierte die kognitive Psychologie und las Jean Piaget, wurde Gastprofessor in Harvard und leitete in Berlin zeitweilig das Institut. Nebenher war er 18 Jahre lang Chief Scientific Adviser des Bildungsministers in Island und organisierte dort die Schulreform. Eine Schule, die Kinder nicht frühzeitig sortiert. Edelstein konnte nun begründen, was ihn seine Vita lehrte: Anerkennung ist eine Produktivkraft. Die Sicherheit ungetrübter Zugehörigkeit unterstützt das Wagnis, sich ins Neuland zu wagen. Die Androhung von Ausschluss und Versagen hingegen schwächt und macht neurotisch.


    Immer noch treibt ihn diese Frage: ¸¸Was führt zur Bereitschaft, sich zu engagieren? Wie kommt Self-efficacy auf?" Das ist Edelsteins wichtigster Begriff seit Jahren. Selbstwirksamkeit heißt die etwas umständlich klingende Übersetzung. Sie setzt sich langsam durch.


    Sinn und Begeisterung


    Sollte er ein Motto für sein Leben finden, plädiert er für ¸¸Sinn und Flow." Dass deutsche Schulen mit Sinn und Begeisterung immer noch geizen, musste der spät berufene Vater bei seinen beiden Kindern erleben, die nun glücklich mit dem Abitur die Schultortur hinter sich haben. Dabei sollte Lernen doch eine Vorlust auf sich selbst sein. Doch deutsche Lehrer, erfuhr der Wissenschafter täglich beim Abendbrot, ¸¸haben ein Rezeptwissen, das sie von den Feldwebeln Friedrichs des Großen kaum unterscheidet."


    Täglich eilt der Rastlose an seinen Schreibtisch im Institut. Sein aktuelles Projekt heißt ¸¸Demokratie lernen und leben." 13 Millionen Euro stellen Bund und Länder bereit, um den Schulen Leben einzuhauchen: Theateraufführungen, Schülerfirmen, Schulradios und Forschungsvorhaben von Schülern, auch Kooperation mit außerschulischen Fachleuten. Schulen sollten Orte sein, an dem die Kinder mit 'Wurzeln und Flügeln' (Goethe) ausgestattet werden.


    Nirgendwo wurde der Emigrant und Remigrant Edelstein ganz heimisch. Das bekommt den Tugenden eines Wissenschaftlers: Beobachtungsfähigkeit und Kontingenzbewusstsein, also nicht endendes Staunen und die Gewissheit, alles könnte auch etwas anders sein. Reinhard Kahl


    Quelle: Süddeutsche Zeitung
    Nr.134, Montag, den 14. Juni 2004 , Seite 9

    PS 6 04 Kinderlose, heile Familie

    PÄDAGOGIK - P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

    Kinderlose heilige Familie

    Plötzlich schnellte in diesem Frühjahr das Bevölkerungsthema ganz nach oben. In Deutschland wird jede nachfolgende Kindergeneration um ein Drittel kleiner sein als die ihrer Eltern. Vierzig Prozent der deutschen Akademikerinnen bleiben kinderlos.

    Was bedeutet es, wenn sich ausgerechnet ein großer Teil der am besten Ausgebildeten vom generativen Prozess verabschiedet? Es ist ja nicht nur die demografische Verfinsterung, die nun zu all den anderen Deutschland-Krisen noch hinzukommt. Und es ist nicht nur diese zusätzliche Bildungskatastrophe, wenn ausgerechnet die Familien streiken, die am meisten Wissen und Kultur weitergeben könnten. Der Schatten liegt nicht erst auf der Zukunft. Was ist mit unserer Gegenwart los, dass viele nicht weitermachen, nichts weitergeben, keine Zukunft produzieren wollen? Man denkt unwillkürlich an Nietzsches Schmähwort von »den letzten Menschen«. Was bedeutet ein Leben unter dem Vorzeichen, nach uns kommt nichts mehr?

    Unruhe

    Gewiss, Kinder allein sind nicht die Welt, und Kinderlose können im ganz emphatischen Sinne »in der Welt sein«. Zumal Lehrer oder Künstler. Die zölibatäre Tradition von Hingabe ist produktiv und ehrenwert. Doch sie ist eine Ausnahme. Kinder sind für die ganze Kultur das wichtigste Ferment von Erneuerung. Sie sind die Unruhe im Uhrwerk. Jeder, der Kinder hat, weiß, wie sie uns Grenzen setzen und zugleich Horizonte eröffnen, bevor wir mit ihnen in diesen Bildungsprozess von Grenzen und Horizonten einsteigen. Diese Erfahrung fehlt den letzten Menschen. Sie neigen dazu, alles zu sein und alles haben zu wollen. Dann erleben sie, dass alles und nichts zwei Wörter für das Gleiche sind.

    Die Neigung zu »Alles oder nichts« gehört zu den deutschen Erbsünden. Wir finden sie insbesondere im weiten Feld von Bildung und Erziehung. Mütter sollen ganz und gar für die Kinder da sein. Sonst sind sie Rabenmütter. Sie bekommen an jedem Missgeschick die Schuld. Und häufig geben sie sich selbst die Schuld. Natürlich gibt es keine Erziehung ohne Missgeschick. Aber es gibt ein besseres Vorzeichen für Elternschaft als Perfektion und Idealisierung. Der nach Amerika ausgewanderte Kinderpsychiater Bruno Bettelheim brachte es auf die Formel: »good enough parents«. Einigermaßen gute Eltern – die besten, die man sich wünschen kann – können auch Familie und Beruf vereinbaren. Und hier liegt denn auch ein Ansatzpunkt für den Hebel zur Veränderung. Nur setzt die Vereinbarkeit von Beruf und Familie mehr voraus als Kinderbetreuung. Die ist in Deutschland häufig nur Verwahrung. Ein Teufelkreis.

    Mythos Kindheit und Familie

    Weil wir dazu neigen, die Familie zu idealisieren, verweigern wir der öffentlichen Erziehung Ressourcen, vor allem die wichtigste: Wertschätzung. Das gilt besonders für Krippen, Kindergärten und die Vorschule. Ein Beispiel: Schulabgängerinnen, die ein Berufsberater glaubt im Büro nicht unterbringen zu können, empfiehlt er die Ausbildung als Erzieherin.

    Aber auch viele Eltern finden, mit der Schule beginne der bittere Ernst des Lebens, und wollen sie ihre Kinder deshalb möglichst lange mit einer verspielten Kindheit davor schützen. Aus dieser Mentalität wird dem Lernen in der Schule die Seele, nämlich Vorfreude des Kindes auf sich selbst zu sein, geraubt. Die Vorschulzeit wird dann vom Lernen überhaupt frei gehalten, weil man sie zu eng denkt. Verhängnisvolle Aufspaltungen!

    Unsere Schule wurde nie als Lebensort konzipiert. Sie setzt auf Belehrung. Sie geizt mit Raum und Zeit für die Eigenständigkeit und Zusammenarbeit der Schüler – und auch der Lehrer. Der Familienmythos flüstert: Zu Hause spielt sich das wahre Leben ab. Dann sind um 13.30 Uhr die Lehrer schneller im Golf als die Schüler auf dem Fahrrad. Diese Fehlkonstruktion bringt viele Frauen, zumal solche mit guter Bildung und hohen Ansprüchen, dazu, dieser Falle entgehen zu wollen und die Karriere zu ihrer einzigen Welt zu machen.

    Intimität und Öffentlichkeit

    Wir müssen also deutsche Reinheitsgebote aufgeben und uns mit neuen Mischungen anfreunden. Die öffentliche Kindererziehung ist keineswegs bloß die zweitbeste Lösung neben der Hundertprozentfamilie. Für Kinder sind gute Krippen, Vorschulen und Ganztagsschulen ein abgestufter Raum zwischen Intimität und Öffentlichkeit. Hier treffen sie andere Kinder und hoffentlich professionelle Erzieher, die in der Lage sind, ästhetisch, emotional und kognitiv Welten zu öffnen. Zu Hause, das müssen wir endlich zugeben, wird nicht das duftende, selbst gebackene Biobrot auf den Tisch getragen und anschließend am Flügel Mozart gespielt. Dort gibt es viel zu häufig Fast Food, Schokoriegel und als endlosen Nachtisch Fernsehen.

    P. S.

    In München beim europäischen Patentamt hat die Familienforscherin Gisela Erler mit ihrer Firma »Familienservice« eine anspruchsvolle Kinderbetreuung aufgebaut. Die meisten Akademikerinnen, die aus vielen Ländern kommen, kehren gemäß europäischem Recht nach zwölf Wochen Mutterschaft gelassen in den Beruf zurück. Seit es dort diese gute Kinderbetreuung gibt, »bekommen die Frauen Kinder wie die Hasen«, weiß Gisela Erler. Viele haben zwei oder drei Kinder, und sie fügt hinzu: »Das sind tolle Familien, die viel mit ihren Kindern machen.«

    P.P.S.

    Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: Kahl-Lob.des.Fehlersgmx.de und neuerdings auch unter www.reinhardkahl.de

    Popanz der Pedanten

    Der Popanz der Pedanten

    Das Theater um die "neue" Rechtschreibung geht weiter: Heute legen die Kultusminister eine marginale Reform der Reform vor - die Gegner fordern eine Rückkehr zur alten Schreibweise
    VON REINHARD KAHL

    Vielleicht sollten unsere Don Quichottes, die dieser Tage wieder mal in den Krieg für die eine ganz richtige Rechtschreibung ziehen, zwischendurch mal Goethe lesen. Er sagte: "Ihr seht schon ganz manierlich aus, kommt mir nur nicht absolut nach Haus." Das Absolute ist tödlich. Es hat, wie jede andere Perfektion, keine Zukunft.

    Die Doppelherrschaft von alter und neuer Rechtschreibung hat in den vergangenen Jahren ganz unbeabsichtigt einen enormen Zivilisationsgewinn gebracht. Die alte Leitdifferenz von "richtig - falsch", die immer nur eine Möglichkeit durchgehen lässt, wird nun im Alltag von der überlegenen Unterscheidung "möglich - nicht möglich" durchsetzt und langsam ersetzt.

    "Möglich - nicht möglich", das ist etwas ganz anderes als die befürchtete Beliebigkeit, gar Anarchie im Schreiben! Mit "Möglich - nicht möglich" kehrt in die Schrift wieder ein Hauch von dem zurück, was die Dynamik der gesprochenen Sprache auszeichnet. Da gibt es zwischen dem Hamburger und dem bayrischen Sound, zwischen Görlitz und Aachen doch auch Platz! Wäre die Liquidation der Varianten ein Gewinn?

    Vor allem muss man verstanden werden. Und die Sprache sollte möglichst elegant, vielleicht sogar etwas erotisch klingen. Man stelle sich vor, es gäbe eine Rechtsprechkommission? Der erste Nebeneffekt wäre, dass viele glaubten, ohne bei ihr nachzusehen oder nachzuhören keine rechten Sätze mehr bilden zu können.

    Nein, der Regelperfektionismus, in dem sich die Anhänger der einen richtigen alten und der allein richtigen neuen Schreibweise nur so übertreffen, produziert inzwischen mehr Probleme, als er löst - und dabei ebendiesen wunderbaren Nebeneffekt, der sich als Hauptwirkung herausstellt. Das wissen wir ja von Theoretikern der 2. Moderne, wie Ulrich Beck: Die Vielfalt unbeabsichtigter Nebeneffekte geht über die braven Ziele und all die Planerfüllungserfahren, zumal der Bildungsplanwirtschaft.

    Dabei könnte Konrad Dudens Maxime, die er vor 100 Jahren gegen die Kultusmandarine seiner Zeit erhob, durchaus wieder Regel werden: "Schreib, wie du sprichst!" Aber in Rechtschreibkommissionen & Co. wird ja nicht gesprochen. Da werden Papiere gemacht. Die Rechthaber und Fehlerankreuzer sind unter sich.

    Nach der einen Dogmatik sollen wir belämmert mit ä schreiben, nach der anderen "belemmert" mit e. Dass Regeln, sobald es mehr als eine gibt, sich aneinander stoßen und nie wirklich aufgehen, das ist nur für Pedanten eine Not.

    Es ist tatsächlich ein Glück. Ein Glück für jede Evolution. Wenn die Dinge nicht ganz aufgehen, dann gehen sie weiter. Warum nur, fragt man sich, nun schon seit Jahren dieses Theater in den Feuilletons und nun auch auf den skandalfreudigen Vorderseiten der Zeitungen? Es wird der Popanz einer zentralstaatlichen Geheimloge aufgebaut, die uns nun wie ein ZK für die Sprache an seine Fäden nehmen will. Ach Gott. Die meisten schreiben doch sowieso, wie sie wollen.

    Wie sie wollen? Von der Betonung dieses Satzes "Wie sie wollen" hängt doch alles ab. Die behauptete Beliebigkeit und gefürchtete Verwahrlosung, "die schreiben, wie sie wollen", ist nicht von großem Vertrauen geprägt.

    Dann braucht man keine Regulative, sondern Vorschriften. Aber wenn man mit etwas Achtung sagt, der schreibt, wie er will, dann könnte es doch sein, er oder sie will etwas und das ist alles andere als banal.

    Und jetzt mal im Ernst. Wer morgens die FAZ liest, mit der alten Rechtschreibung, die dort geheimnisvoll die "bewährte Rechtschreibung" genannt wird, und dann zur Süddeutschen greift, mit ihrer nach eigenen Redaktionsregeln modifizierten neuen Rechtschreibung und dann vielleicht noch zur taz, fällt dem überhaupt was auf? Ob "achtmal" nun mit oder ohne Bindestrich geschrieben wird, groß oder klein, ist das wichtig?

    Also halten wir es mit dem Meister aus Weimar: "Ihr seht schon ganz manierlich aus, kommt mir nur nicht absolut nach Haus."

    Goethe war gar nicht zimperlich, er schrieb seinen Namen mal mit h und mal ohne, das sollte ein Schüler mal wagen! Ja, er sollte es wagen. Und er sollte Goethe, der übrigens ein großer Freund von Fehlern war, lesen und nicht die - schon sprachlich elenden - Papiere der Rechtschreibkommissionen.

    Labor der Möglichkeiten

    4. JUNI 2004

    Labor der Möglichkeiten

    Seinen Film über "Schulen, die gelingen", hat Reinhard Kahl "Treibhäuser der Zukunft" genannt. Wie weit sind Schulen und Ganztagsschulen von dieser Vision entfernt, und was muss getan werden, um ihr nahe zu kommen? Auf der Tagung "Zukunftswerkstatt Ganztagsschule" des Hessischen Landesinstituts für Pädagogik am 27. und 28. Mai in Fuldatal versuchten Lehrerinnen und Lehrer, Antworten darauf zu finden.

    Noch heute erreichen Helga Artelt beim Hessischen Landesinstitut für Pädagogik fünf bis zehn Anfragen nach dem Film "Treibhäuser der Zukunft", der auf der Startkonferenz zum Investitiomsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" am 8. September 2003 in Berlin aufgeführt wurde und eigentlich nur eine vorläufige Fassung darstellte. Mit den 30 Minuten erreichte der Filmautor Reinhard Kahl vermutlich mehr, als es Hunderte Seiten Gedrucktes gekonnt hätten. Die Bilder von in Deutschland bereits gelingenden Ganztagsschulen beeindruckten die Zuschauer sehr.

    Inzwischen liegt der Film in der vollständigen Fassung vor und soll am 1. Juli der Öffentlichkeit in Berlin vorgestellt werden. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der zweitägigen Tagung "Zukunftswerkstatt Ganztagsschule" in der Reinhardswaldschule im hessischen Fuldatal konnten das nun knapp zweistündige Werk bereits jetzt zu Beginn der Veranstaltung ansehen. Die Aula der Tagungsstätte verwandelte sich für 120 Minuten in einen Kinosaal.

     

    Die Aula der Reinhardswaldschule

    Die internationalen Beispiele aus der Kurzfassung hat Kahl entfernt; in der neuen Fassung sind die Beispielschulen aus Deutschland ausführlich dargestellt. Denn darauf kommt es dem Bildungsjournalisten an: Zu zeigen, dass es bereits hier zu Lande Schulen gibt, die gelingen, und man danach nicht lange im Ausland suchen muss. Mit seinen Bildern erhofft sich Kahl eine "Subversion der Schullandschaft" und einen "Sog, Dinge anders zu machen", denn: "Analysiert und kritisiert ist inzwischen alles", wie er vor Vorstellungsbeginn erklärt.

    Sprachlosigkeit nach der Filmvorführung

    Die rund 70 Anwesenden bedenken den Film mit Applaus und überschütten ihn mit Lob. Trotz der Länge hat "Treibhäuser der Zukunft" nichts von seiner Überzeugungskraft eingebüßt, wie sich zeigt. Aber: "Der Film macht einen erst mal sprachlos", meint Bernhard Schmidt, Lehrer an einer Integrierten Gesamtschule. "Man sieht, wie weit man von denen im Film gezeigten Beispielen noch entfernt ist."

    Aus dem Plenum kommt die sarkastische Frage, ob sich denn auch Politiker schon mal "Treibhäuser der Zukunft" angesehen haben. Reinhard Kahl nimmt das zum Anlass, die Anwesenden zu ermahnen, nicht immer "anderen die Schuld zu geben": "Entscheidender ist es, was Sie als Lehrer in den Schulen machen, dass Sie entdecken, was Sie tun sollen und was auch für Sie wichtig ist." Ganz widerspruchslos bleibt das nicht: "Wenn Sie wüssten, mit welchen Widerständen wir zu kämpfen haben", klagt eine Teilnehmerin über die Mühlen der Bildungsbürokratie.

    Dass der Film "Lust auf Veränderung" macht, ist aber Konsens. Allerdings wird der Wunsch laut, nicht nur die gelungenen Endprodukte eines Werdensprozesses zu sehen, sondern den Weg dahin und möglichst noch die Anfänge, denn viele der Schulvertreterinnen und Schulvertreter stehen noch an diesem Punkt. Um diesen Pädagogen praktische Anregungen und Hilfestellungen zu geben, sind neben Reinhard Kahl auch Vertreterinnen und Vertreter der im Film vorgestellten Schulen nach Fuldatal eingeladen worden: Karin Bossaller von der Bremer Grundschule Borchshöhe, Dagmar Gottschall und Juliane Stutz von der Jenaplan-Schule in Jena sowie Albert Hinz von der Bodensee-Schule in Friedrichshafen.

    Prozess muss in den Schulen beginnen

    Einsichten, die sich aus der Vorstellung ergeben, werden in einer ersten Diskussionsrunde mit diesen fünf Referentinnen und Referenten erläutert: Mit lediglich freiwilligen Angeboten am Nachmittag kann der Tag nicht rhythmisiert werden, wie es für eine "richtige" Ganztagsschule notwendig wäre. Der im 45 Minuten-Takt am Vormittag absolvierte "Osterhasen-Unterricht", wie die Kognitionspsychologin Elsbeth Stern vom Max Planck-Institut für Bildungsforschung das schematische Herantasten der Schüler an das vom Lehrer "versteckte" Wissen nennt, wird so nicht aufgebrochen. Dennoch können auch solche kleinen Schritte Befriedigung bringen, wie eine Teilnehmerin meint. Es reicht schon, statt 45 Minuten 90 Minuten-Blöcke zu bilden, wie Ralph Meist nach einem Besuch an der Europa-Schule in Kerpen berichtet. Einen Anstoß aus dem Film, den alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer als "entscheidenden Schritt" ansehen, ist das jahrgangsübergreifende Lernen. Viele wollen versuchen es zu initiieren, wenn sie in ihre Schulen zurückgekehrt sind.

    "Der Prozess muss in den Schulen beginnen", mahnt Reinhard Kahl, "und er gelingt nur mit einer Selbstbespiegelung." Doch ohne Hilfestellung von außen fühlen sich viele Schulleitungen und Lehrkörper überfordert. Ganztagsschulen und Schulen zu unterstützen, die ganztägige Angebote erst noch planen, ist das Ziel des Hessischen Landesinstituts für Pädagogik, dem Veranstalter. "Wir haben dafür allerdings nur 1,37 Stellen bewilligt bekommen", schränkt Tagungsleiter Horst Kuhley ein, "und bitten daher um Verständnis, wenn das Beantworten von Fragen etwas länger dauert." Insofern ist die "Zukunftswerkstatt Ganztagsschule" ein großer Schritt nach vorn, denn hier können gleich die Anwesende alle ihre Fragen loswerden und Probleme diskutieren.

    Warnung vor dem Einzelkämpfertum

    Die dringlichste Frage ist die nach den ersten Schritten auf dem Ganztagsweg. Referentin Karin Bossaller, an deren Grundschule Borchshöhe das Ganztagsangebot seit Beginn des Schuljahrs besteht, kann aus eigener Erfahrung berichten: "Sie müssen die Eltern auf ihre Seite bekommen. Gehen Sie dabei auch offensiv vor und machen deutlich, um wie viel besser das Angebot für die Kinder wird. Dazu brauchen Sie natürlich ein engagiertes Kollegium." Dagmar Gottschall von der Jenaplan-Schule ergänzt: "Die Kollegen müssen erkennen, dass eine Ganztagsschule ihnen Möglichkeiten eröffnet, das zu machen, was sie schon immer tun wollten, und etwas auszuprobieren."

    Es sind die Menschen, welche die Atmosphäre einer Ganztagsschule bestimmen, stellt Reinhard Kahl fest. Das wird nirgends so offensichtlich wie bei Alfred Hinz, dem Leiter der Bodensee-Schule. Mit seiner bodenständigen Art und den lockeren Sprüchen begeistert der Ruhrpöttler, den es vor 30 Jahren nach Friedrichshafen verschlagen hat, das Plenum bereits von der Leinwand aus und ermuntert auch in den darauffolgenden Stunden mit seinen Beiträgen immer wieder die Anwesenden. "Eine Ganztagsschule bietet einen riesigen Freiraum auch für Lehrer", wirbt er. Aber er mahnt auch: "Holen Sie die Eltern sofort ins Boot und versuchen Sie auf keinen Fall als Einzelkämpfer die Ganztagsschule in ihrer Schule durchzudrücken. Sie machen sich dabei kaputt."

    In der Grundschule Borchshöhe ist man schon einen Schritt weiter und das Einzelkämpfertum gehört der Vergangenheit an. In einer der Arbeitsgruppen am Nachmittag erläutert Karin Bossaller, dass die Gruppen an ihrer Schule – Klassen sind abgeschafft worden – immer von zwei Pädagoginnen betreut werden. Die gebürtige Schwedin, die sich viele pädagogische Anregungen aus ihrer alten Heimat holt, meint: "Im Team können Lehrer flexibler reagieren und gemeinsame Handlungskonzepte entwickeln." Daher treffen sich auch alle so genannten Mentoren – also Lehrerinnen und Erzieherinnen – im Pausenraum und können sich so immer wieder besprechen. "Ein gemeinsames Konzept und Verhalten entlastet den Einzelnen", so Bossaller.

    Ausbildung zu Problemlösern und Ideenfindern

    Den zweiten Tag eröffnet wiederum Reinhard Kahl, diesmal mit einem Referat, das wie der Film als Impuls für Diskussionen genutzt werden soll. In den Schulen müsse ein Grundrhythmus des "Ihr seid gut, ihr seid begehrt" geschaffen werden statt der manchmal vorhandenen Misanthropie, die der Hamburger am Beispiel eines Lehrers in seiner Stadt beklagt: "Der darf ungehindert zu seinen Schülern sagen: Ihr seid der Rotz an meinem Ärmel." Dazu ständig das Gefühl, die falschen Schüler zu haben und "blinde Passagiere" aussortieren zu müssen. "Das ist ein deutscher Wahn", klagt Kahl und provoziert: "Wir sind Weltmeister im Müll- und Schülersortieren." Kein Wunder, dass heutzutage Schülerinnen und Schüler nach 13 Jahren aus den Schulen kämen wie "Landsknechte aus einer aufgelösten Armee". Und in diesen 13 Jahren hätten sie lediglich das "Bulimie-Lernen" im sechswöchigen Testrhythmus verinnerlicht – aber nicht wirklich etwas gelernt oder ihre Persönlichkeit gebildet.

     

    Reinhard Kahl bei seinem Impulsreferat

    Statt dessen müssten Schulen zu "gut klimatisierten Treibhäusern" werden, zu einem "enormen Labor der Möglichkeiten", das nicht nach einmaligem Scheitern sofort aufgegeben werden dürfe: "Wer noch keinen Fehler gemacht hat, hat auch nichts gewagt." In diesen Laboren müssten die Menschen als Problemlöser und Ideenfinder ausgebildet werden, ohne die eine Wissensgesellschaft nicht bestehen könne. Neben den Lehrerinnen und Lehrern seien dabei auch Raum und Zeit entscheidende Pädagogen.

    Das Fehlen der Pädagogik in der Ausbildung beklagt nicht nur der Journalist in seinem Vortrag – "Die Lehrer werden um ihre Ausbildung betrogen". Auch Christoph Peuser von der Westerwaldschule fordert in der anschließenden Diskussionsrunde, die "Kompetenzen und Ressourcen von Jugendhilfe an den Schulen zu bündeln und den Horizont der Lehrer auf das Sozialpädagogische" zu erweitern.

    Positive Sogwirkung des Ganztags

    Doch vor dem zweiten Schritt muss erst einmal der erste gemacht werden – und da drückt der Schuh ganz gewaltig, wie sich in einer mittäglichen Arbeitsgruppe zeigt, in denen die Vertreterinnen einzelner Schulformen ihre speziellen Probleme diskutieren. Denn viele, die in Projektgruppen die Einführung der ganztägigen Angebote organisieren sollen, fühlen sich eben doch oft als Einzelkämpferinnen und -kämpfer: "Ständig hört man aus dem Kollegium: Das wird sowieso nichts. Und ausgerechnet die meist älteren Kollegen, die keinen Deut mehr machen, als sie müssen, verwahren sich gegen vermeintliche Mehrarbeit."

    Der Tipp einer Lehrerin, an deren Schule man bereits einen Schritt weiter ist: "Rechnen Sie offen vor, dass sich die Arbeitszeit für diese Kollegen nicht verlängert. Machen Sie das ganz deutlich!" Gut sei es auch, zunächst nur mit den fünften und sechsten Klassen zu starten und den Ganztag dann langsam "hochwachsen" zu lassen. "In fünf Jahren sind die meisten Ganztagsgegner in Pension, und bis dahin sind wir von der positiven Sogwirkung des Ganztages überzeugt."

     

    Die abschließende Diskussionsrunde

    In Sachen Betreuung kommt der Hinweis, dass Eltern sich gerne im Unterricht engagieren, wenn man sie darum bittet. Hier hat ein Teilnehmer bereits positive Erfahrungen gesammelt. Bei der Hausaufgabenbetreuung empfehle sich ein Rotationssystem unter der Lehrerschaft. Durch das Bilden von Jahrgangsteams innerhalb des Kollegiums spare man zudem viel unnötige Mehrarbeit.

    Die Schlussdiskussion in großer Runde steht unter einer einfachen Frage: "Was nehme ich von dieser Tagung mit?" Neben dem jahrgangsübergreifenden Lernen möchten sich die Lehrerinnen und Lehrer an der Freiarbeit versuchen, die an der Bodensee-Schule so überzeugend funktioniert. "Ich werde am Dienstag gelassener in die Schule gehen", meint ein Lehrer. Bernard Schmidt, der nach dem Film zunächst "sprachlos" war, verkündet nun: "Ich freue mich richtig, am Dienstag wieder in die Schule zu kommen und meinen Kollegen von dem zu erzählen, was ich hier erfahren habe." Alfred Hinz schließlich fasst die Dynamik und den Impuls der Veranstaltung für die zukünftige Arbeit an den Schulen zusammen: "Ich habe ein gutes Gefühl."

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    LINKS

    Hessisches Landesinstitut für Pädagogik
    http://help.bildung.
    hessen.de

    Bildungsserver Hessen
    www.gta.bild
    ung.hessen.de

    Reinhardswaldschule
    www.reihards
    waldschule.de

    Ein Gespräch mit Reinhard Kahl
    "Wir haben Schulen, die gelingen"

    Reinhard Kahls Kurzfilm "Treibhäuser der Zukunft"
    Begeisterung, die begeistert

    Gute Beispiele
    Grundschule Borchshöhe


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    Wände einreißen und Vertrauen schaffen / Über Enja Riegel

    Wände einreißen und

    Vertrauen schaffen

    Eine Schule kann man ändern - das hat die langjährige Direktorin Enja Riegel bewiesen, jetzt hat sie Neues vor


    Von Reinhard Kahl


    An ihrem ersten Tag als Direktorin der Helene-Lange-Schule sah Enja Riegel schwarz. Das Kollegium trug Trauerkleidung. Ausnahmslos. Die Riegel sollte es nicht werden! Solchen Protest hatte es in einer Schule noch nicht gegeben.


    Fast 20 Jahre später bedankte sich das Kollegium der Wiesbadener Schule zur Pensionierung ihrer Schulleiterin. Ein Schatten allerdings lag über dem Zelt beim großen Abschiedsfest im Februar 2003. Bei ihrer Rede erlitt Enja Riegel einen Herzinfarkt, den sie erst nicht wahrhaben wollte. War das die Quittung? War ihr Einsatz, der diese Schule gegen tausend Zweifel und Widerstände an die Spitze gebracht hatte, nicht doch zu hoch? Und ist die Helene-Lange-Schule nicht doch nur ein Extremfall, der die deutsche Regel bestätigt? Oder muss man sich nicht endlich von dem Gedanken lösen, dass es das eine richtige Modell für die gute Schule gibt?


    Die Helene-Lange-Schule ist das beste Beispiel für die Befreiung von diesem Glauben an den einen Weg. Gleich einem Individuum hat sich diese Schule zu ihrer Biografie durchgerungen. Sie macht ihre Geschichte, ausgehend von Bedingungen, die sie sich nicht hat aussuchen können. Den Anstoß gab Enja Riegel. Sie hat die Abkehr vom Leben im fremden Auftrag vorgelebt. Das beflügelt.


    Ein Jahr Vorsprung


    Nun, ein Jahr nach ihrer Pensionierung, gründet die einmal als rote Enja Verschriene in den Treibhäusern einer ehemaligen Gartenversuchsanstalt in Wiesbaden eine Privatschule, die alles noch übertreffen soll. Die Eigenwillige, die schon mal Kultusministerin einer SPD-Regierung werden sollte, trägt mit ihrem ¸¸Reformschulmodell" zum bildungspolitischen Frieden im CDU-regierten Wiesbaden bei. Sogar ins ferne Afghanistan wird sie eine deutsche Reformschule exportieren. Aber in dieser Woche stellt sie erst einmal ihr Buch vor, das ist im Fischer Verlag erscheint: ¸¸Schule kann gelingen".


    In der Tat, die Pisa-Noten der Hela, wie man die Helene-Lange-Schule auch nennt, die Ende der 80er Jahre vom Gymnasium zu einer Gesamtschule konvertierte, machten Schlagzeilen. Die Punktzahl liegt über denen der Leseweltmeister in Finnland und der Mathematikchampions aus Asien. Gemessen am so genannten Erwartungswert, der unter anderem aus der sozialen Herkunft der Schüler errechnet wird, holen die Schüler bis zur 9. Klasse etwa ein Jahr Vorsprung heraus. Dabei hatte die Schule die kognitiven Leistungen zwar immer im Auge, sah sie aber nur als Effekte, die gar nicht zu vermeiden sind, wenn die Schule eine gute Atmosphäre schafft und aus dem Schulhaus die allgemeine Untermieterstimmung vertrieben wird: Wir müssen halt machen, was im Lehrplan steht... Nein, man kann viel machen. Dafür steht Enja Riegel.


    Nach dem Studium der Germanistik und Anglistik begann die ehemalige Helene-Lange-Schülerin Enja Glücklich 1969 das Referendariat an ihrer alten Schule und blieb dort noch als junge Lehrerin. Der Blick ins Lehrerzimmer war desillusionierend. Die routinierte Schulmaschine drehte sich um den Stundenplan und die Fächer. Die wurden unterrichtet, weniger die Schüler. Der Vormittag wurde im 45-Minuten-Takt zerhackt. Ein Ort für Kinder und Jugendliche, als den sie ihre Hela in Erinnerung hatte, war diese Schule nicht. Aber die Vision blieb, dass eine Schule so sein müsse, wie Enja, die inzwischen Riegel hieß, sie erlebt hatte.


    Es war die Zeit des Protestes und die Riegel ließ nichts aus. Weder antikapitalistische Texte im Deutschunterricht noch die Polemik gegen die Sekundärtugenden. Als die junge Mutter mit ihrem antiautoritären Kinderladen einen längst entwidmeten Friedhof besetzt und zum Abenteuerspielplatz erklärt hatte, war sie bald stadtbekannt. Immerhin, aus dem alten Friedhof wurde ein Spielpark und das ist er heute noch. Tatsächlich hielt der Kinderladen für sie eine ganz andere Lektion bereit. Sie erlebte, dass der antiautoritäre Aufbruch nicht unbedingt zu mehr Freiheit führt. Im Kinderladen drängte sich ihr die Entdeckung auf, dass Kinder verlässliche Beziehungen brauchen und geradezu nach Regeln und Ritualen hungern. Die Rebellin wurde nachdenklich.


    Nach ihren Wanderjahren durch verschiedene Schulformen, die sie bis zur Grundschule führte, in der sie von den Kindern lernte, was Pädagogik ist, passierte, was nun nach dem Skript eines Märchens klingt. Die Stelle des Direktors an der Helene-Lange-Schule wurde im Amtsblatt ausgeschrieben. Enja Riegel konnte nicht anders, als diese Anzeige als eine an sie gerichtete Aufforderung zu verstehen. Damit stand sie ziemlich allein. Aber sie kam auf die Liste, erhielt die Stelle - und traf auf eisiges Schweigen im Kollegium.


    Nach einem Jahr Funkstille ging es los. Wände wurde eingerissen. Auf jeden fünften Klassenraum wurde verzichtet, und dafür Schülertreffs geschaffen. Diese Zwischenräume sind Programm. Dort arbeiten Schüler selbständig. Dort werden die Ergebnisse ihre Projekte ausgestellt. Eltern werden eingeladen, sie zu betrachten. Es entstanden Marktplätze der kleinen Schulen in der großen. Jeden Jahrgang unterrichtet ein Lehrerteam. Zugehörigkeit hatte Enja Riegel als den Grundstoff allen Lernens entdeckt. In anderen Schulen hatte sie beobachtet, was passiert, wenn Lehrer beim Zensurengeben ihre Schüler auf Fotos sortieren, um sie nicht zu verwechseln. Lehrer im Jahrgangsteam müssen auch fachfremd unterrichten. Das stellte sich für die Schüler bald als Vorteil heraus, erfordert aber die Zusammenarbeit der Pädagogen. Schritt für Schritt wurden eigene Curricula erarbeitet. Bald fand man es unmöglich, im Unterricht Selbstverantwortung zu predigen und mittags die Räume türkischen Putzfrauen zu überlassen. Also entschlossen sich die Lehrer Staubsauger anzuschaffen und hielten die Schüler an zu putzen. Bald hatte die ganze Schule den Übergang vom geputzten zum selbst putzenden System hinter sich.


    Mit den eingesparten 25 000 Euro jährlich wird ein professioneller Theaterregisseur engagiert. Der spielt mit Schülern wochenlang Theater, zum Schluss der Session fällt aller Unterricht dafür aus. Die Schulleiterin hat sich wieder mal durchgesetzt. Sie sagt: ¸¸Wer viel Theater spielt, wird gut in Mathematik." So lernt die Schule über Bande zu spielen und erfährt alltäglich, dass Lernen ein indirekter Vorgang ist. Inzwischen finanzieren sich die Theateraufführungen über den Eintritt. So wird das Lernen, ja das Leben als folgenreiche Tätigkeit erlebt. Die eigene Wirksamkeit macht Freude, wenn sie zuweilen auch anstrengend ist. Aber jeder Schüler an der Hela weiß, Anstrengung macht viel mehr Spaß als Langeweile.


    Macht statt Herrschaft


    Durfte die Schule denn das alles? Wenn Eltern und Lehrer der Schulleiterin diese Frage stellten, bekamen sie immer zur Antwort: ¸¸Ja, selbstverständlich." Denn Lehrpläne seien richtungsweisend, nicht als kleinliche Vorschriften zu verstehen. Und die Schulleitung übernehme die Verantwortung, dass die Anforderungen alles in allem eingehalten werden. Die Schulbehörden sahen das zunächst anders. Aber sie wurden Jahr für Jahr mehr von den Erfolgen dieser selbständigen Schule überzeugt, in der nicht, wie manch einer fürchtete, jeder macht, was er will, sondern in der immer mehr Schüler und Lehrer tatsächlich etwas wollen: so gut wie möglich sein und sich nicht beschummeln.


    Die Leitung gibt der Schule so viel Sicherheit, dass sich die Lehrer ruhig in Unsicherheiten begeben können. Das hat nichts mit Führung als Herrschaft zu tun. Eher mit Macht, wie man sie auf englisch buchstabiert: Power. Macht kommt von Mögen, meinte die Philosophin Hannah Arendt, ja Macht entstünde, wenn sich Menschen zum Leben und zur Gestaltung ihrer Verhältnisse verabredeten. Genau das geschieht an der Helene-Lange-Schule. An die Lehrerteams wurde viel Macht abgegeben. Aber was heißt abgegeben? Die Zusammenarbeit der Lehrer in Teams verschaffte ihnen die häufig völlig neue Erfahrung, wie beglückend Resonanz ist und wie kräftezehrend die Vereinzelung.


    Natürlich gab es auch an dieser Schule, vor allem bei Eltern den Zweifel, ob man so denn auch was fürs Leben lernt. Die gute Ernte wurde nicht nur von Pisa bestätigt. Zuvor schon, bei der internationalen Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie Timss schnitt die Schule bestens ab. Eine Studie der Uni Erfurt bescheinigt ehemaligen Schülern Selbstständigkeit und Kooperation. Seit Jahren evaluiert die Schule selbst den Weg der Schüler nach der 10.Klasse. In der gymnasialen Oberstufe, auf die viele wechseln, stiegen die Leistungen der Schüler im Schnitt um 2,1 Punkte auf der Oberstufen-Skala.


    Enja Riegel, die im vergangenen Jahr aufgeschrieben hat, wie sich diese Schule seit fast 20 Jahre neu erfindet, fängt nun selbst noch mal neu an. Sie gründet eine freie Schule, in der das Unterrichten noch mehr vom Aufrichten abgelöst werden soll. Denn bei aller List im Umgang mit Behörden, erwartet sie von der Freiheit, vor der sie sich nie fürchtete, nicht nur glücklich zu sein, sondern auch exzellente Leistungen. Was die Deutschen seit Jahren in Skandinavien entdecken, zeigt sich auch hier: Anerkennung, Vertrauen und Freude sind die stärksten Produktivkräfte. Und diese Lektion überzeugt inzwischen in Wiesbaden auch die CDU. Als Enja Riegel dem Bürgermeister ausgiebig das Konzept einer Gesamtschule erläuterte, in der Schüler nicht mehr wie Hühnereier in die Kategorien A, B und C eingeteilt und damit neurotisiert werden, nickte er, aber verlangte, ¸¸das darf nicht Gesamtschule heißen!" Nun werden in Wiesbaden zwei Schulen zu ¸¸Reformschulen" umgewandelt.


    Quelle: Süddeutsche Zeitung
    Nr.118, Montag, den 24. Mai 2004 , Seite 10

    Die Schulleiterin – Eine Außenansicht (Über Enja Riegel)

    Kapitel in dem Buch:

    Enja Riegel, Schule kann gelingen

    S. Fischer Verlag

    __________________________________

     

    Die Schulleiterin

    Eine Außensicht 

    Von Reinhard Kahl

    „Wer führen will, darf denen, die er führt, nicht im Weg stehen.“

    Laotse

     

    Zum Schluss des Buches sollte ein Kapitel über die Schulleitung stehen. Darum ging es auch bisher immer wieder, aber eher zwischen den Zeilen. Sobald dieses Thema allerdings ins Zentrum rückt, tritt die Person der Schulleiterin hervor. Welche Rolle spielt sie beim Gelingen der Schule? Die Antwort machte Enja Riegel - man kann es sich denken - Schwierigkeiten. Statt dieses Schlusskapitels nun also ein Blick  von außen.

    Ich kenne Enja Riegel seit Mitte der 80iger Jahre. Auf einem Pädagogenkongress in Hannover begeisterte sie mit ihren Ideen das Publikum. Mehr noch überzeugte ihr Elan, diese auch zu verwirklichen. Seitdem habe ich die Helene-Lange-Schule beobachtet. Die Schulleiterin faszinierte mich sofort, aber ihr starker Einfluss behagte mir zunächst nicht. Sollte sich denn aus der angestrebten Selbständigkeit der Lehrer und Schüler nicht eher eine geringere Bedeutung der Leitung ergeben?

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    An ihrem ersten Tag als Direktorin der Helene-Lange-Schule sah Enja Riegel schwarz. Das Kollegium kam in Trauerkleidung. Ausnahmslos. Die Riegel sollte es nicht werden! Solchen Protest hatte es in einer Schule noch nicht gegeben.

    Fast  20 Jahre später bedankte sich das Kollegium zur Pensionierung ihrer Schulleiterin mit einem Fest, das eine deutsche Schule wohl noch nicht erlebt hat. Tage und Abende hatten Lehrer das Programm vorbereitet und eigens einen Zirkus errichtet. Bei den Bauten in der abgeschirmten Turnhalle halfen Schüler und Profis, die sonst Bühnen für Popstars montieren. Enja Riegel durfte von all dem nichts mitkriegen. Aber die für diese Schule typische Vorfreude blieb niemandem verborgen. Als dann die Sägespäne in der Manege verteilt, der Baldachin darüber aufgezogen und die Scheinwerfer in allen Spektralfarben eingeschaltet waren, begann ein fast vollendeter Abend. Die Gäste saßen festlich gekleidet an Tischen, die von Schülern wie in einem feinen Restaurant eingedeckt worden waren. Mancher Besucher traute seinen Augen nicht, zumal als Lehrer und ehemalige Schüler bühnenreife Stücke aufführten. „So etwas habe ich noch nie in einer Schule gesehen,“ sagte Bernhard Bueb, der Leiter der Internatsschule Salem, und staunte über die Professionalität der Musiker, Schauspieler und auch der Technik: „Das kann doch nicht sein, dass das Lehrer sind?“ Es waren Lehrer. Und einige von ihnen hatten 20 Jahre zuvor ganz in Schwarz protestiert.

    Das Abschiedsfest vergegenwärtigte, was sich hier über Jahre getan hatte. Keine Spur mehr von der Luschigkeit und Normalverwahrlosung vieler, wenn nicht der meisten Lehranstalten Diese Schule hat einen starken Eigensinn. Sie hat ihre Formen gefunden und Rituale kultiviert. Jeder investiert viel. Die Schule erntet beste Ergebnisse. Und zum Schluss wird genossen. Das macht eine Atmosphäre, die jeder Besucher sofort spürt, bevor er sie sich erklären kann. Man fühlt sich zu Hause und frei. So war es auch an diesem großen Abschiedsfest im Februar 2003.

    Ein Schatten allerdings lag über dem Zirkuszelt. Von ihm wussten an diesem Abend nur zwei Personen, die Schulleiterin und ihre Tochter, eine junge Ärztin. Am Vormittag, als eine Rede nach der anderen gehalten wurde, als Hartmut von Hentig und Andreas Flitner, mit dem ehemaligen Kultusminister Hartmut Holzapfel in der ersten Reihe saßen, erlitt Enja Riegel bei ihrer Rede einen leichten Herzinfarkt, den sie zunächst nicht wahrhaben wollte. War das zum Schluss die Quittung? War der Einsatz nicht doch zu hoch? Kann diese Schulleiterin wirklich ein Vorbild sein? Und ist die Helene-Lange-Schule vielleicht doch nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt, und eben nicht das richtige Modell?  Oder muss man sich nicht endlich von dem Gedanken lösen, dass es das eine richtige Modell für die gute Schule gibt?

    Die Helene-Lange-Schule ist das beste Bespiel für die Befreiung von dem Glauben an das eine richtige Schulmodell. Gleich einem Individuum hat sich diese Schule zu ihrer Biografie durchgerungen. Sie macht ihre eigene Geschichte, ausgehend von Bedingungen, die sie sich nicht hat aussuchen können. Das ist ein Modell anderer Art. Unvollkommenheit muss nicht verborgen werden. Fehler erweisen sich als ergiebiges Rohmaterial fürs Lernen.

    Den Anstoß gab die Schulleiterin. Sie hat die Abkehr vom Leben im fremden Auftrag vorgelebt und davon ging eine ansteckende Gesundheit aus. Mit ihrem Selbstversuch war nicht alles, aber sehr viel gewonnen.

     

     Auf nach Panama

    Für Enja Riegel war die Bewerbung auf die Schulleiterstelle an der Helene Lange Schule im Jahr 1982 so etwas wie die entscheidende Schlusspassage ihrer Reise nach Panama. Man kennt ja die Geschichte von Janosch. Der Bär und der Tiger suchen ihr gelobtes Land. Auf dem Brett einer Bananenkiste identifizieren sie es: Panama. Die Reise einmal um die Welt führt sie zurück zu ihrer Hütte. Nun machen sie diese zu dem, was sie immer gesucht haben.

    Enja Riegel war schon Schülerin der Helene-Lange-Schule. Dort wurde sie nach ihrem Studium Referendarin und an ihrer alten Schule unterrichtete die fertige Lehrerin dann auch die ersten Jahre. Als Pädagogin war sie zunächst von ihrer Helene-Lange-Schule enttäuscht, die sie in so guter Erinnerung hatte, wie zuvor auch die Grundschulzeit. Enja war begabt. Die zweite Klasse hat sie übersprungen. Dazu musste sie zu Hause nachlernen. Ihre Mutter prügelte fehlendes Wissen regelrecht in die Tochter hinein. Es muss furchtbar gewesen sein. Die vornehme Dame rächte sich an dem Kind, das ihren Lebensstil beeinträchtigte. Aber so unglücklich es zu Hause zuging, so sehr sonnte sich Enja Glücklich, das ist ihr Mädchenname, neben ihrem Großvater, einem erfolgreichen Geschäftsmann, wenn sie neben ihm auf der Wilhelmstraße in Wiesbaden flanierte. Dann gehörte ihr beinahe die Welt. Der Großvater gab ihr Freundlichkeit, ja Liebe, und das Versprechen auf eine andere Welt, als die zu Hause erlebte. Von ihm erbte Enja Glücklich wohl auch die Zuversicht, dass gelungenes Leben das bedrohte retten kann. Die Schule gehörte ebenfalls zu dieser besseren Welt, ein Gegenstück zum zu Hause erlebten Unglück, von dem die bösesten Erlebnisse hier unerwähnt bleiben müssen.

    Zwischen diesen Polen hatte das Wiesbadener Mädchen jedenfalls mitbekommen, was im Leben alles möglich ist. Vor allem hatte sie erfahren, dass Menschen einen Ort brauchen, an dem sie willkommen sind und wo man an sie glaubt, so wie der Großvater an seine Enja. 

    Nach dem Studium der Germanistik und Anglistik gab es für die Referendarin an ihrer alten Schule ein Erwachen. Ein Ort für Kinder und Jugendliche war ihre schöne Hela, wie die Schule schon damals genannt wurde, eigentlich nicht. Gar nicht. Der Blick ins Lehrerzimmer war desillusionierend. Die routinierte Schulmaschine drehte sich um die Fächer und den Stundenplan. Die wurden unterrichtet, weniger die Schüler. Der Schultag wurde im 45 Minuten Takt zerhackt. Aus der neuen Perspektive wirkte die Schule muffig und gar nicht mehr vielversprechend. Aber die Vision blieb, dass eine Schule so sein müsse, wie Enja, die inzwischen Riegel hieß, sie in Erinnerung hatte.

    Das Referendariat begann sie 1969. In dieser Zeit stand alles zur Disposition. Auch Enja Riegel wollte wissen, was die Eltern- und Großelterngeneration tatsächlich getan hatte, fragte sich,  ob wir von denen wirklich abstammen wollen, oder ob wir uns nicht besser komplett neu erfinden. Sie wollte  den deutschen Nullpunkt,vor der das Land seit 1945 in das Immer-höher und das Immer-mehr von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder geflohen war, nun eine Generation später durchschreiten. Natürlich war das eine riskante und heute für die Jüngeren nur noch schwer nachvollziehbare Aktion, zumal die Jüngeren die 68er häufig als Lehrer kennen gelernt haben, die ihren Aufbruchsgeist verloren haben und nur als graue Vollstrecker des deutschen Konkurses auftraten. Eine zeitlang standen auch für Enja Riegel alle bürgerlichen Tugenden unter Faschismusverdacht. Schon die Forderung nach Sauberkeit erinnerte sie ans KZ und wurde als „anal“ abqualifiziert. Alles hing unbesehen mit allem zusammen. Kräftig wurde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Und doch war diese Rebellion für sie wichtig, zumal sie nicht an diesem Nullpunkt stehen bleiben wollte.      

     

    Lehr- und Wanderjahre

    Inzwischen war Enja Riegel Mutter und bald stadtbekannt. Mit ihrem antiautoritären Kinderladen hatte sie einen alten, längst entwidmeten Friedhof besetzt und zum Abenteuerspielplatz umfunktioniert, so nannte man das damals. Auch eine Straße wurde öffentlichkeitswirksam zur Spielstraße für Kinder erklärt. Immerhin, aus dem alten Friedhof wurde ein Spielpark und das ist er heute noch. Aber Anfang der 70er Jahre wurden Schauergeschichten erzählt. Die rote Enja zünde mit Kindern auf dem Friedhof Bäume an und schände Gräber. Stimmte nicht, aber passte ins Bild. Tatsächlich hielt der Kinderladen für sie eine ganz andere Lektion bereit. Sie erlebte, dass der antiautoritäre Aufbruch nicht unbedingt zu mehr Freiheit führt. Gewiss, auch sie fand, dass gut geputzte Ruinen, als die sie vieles in ihrer Schule, auch in den Erziehungsritualen der Familie erlebte, eingerissen gehören. Aber wenn nichts Neues aufgebaut würde, hätte nur die Verwahrlosung gewonnen. Im Kinderladen drängte sich eigentlich jedem die Entdeckung auf, dass Kinder verlässliche Beziehungen zu Erwachsenen brauchen, sie hungerten geradezu nach Regeln und Ritualen. Das Thema war aber sofort umstritten. Schließlich sollte ja alles ganz anders werden und zwar sofort. Die Rebellin wurde nachdenklich. Eine Dogmatikerin, die sich in Ideen verliebt, war sie nie. Sahen in ihr die einen noch jahrlang die rote Enja, erschien sie anderen schon als Pragmatikern, die nicht mit an den radikalen Rand, etwa zu Anarchos oder K-Gruppen wollte. Seit ihrem Referendariat war sie also wieder an ihrem alten Gymnasium. Anfang der 70er Jahre wurde eine neue Schulleiterin bestellt. Sie kam von einer Frankfurter Gesamtschule, hatte Elan und wollte alles anders machen. In ihrer Antrittsrede machte sie an der Schule den Staub von Jahrhunderten aus und kündigte an, den ganzen gymnasialen, pädagogische Müll und Schutt zu entsorgen. Diese Revolution von oben empörte einen Teil des Kollegiums und auch Eltern, bei denen das Misstrauen an Reformen wuchs, wollten sie vertreiben. Bei der nächsten Konferenz, ließ der mit einer Lehrerfraktion und dem stellvertretenden Schulleiter verbündete Elternrat einen Müllcontainer auf dem Hof vor den Fenstern des Lehrerzimmers abladen. Die Presse war bestellt. Es dauerte nicht lange, da gab die neue Leiterin auf. 

    Wie in den meisten Schulen hatten auch an der Helene-Lange-Schule große Worte über die Reform von Gesellschaft und Schule Konjunktur. Nur den Unterricht und den Alltag der Schüler erreichten diese Ideen nicht. In dieser Zeit wurden Lehrerzimmer überall zu Schlachtfeldern zwischen den Anhängern konservativer Bildung und den Emanzipationsideen der häufig in sich zerstrittenen neuen Linken. Die meisten Gräben, die Anfang der 70er Jahre ausgehoben wurden, blieben einen 30jährigen deutschen Bildungskrieg lang offen und häufig hinterließ der Kampf Wüsten.

    Entspannung versprach an der Hela ein neuer Schulleiter, Hubert Ivo. Er schrieb an einer neuen Didaktik für den Deutschunterricht und wirkte an den umstrittenen Hessischen Rahmenrichtlinien mit. Er hatte Ideen, konnte begeistern, war aber häufig zu Vorträgen unterwegs. Schon nach 2 Jahren erhielt er den Ruf an eine Universität. Später kam ein neuer, der bald sehr beliebt war. Aber als ihm die Leitung des renommierten altsprachlichen Gymnasiums mit einer großen Oberstufe angeboten wurde, ging auch er. Das Kollegium fühlte sich von beiden, mit denen es sich voller Elan auf die Veränderung der Schule eingelassen hatte, versetzt und verletzt.   Aber wer kümmert sich eigentlich um die Schüler und das ganze Wurzelwerk des Alltags? Dafür interessierte sich Enja Riegel immer mehr. Noch schien ihre Einsicht unzeitgemäß, dass es auf eine neue Kombination ankommt: vorsichtig kleine und mutige Schritte wagen, aber dabei den Blick nicht auf die Füße, sondern auf den Horizont richten.

    Ihr Referendariat hatte sie abgeschlossen, vier Jahre war sie Lehrerin an der Hela, da verkrachte sie sich mit dem stellvertretenden Schulleiter über Ordnung und Unordnung im Klassenzimmer. Jetzt wollte sie an die pädagogische Basis, am liebsten zu einer Hauptschule. Das ging nicht, schließlich war sie Studienrätin. Aber der Wechsel zur Gesamtschule war möglich. Dort lernte sie noch einmal von Grund auf das Lehrerhandwerk  und zwar von den Schülern, zumal von denen mit Schwierigkeiten, zumeist  aus  Arbeiter- und  Migrantenfamilien die zur Wilhelm-Leuschner-Schule gingen. Bald war ihr und einigen Kollegen klar, was sie schon im Kinderladen beobachtet hatte: Schüler brauchen Erwachsene auf die Verlass ist, keine spezialisierten Fachlehrer, die jede Stunde kommen und gehen. Die Schüler, die aus keiner heilen Welt kommen, und das sind die meisten, brauchen ihren Raum, etwas Heimat. An der Gesamtschule wechselten Schüler dauernd ihre Kurse, Leistungsniveaus und Räume. Ein Verschiebebahnhof. Lehrer machten Polaroidfotos von ihren Schülern, um sie beim Zensieren nicht zu verwechseln. Enja Riegel machte den Vorschlag, dass Klassenlehrer auch fachfremd unterrichten, aber kam damit noch nicht durch. Schließlich setzten der Personalrat und die Gewerkschaften auf die höhere Reputation, die Fachlehrer genießen. Außerdem ließen sich mit dieser angeblichen Professionalisierung höhere Einstufungen in der Besoldung durchsetzen.  

    Enja Riegel versuchte näher an die Kinder zu kommen und bewarb sich an eine Grundschule. Das war scheinbar ein Abstieg. Sie gehörte zu einer höheren Besoldungsgruppe als ihr neuer Schulleiter. Aber in der Grundschule konnte sie endlich reformerische Ideen verwirklichen, etwa die Schüler Lesen und Schreiben mittels einer kleinen Druckerei lernen lassen, wie in der französischen Freinet-Pädagogik. Damit hatte sie Erfolge. Aber sonst? Der Schulleiter kam jeden Morgen als erster in die Schule. Er hatte die merkwürdige Angewohnheit seine Mülltüten von zu Hause mit zu bringen und im Container der Schule zu verstauen, das sollte niemand sehen Um 7.45 Uhr schüttelte er jedem Lehrer die Hand und verschwand in seinem Zimmer. Den Rest des Tages war er nicht mehr anzutreffen. Unsichtbar, hinter seinem Schreibtisch abwartend, leitete er seine Schule. Was dort passierte, ließ er sich von den Putzfrauen berichten. Wo war es besonders schmutzig? Wer ist laut geworden? Was wird so auf den Gängen geredet? Hörte der Chef etwas, das ihm nicht gefiel, verbot er es. Folglich wurden die Putzfrauen zu den heimlichen Machthabern der Schule. Von den Lehrern wurden sie umworben und auch bestochen. So machten die Pädagogen ihren kleinen Frieden mit dem anscheinend Unveränderbaren. Das konnte doch nicht wahr sein, empörte sich Enja Riegel. Das ist doch nicht die Schule, in der ich arbeiten wollte! Das kann doch nicht das Leben sein!

    Wie manch unzufriedener Lehrer suchte sie im Apparat der Schuladministration nach Nischen, von denen es ja nicht wenige gibt. Sie fand mit einem  Teil ihres Stundendeputats Platz im HeLP, dem Hessischen Landesinstitut für Pädagogik. Aber wie sollte sie andere Lehrer für einen Alltag fortbilden, dem sie selbst entkommen wollte? Große Reden über Mut, von Feiglingen gehalten, das lag ihr nicht. Langsam kristallisierte sich aus dem alten Traum der Schülerin Enja Glücklich und aus neuen Wünschen und Einsichten der Lehrerin Enja Riegel ein Ziel: Schulleiterin werden. Die Arbeit im HeLP nutze sie zur Erkundung des Feldes. Und sie beobachtete, wie sich neben dem Typus des überkommenen, langsam aussterbenden autoritären Schulleiters, der wie ein Landgerichtspräsident darüber wachte, dass nichts schief geht, ein neuer, eher softer Typ durchsetzte. Wie der alte Ordnungshüter will auch der neue Moderator selbst eigentlich  nichts, außer eben moderieren. Beide Typen wollen unangreifbar sein und riskantes Handeln meiden, bei dem sie sich selbst als Person mit ins Spiel bringen müssten. Der Typ Landgerichtspräsident  machte den staatlichen Überbau von Erlassen und Lehrplänen zu seiner Generalprothese. Der neue Typ versucht sich unsichtbar zu machen. Die Lehrer sollen das Gefühl haben, an allen Entscheidungen irgendwie mitzuwirken. Aber eben nur irgendwie. Konferenzen leitet er selten selbst, sondern überlässt das Kollegen. Er fragt nach Meinungen und bittet um Papiere. Er teilt die moderne Neigung zum Paralleluniversum von Debatten und endlosem Palaver. Aber seine Entscheidungsbefugnisse will er nicht abgeben. Tatsächlich zieht er seine Fäden im Hintergrund und bald ahmt das Kollegium diese Strategie nach. An solchen Schulen gedeihen Intrigen. Dort regieren schwer durchschaubare Seilschaften. Politisch oder anders gefärbte Grüppchen treiben ihre Spiele mit dem Ressentiment. Wenn ein Kollegium auf der Stelle tritt, werden innere und äußere Feinde unbedingt gebraucht. Das beschäftigt alle, zehrt aber an den Kräften und ermüdet. Nur um das Lernen, geschweige denn um die Schüler, geht es wieder mal nicht. Über Schüler, das beobachtete Enja Riegel während ihrer Wanderjahre, wird im Lehrerzimmer vor allem geklagt. Häufig werden sie verachtet. Manchmal werden sie gehasst. Woher diese Feindschaft?

     

    Gesellenjahre

    1982 ist Enja Riegel 42 Jahre alt. Sie hat 13 Jahre als Lehrerin in fast allen Schulformen und mit Schülern aller Altersgruppen gearbeitet. Inzwischen hat sie interessante Schulen in Deutschland und Frankreich besucht. Da ergibt es sich, was man in einem Roman als kitschig empfinden und als viel zu grob gestrickt zurück weisen müsste, dass sie im Amtsblatt von der Ausschreibung der Schulleiterstelle an der Helene-Lange-Schule liest. Enja Riegel kann nicht anders, als diese Anzeige als eine an sie gerichtete Aufforderung zu verstehen. Damit steht sie ziemlich allein. Der Schulrat versucht sie von der Bewerbung abzuhalten. In Gremien der Stadt Wiesbaden erinnert man sich an die rote Enja vom Friedhof und spricht sich für den Konkurrenten aus, einen etwas älteren Lehrer aus dieser Schule und setzt Frau Riegel an die 2. Stelle. Minister Krollmann hört Gutes über die Bewerberin und lädt sie  und ihren Mitbewerber zum Gespräch. Enja Riegel kauft sich gediegene Damenoberbekleidung, die der Jeansträgerin bisher fehlte, und lässt sich sagen, sie müsse sich unbedingt vom Minister aus dem Mantel helfen lassen. Nach dem Gespräch entscheidet er sich  und ruft seinen Freund, den Wiesbadener Schuldezernenten an. „Franz, nimmst Du sie?“ Der willigt widerwillig ein. Bis die hartnäckigen Einsprüche diverser Instanzen des Personalrats überwunden sind, vergeht mehr als ein Jahr. Dann wird diese von vielen weder als bürokratietauglich noch als führungsgeeignet angesehene Frau zur Schulleiterin ernannt.

     

    In einem schmucklosen Raum, keine Blume, keine Musik, nichts, sitzt das Kollegium, alle in Schwarz und erwartet die neue Direktorin. Die einen lehnen sie ab, weil der Minister sie durchgesetzt hat. Manche haben sie als Rebellin in Erinnerung. Für andere passten die gegensätzlichen Vorbehalte ins Bild, dass die Frau wohl etwas verrückt sei.

     

    Inzwischen unterrichten viele 68er und Nach-68er an der Schule.

    Die Oberstufe war 1974 abgetrennt worden. Das damalige Kollegium wechselte zum größten Teil an das neue Oberstufenzentrum. Zur Hela kamen lauter junge Lehrer. Sie wollten viel ändern, wussten aber nicht wie man das macht. Das Kollegium  war einerseits von dem vorherigen Schulleiterwechsel gekränkt, andererseits waren viele der Meinung, sie brauchten keinen Schulleiter und schon gar nicht eine solche Frau, die ja doch nur ihre Karriere im Sinn habe. Diese Konstellation passt in die bleierne Zeit der frühen 80er Jahre, ja es war geradezu eine soziale Plastik, wie sie Joseph Beuys nicht besser hätte inszenieren können. Wenn man so will, der absolute Tiefpunkt für eine Schule. Wenn man es anders sehen will, war die Talsohle eine geniale Situation, das zu tun, was an der Zeit ist. Und Enja Riegel wollte es anders sehen. Sie wollte handeln, unbedingt. Sie wollte nicht nur moderieren und schon gar nicht eine Obrigkeit vertreten oder Erlasse durchsetzen. Denn sie war und ist eine pragmatische Visionärin, während bei uns doch häufig der Kampf zwischen pragmatischen Pragmatikern und utopischen Utopisten geführt wird.

    Zunächst allerdings bestand sie auf einer ganz normalen Arbeitsordnung. Also morgens pünktlich anfangen, wenn ein Lehrer krank war, Vertretungsunterricht halten, Konferenzen nicht während der Unterrichtszeit und bei Geburtstagen kein Alkohol am Vormittag.

    Der vom Kollegium favorisierte Gegenkandidat als Schulleiter war ihr Stellvertreter geworden. Das Kollegium verbündete sich mit seinem Favoriten und alle leisteten zähen Widerstand gegen die neue Schulleiterin als wäre sie ein Atomkraftwerk. Fast ein Jahr wurde mehr oder weniger geschwiegen. Schließlich gab der Stellvertreter auf und ging  in den Auslandsschuldienst.

    Dann begannen die Osterferien. „Als die Schule wieder losging“, erinnert sich Enja Riegel, „war das Kollegium wie ausgewechselt“. Es war so, als ob es mit dem Weggang des Stellvertreters verstanden habe, dass die neue Schulleiterin an dieser Schule ihren Führungsanspruch auch gegen Schwierigkeiten behaupten würde. Ein Lehrer begrüßte die Direktorin mit einem Blumenstrauß: „Es wird Zeit, dass wir an die Arbeit gehen.“ 

    Bei allen Verwerfungen in diesem Kollegium, war es auch eine Erleichterung  sich daran zu erinnern, dass doch fast alle Lehrer ihren Beruf gewählt hatten, um guten Unterricht zu machen und die Schule so gestalten, dass Schüler und Lehrer gern hin gehen.

    Ganz so als wäre die Anspannung der ersten Monate die eines Pfeils gewesen, ging es nun plötzlich los: Abschied vom Trott der nachgeordneten Behörde, damit anfangen, an der eigenen Schulbiographie zu arbeiten. Eine Schule machen speziell für die schwierigen 10-16jährigen, ohne gleich immer auf das Abitur zu schielen. Die Lehrer und die Leitung verabredeten, den Unterricht, die Schüler und die eigene Arbeit genau zu beobachten und sich selbst auch beobachten zu lassen. Letzteres geht aber nur, wenn nach und nach das Klima der Schule neu temperiert wird. Weniger Misstrauen und mehr Vertrauen. Nicht nach den Schwächen und den verborgenen Verletzbarkeiten der anderen suchen, sondern nach deren Stärken und die Schwächen respektieren. Für diese neue Politik des Schullalltags gab es kein Rezept, aber eine unumstößliche Regel, die die Schulleiterin beachten musste. Vertrauen schafft man nicht dadurch, dass man es von anderen verlangt, sondern nur dadurch, dass man Vertrauen gibt. Möglichst verschwenderisch. Auch wer diese Regel nicht kennt, spürt sofort, wenn sie verletzt wird. Zumal Lehrer sind da empfindlich.

    Enja Riegel begriff die Leitung der Schule mehr und mehr als „Management by wandering around“:  Beobachten, nachfragen, auch widersprechen. Immer selbst Person sein, kein durchsichtiger, modischer Moderator. Denn „Leben entzündet sich nur an Leben.“ Das Jean Paul Zitat kannte sie von ihrer Wahlverwandten  Hildburg Kagerer, einer Psychologin und Lehrerin in Berlin.

    Nach dem Trauerjahr hatte die Schulleiterin die Prüfung durch das Kollegium bestanden. Es wollte wissen, was ist das für eine? Meint sie es erst? Ist es eine Person oder doch nur eine Funktionärin mit Protestfolklore und Hallodri?

    Und dann kam ganz unerwartete Hilfe von außen.       

     

    Enja Riegels Meisterjahre

    Das Hessische Parlament verabschiedete 1985 ein Gesetz, wonach die fünften und sechsten Klassen in eine Förderstufe kommen sollten, damit die Kinder wie in der Grundschule zwei Jahre länger gemeinsam lernen. Diese Stufe sollte entweder Grundschulen oder  Gesamtschulen zugeschlagen werden. Die Helene-Lange-Schule musste sich entscheiden entweder Gymnasium zu bleiben, aber ohne die Klassen fünf und sechs (und ohne die eigene Oberstufe) oder sich entschließen  eine Gesamtschule zu werden. Was tun? Plötzlich waren nicht nur Ideen für besseren Unterricht gefragt, sondern eine Vision für die Zukunft der ganzen, nun gefährdeten Schule. Sie brauchte eine Strategie, um ihre Ziele zu erreichen. Führung wurde nötig. Ein in Deutschland kontaminiertes Wort. Führung wird häufig mit Bemächtigung und feindlichem Übergriff gleichgesetzt, gar mit Diktatur assoziiert.

    Könnte Führung nicht etwas anderes bedeuten?  Die Bedrohung begrenzte grundsätzliche Debatten. Es musste gehandelt werden. Es ging nun auch darum, eine Schule zu entwerfen, die ihre Schüler nicht einfach so vom Sprengel geliefert bekommt. Die Helene-Lange-Schule würde sich auf dem Markt der Wünsche und Interessen von Eltern und Kinder behaupten müssen. Welche Schule ist gefragt? Eine ungewöhnliche und belebende Herausforderung für ein Lehrerkollegium. Man könnte auch sagen, nun war genau jemand wie Enja Riegel nötig.

    Sie wusste nach ihren Lehr- und Wanderjahren, was sie wollte. Eine Gesamtschule, damit kein Kind oder Jugendlicher  um seine Zugehörigkeit bangen muß. Die neurotisierende Frage, gehöre ich dazu, sollte endlich zur Vergangenheit gehören. Aber es sollte keine dieser Gesamtschulen werden, auf der sich Schüler wie Findelkinder auf dem Bahnhof fühlen. Die Lernfabrik hatte sie ja erlebt. Sie wollte durchaus an Traditionen aus dem Gymnasium  anknüpfen, diese aber mit reformpädagogischen Traditionen kreuzen, die zum Teil vergessenen waren. Also selbst etwas wollen und nicht immerzu fragen, was soll ich denn jetzt machen. Die Schule musste sich die eigentlich selbstverständliche Freiheit nehmen, wie jeder lernende Mensch, aus den Erfahrungen mit dem Gelingen und Scheitern, seine Konsequenzen für nächste Schritte zu ziehen. Die Gefahr für die Schule war so gesehen ein Glücksfall. Die Not zwang dazu konstruktiv zu werden. Not-Wendigkeit. Gefragt war also genau das, was Enja Riegels Antrieb ausmachte: dass man wollen darf,  ja wollen muss. Dieser Antrieb befähigte sie zur Führung. Und daran wird auch deutlich, was Führung im Gegensatz zu der für viele Deutsche traumatisierten Perversion  des Vorangehens ist.

     

    Was hieß das für den Alltag? Nachdem sich das Kollegium entschlossen hatte, eine echte Gesamtschule zu werden, und auch die Eltern in der Schulkonferenz dafür waren, galt es nun dieses etwas andere der Schule wirklich in Gang zu bringen. Als erstes begab sich das Kollegium gruppenweise (jeweils ein Auto voll) auf Reisen zu Schulen, die anders arbeiteten. Etwa die Bielefelder Laborschule, die wie ein großes Lerndorf gebaut war. Auch die Gesamtschule Kassel-Waldau hatte sich in kleine übersichtlich Schulen in der großen Schule gegliedert. In der Odenwaldschule können die Schüler neben dem normalen Schulabschluss eine Handwerksausbildung mit Gesellenprüfung absolvieren. Es musste nicht alles neu erfunden werden. Es hätte wenig auch genützt, wenn Enja Riegel das Kollegium mit den Einsichten ihrer Lehr- und Wanderjahre belehrt hätte. Die Lehrer mussten und wollten Alternativen selbst entdecken und mussten das neue in ihre Möglichkeiten einpassen. Aber es war für sie ein Vorteil, jemanden zu haben, der die Karten der Bildungslandschaft kennt. Jetzt war Innovationsmanagement gefragt, zumal  die Lehrer  ja anders und besser als bisher unterrichten sollten. Und das Neue machte Angst. Also musste die Schulleiterin ihnen erst mal den Rücken frei halten. Ein Beispiel: Lehrpläne verbuchen den Schulstoff in Fächern. Viel besser lässt sich aber häufig in Projektarbeit lernen. Also wurde die Trennung nach Fächern etwa Biologie, Chemie, Deutsch, Gesellschaftskunde und Kunst für die Projekte aufgehoben.

    Durfte die Schule das? Wenn Eltern und Lehrer der Schulleiterin diese Frage stellten, bekamen sie immer zur Antwort: „Ja, selbstverständlich,“ denn Lehrpläne seien richtungsweisend, nicht als kleinliche Vorschriften zu verstehen. Und die Schulleitung übernehme die Verantwortung, dass die Anforderungen alles in allem eingehalten werden. Das war nicht nur so ein Wort. Nachfrage nach den Ergebnissen eines Projektes mussten sich Lehrer von nun an gefallen lassen. Nach außen übernimmt die Schulleitung den Schutz, und nach innen repräsentiert sie selbst ein Außen, eine Instanz die nachfragt und Rechenschaft verlangt. Die Schulbehörden sahen das zunächst wohl anders. Ein Bespiel wie tief das Misstrauen steckt. Aber sie wurden Jahr für Jahr mehr von den Erfolgen, dieser selbständigen Schule überzeugt, in der nicht, wie manch einer fürchtete,  jeder macht, was er will, im Sinne von Laissez-faire, sondern in der immer mehr Schüler und Lehrer  so gut wie möglich sein und sich nicht beschummeln wollen.

     Die neuen Arbeitsweisen der Schule wurden den Behörden, den Eltern oder auch der Öffentlichkeit gegenüber nie verheimlicht. Allerdings, so ein inzwischen häufig zitiertes Bonmot von Enja Riegel: „Wir fragen Schulrat Moos bei vielen Dingen, die wir anders machen wollen. Aber es gibt Dinge, da schonen wir ihn, denn die müsste er verbieten.“ Allerdings wurde dieser Satz 1993 von Enja Riegel im Fernsehen gesagt. Heimlichkeiten wären etwas anderes.

    In den Anfangsjahren des Umbaus schickte die Schulleiterin den zuständigen Behörden noch nach Fächern getrennte Unterrichtspläne, während die Lehrerteams längst dazu übergegangen waren fächerübergreifende Jahresarbeitspläne zu erstellen.  Hätte der Schulrat diese Absicht vorher gekannt, was hätte er machen sollen? Und hätten die Lehrer gewusst, dass einiges von dem, was sie ausprobieren, von den Behörden nicht abgesegnet worden ist, hätten sie es vielleicht nicht angefangen. Erst die Erfolge der heimlichen Versuche erlaubten es der Schulbehörde, die Abweichung von der Normalität zu akzeptieren und schließlich auch zu feiern. Wer, wenn nicht die Schulleitung, hätte diesen Teufelskreis durchbrechen können?

    Erlasse schreiben Gesamtschulen vor zu differenzieren, also die Schüler nach verschiedenen Leistungsniveaus zu unterrichten. Alle Schulen folgten und teilten ihre Schüler in entsprechende Gruppen ein. Enja Riegel und ihre Kollegen lasen den Erlass ganz genau. Da stand nur, dass Differenzierung erfolgen müsse, nicht dass Schüler in unterschiedliche Gruppen zu separieren seien, die Klasse oder den Lehrer wechseln müssten Also wurde der Erlass anders ausgelegt: Differenzierung im Klassenverband.  Später konnte das Ministerium bestätigen, jawohl Frau Riegel, Sie befinden sich im Interpretationsbereich. Eine Schulleitung muss also auch listig sein.

    Um sich so weit vor zu wagen, wie die Helene-Lange-Schule, bedarf es natürlich der Sicherheit auf dem richtigen Weg zu sein und Fehler nicht als Sünden anzusehen, sondern aus ihnen eine Kunst zur Verbesserung der Ortskenntnisse zu machen. Die Leitung muss der Schule so viel Sicherheit geben, dass sie sich ruhig in Unsicherheiten begeben kann. Das hat nichts mit Führung als Unterdrückung zu tun oder mit Macht als Herrschaft, eher mit Macht, wie man sie auf englisch buchstabiert: Power. Macht kommt von Mögen, meinte die Philosophin Hannah Arendt, ja Macht entstünde, wenn sich Menschen zum Leben und zur Gestaltung ihrer Verhältnisse verabredeten. Genau das geschah. An die Lehrerteams wurde in der Helene-Lange-Schule viel Macht abgegeben. Aber was heißt abgegeben? Die Zusammenarbeit der Lehrer in  Teams verschaffte ihnen eine häufig völlig neue Erfahrung, vor allem die, wie beglückend Resonanz ist und wie kräftezehrend die Vereinzelung. Die Teams erwiesen sich als regelrechte Labore Macht für alle zu vermehren und um Macht und Einfluss nicht wie um ein knappes Gut zu kämpfen. Traditionelle Herrschaft läuft darauf hinaus Macht zu verbrauchen, sie denen, die sie geschaffen haben, zu entreißen. Das hat Macht in Verruf gebracht. Nun müssen wir wieder lernen, wie Macht geschaffen wird. Der Helene-Lange-Schule gelingt die Machtproduktion. Allein das beweist, dass sie die Art von Schule ist, die an der Zeit ist. Enja Riegel hat Lehrer dazu ermuntert zu zeigen, was sie können, auch und gerade dann, wenn sie Fähigkeiten haben, die in keinem Lehrplan beschrieben sind. Sie hat  Bewerber für eine Stelle gefragt: „Was können sie noch? Spielen Sie Querflöte? Können Sie auf einem Hochseil balancieren?“ Sie stellte diese Fragen bei jedem Einstellungsgespräch. Enja Riegel leitete die Schule wie eine Menschensammlerin. Sie begann bald damit eine Talentkartei anzulegen. Wer sie mit seiner Arbeit überzeugte oder begeisterte, fragte sie, ob er Interesse daran hätte, das irgendwann an der Helene-Lange-Schule zu machen. Es müssen ja nicht immer Lehrer sein. Wenn sich Referendare oder Praktikanten über das Normalmaß hinaus eingebracht hatten oder ihr ein Regisseur aufgefallen war, dann kamen sie in die Talentkartei. So arbeiten Unternehmer und in diesem Sinne war Enja Riegel Unternehmerin. Ein Schulleiter wartet normalerweise darauf, dass ihm ein Lehrer zugeteilt wird. Ein Unternehmer kann jemanden, der seine Arbeit unzureichend erledigt, entlassen, ein Schulleiter nicht.  Eine Talentkartei macht deshalb nur Sinn, wenn die Schulleitung einen langen Atem hat. Es dauerte manchmal Jahre bis sie einen Bedarf anmelden konnte, auf den jemand aus der Talentkartei passte.

    Ein anderes Beispiel für die Qualitäten der  Menschensammlerein und für die Vorteile des Unternehmergeistes ist folgendes: Die Gesamtschule verfügte über eine Holz- Textil- und Fahrradwerkstatt, eine Schulküche, eine Druckerei und ein Theater. Nur wenige Lehrer verfügten über die Kenntnisse und Fertigkeiten, dort mit Schülern  zu arbeiten. Die Räume wurden zu selten genutzt. Küchenpersonal, das aus der Schulküche mehr hätte machen können, war nicht vorgesehen. Enja Riegel machte wie so häufig das, was in der Unternehmenstheorie heute das Modell von best practice ablöst, next practice, den richtigen, mutigen, nächsten Schritt. Sie stellte ABM-Kräfte ein. Das Arbeitsamt hat sich gefreut, als sie sich nach ABM-Stellen erkundigte. Über das Sozialamt, das anerkannte Asylbewerber zu vermitteln versuchte, konnte die Schule sogar Stellen einrichten, die ihr als Arbeitgeber keinen Cent kosteten. Innerhalb kürzester Zeit arbeiteten an der Schule Schneider, Köche, Maler und Schreiner und natürlich Regisseure Es gab Schuljahre, in denen die Schule sieben zusätzliche Angestellte in den Werkstätten beschäftigte. Keiner von ihnen hatte irgendeine pädagogische Ausbildung. Aber diese Botschafter aus der tätigen Welt und aus fernen Ländern waren für die Schüler jedes Mal eine große Bereicherung.

    Vielleicht hört sich manche Geschichte über die Schulleiterin so an, als sei sie selbstherrlich. Das stimmt, aber nur zu ungefähr 30%. Und dieser Anteil ist nützlich. Die anderen 70%? Sie ließ sich kritisieren. Sie verlangte für sich jenes Außen im Innen,  das sie selbst für die Lehrer und übrigens auch für viele Schüler war. Die hatten mächtig Respekt. Enja Riegel ließ sich jahrelang von Gerold Becker  beraten, kritisieren und korrigieren. Bald beriet Gerold Becker auch Lehrteams und dann über 10 Jahre die ganze Schule. Diese Korrekturinstanz hat viele Entscheidungen und Verhaltensweisen verbessert und über manchen blinden Fleck hinweg geholfen. Ohne sie wäre die Schule nicht geworden, was sie ist. Das gilt auch für die Kooperation der Schulleiterin mit ihrem Stellvertreter Klaus Schwalbenbach, der in vielem das ganze Gegenteil von ihr und deshalb eine ideale Ergänzung war. Schwalbenbach fragte Enja Riegel bei jeder ihrer neuen Ideen erst einmal genau und skeptisch nach. Manche Idee stellte sich als verfrüht oder als nicht machbar heraus. Was er für die Zusammenarbeit in der Schulleitung bedeutet, hat Enja Riegel bei ihrer Abschiedsrede so geschildert: „Während ich am Trapez die kühnsten Figuren vorführe, hoch oben in der Zirkuskuppel, spannt er das Netz, dass ich nicht abstürze. Er gibt dem Orchester den Einsatz und sorgt für das richtige Licht.“ Ohne dessen klaren Blick für hohle Ideen, wäre mancher in der Schule sich selbst auf den Leim gegangen. Schwalbenbach  war für Riegel die leibhaftige Evaluation. Und wenn dann auch die anderen Mitglieder der Schulleitung überzeugt waren, machte sich Klaus Schwalbenbach an die Kleinarbeit. An der hatte er seine Freude. Er war ein Meister der Organisation, die  nicht unbedingt Enja Riegels Leidenschaft war. Mehr und mehr entwickelt sich die Schulleitung zu einem Zusammenspiel, auch mit den Lehrern. Aus einem Orchester mit der Dirigentin und den ausführenden Instrumentalisten wurde immer häufiger eine Jazzband, in der jeder den Einsatz für seinen Soloauftritt dann am besten findet, wenn er die der anderen im Kopf schon mitspielt. Führung braucht Autorität. Und Führung muss diese auch wieder abgeben können.

    Vielleicht war das Wichtigste, dass die Schulleiterin selbst das tut, was sie von den anderen verlangt. Diese Symmetrie ist die Basis für Glaubwürdigkeit. Denn Schulleiter sind, wenn sie gut sind, keine Funktionäre. Sie sind so erfolgreich, wie es ihnen gelingt ihre Sache zu verkörpern., Dazu müssen sie vieles von dem, was ansteht, erst in einer Art Selbstversuch an sich selbst durchspielen. Deshalb ist eine Quelle für erfolgreiche Führung auch eine gewisse Unzufriedenheit. Schulleiter, die – sagen wir es so pathetisch – an der Welt leiden, sind leidenschaftlicher. Ich habe bei meinen Beobachtungen von Schulen in Deutschland und auch in anderen Ländern keinen starken Schulbeweger kennen gelernt, der mit dem, was er in der Institution bewirkte, nicht zugleich auch sein Lebensskript umschreiben wollte. Das ist genau das, was Lessing über den genialen Mann gesagt hat: „Was ihn bewegt, bewegt; was ihm gefällt, gefällt. / Sein glücklicher Geschmack ist der Geschmack der Welt.“ Für die geniale Frau gilt das erst recht.

    Wie gesagt, gute Schulleiter sind keine Funktionäre, keine Landgerichtspräsidenten und keine andere Art eines  Nowhere Man oder einer Nowhere Woman. Dass darin auch Risiken und Nebenwirkungen liegen,  versteht sich, aber ohne diesen Mindesteinsatz hätten wir eine Schule der Zombies.  

     

    PS 5 04 Skandinavische Führung

    PS 5 04

    Skandinavische Führung

    „Wenn Du ein sicheres Versteck für einen 100 Finnmarkschein suchst, musst Du ihn in einen Lehrplan stecken,“ sagte man früher in finnischen Lehrerzimmern. Die Pläne waren dick, machten den Lehrern ein schlechtes Gewissen und wurden nicht gelesen. Kürzlich kam ins Opetushallitus, das Zentralamt für die finnischen Schulen, ein japanisches Fernsehteam. Es hatte seine Freude daran die Lehrpläne der letzten Jahrzehnte nebeneinander aufzustellen und abzufilmen. Die Bände wurden in den letzten 20 Jahren immer schmaler. Offenbar verhält sich die Wirksamkeit von Lehrplänen umgekehrt proportional zum Umfang. Zumindest bis zu einer bestimmten Grenze. Die Skandinavier testen diese Grenze aus.

     

    Finnische Diät

    Die Anfang dieses Jahres veröffentlichten neuen Standards für die Peruskoulu, die neunjährige finnische Gemeinschaftsschule, haben auf 180 DIN A4 Seiten Platz. Im nun fertigen Buch mit Illustrationen und Anhängen wurden es 300 Seiten. Die grundsätzlichen Passagen und die Kompetenzen für den Fremdsprachenunterricht gibt es auch auf Deutsch (bestellen bei myynti@oph.fi). Und schon eine Woche nach der Veröffentlichung Ende März geht die deutsche Fassung weg wie warme Semmeln. Man könnte sagen, diese erlösungsbedürftigen Deutschen. Man kann aber auch beobachten, wie – zumal in Norddeutschland – die Erreger der ansteckenden skandinavischen Gesundheit langsam wirken.

     

    An den neuen finnischen Standards wird der Bauplan der anstehenden Veränderung deutlich. Aber der Metaplan des Bauplans liegt in der Art, wie der Plan selbst erstellt wird. So wurden vom Opetushallitus Teams aus Lehrern und Wissenschaftlern in Kommmissionen berufen, die Schülerarbeiten und Tonkassetten aus Schulen im ganzen Land ausgewertet haben, um die "guten Kompetenzen" heraus zu finden. Die beginnen etwa in den Fremdsprachen mit dem  „Grundbedarf im unmittelbaren sozialen Umgang“, führen über das „Zurechtkommen im Alltag“  sowie den „regelmäßigen Umgang mit Muttersprachlern“ schließlich zum „Zurechtkommen in anspruchsvollen Situationen“. Aber da steht nicht, wann das Partizip Perfekt dran kommt. Man vertraut darauf, das wissen die Lehrer.

    Die neuen Standards fragen, unter welchen Lernumgebungen erreichen Schüler hohe Kompetenzen? Statt von oben definiert zu bekommen, was richtig und wichtig ist, fühlt sich der Leser eingeladen nach Bedingungen für das Gelingen der Schule zu suchen. Aus dem Text spricht eine veränderte Grammatik des ganzen Schulsystems.

    Die neune Standards schreiben kaum Inhalte vor. Abgesteckt wird der Rahmen, in dem vom Schuljahr 2004/2005 an jede Schule eigene Lehrpläne verfassen soll. Der Text liest sich als Aufforderung an die Kollegien ihren Weg zu finden. Man hat nicht mehr wie früher die wichtigen Inhalte addiert.

    Finnland zeigt, wie die Demokratisierung der Bildung von oben betrieben wird. Die Umwandlung der obersten Schulbehörde ist dafür ein gutes Beispiel, im Wortsinn, denn von den Schulen wird nichts verlangt, was die Führung nicht im Selbstversuch vorgemacht hätte.

     

    Schlanke Führung

    Das Zentralamt für das finnische Schulwesen, wurde im Jahre 1994 neu gegründet. Die frühere Aufsichtsbehörde wurde aufgelöst. Das Amt entwickelt sich seitdem zur Denkfabrik für die Schulen. Es ist aber auch eine normgebende Institution, die dem Ministerium und dem Parlament unterstellt ist und zwischen dem Gesetzgeber und den Schulträgern in den Kommunen vermitteln soll. Die Schulaufsicht wurde 1995 auf Anraten der Schulinspektoren abgeschafft Sie sahen keinen Sinn mehr in der Aufsicht alter Prägung. An deren Stelle trat die Evaluierung. Seitdem weiß man besser über die Qualität der Schulen Bescheid.

     

    Schweden ist ja schon seit Jahren auf diesem Weg. Auch dort wurde die zentrale Schulebehörde, wie man sagt, „geschlachtet“. Schulen verfügen über ihren eigenen Haushalt, egal ob es darum geht das Dach zu decken oder mit neuen Lehrern individuelle Gehaltsverhandlungen zu führen Ein dünnes nationales Curriculum gibt Ziel und die Richtung vor. Schulen und Kommunen schreiben ihre Lehrpläne.  Zum Beispiel die Gemeinde Halmstad. Dort heißt der Bildungsplan „Baum der Erkenntnis“. Als Wurzeln werden etwa Demokratie, sprachliche und motorische Entwicklung oder Verantwortung genannt. Man kann nachlesen, wie bereits die Vorschule diese Wurzeln pflegt. Oben in der Baumkrone stehen die Kompetenzen, die Kinder nach der neunjährigen Gesamtschule erworben haben sollen. Dieser poetisch formulierte Bildungsplan gefiel dem deutsch-schwedischen Pädagogen Ehepaar Marianne und Lasse Berger aus Bremen so gut, dass sie dem Druck ihrer Kollegen, diesen Plan zu übersetzen, nachgaben. Ende Oktober 2003 waren die ersten Exemplare gedruckt. Seitdem wurden 5000 Stück verkauft. Ohne Werbung, im  Eigenverlag, nur über Mund zu Mund Propaganda. Wieder ein Beispiel dafür, welch ein Heißhunger nach neuen Lösungen in Deutschland  herrscht.  (7 € kostet das gelungene Buch: berger_LM@web.de)

     

    PS.

    Der skandinavische Weg ist auch deswegen so interessant, weil er eine Antwort auf ein deutsches Tabu gibt. Was ist gute Führung? Die Antwort liegt wieder mal in der Entdeckung des Selbstverständlichen: „Wer führen will, darf denen, die er führt, nicht im Weg stehen.“  Das wusste schon Laotse

     

    PPS.

    Am 20, Mai erscheint ein wichtiges Dokument, nicht zuletzt zum Thema Führung: Enja Riegels Buch über die Helene Lange Schule: „Schule kann gelingen“ (S.Fischer)

    Kommentartext Film Treibhäuser der Zukunft

           ARCHIV DER ZUKUNFT

    Ein Projekt von Reinhard Kahl

    und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung

     

     

    Treibhäuser der Zukunft

    Wie Schulen in Deutschland gelingen / 

    Ein Film von Reinhard Kahl

     

    ..................
    1´28 (3 Arbeiter am Betonrüssel)
    Die deutschen Schulen stehen vor dem  Umbau.

    Ihre Fundamente müssen erneuert werden. Denn die Art wie in ihnen gelernt wird, ist nicht sehr erfolgreich.

    Der Umbau hat begonnen.

    An den Räumen und in der Pädagogik.

     

    (innen)

    Wir suchen nach Schulen, die Lebensorte sein wollen, die sich  Zeit nehmen, in denen Schüler gern und erfolgreich lernen. 

     

    (pssst/ Kopf nicken)

    Passen Lust und Leistung zusammen?

    Die Schule Borchshöhe in Bremen wagt die Wette.

    Raum und Zeit werden hier neu vermessen. 

    Das Maß heißt Selbständigkeit und Zusammenarbeit.  

     

    (Totale)

    Nach dem Vorbild der schwedischen Futurum Schulen, wurden Wände eingerissen und der Tagesablauf verändert. 

    DVD Link  Spitze

    (Es ist Frühstückszeit.

    Brötchen und Bossaller offen)

    Lernen und Freizeit verteilen sich in langen Wellen über den Tag. Ein neuer Rhythmus.

    Ein paar Wochen zuvor wurde dieser Raum umgebaut.

    Aus Klassenzimmern werden Lernwerkstätten.

    Wie früher in der Dorfschule sind Kinder verschiedenen Alters zusammen. Schüler lernen ja nicht nur von Lehrern.

    Lehrer, die in diesen Lerndörfern nun weniger lehren, haben mehr Zeit für einzelne Kinder, ermuntern sie eigene Wege zu gehen und unterstützen sie dabei.

    Karin Bossaller

    Schulleitung

     

    Flur ohne Text

     

    Fünf Lehrer weg.... etwas zu ändern.

    Karin Bossaller, eine der beiden Schulleiterinnen, ist Schwedin. Fast 30 Jahre lebt sie schon in Bremen.

     

    ...ein bisschen eng.

    Als nächstes soll das Lehrerzimmer zum Lehrerbüro umgebaut werden. Die Pädagogen der Grundschule Borchshöhe haben sich entschlossen 35 volle 60-Minuten-Stunden die Woche in der Schule zu sein. Wie die Lehrer in Schweden.

    Die neue Schule soll für sie ein Ort zum Arbeiten und Leben werden. Wie auch sollen Schüler selbständig und kooperativ werden, wenn es ihre Lehrer nicht sind?

     

    Bossaller  relaxen

    Birgit Gamann

    Karin Bossaller

    Schulleitung

    Andere Lehrerin ...man wird getragen von den anderen.

    Der räumliche und geistige Umbau dieser Schule hat gerade erst begonnen.

    Die Jüngsten haben allerdings gar keine andere Schule kennen gelernt.

    Und sie arbeiten ernsthaft, sind hingebungsvoll bei ihren Sachen.  

     

     

    (Gym Foyer)

    Die deutsche Schule.

    Eine Kultur von Individualisierung und Zusammenarbeit ist schwach entwickelt. 

    An diesem Gymnasium beginnt der Tag wenig einladend – wie in der Wartehalle.

    Kurz vor Acht werden die Klassenräume geöffnet.

    Und dann wird der Stoff vermittelt.

     

    Die Schüler / zwei Schnitte frei.

    Schüler sollen aufnehmen, was Lehrer mit ihnen durchnehmen.

    Was dran kommt, steht im  Lehrerplan. Und der verlangt zumeist mehr, als zu schaffen ist.

    Alle haben wenig Zeit, manche haben nie Zeit und dennoch herrscht viel Langeweile.  

    ...in Ordnung

    Im Mittelpunkt der deutschen Tradition steht der sogenannte „fragend entwickelnde Unterricht“.
    Lehrer haben dabei ihr Ergebnis fest im Blick.

    ...ich kriege bei dem...

    Nach Vortrag und Tafelbild führen Lehrer mit ihren Fragen die Schüler Schritt für Schritt ans Ziel. So das Konzept. 

     

    ....was heißt das, was heißt das.“

    Jeder soll im gleichen Tempo den gleichen Weg in den gleichen kleinen Schritten zurücklegen.

    Die Lernenden werden als ideale Durchschnittsschüler auf durchaus hohem Niveau angesprochen. Aber werden sie auch erreicht?

    Dass jeder seinen Rhythmus hat und dass die Pfade des Verstehens verschlungen sind, das ist auf dem direktem Weg zum gesicherten Wissen nicht vorgesehen.

     

    Stern, Schleicher, Spitzer

     

    Jena außen

    Auf der Suche nach gelungenen Schulen in Deutschland, muss man nach Jena. Hier kommen eine starke Tradition, die der Reformpädagogik, und ein deutscher Neuanfang, der von 1989, zusammen. 

    Wirklich durchsetzen konnten sich diese beiden Anfänge allerdings nicht.

    Noch nicht.

    Ringelreih um Säule

    Die Jena-Plan-Schule.

    Sie beginnt mit der Vorschule und führt bis zum Abitur.

    Man ist davon überzeugt: Auf den Anfang kommt es an.

    Wenn der gelingt, wird alles andere leichter.

     

    Offen  Quitten ... Vater.. 8,9,10

    Die Kleinsten erinnern die ganze Schule immer wieder daran, was die Seele des Lernens ist: Vorfreude der Menschen auf sich selbst.

    Ohne diese Vorfreude wird die Lernlust getrübt.

     

    Lernen ist eine Aktivität des ganzen Menschen.

     

    Und Lernen heißt auch sich selbst kennen zu lernen, die eigene Stimme zu finden, sich wie ein Musikinstrument zu stimmen.

       

    In der Vorschule beginnen die Kinder Englisch zu lernen.

     

    Duck

    Und neben dem Lernen der Fremdsprache schärfen sie ihre Sinne und steigern sie ihre Aufmerksamkeit.

     

    Teddymädchen etwas offen, dann

    Die Jenaplanschule hat sich von der Vorstellung gelöst, dass mit der Schule der bittere Ernst des Lernens beginnt, und dass man diesen Einschnitt möglichst lange hinausschieben solle.

     

    So früh das Lernen beginnt, so lange hält sich der Erst des Spiels.

     

    Schüler kommen in den großen Raum 

    Die wöchentliche Feier. Zu ihr kommen jeden Freitag alle Schüler und Lehrer zusammen. Die meisten deutschen Schulen haben Rituale und schöne Formen längst abgeschrieben.

     

    Deutchlich nach Klingel – ... goes by

    Der sogenannte Jena Plan wurde in den zwanziger Jahren von Peter Petersen erfunden. Er strebte eine Schulcommunity an. Die kann sich allerdings nur bilden, wenn die Verschiedenheit von Menschen nicht als Nachteil angesehen wird. Deshalb lernen sie in altersgemischten Gruppen. Die betonen noch die Verschiedenheit eines jeden.

     /

    Das ist die Untergruppe, mit Kindern aus den Klassen eins bis drei.

    /

    Dreimal die Woche beginnt der Tag mit 100 Minuten Arbeit am Wochenplan.

     

    Lehrerin Untergruppe  ...und da arbeiten sie jetzt dran

    Schüler ...halben Buch ... gekriegt

    Forschen und Zuhören, Lernen und Spielen: diese Elemente steigern sich im Wechselspiel. 

     

    Buch wird untergelegt ..los Jaakob

    Das angeblich so effektive Reinheitsgebot: Jetzt wird nur gelernt, bekommt dem Lernen gar nicht.

     

    Mittelgruppe / kurz offen  ...Griechenland

    Zur Mittelgruppe gehören die Jahrgänge 4, 5 und 6.

     

    ...Frankreich, ist hier,

    Die Mittelgruppe hat eine andere Kultur, in die die Kinder hinein und aus der sie wieder heraus wachsen.

    Thema in Geografie ist Europa.

    Die Länder werden nicht durchgenommen, sondern von Schülern erarbeitet.

    Dafür brauchen sie Zeit. Um zu recherchieren; um sich in Themen zu vertiefen; um dem Neuen in sich Resonanz zu geben.

     

    Das Wissen in unbekannten Situationen anwenden. Probleme lösen. Schließlich: handeln. Das sind Kompetenzen, in denen deutsche Kinder im internationalen Vergleich schwach sind.

     

    ...aufgenommen haben.

    Das Lernstudio verändert auch die Rolle der Lehrer, grundlegend.

     

    ...lang werden.

    Die Jahrgänge 7, 8, 9 sind die Obergruppe.

     

    ... unreine Sache ist.

     

    Spätestens jetzt staunen Besucher der Schule, welche reiche Ernte diese Art des Lernens bringt.

    Klassenlehrerin

    2. Präsentation / Lächeln der Lehrerin

    Ergebnisse präsentieren und sich selbst exponieren. So wird Wissen nachhaltig angeeignet, verkörpert und an andere weiter gegeben.

    Fachlehrerin

    Fauser Leistung und Gerechtigkeit

    Prof. Peter Fauser

    Uni Jena

    Wissenschaftliche Begleitung

     

    (Essen, nach Umschnitt )

    Wach oder gleichgültig, engagiert oder gelangweilt, die Art zu lernen und die Freizeit zu verbringen sind eng verwandt. Natürlich: Freizeit in der Schule könnte langweilig und verwahrlost sein, wie zuweilen auch das Lernen.

    Vielleicht zeigt sich an der Freizeit, was für eine Lernkultur herrscht?

    Mehr Zeit in einer unkultivierten Schule könnte auch auf mehr  Vandalismus und Schwänzerei hinaus laufen.

     

    (von außen nach innen)

    Freizeitangebote in der kultivierten Schule verschaffen Spiel und  Kreativität Raum und Zeit.

    Je mehr Zeit eine Schule hat, desto unvermeidlicher wird die Frage nach ihrer Kultur.

        

    Frau Baier Sozpäd    ...machen möchte.

     

    Oberstufe  start mit Kopf

    Der Anteil von Schülern, die nach der 10. Klasse in der Jenaplanschule zur Oberstufe gehen, ist von Jahr zu Jahr zu gestiegen. Inzwischen macht mehr als die Hälfte Abitur.

    Auch in der Oberstufe beginnen Lehrer die naturwissenschaftlichen Fächer zu größeren Einheiten zu vernetzen. Davor scheuten sie lange zurück. Sie sorgten sich um die Fachlichkeit ihrer Physik, Biologie oder Chemie.

    Aber die Schüler überzeugten ihre Lehrer mit unerwarteten Leistungen.    

     

    ....dacour +

    Besucher werden davon beeindruckt, wie sich Schüler und Lehrer hier immer wieder überraschen: Mit Ideen, Engagement und mit exzellenten Leistungen.

     

    Viele Besucher meinen, das liege wohl an speziell ausgewählten Schülern.

    Tatsächlich gibt man bei der Einschulung eher Kindern mit Problemen den Vortritt.

    Schwenk nach rechts

    Einmal im Jahr gibt es in der Jenaplanschule eine Projektwoche – wie in vielen Schulen. Aber diese Projektwoche ist keine in-der-Woche-vor-den-Ferien-machen-wir-mal-ne-Projektwoche-Veranstaltung.

    Kerzen

    Freiheit wird nicht mit Laissez-faire verwechselt.

     

    Zwei Wochen zuvor schon werden die Projekte, die sich diesmal überwiegend die Schüler ausgedacht haben, auf einem Markt vorgestellt.

     

     Frei über 2 Schüler

    Die Projektwoche markiert einen Übergang von der durchregulierten Lehrplanwirtschaft zum pädagogischen Markt von Angebot und Nachfrage.

     

    Sobald im Bild

    Die Rudelsburg. Hier trafen sich im 19. Jahrhundert Chorstudenten. Nach dem ersten Weltkrieg errichteten  Nationalisten ein Denkmal.

     

    Löwenskizze

    Ein Projektthema heißt „Kriegsmale und Friedenzeichen“

     

    Was hat das mit Schülern heute  zu tun?

    John

    ...Phantasie gekoppelt werden.“

    .... betrachten

    Was ist vor kaum hundert Jahren in Menschen vor gegangen, dass sie den Franzosen ewigen Hass und Vergeltung geschworen haben.

    Und was hat man damals wohl als Jugendlicher gefühlt und gedacht?

    Warum wurde für Kaiser Wilhelm ein Obelisk errichtet

    und weshalb findet man Burgen immer so romantisch?

     

    ...Bismarckdenkmal

    Einen Tag sammeln die Schüler Eindrücke und widersprüchliche Gefühle, die sie in der Schule ordnen wollen.

     

    ... Geschenk des Himmels und wie es half“

    Ganz anders arbeitet eine andere der 22 Projektgruppen.

    Das Thema: Dürfte und Gewürze.

     

    Auch hier gilt, nicht nur drüber reden, sondern machen

    Am Ende der Woche sollen Duftwässerchen und Seifen produziert und ein großes, gewürztes Essen gekocht werden

     

    Aber erst mal Erfahrungen machen.

     

    Gegen Ende der Woche. Die Gruppe Kriegsdenkmale und Friedenszeichen hat herausgefunden, dass im ersten Weltkrieg Soldaten an verschiedenen Stellen der Front zu Weihnachten 1914 ihren kleinen illegalen Waffenstillstand geschlossen hatten.

     

    Fauser neues Leitbild

     ... Demokratie und  Förderung verbinden.“

     

    Diese Schüler werden noch viel mehr improvisieren müssen als ihre Eltern und Lehrer.

    Statt ihr Leben brav vom Blatt zu spielen, werden sie eigene Stücke komponieren. Sie müssen ihren Rhythmus finden und immer wieder aus der Not eine Tugend machen.

     

    Wenn nichts Vorgegebenes mehr nachgespielt werden kann, kommt es auf Dialoge an.

     

    Wie lernt man Dialoge?

    Wo übt man sie?

     

    Buch umschlagen näher

    Am Ende der Projektwoche haben die Schüler einiges  herausgefunden und manches hergestellt. Sogar neue Seifen wurden kreiert.

     

    Quartett drehen

    Neues Wissen haben die Schüler in der Denkmalgruppe tiefer mit sich verbunden und stärker reflektiert, als es auch an dieser Schule sonst üblich ist.

     

    Noch nah

    Denkräume werden geweitet.

    Noch Geschichtsgruppe

    Man denkt an Lessings Satz:

    Der Mensch ist nicht zum Vernünfteln auf der Welt.

    Denken und Handeln gehören zusammen.

     

    ..wenn Bühne weg:

    Gelungene Schulen verbreiten Erreger einer ansteckenden Gesundheit. Und die könnten auf die ganze Gesellschaft überspringen.

     

    Freiheit verbessert die Leistungen.

    Freizeit ist eine Voraussetzung selbst etwas wollen.

     

    Die Jenaer Plan Schule ist ein anziehender Ort geworden.

    Zu schön um wahr zu sein?

    Es ist wahr.

    Und noch viel mehr ist möglich.

    wenn Schulen Treibhäuser der Zukunft werden.

     

    von Hentig 1

    Sprachlabor

     

    ...wird geübt.

    Die Belehrungsschule verweist drohend auf den Ernst des späteren Lebens. Das verbreitet nicht gerade Vorfreude.

     

    Folglich gehen die meisten Kinder schon nach ein paar Jahren zur Schule wie zum Zahnarzt.

    Hitzefrei wird bald die beste Nachricht.

     

    Industrie

    Lernen gerät in die Nähe von Fronarbeit.

     

    Immerhin verhalf diese Schule, die das eigene Leben auf eine ferne Zukunft vertröstet, der deutschen Wirtschaft an die Weltspitze. Das war die große Koalition des Industriezeitalters.

     

    Im Übergang zur Wissensgesellschaft wird eintönige Arbeit an Maschinen delegiert.

    Den Unternehmen bleibt nichts anderes übrig als lernende Organisationen zu werden.

    Menschen müssen eigene Ideen mit ins Spiel bringen.

    Kreativität lässt sich nicht anordnen.

    Neue Bündnisse entstehen.

     

    Kluge 1

     

    Wir suchen weiter nach Schulen die gelingen, nach Lehrern, die sich trauen und nach Ideen, die bei Schülern zünden.

     

    Küsschen

    Im bayrischen Eichstätt wurde an der Universität eine pädagogische Erfindung gemacht, die bereits an vielen deutschen Schulen den Unterricht verändert: Lernen durch Lehren.

    / Ein Professor für die Didaktik der französischen Sprache ist drauf gekommen.

    / Das Willibald Gymnasium in Eichstätt ist sein pädagogisches Labor.

     

    Gleich nach Gebet

    Wie gesagt, wir sind in Bayern, dem Land der ungewöhnlichen Koalitionen - und das ist Jean Paul Martin, der Französischprofessor mit dem neuen Unterricht.

     

    Martin geht //

    Professor Martin eröffnet nur die gut vorbereitete Stunde. Dann sind die Schüler dran. Der Lehrer versteht sich als Geburtshelfer.

     

    M. off / on

     

    Schülerin
    Gegenschnitt

    Die Schülerin hat sich auf die Ursprünge des Chansons auf den Schlachtfeldern des Mittelalters vorbereitet.

     
    Schüler O-Töne
    Bodensee  //  Text mit Beginn des freien Wassers

     

    Wir fahren weiter in den Südwesten zum Bodensee.

     

     Die „Bodenseeschule St. Martin“ in Friedrichshafen.

     

    Tür zu

    Sie  ist Ganztagschule seit 1971, eine der ältesten in Deutschland. Die Bodenseeschule ist eine katholische Schule.

    Lauter letzte Menschen

    "

    Deutschlands kinderlose Elite: Lauter letzte Menschen

    Nehmen wir Abschied vom Mythos der Familie - oder von der Zukunft

    von Reinhard Kahl

    Vierzig Prozent der deutschen Akademikerinnen bleiben kinderlos. Die Zahl ist nicht neu. Aber jetzt sind wir reif, uns von ihr irritieren zu lassen. Und Irritation, sagte der verstorbene Soziologe Niklas Luhmann, ist die beste Voraussetzung für Lernprozesse.


    Was bedeutet es, wenn sich ausgerechnet ein großer Teil der Bildungselite aus dem generativen Prozess verabschiedet? Es ist ja nicht nur die demografische Verfinsterung, die nun zu all den anderen Deutschland-Krisen noch hinzukommt. Und es ist nicht nur diese zusätzliche Bildungskatastrophe, wenn ausgerechnet die Familien streiken, die am meisten Wissen und Kultur weitergeben könnten. Der Schatten liegt nicht erst auf der Zukunft. Was ist mit unserer Gegenwart los, dass viele nicht weitermachen, nichts weitergeben, keine Zukunft produzieren wollen? Man denkt unwillkürlich an Nietzsches Schmähwort von den letzten Menschen. Was bedeutet ein Leben unter dem Vorzeichen, nach uns kommt nichts mehr?


    Gewiss, Kinder allein sind nicht die Welt, und Kinderlose können im ganz emphatischen Sinne in der Welt sein. Zumal als Lehrer, Künstler oder als ""Führungskraft"". Die zölibatäre Tradition von Hingabe ist ehrenwert. Doch sie ist eine Ausnahme. Jeder, der Kinder hat, weiß, wie sie uns Grenzen setzen und zugleich Horizonte eröffnen. Diese Erfahrung fehlt den letzten Menschen. Sie neigen dazu, alles zu sein und alles haben zu wollen. Dann erleben sie, dass alles und nichts zwei Wörter für das Gleiche sind.


    Die Neigung zu ""Alles oder nichts"" gehört zu den deutschen Erbsünden. Wir finden sie auch im weiten Feld von Bildung und Erziehung. Mütter sollen ganz und gar für die Kinder da sein. Sonst sind sie Rabenmütter. Sie bekommen an jedem Missgeschick die Schuld. Und häufig geben sie sich selbst die Schuld. Natürlich gibt es keine Erziehung ohne Missgeschick. Aber es gibt ein besseres Vorzeichen für Elternschaft als Perfektion und Idealisierung. Der nach Amerika ausgewanderte Kinderpsychiater Bruno Bettelheim brachte es auf die Formel: ""good enough parents"". Einigermaßen gute Eltern - die besten, die man sich wünschen kann - können auch Familie und Beruf vereinbaren. Und hier liegt denn auch ein Ansatzpunkt für den Hebel zur Veränderung. Nur setzt die Vereinbarkeit von Beruf und Familie mehr voraus als Kinderbetreuung. Die ist in Deutschland häufig nur Verwahrung. Ein Teufelskreis. Weil wir dazu neigen, die Familie zu idealisieren, verweigern wir der öffentlichen Erziehung Ressourcen, vor allem die wichtigste: Wertschätzung. Das gilt besonders für Krippen, Kindergärten und die Vorschule. Ein Beispiel: Schulabgängerinnen, die ein Berufsberater glaubt, im Büro nicht unterbringen zu können, empfiehlt er die Ausbildung als Erzieherin.


    Aber auch viele Eltern finden, mit der Schule beginne der bittere Ernst des Lebens. Davor wollen sie ihre Kinder möglichst lange mit einer verspielten Kindheit schützen. Aus dieser Mentalität wird dem Lernen in der Schule die Seele, nämlich Vorfreude des Kindes auf sich selbst zu sein, geraubt. Die Vorschulzeit wird vom eng gedachten Lernen frei gehalten. Verhängnisvolle Aufspaltungen!


    Unsere Schule wurde nie als Lebensort konzipiert. Sie setzt auf Belehrung. Sie geizt mit Raum und Zeit für die Eigenständigkeit und Zusammenarbeit der Schüler - und auch der Lehrer. Der Familienmythos flüstert: Zu Hause spielt sich das wahre Leben ab. Dann sind um 13.30 Uhr die Lehrer schneller im Golf als die Schüler auf dem Fahrrad. Diese Fehlkonstruktion bringt viele Frauen, zumal solche mit guter Bildung und hohen Ansprüchen, dazu, dieser Falle entgehen zu wollen und die Karriere zu ihrer einzigen Welt zu machen.


    Wir müssen also deutsche Reinheitsgebote aufgeben und uns mit neuen Mischungen anfreunden. Die öffentliche Kindererziehung ist keineswegs bloß die zweitbeste Lösung neben der Hundertprozentfamilie. Für Kinder sind gute Krippen, Vorschulen und Ganztagsschulen ein abgestufter Raum zwischen Intimität und Öffentlichkeit. Hier treffen sie andere Kinder und hoffentlich professionelle Erzieher, die in der Lage sind, ästhetisch, emotional und kognitiv Welten zu öffnen. Zu Hause, das müssen wir endlich zugeben, wird nicht das duftende, selbst gebackene Biobrot auf den Tisch getragen und anschließend am Flügel Mozart gespielt. Dort gibt es viel zu häufig Fast Food, Schokoriegel und als endlosen Nachtisch Fernsehen.


    In der Forschung herrscht Konsens: Das Zusammensein mit anderen Kindern wirkt sich positiv aus. Bei IGLU, der internationalen Grundschulstudie, haben Kinder, die zum Kindergarten gegangen sind, noch Ende der vierten Klasse im Lesen einen Vorsprung von mehr als einem halben Jahr.


    Und es kommt manches in Bewegung. In München beim europäischen Patentamt hat die Familienforscherin Gisela Erler mit ihrer Firma ""Familienservice"" eine anspruchsvolle Kinderbetreuung aufgebaut. Die meisten Akademikerinnen, die aus vielen Ländern kommen, kehren gemäß europäischem Recht nach zwölf Wochen Mutterschaft gelassen in den Beruf zurück. Seit es dort diese gute Kinderbetreuung gibt, ""bekommen die Frauen Kinder wie die Hasen"", weiß Gisela Erler. Viele haben zwei oder drei Kinder, und sie fügt hinzu: ""Das sind tolle Familien, die viel mit ihren Kindern machen.""


    Der Autor ist Journalist mit dem Schwerpunkt Schule und Erziehung und moderiert im Hamburger Literaturhaus das ""Philosophische Café""


    Artikel erschienen am 25. April 2004

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    PS 4 2004 Die Sache mit der Heterogenität

    PÄDAGOGIK - P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

    Die Sache mit der Heterogenität

    Der Unterschied zwischen Schulen, die gelingen, und anderen, in denen Grundlegendes nicht stimmt, lässt sich mit einem einfachen Test bestimmen. Wie wird der Satz betont, der ganz neutral ausgesprochen heißt: »Auf euch haben wir gewartet.« Klingt er freudig, »Hey, kommt her ...« Oder grollt es misanthropisch: »Auf euch haben wir gerade noch gewartet.« Letzteres kommt uns sehr bekannt vor. Gewiss, auch wir haben Schulen, in denen die nächste Generation willkommen ist, und in denen jeder anders sein darf. Auch bei uns gibt es Unterricht, der Differenz nicht als Abweichung bekämpft, sondern als Reichtum nutzt. Aber man muss zugeben, der Normalfall ist das nicht. Langsam dämmert uns allerdings der Zusammenhang zwischen der schlechten Stimmung und der miesen Leistung. Von der Schule bis zur Hochschule sind Spitzenleistungen schwach. Die »Risikogruppe« unter den Schülern ist stark. Bei den Studienabbrechern sind wir Weltspitze und bei den Studienanfängern fast Schlusslicht.

    Eigensinn

    Nach Timss, Pisa & Co. hat es der politische und wissenschaftliche Bildungsdiskurs immerhin auf den kleinen gemeinsamen Nenner gebracht: Alle geben Schwierigkeiten im Umgang mit »Heterogenität« zu. Das Wortungetüm ist wohl der Preis für den sehr ungefähren Konsens. Wir ziehen es halt vor, mit Ideendrachen zu kämpfen, statt ganz einfach Menschen zu mögen, ihnen etwas zuzutrauen und ihren Eigensinn zu akzeptieren. Ohne diesen Eigensinn ist allerdings das Eigene nicht zu haben. Es ist zugleich das Wertvollste der Person und sein Leistungszentrum. Unterschiede steigern Individualität und daraus entsteht ein Sog nach Zusammenarbeit. Die Wertschätzung der Verschiedenen erhöht jene »Vorfreude von Menschen auf sich selbst«, mit der Peter Sloterdijk Lernen definiert.

    Der neue Blick auf Heterogenität muss die Aufmerksamkeit auf die Pseudodifferenzierung im fünfgliedrigen System – bitte die Sonderschulen nicht vergessen – richten! Und die meisten unserer Gesamtschulen, pardon, sind ein Bastard eigener Art. Anders als in den Sonntagsreden der Konservativen behauptet, erhöht das »gegliederte System« nicht die Vielfalt. Es eröffnet nicht das große Spiel, Unterschiede auszudifferenzieren, ja zu kultivieren. Es bedroht die Teilnehmer, die Risiken wagen, mit Ausschluss. Das gegliederte System ist der Institution gewordene Glaube an Perfektion und Homogenität. Seine Lebenslüge ist, jeder Schüler komme auf die für ihn richtige Schule, abgesehen von schnellstens zu korrigierenden Fehlentscheidungen.

    Prokrustes

    Nur wer an das Heil des Prokrustesbettes glaubt, kann es als einen Vorteil empfinden, mehrere Größen davon anzubieten. Besser wäre es, sich von der Methode dieses Wirtes aus der Antike, der die Körper seiner Gäste, damit sie passen, beschnitt oder dehnte, zu verabschieden. Dafür ist die Situation günstig. Nicht als Revival der alten Gesamtschuldebatte, sondern als Vorantreiben einer neuen Heterogenitätsdebatte! Ihr Ausgangspunkt ist ganz unideologisch. Es ist die Erkenntnis, dass Homogenisierung gar nicht gelingt. 40 Prozent der Realschüler in Baden-Württemberg könnten nach ihren Pisa-Leistungen im Gymnasium sein. Vergleichbare Schüler werden in der »höheren« Schule besser gefördert, weil die besseren Schüler sie mitziehen. Für alle Kinder ist die Aufteilung in fünf Menschengruppen der messbaren Leistung nicht förderlich. Von den schwerer messbaren Kollateralschäden ganz zu schweigen. Selbst wenn die Verteilung der Schüler in homogene Kohorten erstrebenswert wäre, sie klappt nicht. Man kann sich auf den Kopf stellen und wie in NRW verschiedene Typen von 10. Hauptschulklassen einrichten, die homogenisierende Schulzentrifuge läuft nicht rund. Wenn sich diese Erkenntnisse herumsprechen, könnte die auf die Gesamtschule projizierte Angst vor der Zwangskollektivierung in pädagogische LPG’s endlich an den Absender zurückgeschickt werden: an unser Prokrustessystem.

    Club of Rome-Schulen

    Aber die Reformation des Glaubens von der Homo- zur Heterogenität allein wird die Schulen nicht verbessern. Hinzu kommen muss eine neue Kombination von Pragmatismus und Phantasie, wie sie in Skandinavien und in der angloamerikanischen Tradition stärker ausgebildet ist. Einer von vielen deutschen Einstiegen in diese Mentalität sind die vor der Gründung stehenden Club of Rome-Schulen. Alle deutschen Schulen, die sich bewerben und deren Konzept anerkannt wird, können als COR-Schulen akkreditiert werden. Das Ziel, nicht die Startbedingung, ist, mit den Dreijährigen in der Vorschule zu beginnen und sie möglichst bis zur Hochschulreife zu führen. Keine Rede ist mehr vom gegliederten System. Realistisch setzt der Club of Rome nicht darauf, dass die Kultusministerkonferenz nun jubelt und sagt, das beschließen wir. Es geht um einen Rahmen, ja um Schutz für Schulen, die sich in diese Richtung entwickeln wollen. Ein Kongress Anfang März hat die Sache mit lautem Paukenschlag in die Welt gesetzt. Dem Club of Rome ist es gelungen, in vielen Kultusministerien für diese neue Schule Freiheitsspielräume herauszuschlagen. Ein gutes Beispiel, wie ein Zusammenspiel von Regierung und Nichtregierungsorganisationen aussehen kann.

    P. S.

    Über Vielfalt, Selbständigkeit und die Chancen einer zivilgesellschaftlichen Bildungspolitik wird am 4./5. Juni eine Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin diskutieren: www.boell.de

    P.P.S.

    Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: Kahl-Lob.des.Fehlersgmx.de und neuerdings auch unter www.reinhardkahl.de

    Rezension, Johannes Rau über Bildung

    DIE ZEIT


    12/2004 

    Ein guter Schutz gegen Armut

    Johannes Raus gesammelte Reden zum Bildungsnotstand

    Ohne Verstärkung der geistigen Investitionen müsste Deutschland gegenüber anderen Industrie- und Kulturländern zurückfallen…“ So sprach am 19. Oktober 1963 Ludwig Erhard in seiner Regierungserklärung.

    Bildung ist ein beliebtes Stichwort in den Reden von Kanzlern und mehr noch in den Ansprachen von Bundespräsidenten. Das hat sehr gute und auch ziemlich schlechte Gründe. Das Thema rührt an die Geheimgrammatik jeder Gesellschaft. Wie kann die Kultivierung des eigenen Lebens mit den Zwängen der arbeitsteiligen Ökonomie auf einen Nenner gebracht werden? Aber so tief die Fragen gehen, die Antworten müssen zum häufig unglücklichen Alltag der Kinder und Jugendlichen zurückfinden. Die meisten Bildungsdiskurse reflektieren aber nicht die Risse, deren alltägliche Seiten jeder aus der Familie, der Schule oder von der Straße kennt. Große Worte versöhnen vorschnell. Dabei hilft deren Unschärfe. Auch Johannes Rau ist dieser Falle nicht immer entgangen.

    Den ganzen Menschen bilden – wider den Nützlichkeitszwang. Der Titel zieht sich wie ein Refrain durch die hier versammelten Reden. Gewiss, im Blick auf den ganzen Menschen liegt ein unverzichtbarer utopischer Überschuss. Aber der ganze Mensch muss halt durch seine Fragmentierungen hindurch. Und wo liegt der Unterschied zwischen dem Nützlichen und dem „Nützlichkeitszwang“? Der Bundespräsident setzt diese Fragen auf die Tagesordnung, aber auf dem Weg zu Antworten kommt er nicht weit. Das liegt natürlich auch daran, dass die Strecken von Reden zu kurz sind und die nächste bei neuem Anlass wieder von vorne beginnt.

    Dennoch findet man viele Ideen und auch harte Informationen. Johannes Rau zeigt das Panorama der zerklüfteten deutschen Bildungslandschaft ohne Wenn und Aber. Die ganze irritierende Pisa-Lektion ist hier noch einmal zusammengefasst. Wer es immer noch nicht verstanden hat, dass unsere Schulen häufig freudlos und leistungsschwach sind und dass sich diese beiden Mängel gegenseitig verstärken, dem wird diese Diagnose hier spätestens klar. Die größeren Reden aus dem zentralen Kapitel Schule und Demokratie sind zu empfehlen.

    Wer das aber alles weiß und weiterwill, der muss beim Lesen auch leiden. Denn je mehr man in dem Buch liest, desto schwächer wird der Text. Genug der Vorrede, denkt man, jetzt los! Aber es bleibt feierlich, und sobald sich Johannes Rau zwei Schritte vorgewagt hat, folgt sein Sowohl-als-auch. Zum Beispiel: „Ziel der Bildung ist nicht zuerst die Befähigung zum Geldverdienen. Bildung schielt und zielt nicht auf Reichtum. Aber sie ist ein guter Schutz vor Armut. Vielleicht sogar der wirksamste.“

    Immerhin hat der scheidende Präsident zum Thema viel mehr zu sagen als sein Vorgänger Roman Herzog, der – Jahre vor Pisa – den „Ruck“ verlangte und das „Megathema“ auslobte. Dazu fiel in Deutschland jedem etwas anderes ein. Nach kurzer Hypermotorik war dann wieder Ruhe im Karton. Seit Pisa ruckt es ständig. Nun geht es darum, das Zucken mit Ideen zu inspirieren, der Bewegung eine Richtung, vielleicht sogar Eleganz zu geben. Eine schwierige Aufgabe, weil bei uns immer noch – anders als in anderen Ländern – Bildung nicht das Gemeinschaftsfeld, sondern ein Hackbrett der Gesellschaft ist. Bildungspolitik ist der letzte Religionskrieg, der uns geblieben ist. Aber dafür, dass Rau der Friedenspräsident und Patron eines Bildungsaufbruchs hätte werden können, ist er – es klingt paradox – zu versöhnlerisch. Denn diejenigen, die sich immer noch Profilierungsgewinne aus dem Hickhack versprechen, hätte er sich zu Feinden gemacht.

    π Johannes Rau:
    Den ganzen Menschen bilden – wider den Nützlichkeitszwang
    Ein Plädoyer für eine neue Bildungsreform; Beltz Verlag, Weinheim 2003; 272 S., 14,90 ¤

    Über die neuen finnischen Bildungsstandards

    Vertrauen, Respekt, Selbständigkeit

    Die neuen finnischen Bildungsstandards sind auf Deutsch erschienen und begeistern immer mehr Schulen hierzulande


    Von Reinhard Kahl


    Wir haben noch Geld, bemerkte man Ende vergangenen Jahres im ¸¸Opetushallitus", dem Zentralamt für das Schulwesen in Finnland. Da könnten wir doch unsere neuen Standards gleich auf Deutsch übersetzen lassen, schlug Rainer Domisch vor. Dann müsste er nicht mehr so viele Fragen aus Deutschland beantworten, eine echte Entlastung. Domisch, Fachberater für Deutsch im Zentralamt, ist der einzige finnische Beamte mit deutschem Pass.


    So groß war allerdings der Aufwand fürs Übersetzen nicht. Denn die neuen Standards für die Peruskoulu, die neunjährige Gemeinschaftsschule, haben auf 180 DIN A4 Seiten Platz. Im fertigen Buch mit Illustrationen und Anhängen wurden es 300 Seiten. Die grundsätzlichen Passagen und die Kompetenzen für den Fremdsprachenunterricht gibt es nun seit einer Woche auf Deutsch, für 15 Euro unter myynti@oph.fi zu bestellen. ¸¸Wir haben nicht geworben und die gehen weg wie warme Semmeln", sagt Domisch.


    Es handelt sich um das wohl derzeit gewagteste Dokument der nicht aufhörenden finnischen Schulreform. Darin werden jedoch kaum Inhalte vorgeschrieben. Abgesteckt wird der Rahmen, in dem vom Schuljahr 2004/2005 an jede Schule eigene Lehrpläne verfassen soll. Der Text liest sich als Aufforderung an die Kollegien, ihren Weg zu finden. Man hat nicht mehr wie früher die wichtigen Inhalte addiert. Das hatte auch in Finnland zu überfüllten Lehrplänen geführt, die den Lehrern vor allem ein schlechtes Gewissen gemacht haben und wenig beachtet wurden.


    Ohne Partizip Perfekt


    Vom Opetushallitus wurden Teams aus Lehrern und Wissenschaftlern in Kommissionen berufen, die Schülerarbeiten und Tonkassetten aus Schulen im ganzen Land ausgewertet haben, um die ¸¸guten Kompetenzen" heraus zu finden und zu formulieren. Die beginnen etwa in den Fremdsprachen mit dem ¸¸Grundbedarf im unmittelbaren sozialen Umgang", führen über das ¸¸Zurechtkommen im Alltag" sowie den ¸¸regelmäßigen Umgang mit Muttersprachlern" schließlich zum ¸¸Zurechtkommen in anspruchsvollen Situationen".


    Aber es steht nicht dort, wann das Partizip Perfekt dran kommt. ¸¸Das wissen doch die Lehrer," insistiert Riitta Piri. Die pensionierte Ministerialrätin hat zunächst als junge Deutschlehrerin in den 60er Jahren, später in der inzwischen abgeschafften Schulaufsicht und zum Schluss im Ministerium den finnischen Reformprozess mit betrieben.


    Die neuen Standards fragen vielmehr: Unter welchen Lernumgebungen erreichen Schüler hohe Kompetenzen? Statt von oben definiert zu bekommen, was richtig und wichtig ist, fühlt sich der Leser eingeladen nach Bedingungen für das Gelingen der Schule zu suchen. Aus dem Text spricht eine veränderte Grammatik des ganzen Schulsystems.


    Opetushallitus wurde im Jahre 1994 neu gegründet, die frühere Aufsichtsbehörde aufgelöst. Das Amt entwickelt sich seitdem zur Denkfabrik für die Schulen. Es ist aber auch eine normgebende Institution, die Ministerium und Parlament unterstellt ist und zwischen Gesetzgeber und Schulträgern in den Kommunen vermitteln soll. Die Schulaufsicht im Land wurde 1995 auf Anraten der Schulinspektoren selbst abgeschafft. An deren Stelle trat die Evaluierung. Seitdem weiß man besser über die Qualität der Schulen Bescheid.


    Der Kulturwandel findet nun in den neuen Standards seinen Ausdruck. Zunächst werden Werte definiert. 1995 hatte das finnische Parlament die ¸¸Kommunikationsgesellschaft" als Staatsziel in seine Verfassung aufgenommen. Für die Erziehung folgen daraus die Maximen, Respekt, Teilhabe und Lernfähigkeit in der globalisierten Welt. Dafür wird dann im nächsten Schritt die geeignete Lernumgebung skizziert. Verlangt werden eine ¸¸gute Ästhetik der Schulen" sowie ¸¸psychische und soziale Geborgenheit". Entscheidend ist ¸¸die Wechselwirkung zwischen Lehrern und Schülern sowie unter den Schülern zu fördern." Die Verwirklichung dieser Grundsätze können Schüler und Eltern nun einfordern. Es sind keine unverbindlichen Präambelsätze.


    Eine ansteckende Gesundheit


    Außerdem werden die Arbeitsmethoden beschrieben. Der Unterricht wird am Ziel Denken und Problemlösen ausgerichtet. Noch bevor das Wort Lehrplan fällt, ist von den ¸¸Lernplänen" für Schüler die Rede. Die müssen vor allem für Kinder mit Schwierigkeiten beim Lernen aufgestellt werden. Denn in jedem finnischen Kollegium arbeiten neben den Lehrern auch Sozialarbeiter, Psychologen, Sonderpädagogen, Beratungslehrer und Kuratoren, die sich auch darum kümmern, dass sich Schüler wohl fühlen. ¸¸Wohlbefinden" ist ein häufig gebrauchtes Wort.


    Da in Finnland Schüler mit Schwierigkeiten kaum noch auf Sonderschulen verwiesen werden, spielen Förder- und Sonderunterricht eine große Rolle. Am Förderunterricht nimmt etwa ein Viertel der Schüler teil. Auch deshalb gilt er nicht als Stigma. Das ist der stärkste Beweis für das Gelingen von 40 Jahren Schulreform. Ein starker Nebeneffekt ist: Schulen lernen an den Lernschwierigkeiten der Schüler am besten, was Lernen ist.


    Das Fachliche schließlich ist nur eine Säule im Abschnitte „Lernziele und zentrale Inhalte des Unterrichts“. Die anderen heißen ¸¸Lernen lernen" und ¸¸lebenslanges Lernen". Aber müssten Standards nicht vielleicht doch etwas konkreter sein? Rainer Domisch verneint. ¸¸Sie sollen die Schulen dazu bringen sich Gedanken für die Lehrpläne zu machen." Diese, wie gesagt, müssen sie künftig selbst erstellen. Im Übrigen ist der neue Rahmenlehrplan so abgefasst, dass ihn alle Eltern verstehen. Ihre Mitwirkung ist ein hohes Ziel. Ganz konkret allerdings sind solche Gebote: Bei Gesprächen zwischen Lehrern und Eltern sind die Schüler, von Ausnahmen abgesehen, zugegen.


    Über diese indirekte Perspektive aufs Lernen staunen auch die deutschen Pädagogen, die seit dem Pisa-Schock erlösungsbedürftig nach Norden pilgern. Aber langsam springen die skandinavischen Ideen wie eine ansteckende Gesundheit über, vor allem nach Norddeutschland. Viele Lehrer besuchten in beiden vergangenen Jahren Schulen in Schweden. Auch dort wurde die zentrale Schulbehörde, wie man sagt, ¸¸geschlachtet". Auch dort seht das ¸¸nationale Curriculum" in schmalen, für jedermann verständlichen Broschüren. Schwedische Schulen verfügen über ihren eigenen Haushalt, egal ob es darum geht, das Dach zu decken oder mit neuen Lehrern individuelle Gehaltsverhandlungen zu führen.


    Viele Schulen haben eigene Lehrpläne geschrieben. Zum Beispiel in der Gemeinde Halmstad. Dort heißt der Bildungsplan ¸¸Baum der Erkenntnis". Als Wurzeln werden etwa Demokratie, sprachliche und motorische Entwicklung oder Verantwortung genannt. Man kann nachlesen, wie bereits die Vorschule diese Wurzeln pflegt. Oben in der Baumkrone stehen die Kompetenzen, die Kinder nach der neunjährigen Gesamtschule erworben haben sollen.


    Dieser fast poetisch formulierte Bildungsplan gefiel dem deutsch-schwedischen Pädagogen-Ehepaar Marianne und Lasse Berger aus Bremen so gut, dass sie dem Druck ihrer Kollegen, den Plan zu übersetzen, nachgaben. Ende Oktober 2003 waren die ersten Exemplare gedruckt. Seitdem wurden 5000 Stück verkauft. Ohne Werbung, im Eigenverlag, nur über Mund zu Mund Propaganda. Sieben Euro kostet das Buch, das sich unter berger_LM@web.de bestellen lässt.


    In Hamburg setzen auch Gymnasien Tageskonferenzen über ¸¸Skandinavische Pädagogik" an. Die Bremer ¸¸Gesamtschule Mitte" hat die vergangen drei Wochen den Tag nach dem Modell der schwedischen Futurum Schule in der Nähe von Stockholm mit drei Stunden Freiarbeit der Schüler begonnen. Sie stellen sich in Absprache mit Lehrern ihr individuelles Programm zusammen. Die Ergebnisse des Freiheitsversuchs werden nun ausgewertet. Sind sie erfolgreich, wird die Schule nach dem Futurum-Vorbild umgebaut.


    Lernen ohne Wände


    In der Grundschule Borchshöhe, ebenfalls in Bremen, läuft der Umbau Richtung Futurum schon auf vollen Touren. Wände wurden eingerissen, Bühnen errichtet und Arbeitsplätze für Lehrer geschaffen. Gelder aus dem Bundesprogramm für Ganztagsschulen machen es möglich. Wie in der Futurum Schule entstehen altersgemischte kleine Schulen in der großen Schule, Lerndörfer für die Kinder. Lehrer bleiben wie in Schweden 35 volle Stunden in der Schule. Eine der beiden Leiterinnen von Borchshöhe ist die Schwedin Karin Bossaller , die seit 20 Jahren in Deutschland lebt. Sie erinnert sich, dass sie als Schülerin nie auf den Gedanken kam zu mogeln. Ihre drei in Deutschland aufgewachsenen Kinder allerdings, sagt Bossaller, hätten in der Schule eigentlich nur eines gut gelernt: mogeln. Von anderen in Deutschland lebenden Schweden höre sie ähnliches.


    Auch die in Berlin lebende Finnin, Kati Jauhiainen kann von manch ähnlichem Kulturschock ein Lied singen. Als sie ihre Tochter vor Jahren zur Grundschule anmeldete, fragte sie, welche Schwerpunkte die Schule habe. ¸¸Da hat die Schulleiterin geguckt, als ob ich vom Mond käme." Aus Finnland war sie gewohnt, dass jede Schule besonders ist. Allein in Helsinki gibt es sechzig verschiedene Profile. Und dann fragte sie nach dem Schulessen. Wieso, bekam sie zur Antwort, Kinder bekommen doch kein Essen in der Schule.


    Inzwischen ist die Pädagogin und Kommunikationsberaterin Kati Jauhiainen eine der begehrtesten Referentinnen über skandinavische Schulen. Manchmal schließt sie ihre Vorträge mit einer Geschichte von Mats Ekholm, der bis Ende 2003 Generaldirektor von Skolverket, der schwedischen Bildungsagentur war. Nach Besuchen in deutschen Schulen wurde er gefragt, worin sich denn die deutschen von den skandinavischen Schulen am meisten unterschieden. Nach kurzem Bedenken antwortete er: ¸¸Dass in Deutschland Schüler nichts zu essen zu bekommen." Und damit waren nicht nur Kalorien gemeint.

    Kästen mit Zitaten

    ¸¸Wir nehmen seit mehr als zwanzig Jahren die Kontrollen zurück und haben die Schulaufsicht ganz abgeschafft. Wir haben immer mehr Zuversicht und Evaluierung an die Stelle gesetzt. Vertrauen ist unser Grundkonzept. Wir haben unsere Lehrer so gut ausgebildet, dass wir uns auf sie verlassen können. Keiner spricht mehr von Sanktionen. Wir haben im Gesetz Möglichkeiten zu Sanktionen, aber wir gebrauchen sie nicht. Wenn man Zuversicht gibt, dann benehmen sich die Menschen entsprechend. Für uns Finnen zählt Bildung mehr als Besitz und so ein kleines Land kann es sich nicht erlauben, auch nur einen Schüler ohne Abschluss zu entlassen."

    Riitta Piri, Ministerialrätin im Ruhestand

    ¸¸Die deutschen Schüler sind nicht dümmer und die Lehrer nicht schlechter, aber das Zusammenspiel und die rechten Trainer in der Supervision fehlen. Vor allem darf man Bildung nicht mit Einbildung verwechseln. Man muss in Deutschland aufpassen, dass man Standards und schulische Evaluierung nicht falsch angeht und das Pferd von hinten aufzäumt. Ein Vergleich von reinen Leistungsergebnissen hilft nicht viel, dazu braucht man keine großen Untersuchungen. Wichtig ist es, Ziele für die Bildungsplanung an den Schulen zu nennen, fundierte Indikatoren aufzustellen, nach denen man evaluieren will, sonst kommt langfristig überhaupt nichts dabei raus."


    Rainer Domisch, Finnisches Zentralamt für das Schulwesen

    ¸¸Ich habe immer gewusst, dass das finnische Schulsystem humaner ist und dass sich die Kinder in der Schule wohl fühlen. Pisa war eine Befreiung - denn jetzt wissen wir auch, dass diese Schule erfolgreich ist. Ich finde, es ist eine deutsche Sünde, sofort eine Lösung zu finden und immer schon eindeutige Antworten für alles zu haben. Der Erfolg des finnischen Schulsystems liegt darin, dass es alles erlaubt, das hilft, die Kinder gut vorzubereiten. Das fängt schon damit an, dass die Lehrer in den Kindergarten und in die Vorschule gehen und hinschauen, welche Schüler in die Schule kommen werden. Die Schule bereitet sich tatsächlich auf die Kinder vor, nicht umgekehrt."


    Kati Jauhiainen, in Berlin lebende finnische Diplompädagogin


    Quelle: Süddeutsche Zeitung
    Nr.74, Montag, den 29. März 2004 , Seite 10

    Schulen, die gelingen; Interview mit der Website Ganztagsschule des BMBF

     . 

    "Wir haben Schulen, die gelingen"

    Reinhard Kahl ist einer der profiliertesten deutschen Bildungsjournalisten und Filmautoren. Derzeit arbeitet er an dem DVD-Projekt "Treibhäuser der Zukunft", das sich innerhalb der Bildungsreihe "Archiv der Zukunft" mit Ganztagsschulen beschäftigt. Im Gespräch nimmt er zur deutschen Bildungsmisere und den möglichen Auswegen Stellung.

    Online-Redaktion: Herr Kahl, Sie monieren, dass in Schulen viel Zeit vergeudet wird. Ist das ein Problem von Schule an sich oder ein spezifisches des deutschen Bildungssystems?

    Kahl: Ich glaube, dass es ein generelles Problem ist, das durch das deutsche Bildungssystem unglaublich verschärft wird. Global gesehen ist die Bildungstradition theologischer Herkunft: Das über allen schwebende Wissen wird von oben nach unten abgeseilt. Viele Länder haben sich davon gelöst, und vieles, was man heute Bildungsreform nennt, hängt damit zusammen: Man kommt vom Belehren zum Lernen. Diese Übergänge sind in Deutschland schwächer als anderswo. Wir sind ganz groß in Belehrung und Weltmeister im Entweder-oder – und Richtig-oder-falsch-Denken. Die Tradition, dass eine Sache mehrere Lösungen haben kann und dass es Ambivalenzen gibt, ist demgegenüber nur schwach ausgeprägt

    Es ging ja ein großes Raunen durch die deutsche Lehrerschaft, weil bestimmte mathematische Aufgaben der PISA-Studie mehrere Lösungen zuließen. "Das geht doch nicht, die Aufgabe hat ja mehrere Lösungen", meinten viele – und die PISA-Leute entgegneten: "Eben!" Daran wird das Problem deutlich: Gibt es die eine richtige Lösung, repräsentiert durch das System und deren Geschäftsführer, die Lehrer, oder lassen sich eine Reihe von Möglichkeiten herausfinden, mit denen man selbst arbeiten kann? Tatsächlich werden bei einem explorativen Lernen die Erwachsenen für die Schüler viel wichtiger. Sie dann als Personen, nicht als Funktionäre gefragt. Aber letztlich kommt es auf die Fragen der Schüler an. Das wäre eine für uns noch nicht selbstverständliche Sichtweise. Meiner Meinung nach befinden wir uns mitten in dieser Transformation.

    Online-Redaktion: Bereitet denn eine solche Schule adäquat auf die Leistungs- und Ellbogen-Gesellschaft vor?

    Kahl: Erstens verzichten Systeme, in denen die gegenseitige Anerkennung und Menschlichkeit groß geschrieben werden, keineswegs auf Leistungsansprüche. Im Gegenteil. Dort wächst die Leistungsbereitschaft mit dem Wunsch, etwas Wirksames zu tun. Der zweite Aspekt: Ich glaube, dass es in der Wirtschaft immer weniger um Ellenbogen geht, sondern immer mehr um Kooperation. Und drittens sollte man die problematischen Strukturen der Wirtschaft als nicht so übermächtig ansehen, als dass man sich diesen zu fügen hätte.

    Online-Redaktion: Tickt denn auch die Wirtschaft im Ausland anders?

    Kahl: Auch hier sind wieder skandinavische, aber auch die angelsächsische Traditionen interessant. In diesen Ländern gehen Diskussionen über Wirtschaft und Bildung vom Konzept "Humankapital" aus. Das Humankapital zu stärken bedeutet, wenn ich die Fähigkeiten von Menschen stärke, dann werden sie schon was daraus machen. Hinter diesem Ansatz steckt Vertrauen. Demgegenüber haben wir in Deutschland eine tief gespaltene Tradition: Auf der einen Seite der über den Wolken schwebende, fast pathetische Bildungsdiskurs. Wenn es dann aber hart auf hart kommt, redet man auf einmal vom Bedarf – vom Bedarf an Akademikern oder an Facharbeitern. Dabei schleicht sich unvermeidlich das Misstrauen ein: Wer gehört dazu? Wer ist gut genug? Und wo verstecken sich die blinden Passagiere?

    Die Idee des Humankapitals dagegen fundiert im Vertrauen: Ihr seid schon ganz gut! Ihr könnt noch viel besser werden! Ihr werdet schon was aus dem Gelernten und vor allem aus Euch selbst machen und damit die Zukunft gestalten! Man könnte auch sagen, so entsteht Zukunft. Sie ist doch das, was wir noch nicht kennen. Der scheinbar so plausible Blick auf den Bedarf muss auf die Vergangenheit fixiert bleiben. Das ist eine ganz andere Logik. Es ist ein Ansatz, der die Menschen kräftigt, während das gebannte Starren auf die angeblich übermächtige Wirtschaft einen selber schwächt, egal ob man sich zum Gefolgsmann oder zum Opfer macht.

    Online-Redaktion: Was verbinden Sie in diesem Zusammenhang mit dem Begriff Elite? Erleben wir da gerade eine Gespensterdebatte?

    Kahl: Die Debatte hat schon etwas Gespenstisches. Aber wenn man unter Elite versteht, dass Menschen versuchen, in dem, was sie machen, besonders gut zu sein, und man sie darin fördert, so dass im Ergebnis einige besser sein werden als andere, ist dagegen nichts einzuwenden. Ich finde die Unterscheidung zwischen Wettbewerb und Vernichtungskonkurrenz nicht feinsinnig. Wieso denken wir so schnell an Vernichtung? Da haben wir wieder diese unselige Entweder-oder-Tradition: Entweder Elitenförderung oder Breitenförderung. Das ist doch kein Widerspruch!

    Ich versuche, in meiner Arbeit doch auch möglichst gut zu sein. – wenn man das Elite nennt, von mir aus. Es gibt ja keinen Grund, den Wunsch nach dem Gelungenen zurückzustecken. Nein, man sollte Menschen und besonders Kinder darin fördern. Gerade bei Kindern ist es faszinierend mitanzusehen, welchen Hunger sie auf die Welt haben und wie dabei Vorfreude auf sich selbst aufkommt. Das ist Lernen: Dinge kennen zu lernen, Sachen zu können und gut zu machen. Und dabei man selbst zu sein. Darin muss man sie unbedingt unterstützen.

    Online-Redaktion: Beim Fördern kommen wir zur Ganztagsschule. Ein Argument, das stark für die Ganztagsschulen ins Feld geführt wird, ist die bessere individuelle Förderung, allein schon durch das Plus an Zeit. Wie sind Sie denn auf Ganztagsschulen aufmerksam geworden? Sind die schon lange auf Ihrem Radar?

    Kahl: Eigentlich noch nicht so lange. Ich hatte auch lange Zeit den Vorbehalt, den heute noch immer viele hegen, dass Ganztagsschulen dem verschulten Leben der Kinder Vorschub leisten. Dieser Einwand ist nicht falsch, solange es nur um die reine Verlängerung von Lernzeit geht, die dann womöglich auch noch auf Belehrungszeit eingeschränkt wird. Wenn es aber darum geht, aus der Schule zugleich einen Lebensort zu machen, was ja überhaupt nicht im Widerspruch zum Lernen steht, also einen Ort, den man kultiviert – angefangen von den Räumen, den Pflanzen und dem Licht bis hin zu der Auswahl der Lehrerinnen und Lehrer – dann ist es klar, dass eine solche Schule nicht um 13 Uhr aufhören kann.

    Eine gute Schule wird immer eine sein, wo die Lehrer mittags nicht schneller in ihrem Golf sitzen als die Schüler auf dem Fahrrad, sondern eine, wo alle sagen: Hier wollen wir sein, hier fangen wir etwas an, und hier machen wir etwas weiter. Das ist eigentlich das, was ich unter Ganztagsschule verstehen möchte. Ein Ort, der mit Bedeutung und Lebenskraft aufgeladen wird. Dazu gehört sehr viel. Da haben wir aber auch schon gute Anfänge.

    Online-Redaktion: Hoffen Sie, dass mit Ganztagsschulen ein neues System eine Chance bekommt, oder befürchten Sie, dass das Thema aus politischem Kalkül gebremst und zerredet wird?

    Kahl: Ich glaube, dass die Erneuerung eine enorme Chance hat. Wenn man sich kürzlich vor der Wahl in Hamburg, wo ich lebe, die Parteiprogramme angesehen hat, stand die Ganztagsschule bei allen Parteien im Zentrum des bildungspolitischen Teils. Wenn man sich darüber hinaus Äußerungen kluger Wirtschaftsleute ansieht, erwarten wirklich alle von ihr eine bessere Pädagogik und ein besseres Generationenverhältnis. Jeder weiß ja, welcher Stress durch die Enge in manchen Heimen entsteht. Die Ganztagsschule ist nach 30 Jahren Bildungskrieg auch so etwas wie das Projekt eines westfälischen Friedens – ein Projekt, über das sich die Zerstrittenen einigen könnten.

    Das ist die eine Seite. Trotzdem – und das ist ja wirklich ein deutscher Sonderfall – ist Bildungspolitik immer noch das herausgehobene Profilierungsmetier einiger Politiker, traditionell ein Hackbrett der Politik, nicht wie in vielen anderen Ländern ein Gemeinschaftsfeld, auf dem der Konsens heilig ist. Bis zum Frieden wird es noch ein bisschen dauern. Immer wieder wird der Kulturkampf um die richtige "Bildung" überhand nehmen und manches zerstören. Dennoch glaube ich, dass die Chance nicht schlecht ist, diese etwas vergiftete Tradition zu überwinden. Die Ganztagsschule könnte dazu einen Beitrag leisten.

    Online-Redaktion: Wie ist denn ihr Film "Treibhäuser der Zukunft" zu Stande gekommen?

    Kahl: Zunächst mal bin ich aus dem Bundesbildungsministerium gefragt worden, ob ich einen Film über Ganztagsschulen drehen würde. Dazu war ich gerne bereit, habe aber klargestellt, dass ich keinen "Propagandafilm" machen würde. Ich will einen Film drehen, in dem ich zeige, wie Raum und Zeit umstrukturiert werden. Das hört sich jetzt sich mächtig abstrakt an, aber ich will zeigen, wie Zeit nicht nur anders rhythmisiert wird, sondern vor allem wie aus der spätmilitärischen und industriellen Gleichschrittszeit unserer Schule unterschiedliche Individualzeiten werden können. Und dann wird es erst richtig spannend zu sehen, wie sich Eigenzeiten zu gemeinsamen Zeiten und zu Kooperationen assoziieren. Das ist etwas Anderes als die Stundenplanwelt. Man muss die Grammatik von Zeit gewissermaßen im Feinstofflichen des Alltags begreifen – und darstellen.

    Zweites geht es um den Raum. Viele Menschen haben Schulen als grauen, muffigen, wenn nicht gar feindlichen Lebensbereich in Erinnerung. Wie kann er freundlich, einladend und lebenswert werden?. Am Raum erkennt man, mit welchen Traditionen Schulen aufgeladen sind. Denn die Schule ist ja nicht nur was die Curricula betrifft ein Ort des kollektiven Gedächtnisses. Diese beiden Koordinaten Raum und Zeit schneiden sich an einer Stelle, die ganz viel mit unserer Ganztagsschulhoffnung und -problematik zu tun hat, aber wenig mit einer Schule, der zum "Ganztagsbetrieb" nur Betreuung einfällt. Natürlich geht es auch um Betreuung, klar – es geht erst mal um Betreuung, so wie vor dem Leben erst mal das Überleben kommt. Aber Überleben ist zu wenig.

    Online-Redaktion: Ist dies ein besonderes Projekt für Sie?

    Kahl: Das Projekt reizt mich ganz besonders, und ich bin wirklich dankbar dafür bin, es realisieren zu können. Ich habe in meinem Leben schon oft genug Kritik geübt. Das bleibt auch nötig. Aber es ist viel erfreulicher und – wenn man genau hinsieht – auch viel spannender zu zeigen, wie Dinge gelingen. Wir haben in Deutschland ja eine Reihe von Schulen, die gelingen. Eine Zeit lang ist auch mein Blick sehr stark auf Skandinavien und Kanada gerichtet gewesen. Ich war dort, habe mir die Schulen angesehen, Filme gemacht und auch darüber geschrieben. Dann habe ich auch gemerkt, wie wir erlösungsbedürftigen Deutschen das schon wieder als Ausrede nehmen: "Jaja, die Finnen, wunderbar – aber wir sind ja nun leider keine Finnen, also können wir nichts machen!" Das stimmt eben nicht.

    Es gibt Dinge auch in Deutschland, die wirklich gut gelingen. Wir können und müssen uns von anderen Ländern irritieren und anregen lassen, aber letztlich an eigene Traditionen anknüpfen. Zum Beispiel die Jenaplanschule in Jena. Sie wird eine Rolle in dem Film spielen. Oder die staatliche Montessori-Gesamtschule in Potsdam. Vor allem die Bodensee-Schule in Friedrichshafen. Oder auch eine kleine Hauptschule in Herten, von der man gar nicht erwarten würde, was dort gelingt. Das Wort Mutmachen ist ein wenig verbraucht, aber ich wünsche mir, Erreger einer ansteckenden Gesundheit zu verbreiten.

    Online-Redaktion: Ihr Film wird eingebettet in ein größeres DVD-Projekt?

    Kahl: Die DVD hat gegenüber dem Film den Vorteil, dass manches, was man aus dramaturgischen oder Zeitgründen im Film nicht bringen kann, dort enthalten ist. Wenn man zum Beispiel ein Interview geführt hat, vielleicht eine Stunde oder länger, ein Gespräch, das wirklich sehr interessant war, bin ich im Film doch gezwungen, daraus höchstens drei Ausschnitte von allerhöchstens jeweils einer Minute Länge einzubauen. Ein Film muss laufen.

    Die DVD kann jeder anders benutzen. Es besteht die Möglichkeit, sich das gesamte Interview mit Hartmut von Hentig anzusehen oder erst mal das mit Elsbeth Stern oder vielleicht das mit Andreas Schleicher gleich morgen im Kollegium zu zeigen oder es mit Studenten zu analysieren. Es wird auf der DVD Exkurse mit genauen Beobachtungen aus Schulen geben oder kleine Portraits. Ich nenne das dann "Galerie pädagogischer Erfindungen" oder "Galerie gelungener Schulen". Das ist ausweitbar, und mein Problem ist derzeit, mich angesichts dieser Möglichkeiten zu disziplinieren, damit es nachher nicht zu viel wird. Aber jeder wird auf der DVD einiges finden, was ihn interessiert und hoffentlich auch überrascht.

    Online-Redaktion: Wie sind Sie auf die Schulen, die in Ihrem Film "Treibhäuser der Zukunft" vorkommen, gestoßen?

    Kahl: Das ist immer so das Wunder der Recherche. Man spricht mit Leuten und wird auf Unbekanntes aufmerksam gemacht. Bestimmte Schauplätze hatte man auch schon lange im Hinterkopf, und plötzlich ergibt sich die Situation, zu bestimmten Schulen zu fahren, deren Repräsentanten man bereits an verschiedenen Orten getroffen hat. Es ist wie ein Rubbellos, wo mit verstärktem Reiben immer mehr zum Vorschein kommt. Manchmal scheint es so, als seien Schutzengel im Spiel, die mich an die richtige Stelle führen.

    Online-Redaktion: Was würden Sie unserem Bildungssystem neben der Ganztagsschule noch gerne verabreichen?

    Kahl: Wir müssen erkennen, dass Heterogenität in einer Gruppe die Intelligenz und Leistungsfähigkeit von Menschen steigert. Es ist nicht so, wie es bislang der deutsche Mythos vorschreibt, dass man möglichst Ähnliche zusammenbringen sollte, weil dies ihrer angemessenen Behandlung dienlich sei. Lernen ist etwas Anderes als behandelt zu werden.

    Das fünfgliedrige Schulsystem – man vergisst ja allzu leicht, dass fast fünf Prozent unserer Schüler zu Sonderschule gehen und wir mit der Gesamtschule einen pädagogischen Bastard eigener Art besitzen – dieses System von Festlegungen muss überwunden werden. Man muss ja immer sehen, dass dort in Deutschland, wo noch sehr viele Kinder zur Hauptschule gehen, wir tatsächlich mehr Integration haben als in Ländern, denen der Schub zum Gymnasium gelungen ist, mit dem Preis, die Zurückgelassenen zu stigmatisieren. Die Bildungslandschaft und die politischen Proklamationen stehen auf verschiedenen Blättern Papier!

    Wir werden unser System nicht wie die Schweden oder Finnen per Parlamentsbeschluss aufheben können, das hat in Deutschland wenig Chancen. Eine Möglichkeit, die Zerklüftung unseres Bildungssystems zu überwinden, wird in vielen Schritten bestehen, etwa auch darin, den einzelnen Schulen mehr Selbstständigkeit und Eigensinn zuzugestehen. Ich finde zum Beispiel die Club of Rome-Schulen interessant, in denen ein stärkeres zivilgesellschaftlicheres Engagement durchschlägt.

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     Reinhard Kahl

    Journalist sowie Autor, Regisseur und Produzent von Fernseh- und Videodokumentationen. Geboren 1948 in Göttingen. Studium der Erziehungswissenschaften, Philosophie, Soziologie und Psychologie in Frankfurt und Hamburg. Während des Studiums Mitarbeit bei verschiedenen Rundfunksendern. Seit 1975 Journalismus als Beruf. Mitarbeit unter anderem bei "Die Zeit", "Geo", "Welt", "Süddeutsche Zeitung" und "taz"; Kolumne "P.S." in der Zeitschrift "Pädagogik". Im Hamburger Literaturhaus Gastgeber des monatlich stattfindenden "Philosophischen Cafés" und im Stuttgarter Literaturhaus Gastgeber des "Stuttgarter Bildungsdiskurses". Zahlreiche Veröffentlichungen und Preise.

     Externe Links zum Thema

    Reinhard Kahl
    www.reinhardkahl.de

    "P.S."-Kolumne von Reinhard Kahl
    www.beltz.de

     Interne Links zum Thema

    Ganztagsschultour Rheinland-Pfalz
    Bulmahn in Rheinland-Pfalz

    "Treibhäuser der Zukunft"
    Begeisterung, die begeistert

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    WEITERE INFORMATIONEN:

    Reinhard Kahl, Journalist, sowie Autor, Regisseur und Produzent von Fernseh- und Videodokumentationen. Geboren 1948 in Göttingen. Studium der Erziehungswissenschaften, Philosophie, Soziologie und Psychologie in Frankfurt und Hamburg. Während des Studiums Mitarbeit bei verschiedenen Rundfunksendern. Seit 1975 Journalismus als Beruf. Mitarbeit unter anderem bei „Die Zeit“, „Geo“, „Welt“, „Süddeutsche Zeitung“ und „taz“. Kolumne "P.S." in der Zeitschrift „Pädagogik“. Im Hamburger Literaturhaus Gastgeber des monatlich stattfindenden „Philosophischen Cafés“ und im Stuttgarter Literaturhaus Gastgeber des „Stuttgarter Bildungsdiskurses“. Zahlreiche Veröffentlichungen und Preise.

     

    EXTERNE LINKS:

    Reinhard Kahl

    www.reinhardkahl.de

     

    „P.S.“- Kolumne von Reinhard Kahl in der Zeitschrift „Pädagogik“

    http://www.beltz.de/html/frm_paedagogikZ.htm

     

    INTERNE LINKS:

    Ganztagsschultour Rheinland-Pfalz

    Bulmahn in Rheinland-Pfalz

    http://www.ganztagsschulen.org/835.php

     

    Internationale Erfahrungen

    Von Europa lernen

    http://www.ganztagsschulen.org/624.php

     

    Reinhard Kahls Kurzfilm „Treibhäuser der Zukunft“

    Begeisterung, die begeistert

    http://www.ganztagsschulen.org/259.php

    Wir haben Schulen, die gelingen, Interview

    12. MÄRZ 2004

    "Wir haben Schulen, die gelingen"

    Reinhard Kahl ist einer der profiliertesten deutschen Bildungsjournalisten und Filmautoren. Derzeit arbeitet er an dem DVD-Projekt "Treibhäuser der Zukunft", das sich innerhalb der Bildungsreihe "Archiv der Zukunft" mit Ganztagsschulen beschäftigt. Im Gespräch nimmt er zur deutschen Bildungsmisere und den möglichen Auswegen Stellung.

    Online-Redaktion: Herr Kahl, Sie monieren, dass in Schulen viel Zeit vergeudet wird. Ist das ein Problem von Schule an sich oder ein spezifisches des deutschen Bildungssystems?

    Kahl: Ich glaube, dass es ein generelles Problem ist, das durch das deutsche Bildungssystem unglaublich verschärft wird. Global gesehen ist die Bildungstradition theologischer Herkunft: Das über allen schwebende Wissen wird von oben nach unten abgeseilt. Viele Länder haben sich davon gelöst, und vieles, was man heute Bildungsreform nennt, hängt damit zusammen: Man kommt vom Belehren zum Lernen. Diese Übergänge sind in Deutschland schwächer als anderswo. Wir sind ganz groß in Belehrung und Weltmeister im Entweder-oder und Richtig-oder-falsch-Denken. Die Tradition, dass eine Sache mehrere Lösungen haben kann und dass es Ambivalenzen gibt, ist demgegenüber nur schwach ausgeprägt

    Es ging ja ein großes Raunen durch die deutsche Lehrerschaft, weil bestimmte mathematische Aufgaben der PISA-Studie mehrere Lösungen zuließen. "Das geht doch nicht, die Aufgabe hat ja mehrere Lösungen", meinten viele – und die PISA-Leute entgegneten: "Eben!" Daran wird das Problem deutlich: Gibt es die eine richtige Lösung, repräsentiert durch das System und deren Geschäftsführer, die Lehrer, oder lassen sich eine Reihe von Möglichkeiten herausfinden, mit denen man selbst arbeiten kann? Tatsächlich werden bei einem explorativen Lernen die Erwachsenen für die Schüler viel wichtiger. Sie sind dann als Personen, nicht als Funktionäre gefragt. Aber letztlich kommt es auf die Fragen der Schüler an. Das wäre eine für uns noch nicht selbstverständliche Sichtweise. Meiner Meinung nach befinden wir uns mitten in dieser Transformation.

    Online-Redaktion: Bereitet denn eine solche Schule adäquat auf die Leistungs- und Ellbogen-Gesellschaft vor?

    Kahl: Erstens verzichten Systeme, in denen die gegenseitige Anerkennung und Menschlichkeit groß geschrieben werden, keineswegs auf Leistungsansprüche. Im Gegenteil. Dort wächst die Leistungsbereitschaft mit dem Wunsch, etwas Wirksames zu tun. Der zweite Aspekt: Ich glaube, dass es in der Wirtschaft immer weniger um Ellenbogen geht, sondern immer mehr um Kooperation. Und drittens sollte man die problematischen Strukturen der Wirtschaft als nicht so übermächtig ansehen, als dass man sich diesen zu fügen hätte.

    Online-Redaktion: Tickt denn auch die Wirtschaft im Ausland anders?

    Kahl: Auch hier sind wieder skandinavische, aber auch die angelsächsische Traditionen interessant. In diesen Ländern gehen Diskussionen über Wirtschaft und Bildung vom Konzept "Humankapital" aus. Das Humankapital zu stärken bedeutet, wenn ich die Fähigkeiten von Menschen stärke, dann werden sie schon was daraus machen. Hinter diesem Ansatz steckt Vertrauen. Demgegenüber haben wir in Deutschland eine tief gespaltene Tradition: Auf der einen Seite der über den Wolken schwebende, fast pathetische Bildungsdiskurs. Wenn es dann aber hart auf hart kommt, redet man auf einmal vom Bedarf – vom Bedarf an Akademikern oder an Facharbeitern. Dabei schleicht sich unvermeidlich das Misstrauen ein: Wer gehört dazu? Wer ist gut genug? Und wo verstecken sich die blinden Passagiere?

    Die Idee des Humankapitals dagegen fundiert im Vertrauen: Ihr seid schon ganz gut! Ihr könnt noch viel besser werden! Ihr werdet schon was aus dem Gelernten und vor allem aus Euch selbst machen und damit die Zukunft gestalten! Man könnte auch sagen, so entsteht Zukunft. Sie ist doch das, was wir noch nicht kennen. Der scheinbar so plausible Blick auf den Bedarf muss auf die Vergangenheit fixiert bleiben. Das ist eine ganz andere Logik. Es ist ein Ansatz, der die Menschen kräftigt, während das gebannte Starren auf die angeblich übermächtige Wirtschaft einen selber schwächt, egal ob man sich zum Gefolgsmann oder zum Opfer macht.

    Online-Redaktion: Was verbinden Sie in diesem Zusammenhang mit dem Begriff Elite? Erleben wir da gerade eine Gespensterdebatte?

    Kahl: Die Debatte hat schon etwas Gespenstisches. Aber wenn man unter Elite versteht, dass Menschen versuchen, in dem, was sie machen, besonders gut zu sein, und man sie darin fördert, so dass im Ergebnis einige besser sein werden als andere, ist dagegen nichts einzuwenden. Ich finde die Unterscheidung zwischen Wettbewerb und Vernichtungskonkurrenz nicht feinsinnig. Wieso denken wir so schnell an Vernichtung? Da haben wir wieder diese unselige Entweder-oder-Tradition: Entweder Elitenförderung oder Breitenförderung. Das ist doch kein Widerspruch!

    Ich versuche, in meiner Arbeit doch auch möglichst gut zu sein – wenn man das Elite nennt, von mir aus. Es gibt ja keinen Grund, den Wunsch nach dem Gelungenen zurückzustecken. Nein, man sollte Menschen und besonders Kinder darin fördern. Gerade bei Kindern ist es faszinierend mitanzusehen, welchen Hunger sie auf die Welt haben und wie dabei Vorfreude auf sich selbst aufkommt. Das ist Lernen: Dinge kennen zu lernen, Sachen zu können und gut zu machen. Und dabei man selbst zu sein. Darin muss man sie unbedingt unterstützen.

    Online-Redaktion: Beim Fördern kommen wir zur Ganztagsschule. Ein Argument, das stark für die Ganztagsschulen ins Feld geführt wird, ist die bessere individuelle Förderung, allein schon durch das Plus an Zeit. Wie sind Sie denn auf Ganztagsschulen aufmerksam geworden? Sind die schon lange auf Ihrem Radar?

    Kahl: Eigentlich noch nicht so lange. Ich hatte auch lange Zeit den Vorbehalt, den heute noch immer viele hegen, dass Ganztagsschulen dem verschulten Leben der Kinder Vorschub leisten. Dieser Einwand ist nicht falsch, solange es nur um die reine Verlängerung von Lernzeit geht, die dann womöglich auch noch auf Belehrungszeit eingeschränkt wird. Wenn es aber darum geht, aus der Schule zugleich einen Lebensort zu machen, was ja überhaupt nicht im Widerspruch zum Lernen steht, also einen Ort, den man kultiviert – angefangen von den Räumen, den Pflanzen und dem Licht bis hin zu der Auswahl der Lehrerinnen und Lehrer – dann ist es klar, dass eine solche Schule nicht um 13 Uhr aufhören kann.

    Eine gute Schule wird immer eine sein, wo die Lehrer mittags nicht schneller in ihrem Golf sitzen als die Schüler auf dem Fahrrad, sondern eine, wo alle sagen: Hier wollen wir sein, hier fangen wir etwas an, und hier machen wir etwas weiter. Das ist eigentlich das, was ich unter Ganztagsschule verstehen möchte. Ein Ort, der mit Bedeutung und Lebenskraft aufgeladen wird. Dazu gehört sehr viel. Da haben wir aber auch schon gute Anfänge.

    Online-Redaktion: Hoffen Sie, dass mit Ganztagsschulen ein neues System eine Chance bekommt, oder befürchten Sie, dass das Thema aus politischem Kalkül gebremst und zerredet wird?

    Kahl: Ich glaube, dass die Erneuerung eine enorme Chance hat. Wenn man sich kürzlich vor der Wahl in Hamburg, wo ich lebe, die Parteiprogramme angesehen hat, stand die Ganztagsschule bei allen Parteien im Zentrum des bildungspolitischen Teils. Wenn man sich darüber hinaus Äußerungen kluger Wirtschaftsleute ansieht, erwarten wirklich alle von ihr eine bessere Pädagogik und ein besseres Generationenverhältnis. Jeder weiß ja, welcher Stress durch die Enge in manchen Heimen entsteht. Die Ganztagsschule ist nach 30 Jahren Bildungskrieg auch so etwas wie das Projekt eines westfälischen Friedens – ein Projekt, über das sich die Zerstrittenen einigen könnten.

    Das ist die eine Seite. Trotzdem – und das ist ja wirklich ein deutscher Sonderfall – ist Bildungspolitik immer noch das herausgehobene Profilierungsmetier einiger Politiker, traditionell ein Hackbrett der Politik, nicht wie in vielen anderen Ländern ein Gemeinschaftsfeld, auf dem der Konsens heilig ist. Bis zum Frieden wird es noch ein bisschen dauern. Immer wieder wird der Kulturkampf um die richtige "Bildung" überhand nehmen und manches zerstören. Dennoch glaube ich, dass die Chance nicht schlecht ist, diese etwas vergiftete Tradition zu überwinden. Die Ganztagsschule könnte dazu einen Beitrag leisten.

    Online-Redaktion: Wie ist denn ihr Film "Treibhäuser der Zukunft" zu Stande gekommen?

    Kahl: Zunächst mal bin ich aus dem Bundesbildungsministerium gefragt worden, ob ich einen Film über Ganztagsschulen drehen würde. Dazu war ich gerne bereit, habe aber klargestellt, dass ich keinen "Propagandafilm" machen würde. Ich will einen Film drehen, in dem ich zeige, wie Raum und Zeit umstrukturiert werden. Das hört sich jetzt sich mächtig abstrakt an, aber ich will zeigen, wie Zeit nicht nur anders rhythmisiert wird, sondern vor allem wie aus der spätmilitärischen und industriellen Gleichschrittszeit unserer Schule unterschiedliche Individualzeiten werden können. Und dann wird es erst richtig spannend zu sehen, wie sich Eigenzeiten zu gemeinsamen Zeiten und zu Kooperationen assoziieren. Das ist etwas Anderes als die Stundenplanwelt. Man muss die Grammatik von Zeit gewissermaßen im Feinstofflichen des Alltags begreifen – und darstellen.

    Zweites geht es um den Raum. Viele Menschen haben Schulen als grauen, muffigen, wenn nicht gar feindlichen Lebensbereich in Erinnerung. Wie kann er freundlich, einladend und lebenswert werden?. Am Raum erkennt man, mit welchen Traditionen Schulen aufgeladen sind. Denn die Schule ist ja nicht nur was die Curricula betrifft ein Ort des kollektiven Gedächtnisses. Diese beiden Koordinaten Raum und Zeit schneiden sich an einer Stelle, die ganz viel mit unserer Ganztagsschulhoffnung und -problematik zu tun hat, aber wenig mit einer Schule, der zum "Ganztagsbetrieb" nur Betreuung einfällt. Natürlich geht es auch um Betreuung, klar – es geht erst mal um Betreuung, so wie vor dem Leben erst mal das Überleben kommt. Aber Überleben ist zu wenig.

    Online-Redaktion: Ist dies ein besonderes Projekt für Sie?

    Kahl: Das Projekt reizt mich ganz besonders, und ich bin wirklich dankbar dafür, es realisieren zu können. Ich habe in meinem Leben schon oft genug Kritik geübt. Das bleibt auch nötig. Aber es ist viel erfreulicher und – wenn man genau hinsieht – auch viel spannender zu zeigen, wie Dinge gelingen. Wir haben in Deutschland ja eine Reihe von Schulen, die gelingen. Eine Zeit lang ist auch mein Blick sehr stark auf Skandinavien und Kanada gerichtet gewesen. Ich war dort, habe mir die Schulen angesehen, Filme gemacht und auch darüber geschrieben. Dann habe ich auch gemerkt, wie wir erlösungsbedürftigen Deutschen das schon wieder als Ausrede nehmen: "Jaja, die Finnen, wunderbar – aber wir sind ja nun leider keine Finnen, also können wir nichts machen!" Das stimmt eben nicht.

    Es gibt Dinge auch in Deutschland, die wirklich gut gelingen. Wir können und müssen uns von anderen Ländern irritieren und anregen lassen, aber letztlich an eigene Traditionen anknüpfen. Zum Beispiel die Jenaplanschule in Jena. Sie wird eine Rolle in dem Film spielen. Oder die staatliche Montessori-Gesamtschule in Potsdam. Vor allem die Bodensee-Schule in Friedrichshafen. Oder auch eine kleine Hauptschule in Herten, von der man gar nicht erwarten würde, was dort gelingt. Das Wort Mutmachen ist ein wenig verbraucht, aber ich wünsche mir, Erreger einer ansteckenden Gesundheit zu verbreiten.

    Online-Redaktion: Ihr Film wird eingebettet in ein größeres DVD-Projekt?

    Kahl: Die DVD hat gegenüber dem Film den Vorteil, dass manches, was man aus dramaturgischen oder Zeitgründen im Film nicht bringen kann, dort enthalten ist. Wenn man zum Beispiel ein Interview geführt hat, vielleicht eine Stunde oder länger, ein Gespräch, das wirklich sehr interessant war, bin ich im Film doch gezwungen, daraus höchstens drei Ausschnitte von allerhöchstens jeweils einer Minute Länge einzubauen. Ein Film muss laufen.

    Die DVD kann jeder anders benutzen. Es besteht die Möglichkeit, sich das gesamte Interview mit Hartmut von Hentig anzusehen oder erst mal das mit Elsbeth Stern oder vielleicht das mit Andreas Schleicher gleich morgen im Kollegium zu zeigen oder es mit Studenten zu analysieren. Es wird auf der DVD Exkurse mit genauen Beobachtungen aus Schulen geben oder kleine Portraits. Ich nenne das dann "Galerie pädagogischer Erfindungen" oder "Galerie gelungener Schulen". Das ist ausweitbar, und mein Problem ist derzeit, mich angesichts dieser Möglichkeiten zu disziplinieren, damit es nachher nicht zu viel wird. Aber jeder wird auf der DVD einiges finden, was ihn interessiert und hoffentlich auch überrascht.

    Online-Redaktion: Wie sind Sie auf die Schulen gestoßen, die in Ihrem Film "Treibhäuser der Zukunft" vorkommen?

    Kahl: Das ist immer so das Wunder der Recherche. Man spricht mit Leuten und wird auf Unbekanntes aufmerksam gemacht. Bestimmte Schauplätze hatte man auch schon lange im Hinterkopf, und plötzlich ergibt sich die Situation, zu bestimmten Schulen zu fahren, deren Repräsentanten man bereits an verschiedenen Orten getroffen hat. Es ist wie ein Rubbellos, wo mit verstärktem Reiben immer mehr zum Vorschein kommt. Manchmal scheint es so, als seien Schutzengel im Spiel, die mich an die richtige Stelle führen.

    Online-Redaktion: Was würden Sie unserem Bildungssystem neben der Ganztagsschule noch gerne verabreichen?

    Kahl: Wir müssen erkennen, dass Heterogenität in einer Gruppe die Intelligenz und Leistungsfähigkeit von Menschen steigert. Es ist nicht so, wie es bislang der deutsche Mythos vorschreibt, dass man möglichst Ähnliche zusammenbringen sollte, weil dies ihrer angemessenen Behandlung dienlich sei. Lernen ist etwas Anderes als behandelt zu werden.

    Das fünfgliedrige Schulsystem – man vergisst ja allzu leicht, dass fast fünf Prozent unserer Schüler zu Sonderschule gehen und wir mit der Gesamtschule einen pädagogischen Bastard eigener Art besitzen – dieses System von Festlegungen muss überwunden werden. Man muss ja immer sehen, dass dort in Deutschland, wo noch sehr viele Kinder zur Hauptschule gehen, wir tatsächlich mehr Integration haben als in Ländern, denen der Schub zum Gymnasium gelungen ist, mit dem Preis, die Zurückgelassenen zu stigmatisieren. Die Bildungslandschaft und die politischen Proklamationen stehen auf verschiedenen Blättern Papier!

    Wir werden unser System nicht wie die Schweden oder Finnen per Parlamentsbeschluss aufheben können, das hat in Deutschland wenig Chancen. Eine Möglichkeit, die Zerklüftung unseres Bildungssystems zu überwinden, wird in vielen Schritten bestehen, etwa auch darin, den einzelnen Schulen mehr Selbstständigkeit und Eigensinn zuzugestehen. Ich finde zum Beispiel die Club of Rome-Schulen interessant, in denen ein stärkeres zivilgesellschaftlicheres Engagement durchschlägt.

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    Journalist sowie Autor, Regisseur und Produzent von Fernseh- und Videodokumentationen. Geboren 1948 in Göttingen. Studium der Erziehungswissenschaften, Philosophie, Soziologie und Psychologie in Frankfurt und Hamburg. Während des Studiums Mitarbeit bei verschiedenen Rundfunksendern. Seit 1975 Journalismus als Beruf. Mitarbeit unter anderem bei "Die Zeit", "Geo", "Welt", "Süddeutsche Zeitung" und "taz"; Kolumne "P.S." in der Zeitschrift "Pädagogik". Im Hamburger Literaturhaus Gastgeber des monatlich stattfindenden "Philosophischen Cafés" und im Stuttgarter Literaturhaus Gastgeber des "Stuttgarter Bildungsdiskurses". Zahlreiche Veröffentlichungen und Preise.


    LINKS

    Reinhard Kahl
    www.reinhardkahl.de

    "P.S."-Kolumne von Reinhard Kahl
    www.beltz.de

    Ganztagsschultour Rheinland-Pfalz
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    "Treibhäuser der Zukunft"
    Begeisterung, die begeistert


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    Pisa für alle

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    Nun ist es schon zwei Jahre her, dass uns am 4. Dezember 2001 die Ergebnisse

    der PISA-Studie deutlich machten: So kann es im Bildungswesen nicht

    weitergehen. Und tatsächlich: Deutschland hat sich seitdem verändert.

    Zunächst bloß in der Stimmung. Aber der saure Zustand ist eine unvermeidbare

    Phase im Gärungsprozess. PISA ist inzwischen das Wort für eine alte,

    einst erfolgreiche Welt, in der wir verharren. Die Schulen liefern dafür Anschauung:

    zu viel Belehrung, Missmut, Angestrengtheit und vor allem zu

    viele Vorschriften. Zu wenig Freude an Leistung, an den anderen, an der Freiheit

    und vor allem an sich selbst. Die Vorfreude von Menschen auf sich selbst

    ist die Seele des Lernens, im Großen wie im Kleinen, im Lernen von Kollektiven

    und Institutionen wie in dem von Individuen.

    PISA ist mehr als irgendein Schultest. Das hatte der Volksmund gleich verstanden.

    Leserbriefe etwa verlangten PISA für Manager, PISA für Politiker,

    PISA für das ganze Land. Experten zogen nach und erwägen nun „PISA für die

    Hochschulen." Eine internationale Lehreruntersuchung wird vorbereitet und

    „PISA für Lehrer" genannt. Die vier Buchstaben, Abkürzung für Programme for

    International Student Assessment, sind längst eine Metapher für die anstehende

    Inventur des Humanvermögens. Und nun steht tatsächlich PISA für alle

    ins Haus. Weltweit sollen die Kompetenzen der Erwachsenen untersucht

    werden. In 52 Punkten wird das noch namenlose OECD-Projekt auf 12 Seiten

    skizziert. Am 29. Oktober wurde es in Paris den Vertretern der OECD-Länder

    erstmals unterbreitet.

    In der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sind

    die 30 stärksten Industriestaaten zusammengeschlossen. Der Think Tank der

    reichen Länder rückt das Humankapital ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit.

    Schon PISA, der größte Schultest aller Zeiten, ist ja ein Kind der OECD. Sein Er-

    PISA für alle

    Die OECD setzt auf das Humankapital und Deutschland beginnt umzudenken

    Reinhard Kahl

    finder ist der Deutsche Andreas Schleicher. Er leitet in der Pariser Zentrale die

    „Abteilung für Analysen und Bildungsindikatoren," in der auch der neue Plan

    ausgeheckt wird. Die meisten ökonomischen und wirtschaftspolitischen Steuerungsmittel,

    so Schleicher, seien bekannt. Instrumente, die Konjunktur zu beeinflussen

    , beherrsche man annähernd so verlässlich wie Techniken um Erdöl

    und andere Bodenschätze aufzuspüren. „Die Ressourcen mit denen die Zukunft

    entschieden wird," da ist er sich sicher, „sind Wissen, Kultur und soziales

    Kapital und darüber wissen wir noch wenig." Beginnt ein Zeitalter der lange

    belächelten soft skills? Wird es auf die Art ankommen, wie Menschen mit Wissen

    umgehen und zusammen arbeiten? Andreas Schleicher antwortet mit einem

    knappen„Genau" und fügt hinzu, dass die meisten Industrieländer schon

    längst damit begonnen hätten. Nur was Deutschland betrifft, ist er sich da nicht

    so sicher. Die Studie könnte Klarheit bringen.

    Drei Altersgruppen sollen untersucht werden. Bei den 20- bis 35jährigen kann

    das neue Projekt an PISA-Ergebnisse anknüpfen. Seit dem Jahr 2000 werden

    die Kompetenzen des 15jährigen getestet. Bis zum Jahr 2009 sind diese Erhebungen

    im Dreijahresabstand geplant. Das Herz des Chefs der Abteilung für

    Bildungsindikatoren schlägt höher bei der Aussicht, die PISA-Jahrgänge beim

    Übertritt von Schule und Hochschule in der Beruf weiter verfolgen zu können.

    Zahlt sich Schulwissen aus? Prognostizieren Noten Erfolg und Misserfolg im

    Beruf? Wo und wie wurde sonst noch gelernt? Die zweite Kohorte sind die 35-

    bis 50jährigen. Über welche Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügen Menschen

    mitten im Beruf? Welche Kompetenzen haben sich bei ihnen als wirksam erwiesen?

    An welches Wissen knüpfen sie an? Vor allem, wie produzieren sie

    selbst neues Wissen? Die dritte Gruppe schließlich sind die über 50jährigen. Sie

    fahren die Ernte ihrer Arbeits- und Lernbiografien ein. Die nächste Generation

    könnte von ihrem Metawissen über Lernen profitieren.

    Schon dieser Ansatz macht deutlich, dass die Studie in zwei Richtungen verlaufen

    soll. Das Humankapital soll getestet und die Länder werden wohl auch

    in Rangfolgen gebracht werden. Anderseits soll erforscht werden, wie erfolgreiche

    Strategien lebenslangen Lernens aussehen. Dem verborgenen Wissen

    der Menschen soll Ausdruck verschafft werden. Gelernt wird ja nicht nur in

    3

    Wissenswelten - Bildung - Reinhard Kahl

    Kahl mit Leitg. 02.02.2004 11:49 Uhr Seite 3

    4

    Schulen und Hochschulen. „Lernen in Kontexten" ist ein Schlagwort für das

    Projekt.

    Die Studie ist kühn als ein Lernmittel für die globale Wissensgesellschaft entworfen.

    Wissensgesellschaft? Ist das nicht eine Worthülse? „Nein" antwortet

    Schleicher. „Klassisch zog man aus Wissen den meisten Nutzen, wenn man es

    für sich behielt," erläutert er. „In Zukunft wird jeder einzelne und die Gesellschaft

    den größten Nutzen daraus ziehen, wenn sie Wissen gemeinsam nutzen."

    Das sei der große Paradigmenwechsel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft.

    Die Kompetenzen für diesen Übergang sollen untersucht werden. Dabei wird

    zunächst an den Fragestellungen und Methoden der PISA-Studie für die Fünfzehnjährigen

    angeknüpft: Literacy und selbständiges Problemlösen.Für Schleicher

    ist Literacy mehr als nur Lesen und Inhalte wieder geben. Es sei „der

    Schlüssel zur Welt." Die Fähigkeit sich Informationen zu beschaffen und zu verstehen,

    sei allerdings nur das Minimum. Bisher reichte es für die meisten Konsumenten

    und Anwender von Informationen. Nur wenige mussten schöpferisch

    sein. Künftig hingegen müssten viele Menschen vorhandenes Wissen in neues

    verwandeln.

    Daraus ergibt sich die Fähigkeit selbständig Probleme zu lösen, das ist eine der

    zu untersuchenden Basiskompetenzen. Schleicher erinnert daran, dass PISA

    und andere Studien hier ein enormes deutsches Handicap entblößen. Beim Lösen

    von Routineaufgaben sind die deutschen Eleven noch ganz passabel. Sie

    versagen, sobald sie ihr Wissen nicht wie bei einer Klassenarbeit in bekannte

    Schemata einsetzen, sondern auf unbekannte Situationen anwenden sollen.

    Den Fokus legt die Studie auf die Frage: Was brauchen Menschen, deren Arbeit

    sich immer weniger in Routinen abspielen wird? Können sie auf die Hilfe anderer

    vertrauen oder müssen sie fürchten beim ersten Einbruch vorgeführt zu

    werden? Solche Fragen führen in ein Feld, mit der die OECD-Studie selbst Neuland

    betritt. Schleicher spricht von interpersonellen und intrapersonalen Kompetenzen.

    „Es geht nicht mehr nur darum, wie der Einzelne sein Wissen absorbiert

    und abschottet," insistiert er. Gewiss, wer lernt, werde sich sein Wissen

    letztlich individuell aneignen. Das sei aber nur die eine Seite, der auf der ande-

    Kahl mit Leitg. 02.02.2004 11:49 Uhr Seite 4

    ren Seite Kooperation gegenüber stehe. Zusammenarbeit und Kommu-nikation

    wurden lange vernachlässigt. Das Ergebnis seien Einzelkämpfer. Sie waren

    eine erfolgreiche Anpassung an die Industriegesellschaft. Doch an

    Fließbändern, im Bergbau und bei mancher Bürorarbeit habe diese Haltung ihr

    Optimum längst hinter sich. Der Wissensmonopolist sei der Erfolgstyp einer

    verschwindenden Zeit. Die OECD setzt auf Austausch und Zusammenarbeit.

    Das seien die Trümpfe einer „Netzwerkgesellschaft", wie sie etwa der spanische

    Soziologe Manuel Castells beschreibt. Auch eine empirische Studie

    kommt nicht ohne Theorie aus. Aber die neue Studie soll so angelegt sein, dass

    ihre Ergebnisse ihre eigenen Grundannahmen widerlegen können.

    Hinter den Kompetenzen stehen Leitbilder. Schleicher formuliert das wichtigste,

    auf seine deutsche Heimat blickend, in der Verneinung: „Wer es schafft,

    dass am Ende der Schulzeit niemand mehr gern lernt, hat versagt." Kern der

    intrapersonalen Kompetenz ist der Antrieb weiter lernen zu wollen. Er betont

    das Wort „wollen". Es gehe weniger um die Bereitschaft sich anzupassen. Die

    passive Seite will er nicht völlig ausschließen, er setzt aber auf die Vita activa,

    die Fähigkeit zur Selbstorganisation, die Bereitschaft zu gestalten und neues

    Wissen hervor zu bringen.

    Wenn Literacy und Problemlösen Schlüssel zur Welt sind, dann geht es bei den

    interpersonellen und intrapersonalen Kompetenzen um Hunger und Lust auf

    die Welt. Sind das nicht reichlich poetische Bilder für eine OECD-Studie? Schleicher

    lässt sich nicht irritieren. Er besteht auf Bildung als Steigerung von Selbstständigkeit,

    ja als Emanzipation. Er verweist auf Japan. Dort wird die Erneuerung

    von Bildung als „Würze fürs Leben" diskutiert. Die Finnen setzen auf

    Vertrauen und Selbstständigkeit. Diese Maximen gelten gleichermaßen für

    Schulen, wie für Schüler. In Deutschland hingegen klängen Appelle zu mehr

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    Wissenswelten - Bildung - Reinhard Kahl

    Die neue Studie will nicht in erster Linie Defizite herausfinden.

    Vor allem von den Stärken der anderen sollen die teilnehmenden

    Länder lernen. Erfolgsmodelle sollen beschrieben werden

    Kahl mit Leitg. 02.02.2004 11:49 Uhr Seite 5

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    Anstrengung in der Bildung immer noch nach der Erhöhung von Lasten im

    Jammertal.

    Aber die neue Studie will nicht in erster Linie Defizite herausfinden. Vor allem

    von den Stärken der anderen sollen die teilnehmenden Länder lernen. Erfolgsmodelle

    sollen beschrieben werden. Die Philosophie der Studie ist durch

    und durch auf Koevolution eingestellt, nicht auf Verdrängungskonkurrenz. Kein

    PISA in der Art, wie die Studie in Deutschland häufig aufgefasst wird: prüfen,

    abkanzeln und beschämen, ganz im Stil der alten Schule. „Viel interessanter als

    die lange Mängelliste in Deutschland war doch bei PISA der Erflog Finnlands,"

    sagt Andreas Schleicher.

    Aber lassen sich denn diese Kompetenzen und Metakompetenzen auf messbare

    Skalen bringen und zu einem internationalen Test operationalisieren?

    Schleicher scheut sich nicht einzugestehen, dass er diese Frage noch nicht

    schlüssig beantworten kann. Bis Ende 2004 soll das Expertennetzwerk, das die

    OECD seit den ersten Plänen für PISA aufgebaut hat, über die neue Studie diskutieren.

    Er ist sich sicher, dass sein Konzept dabei modifiziert wird. Das sei

    ganz normal im Lernprozess. Ja, die Studie reizt ihn als Selbstversuch dessen,

    was ihm vorschwebt.

    Auch bei PISA, dem Test der Fünfzehnjährigen, gab es anfangs mehr Fragen

    als Antworten. Am unversöhnlichen Expertenstreit drohte alles zu scheitern.

    Schleicher erinnert sich an die erste Vorbereitungskonferenz 1996 in Australien.

    Die Amerikaner kamen gut vorbereitet mit Kriterienlisten für Lesekompetenz.

    Dazu gehörte auch, dass Jugendliche Handbücher für Kopiergeräte verstehen.

    Dafür ernteten sie bei den Franzosen Hohn. Das sei Trivialwissen. Es

    ginge doch um Literatur. Am zweiten Tag dachte Schleicher, „vergiss es, die

    einigen sich nie." Am dritten Tag kamen Gemeinsamkeiten auf. Am fünften und

    letzten Tag der Gründungskonferenz entschloss man sich weiter zu machen.

    Vier Jahre später lief der Test in 32 Ländern. Schleicher will an den guten PISA-

    Erfahrungen anknüpfen. Zum Beispiel an diese: „Wenn sich im nationalen

    Rahmen ein Physiker und ein Biologe über die Anforderungen ihres Fach unterhalten,

    werden sie sich nie einigen." Überraschendes passiert wenn Menschen

    aus der Arbeitswelt, Mathematiker und Sozialarbeiter möglichst aus ver-

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    Wissenswelten - Bildung - Reinhard Kahl

    schiedenen Ländern miteinander reden. „Dann bringt es keinem mehr was,

    nur in seinen eigenen Kategorien zu denken." So entsteht Neues.

    So wenig Schleicher auf PISA kommen lassen will, von ähnlichen Studien über

    Studenten, Berufs- und Oberstufenschüler, nach denen aus den Reihen der

    OECD-Länder verlangt wird, hält er wenig. Vielmehr müsse die „Evaluation

    eine externe Perspektive auf die Bildung schaffen." Wie lernen Menschen und

    was kommt für sie dabei heraus? Was macht sie handlungsfähig? Woher beziehen

    sie dafür ihr Wissen? Und wie bringen sie selbst welches hervor? Lehrplanerfüllung

    zu kontrollieren sei uninteressant. Spannende Thesen. Aufregende

    Fragen. Wann dürfen wir denn mit ersten empirisch gesicherten

    Antworten rechnen? „Kaum vor 2010," prognostiziert Schleicher, der die Sache

    so schnell wie möglich vorantreiben will, aber nicht schneller. Tröstend fügt er

    hinzu, die Ergebnisse seien nur die eine Hälfte des erhofften Ertrags. „Die andere

    Hälfte," nun stockt er und murmelt, „das darf ich eigentlich als OECDMann

    gar nicht laut sagen", und dann sagt er es doch: „Die andere Hälfte ist der

    Prozess selbst." Die Vorbereitung der Studie und die öffentliche Debatte darüber

    soll eine Bühne „für den Lernprozess der Wissensgesellschaft sein."

    Die OECD liefert dafür laufend Stoff. Am 16. September 2003 wurde „Bildung

    auf einen Blick", die jährliche Gesamtauswertung vieler Statistiken und Studien

    zum Humankapital vorgestellt. Dabei zeigt sich: Die Deutschen geben im i

    internationalen Vergleich zu wenig für Bildung aus. Wir sparen vor allem an den

    Jüngsten. Pro Kopf sind die Ausgaben für Grundschüler weit unter dem internationalen

    Schnitt. Bei den Schülern in der Oberstufe liegen sie weit darüber.

    Deutschland missachtet den Anfang und die Anfänger. Man setzt eher auf die

    Perfektionierung derer, die schon gut da stehen. Aber, das ist die Konsequenz

    aus der Geringschätzung des Anfangs und der zu geringen Talentförderung in

    der Breite: Auch in der Spitze sind wir in der Bildungsbilanz schwach.

    Wo sind wir stark? In der Berufsausbildung. Das Dumme nur ist, dass die Lehre

    im Handwerk und die Ausbildung zum Facharbeiter in der Industrie, so wertvoll

    sie sind, alles in allem zur traditionellen Industriegesellschaft gehören. Da

    war Bildung made in Germany weltmeisterlich. Heute fällt das Land zurück.

    Dabei zeigen die Zahlen, Deutschland ist nicht schlechter geworden, nur die

    Kahl mit Leitg. 02.02.2004 11:49 Uhr Seite 7

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    Dynamik, mit der das Bildungssystem aus- und umgebaut wird, ist wesentlich

    geringer ausgeprägt als in anderen Ländern. So belegte Deutschland im Bereich

    der Sekundarstufe II, also der gymnasialen Oberstufe und der Berufsausbildung,

    vor einer Generation international Platz vier. Inzwischen ist in unserem

    Land, vergleicht man es mit sich selbst, die Bildungsbeteiligung

    gestiegen, aber geringer als anderswo, so dass Deutschland auf Platz 13, ins

    obere Mittelfeld zurück gefallen ist. Bei den Hochschulen ist dieser Trend noch

    stärker. Dort belegte Deutschland vor einer Generation Platz 12 und ist inzwischen

    auf Platz 24 gefallen.

    Erstmals können die OECD-Analysen enge Zusammenhänge von Produktivitätszuwachs

    und Wirtschaftswachstum mit der Bildung nachweisen. Andreas

    Schleicher meint: „Eine Erklärung, warum der Produktivitätszuwachs in

    Deutschland so gering ausfällt ist, dass es im Bildungsbereich über 20 Jahre

    hinweg praktisch Stillstand gegeben hat." Aber nicht nur die Investitionen von

    Geld stagnieren. Stärker ins Gewicht fällt der mentale Stillstand. Das macht

    eine Studie von Gero Lehnhard vom Max Planck Institut für Bildungsforschung

    deutlich. Er hat untersucht, in welchen Denkmustern – jenseits aller Bildungsrhetorik

    - in verschiedenen Kulturen über Bildung und Wirtschaft nachgedacht

    wird.

    In Skandinavien und in den angelsächsischen Ländern spricht man vom Humankapital.

    In der deutschen Tradition hingegen geht es um den Qualifikationsbedarf.

    Der Unterschied ist folgenreich. Mit Humankapital, auch wenn es

    so wirtschaftlich klingt, wird auf den subjektiven Faktor und auf eine offene Zukunft

    gesetzt. Auch auf Vertrauen. Man weiß nicht, was kommt. Es ist, als sagte

    die Gesellschaft der nächsten Generation: Je besser ihr gerüstet seid, desto

    mehr werdet ihr für euch und uns draus machen. In der deutschen Tradition,

    Pro Kopf sind die Ausgaben für Grundschüler weit unter dem

    internationalen Schnitt. Bei den Schülern in der Oberstufe

    liegen sie weit darüber. Deutschland missachtet den Anfang

    und die Anfänger.

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    Wissenswelten - Bildung - Reinhard Kahl

    die im Bild des Qualifikationsbedarfs denkt, glaubt man viel über die Zukunft zu

    wissen, verengt damit den Horizont und sagt vielen, für eine bessere Ausbildung

    gäbe es keinen Bedarf. Waren in unserem Land in den 70er und 80er Jahren

    nicht die meisten davon überzeugt, wir hätten zu viele Studenten? Man sah sie

    als Taxifahrer und fürchtete ein akademisches Proletariat. Dieses Bilder waren

    stärker als alle Arbeitsmarkstatistiken, die beweisen, dass die Arbeitslosigkeit

    mit steigender Qualifikation fällt.

    Anders gesagt: Das Denken im Muster von Humankapital führt zu Studierendenquoten

    von 70 Prozent wie in Finnland, Schweden und Australien. Das Denken

    in den Muster von Bedarf führt zu einem System, wie in Deutschland, das

    nur bei der hohen Dropout-Quote führt, das vielen Schülern und Studenten

    immer wieder zuflüstert, so richtig geeignet seid ihr nicht.

    Aber zwei Jahre nach PISA und ein Jahr vor der Veröffentlichung der im Mai

    2003 erhobenen neuen Daten der Fünfzehnjährigen, verändert sich in Deutschland

    der Blick auf Bildung.

    Zwei Beispiele:

    25. Oktober 2003, Samstag Abend 20.15 ARD, „PISA, der Ländertest." Die Sendung

    wird Quotensieger. Wer hätte das gedacht. 7,9 Millionen Zuschauer sehen

    Ende Oktober die Premiere der neuen Unterhaltungsshow. Dabei graust es die

    Manager der Emotionen in den Sendern gewöhnlich vor nichts mehr als vor Bildungsthemen.

    Was nach Belehrung riecht, sagen sie, verdirbt uns die Quoten.

    Die meisten Deutschen schalten beim Thema Schule ab. Ihnen stellt sich, sobald

    sie an die Schule denken, ein schlechter Nachgeschmack ein. Kein Nachsitzen,

    verlangt der deutsche Michel. Aber da ändert sich heute was. Die 164

    Minuten dieser Sendung konnte man wie eine Gewebeprobe dieses Wandels

    beobachten.

    „Wie dumm ist Deutschland wirklich?" hieß es noch in der Ankündigung. „In

    welchem Bundesland leben die klügsten Deutschen," droht gleich zu Anfang die

    Stimme aus dem Off. Da zucken die Kandidaten und johlen erst mal TV-gerecht.

    Klingt alles noch nach Paukschule, Sitzenbleiben und Noten von Anfang an.

    Aber wir schalten nicht ab. Tatsächlich gelingt es den Deutschen an diesem

    Abend nach und nach mit PISA zu spielen. Die Fragen haben was von der neu-

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    en PISAintelligenz. „PISA heißt um die Ecke denken, nicht bloß rechnen," sagt

    Jörg Pilawa, der artige und immer gut gelaunte Moderator. Also denken: Sinkt

    oder steigt der Wasserstand, wenn ein Goldbarren, der auf einer Luftmatratze

    liegt, ins Wasser fällt? Da muss man was über den Unterschied von Volumen

    und Dichte wissen und eben ein bisschen denken. Manfred Prenzel, der neue

    deutsche PISA-Koordinator kommt zwar kaum zu Wort, aber dennoch beglaubigt

    er, dass Lernen ein freudiges Ereignis von Entdeckungen sein kann und

    nicht das Abtreiben des Eigenen. Im Laufe der Sendung lässt der Moderator sogar

    seine Lehrerspielchen „Alexandra pass auf!" und das Kokettieren „Ich war

    in Mathe grottenschlecht." Manche Fragen waren so gut, dass das Knobeln und

    Denken richtig spannend wurde.

    Drei Tage später, am 28. Oktober, Schwäbisch Gmünd. Ein Vortag über Lernen

    füllt die Stadthalle ist bis zum letzten Platz. Der beherzte Leiter des staatlichen

    Schulamtes, Wolfgang Schiele, hatte vor einem Jahr einen Vortrag des Hirnforschers

    und Psychiaters Manfred Spitzer gehört und sagte sich, „den lad ich

    ein". Dass er dafür die Stadthalle mietet, finden viele übertrieben. Schiele macht

    Werbung für den Abend und erhält 7000, in Worten, siebentausend Anmeldungen.

    Als Spitzer im Herbst zum vierten Mal nach Schwäbisch Gmünd kommt,

    werden immer noch 3000 Karten bestellt. Aber die Halle hat nur 1200 Plätze.

    Ein Phänomen! Es gibt einen Heißhunger auf die Botschaft der Hirnforschung,

    dass Lernen in Entspannung und mit Vertrauen am besten gelingt. Ihr glaubt

    man, wogegen sich das kollektive Imaginäre der Deutschen noch sträubt. Immer

    noch glauben viele, ein Maß für den Erfolg des Lernen sei, wie sehr es den

    Lernenden gegen den Strich gehe. Als wäre es eine bittere Medizin. Spitzer widerspricht

    diesen Vorurteilen und verkündet ein neues pädagogisches Testament:

    „Das Gehirn kann nichts anderes als lernen", sagt Spitzer „und das macht

    ihm die allergrößte Freude – außer man zwingt es." Sein Bestes gibt es in einer

    wohlwollenden Atmosphäre. Am produktivsten wird es in einer anregungsreichen

    Welt. Das Gehirn ist das Organ der Selbstorganisation, ja „ein demokratisches

    Organ", in dem verschiedene Stimmen ins Gespräch kommen und sich

    abstimmen. Natürlich kann man sagen, alles nichts Neues. Aber für die 7000

    Menschen in Schwäbisch Gmünd ist es eine neue, sogar aufrüttelnde und

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    Wissenswelten - Bildung - Reinhard Kahl

    durchaus frohe Botschaft. Da mäandert was in den Köpfen. Vor allem: nach

    dem 30jährigen Bildungskrieg öffnet sich ein nicht vermintes Diskursfeld. Was

    als Kuschelpädagogik diffamiert wurde und Kettenreaktionen deutscher Bildungskriegs-

    Reflexe herausfordert, kann im Zeichen der Hirnforschung ganz

    entspannt diskutiert werden. Endlich ein Gemeinschaftsfeld deutscher Bildungspolitik!

    Annette Schavan, Kultusministerin in Baden-Württemberg spendiert

    2,3 Millionen in das von Manfred Spitzer just gegründete „Transferzentrum

    für Neurowissenschaft und Lernen" an der Uni Ulm.

    Einen Tag später schließlich, am 29. Oktober, erhält in Paris der Vorschlag von

    Andreas Schleicher in einer Studie die Kompetenzen der Erwachsenen weltweit

    zu untersuchen große Zustimmung von den Vertretern der 30 OECD-Länder.

    Der Plan ein Werk- und Lernzeug für die Globalisierung in der Bildung zu

    entwerfen wird mit Begeisterung aufgenommen. Einzig aus Deutschland wurden

    Vorbehalte laut. „Völlig abwegig," sagt Bayerns Kultusministerin Monika

    Hohlmeier, „ein solches Projekt kostet viel Geld und führt zu keinem Ergebnis."

    Edelgard Bulmahn, die Bundesministerin für Bildung und Forschung kontert:

    Notfalls wird sich der Bund auch allein, ohne die Länder beteiligen. Da haben

    wir ihn schon wieder, den deutschen Bildungskrieg. Dass darin alle mit Informationen

    gut gerüstet sind, kann man nicht sagen. Der Generalsekretär der

    Kultusministerkonferenz (KMK), Erich Thies, findet es „aberwitzig, ein Volk auf

    seine Intelligenz zu testen". Aber nun wissen wir, um einen Intelligenztest geht

    es nicht. Es geht um die Erkenntnis, dass künftig die weichen Kompetenzen wie

    Problemlösen, Zusammenarbeit und Lernlust die allerhärtesten sein werden.

    Reinhard Kahl, geb. 1948 in Göttingen, Studium der Erziehungswissenschaften,

    Philosophie, Soziologie und Psychologie in

    Frankfurt und Hamburg. Seit 1975 Journalismus als Beruf,

    zunächst frei, zwischenzeitlich als Realisator und Moderator im

    NDR-Fernsehen, dann wieder frei. Zahlreiche Auszeichnungen,

    u. a. 1987 (mit anderen) den Grimme-Preis für die NDR-Serie

    „Kindsein ist kein Kinderspiel".

    Kontakt

    Eppendorfer Landstraße 46, 20249 Hamburg

    Kahl mit Leitg. 02.02.2004 11:49 Uhr Seite 11

    PS 3 2004 Panisch – depressiv

    Zurück

    PÄDAGOGIK - P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

    Panisch-depressiv

    Nach dem Jahr der Einsparungen und Zuzahlungen soll das nun schon in die Wochen gekommene Jahr eines der Innovation und der weltmeisterlichen Spitzenleistung werden. Potz Blitz! Aber was ist das eigentlich, Innovation? Das autistische Wort soll funkeln. Ein Zauberstab in der Hand des Kapitäns auf dem Dampfer Germania, der orientierungslos vor sich hin schrödert. Und da tönt es von der Brücke: »Brain up! Deutschland sucht seine Spitzenuniversitäten.« Hört sich nach Appell an und so ist es wohl auch gemeint. Eine Mischung aus Kasernenhof und Casting, aus Planwirtschaft und New Economy.

    Manisch?

    Die Kampagne hat etwas manisch-depressives. Deutsche Hochschulen überbieten unsere Schulen bei weitem auf der Verwahrlosungsskala. Nun gesteht man die Misere ein, versteigt sich gleich zum Bekenntnis zur Elite, ohne zu klären, was damit gemeint ist, und schiebt flugs die an Realsatire erinnernde Kampagne nach. »Brain up!« Mit diesem Trick gibt es sie plötzlich, die eben noch zu Recht vermissten Spitzenunis. Man muss sie nur noch aussuchen, exakt: Sie müssen Anträge stellen. Das erinnert an einen Staatsratbeschluss der untergegangenen DDR, die auch mit Fünfjahresplänen zum Erreichen des Weltniveaus nicht geizte. Sollte man also diese neueste Münchhausiade nicht lieber panisch-depressiv nennen?

    Und schon beginnt das Schaulaufen der Unis. Sie werden sich schminken, PR-Agenturen engagieren und in Hochglanzbroschüren investieren. Der Hamburger Uni-Präsident schlägt vor, sein Haus solle mit der Technischen Universität Hamburg Harburg und vielleicht mit der Kunsthochschule fusionieren, um sich so für die ausgeschriebene Elite zu stärken. Genau das Gegenteil ist richtig. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem Physiker Günther Danielmeyer Mitte der 80er Jahre. Er war Gründungspräsident jener Technischen Universität Harburg. Seine Grundidee war, die TU solle übersichtlich sein. Wenn der Bedarf an Studienplätzen steige, dann lieber eine zweite TU daneben setzen. Wenigstens 15 Prozent ihrer Zeit sollte den Wissenschaftlern für Informelles bleiben. Es müsste sich einfach ergeben, dass ein Maschinenbauer zufällig einen Biochemiker trifft. So bekommen nicht planbare Kreuzungen der Ideen und Probleme des einen mit den Nöten und Überschüssen des anderen eine Chance. Die Hochschule also ein Treibhaus für geistige Mutationen und ein Kloster für deren Prüfung. Danielmeyers wesentliche Lektion nach Aufenthalten in Universitäten der USA war, sie dürfen nicht riesig sein. Mehr noch als mit Geld werden sie üppig mit Raum und Zeit ausgestattet. Damit sind nicht nur Räume gemeint, die in Quadratmetern zu messen sind. Man hat sie sich eher wie Biotope vorzustellen. Geschützte Nischen gewähren Zeit für Entwicklungen, bis sie irgendwann, nicht zu früh, das unerbittliche Licht der Öffentlichkeit erreicht. Vorher gibt es allerdings den freundlichen Blick von Nachbarn. In solchen Klimaräumen muss so verschwenderisch mit Möglichkeiten gespielt werden können, wie es die Natur in der Evolution vorgemacht hat.

    Aufmerksam!

    Hans-Jörg Rheinberger, Direktor am Max-Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, zoomt an das Thema Innovation ganz nah heran. Wie ein Archäologe durchforscht er die Disziplinen daraufhin, wie Neues entstanden ist und fand, dass die entscheidenden Entdeckungen gewöhnlich nicht gesucht worden waren. Man stieß auf sie, während man etwas anderes ergründen wollte. Allerdings garantiert absichtloses Forschen den Königsweg so wenig wie die Trimmung auf ein Ziel. Der Blick muss auf Ziele fokussiert sein und zugleich der frei schwebenden Aufmerksamkeit die Kapazität lassen, damit sie anderes als das Gesuchte wahrnehmen kann. In seinem Buch über die Entdeckung der Proteinsynthese* zeigt Rheinberger, wie in einem Labor am Massachusetts General Hospital in Boston nicht zuletzt Abweichungen, die an künstlerische Verfahren erinnern, zum Erfolg beigetragen haben.

    Missverständnis

    Das Neue kommt als Unvorhergesehenes zur Welt, das sich weder im Rahmen eines theoretischen Systems noch als experimentelle Notwendigkeit prognostizieren lässt. Rheinberger seziert heraus, dass die Mutter aller Innovation das Missverständnis ist: »Wir gehen nie weiter, als wenn wir uns missverstehen. Das Differential des Missens ist dasjenige, was bewirkt, dass es sozusagen haarscharf daneben gehen kann. In diesem haarscharfen Spalt tut sich ab und zu etwas Neues auf. Darauf beruht ja auch das wissenschaftliche Probehandeln, die Mächtigkeit des Modells: Es ist nicht mächtig, weil es passt, sondern dadurch, dass es etwas zu wünschen übrig lässt.« Der Biologe und Nobelpreisträger Francoise Jacob nannte Labore, denen das gelingt, »Maschinen zur Herstellung von Zukunft«.

    P. S.

    Was ist Zukunft? Hilfreich ist die japanische Tradition, die dafür gar kein Wort hatte. Zukunft war vielmehr die Lücke, die man in der Gegenwart lässt. Dort nistet sich gewissermaßen Zukunft ein. Eine, die man plant, oder schon zu kennen meint, ist keine. Unter dieser falschen Flagge wird Zukunft vielmehr vernichtet. Man möchte deshalb den Fetischisten von Innovation und Zukunft einen Satz von Schopenhauer hinterher rufen: »Alle arbeiten sie für die Zukunft, dieser opfern sie ihr Daseyn; und die Zukunft macht Bankrott.«

    P.P.S.

    Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: Kahl-Lob.des.Fehlers@gmx.de

     

    * Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Wallstein-Verlag, Göttingen

    NDR Greenpeace für die Bildung

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    Kulturelles Wort
    NDR Kultur / WDR 3
    Nachrichten GEDANKEN ZUR ZEIT Greenpeace für die Bildung
    Warum wir für Schulen und Hochschulen zivilgesellschaftliches Engagement brauchen Von Reinhard Kahl

    GEDANKEN ZUR ZEIT

    Greenpeace für die Bildung / NDR / Gedanken…

    Gedanken zur Zeit /   7.  Februar 2004

     

    GREENPAEACE FÜR DIE BILDUNG

     

    Von Reinhard Kahl

     

    Der Unterschied zwischen Schulen, die gelingen und anderen, in denen Grundlegendes nicht stimmt, lässt sich mit einem einfachen Test bestimmen. Wie wird der Satz betont, der ganz neutral ausgesprochen heißt: „Auf  Euch haben wir gewartet.“ Klingt es – „Hey, kommt her, wir machen hier was Tolles. Auf  Euch haben wir gewartet.“ Das hört man in Finnland, aber auch in guten Schulen Nordamerikas. Oder ertönt ein misanthropische Sound „Auf Euch haben wir gerade noch gewartet. Ihr werdet noch euer blaues Wunder erleben. Mich wundert schon gar nichts mehr.“ Letzterer Tonfall kommt uns bekannt vor. Gewiss, auch wir haben Schulen, in denen es von Anfang an selbstverständliche ist, dass die nächste Generation willkommen ist, dass jeder anders ist, anders sein darf und dass das interessant ist. Aber man muss zugeben, der Normalfall ist so eine Begrüßung in Deutschland nicht, weder in der Schule, noch in der Hochschule, wo in manchen Fächern Studienanfänger zu hören bekommen, die meisten von ihnen gehören gar nicht hierher. Tatsächlich haben wir in Deutschland im internationalen Vergleich eine niedrige Quote von Studienanfängern und eine sehr hohe Quote von Studienabbrechern. Das ist nicht rein fachlich zu erklären. Es liegt an einem Mangel, Menschen, so wie sie sind anzuerkennen, ja zu mögen und ihnen etwas zuzutrauen. Heimlich misstrauen wir Deutsche der – wie Soziologen sagen – Inklusion, dem Einschluss, deren Botschaft heißt: Jeder gehört dazu, keiner soll verloren gehen, ihr werdet gebraucht. Das scheint uns nicht der rechte Ansporn für Leistungen zu sein.

    Wir glauben eher an Exklusion, an ein ständisches Einteilen der Ähnlichen und an den Ausschluss der angebliche Ungeeigneten. Man hat Angst vor Mischungen. Wie kommt es, dass in Deutschland der Anteil von Sonderschülern international mit am höchsten ist? Fast 5%, während in Finnland Sonderschulen abgeschafft werden. Dort allerdings kümmern sich in jeder Schule Sonderlehrer, Psychologen und Kuratoren um Kinder mit Schwierigkeiten. Dort studieren übrigens 72% eines Jahrgangs, Sie haben sich nicht verhört, 72%.

    Neuerdings- man höre und staune - ist in Deutschland wieder Elite angesagt. Aber keine Elite, die sich herausbilden soll, für deren Entstehen also ein Klima zu schaffen ist, das möglichst viele Spitzenleitungen hervor bringt. Dazu gehörte das Eingeständnis, dass man vorab nicht wissen kann, was eine Spitzenleitung ist, oder gar eine Innovation sein wird. Das wäre eine sich nachträglich erweisende Elite. In Deutschland setzt man wieder auf eine Elite, die man schon kennt, die sich bewerben soll, um von oben beglaubigt zu werden - siehe die aktuelle Hochschuldebatte.

     

    Bleiben wir erst noch bei den Schulen und dem deutschen Geiz mit dem Versprechen von Zugehörigkeit, dem Knausern mit der Anerkennung von Verschiedenheit und einer häufig gereizten Stimmung zwischen den Generationen. Hier zu lande glaubt man nicht, dass ein Vorschuss an Vertrauen menschlich gut und zugleich leistungssteigernd sowie kulturell aufbauend ist.  

    Ein Irrtum.

    Denn das ist nun bei jeder Schulstudie immer wieder der Befund: eine hohes Maß an Anerkennung und an Verantwortung, das die Erwachsenen für Kinder und Jugendliche aufbringen, ist ein verlässliche Prognose für deren gutes Abschneiden. Gemessenen werden in den Studien ja Kompetenzen, kein eng gefasstes Schulwissen, das man sich schnell rein haut und nach der Klausur oder Klassenarbeit wieder los werden will. Auch das ist eine Pisa Lektion: Bulimie – Lernen, ade!

    Die Kompetenzen, die Studien wie Pisa, der internationale Test der 15jährigen oder die Grundschulestudie IGLU messen, umfassen das, was die neue Lehr-/Lernforschung intelligentes Wissen nennt, im Gegensatz zum trägen Wissen. Intelligentes Wissen ist solches, mit dem man etwas anfangen kann, ja das dazu einlädt, tätig zu werden. Man könnte sagen, es sind ungesättigte Wissensmoleküle, die auf Verbindungen mit anderen Wissensatomen aus sind. Dazu müssen sie etwas unvollkommen sein, keine in Folie verpackten perfekten Wissensbrocken, die tatsächlich wenig anschlussfähig sind. Und da haben wir gewissermaßen auf der Mikroebene des Wissen wieder diesen Unterschied:  Einladung in die Welt, an der man die gute Schule oder Hochschule erkennt, oder Abkapselung.

    Wie kommen wir da raus. Wie überwinden wir in Deutschland diese immer noch feindliche Atmosphäre in der Bildung? Anders als in anderen Ländern ist Bildung hier nicht das Gemeinschaftsfeld, sondern ein Hackbrett der Gesellschaft. Bildungspolitik ist der letzte Religionskrieg, der uns geblieben ist. Wie könnten wir Frieden schaffen, nicht bloß Waffenstillstand. Hier geht es um deutsche Wunden, nicht nur um bildungspolitische. Aber Bildung, besser das dahinter stehende Generationenverhältnis, offenbart die Geheimgrammatik der Gesellschaft und sie ist auch eine Sphäre, in der man auf die Grammatik des Ganzen den größten Einfluss hat.

     

     Wir brauchen eine Art Greenpeace für die Bildung.

     

    Damit meine ich dreierlei. Erstens Frieden. Das betrifft das Verhältnis der Generationen. Zweitens Nachhaltigkeit, wie in der Ökologie. Sie betrifft die Wirksamkeit des Lernens. Und drittens NGOs, Nichtregierungsorganisationen, als neue Akteure.

    Was Greenpeace für Natur und Umwelt war, wer könnte das für die Bildung sein?  

    Die Zeichen dafür stehen gar nicht schlecht.

     

    Neue, ungewöhnliche Bündnisse für Veränderungen in Schulen und Hochschulen bilden sich neben der Politiker-Politik. Was ist Politik? Die Verabredung  die gemeinsamen Dinge in Angriff zu nehmen. Diese Politik wandert aus ihren traditionellen Domänen, den Parteien und  Parlamente aus.

    Ein Beispiel. Ausgerechnet aus der Wirtschaft kommen heute die interessantesten sogar mutigsten Ideen zur Veränderung in Schulen. Etwa aus dem Handwerk.  

    Die genaueste Kritik führte in der letzten Zeit der Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Hamburg, Jürgen Hogeforster. Statt Selbstbewusstsein, sagt er, verbreiteten unsere Schulen ein Gift, das alle schwächt. Für viele Schüler laute die Botschaft: „Du bist umsonst geboren, die Gesellschaft kann dich nicht gebrauchen.“ Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch schon der Handwerkstag Baden-Württemberg und verlangt für Deutschland  eine Schule nach skandinavischem Vorbild: Alle Schüler bleiben 9 Jahre zusammen. War man vom Handwerk in Sachen Bildung bisher gewohnt, dass Rechtschreibung, Dreisatz und saubere Fingernägel verlangt wurden, so argumentiert Bildungsmanifest des Handwerks aus dem Südwesten: "Das Konzept ,Belehrung' darf nicht länger im Mittelpunkt stehen. Es ist das Unterrichtsprinzip des auslaufenden Industriezeitalters". Verlangt wird eine andere Kultur, eine in der man zum Beispiel Fehler machen darf. Das Kernproblem in Deutschland sei, dass der Lernprozess nicht den individuellen Entwicklungsstand der Schüler im Blick habe. Schlechter Unterricht werde vom selektiven System geschützt, denn es entlasse die Schule aus der Verantwortung, sich um schwierige und abweichende Schüler zu kümmern.  Das Ergebnis, so der Hamburger Hogeforster: „Die Fülle negativer Erfahrungen saugt vielen Schülern die Kraft ab.“

    Dass die neurotisierende Wirkung der deutschen Schulen von der Wirtschaft angeklagt wird, ist ein Zeichen für das Neumischen der Karten im Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Das deutsche System mit seinen Erniedrigungen und Beschämungen, brachte der Industrie und dem Handwerk ja mal Vorteile. Wem in der Schule gesagt wurde, du bist nichts, aus dir wird nichts, reiß dich am Riemen, den trieb lebenslange der Drang sich zu rehabilitieren, notfalls durch Selbstausbeutung, häufig in Selbstverachtung. Künftig aber kommt es mehr und mehr darauf an, Ideen zu haben. Dazu muss ein jeder einigermaßen sich selbst und den anderen trauen, vor allem sollte er hungrig auf die Welt sein.

     

    Aus diesem Grund setzen auch die Unternehmensberater von McKinsey auf eine Bildungswende. Jürgen Kluge, deren deutscher Boss, geht am weitesten. Er analysiert: In der Industriegesellschaft wollte die Wirtschaft, dass die ganze Gesellschaft, auch die Bildung, wie eine Maschine funktioniere. Aber künftig müssten Schulen und Universitäten für die Gesellschaft Maßstäbe setzen: „Vielleicht,“ sagt er, „müsste die Schule das Vorbild für die Arbeitswelt sein. Das würde dem menschlichen Entwicklungspfad viel besser entsprechen.“

    Diese neuen Töne für die Erneuerung der Bildung aus der Wirtschaft erstaunen manch einen, wurde ihr bisher doch zugeschrieben, nur an der profitablen Verwertung von Humankapital interessiert zu sein. Dieses Bild aus der alten Industriegesellschaft sitzt in Deutschland tief. Immerhin titelte 1966 die Wirtschaftszeitung „Industriekurier“: „Demokratie hat in Betrieben so wenig zu suchen, wie in Schulen, Krankenhäusern und Gefängnissen.“

    Worauf es heute ankommt, formuliert Thomas Sattelberger, Personalvorstand bei der Reifenfirma Continental als Frage für Betriebe, Schulen und die ganze Gesellschaft: „Wie machen wir aus Söldnerheeren Kulturgemeinschaften?“

     

    Ja wie macht man das?

     

    Ganz im Allgemeinen sind sich die meisten Experten mit Politikern und auch mit den klugen Wirtschaftsleuten einig. Wir brauchen Selbstständigkeit für die Akteure, also für Lehrer und Hochschulelehrer, für Schüler und Studenten, aber auch für die Institutionen selbst, für die Schulen und Hochschulen. Nur, die groß angekündigte Selbständigkeit wird sogleich wieder engherzig und misstrauisch portioniert.

    Wäre es nicht denkbar Schulen und Hochschulen aus dem staatlichen bürokratischen Korsett, in dem sie nachgeordnete Behörden sind, heraus zu lösen, ihnen etwa als öffentlich rechtliche Anstalten unternehmerische Freiheiten zu geben, ohne sie zu privatwirtschaftlichen Unternehmen zu machen? In Schweden ist man diesen Weg gegangen. Schulen haben volle Selbstständigkeit. Schulleiter stellen Lehrer ein. Sie verhandeln über das Gehalt der Bewerber. Die Schule bekommt vom Staat Geld pro Schüler. Über ihren Haushalt ist jede Schule souverän.

    Wenn auch in Deutschland Schulen und Hochschulen selbständig werden, dann  sollte das allerdings nicht bloß heißen, dass sie sich selbst verwalten. Das bedeutete nach Lage der Dinge, nur den Mangel zu verwalten. Nein, sie müssten das Recht und die Pflicht zum eigenen Profil bekommen. Sie wären nicht mehr die geklonten Exemplare eines Standardmodells, alle möglichst identisch, sondern sie müssten aus ihren jeweiligen Stärken und Schwächen eine institutionelle Biographie gewinnen. Von der Standardisierung haben wir bisher Gerechtigkeit und garantierte Qualität erwartet. Der internationale Schulvergleich und auch der Vergleich der Hochschulen zeigt, dass die Leistung mit der Autonomie der Einrichtungen steigt. Das betrifft auch und vor allem die Fähigkeiten der Absolventen.  Wenn auf das staatsbürokratische Standardmodell verzichtet wird, dann allerdings muss die Gesellschaft ihre Erwartungen an die Einrichtungen und die Ziele, auf deren Erreichen sie besteht, als Standards formulieren. In Deutschland pfropft man derzeit auf die standardisierten Schulen noch Standards. So raubt man ihnen den Rest an Spielraum.

     

    Wo ist der Ausweg? Zum Beispiel hat der Club of Rome ein Konzept für eine Schule entwickelt, die mit den Dreijährigen, also der Vorschule, beginnt, und mit der Hochschulreife endet. Keine Rede ist mehr vom deutschen gegliederten System. Aber realistisch setzt der Club of Rome nicht darauf, dass der Bundestag oder die Kultusministerkonferenz nun jubeln und sagen, das beschließen wir. Schulen, die sich diese Richtung entwickeln wollen, können sich demnächst als Club of Rome Schulen akkreditieren lassen. Ein Kongress Anfang März wird die Sache mit lautem Paukenschlag in die Welt setzen. Dem Club of Rome ist es gelungen, in vielen Kultusministerien für diese neue Schule große Freiheitsspielräume heraus zu schlagen. Ein gutes und realistisches Beispiel wie ein Zusammenspiel von Regierung und Nichtregierungsorganisationen aussehen kann, man könnte auch sagen, ein Zusammenspiel von alter und neuer Politik.

     

    Natürlich kommen hier auch die Stiftungen ins Spiel. Schon die Auftaktveranstaltung des Club of Rome demnächst wäre ohne ihre Unterstützung gar nicht möglich. Der Einwand, dann macht bald nur noch das große Geld Politik, der wer sonst kann stiften, ist nicht falsch. Aber wie wäre es, eine große Stiftung zu gründen, etwa in der Nähe der Deutschen Kinder und Jugendstiftung, in die nicht nur jedermann einzahlen kann, etwa ein Teil dessen, was vererbt wird, sondern auch einzahlen muss! Oh je, wird man sagen, muss? Aber vielleicht lohnt es sich den Gedanken durch zu spielen. Es wäre eine Art Steuer, und doch keine anonyme Steuer mehr. Nehmen wir an, um 10 % wird unsere Steuer bei der nächsten Steuerreform nicht gesenkt, sondern in der Weise umgeleitet, dass jeder Steuerbürger damit auch steuern kann. Man zahlt in das große Projekt Bildung, muss also seinen Teil liefern, kann aber sein Geld selbst adressieren. Der eine gibt es der reformerischen Universität Witten Herdecke, der andere der Grundschule im Brennpunkt. Das Geld läuft über eine große nationale Stiftungs- und Bildungsagentur, sie ist aber nur Dach und Organisation. Zwischen dem Bürger als Mäzen und den profitierenden Einrichtungen käme tatsächlich Verantwortung auf. Verantwortung kommt ja von „antworten“ und heißt nicht, wie hier zu lande so oft: „Ich trage die Verantwortung, also muss ich Ihnen doch nicht antworten.“  Gewiss, das Modell wäre im einzelnen zu prüfen und da liegt bestimmt manches Teufelchen im Detail, aber im Detail wartet auch manch ein Schutzengel. Auf Schutzengel wird unsere Land bald angewiesen sein. Wir brauchen Erneuerung! Ja, Erneuerung. Was uns derzeit angeboten wird nennt sich Innovation, und damit ist leider etwas ganz anderes gemeint.

       

    Panisch depressiv DRadio Signale

    DeutschlandRadio Berlin - 19. Februar 2004 • 17:15
    URL: http://www.dradio.de/dlr/sendungen/signale/233677/

    8.2.2004
    Panisch-depressiv
    Wie man Elite-Unis herbeizaubert und wie man sie wirklich macht
    Von Reinhard Kahl
    Reinhard Kahl (Foto: privat)
    Reinhard Kahl (Foto: privat)
    Nach dem Jahr der Einsparungen und Zuzahlungen soll das nun schon in die Wochen gekommene neue Jahr eines der Innovation und der weltmeisterlichen Spitzenleistung werden. Potz Blitz! Aber was ist das eigentlich, Innovation? Es ist ein fast autistisches Wort, ja ein Fetisch. Er soll funkeln. Ein Zauberstab in der Hand des Kapitäns auf dem Dampfer Germania, der ziemlich orientierungslos vor sich hin schrödert. Und da tönt es nun von der Brücke: "Brain up! Deutschland sucht seine Spitzenuniversitäten." Man glaubt es kaum, aber mit dieser PR-Sprache kommt die Bundesregierung jetzt tatsächlich den Universitäten. Hört sich nach Appell an und ist wohl auch so gemeint. Eine Mischung aus Kasernenhof und Casting, aus Planwirtschaft und New Economy.

    Die Kampagne hat etwas manisch-depressives. Deutsche Hochschulen überbieten unsere Schulen bei weitem auf der Verwahrlosungsskala. Studenten fühlen sich wie Findelkinder auf dem Bahnhof. Auch viele Professoren betreten die Uni nur zur eigenen Veranstaltung. Die Gesellschaft geizt mit Anerkennung und die Politik mit Geld. Nun gesteht man die Misere ein, bekennt sich sogleich zur Elite, ohne zu klären, was damit gemeint sein soll, und flugs folgt diese an Realsatire erinnernde Kampagne. "Brain up!" Abrakadabra, nun gibt es sie plötzlich, die eben noch zu Recht vermissten Spitzenunis, man muss sie nur noch aussuchen, exakt: die Unis müssen Anträge stellen. Das erinnert nun an einen Staatsratbeschluss der verblichenen DDR, die auch mit Fünfjahresplänen zum Erreichen des Weltniveaus nicht geizte. Muss man diese neueste Münchhausiade nicht eher panisch-depressiv nennen?

    Und schon beginnt das Schaulaufen. Statt sich zu erneuern, beginnen die Hochschulen sich schminken. Sie werden jetzt PR Agenturen engagieren und ihre letzten Cents in Hochglanzbroschüren stecken. Der Hamburger Uni Präsident zum Beispiel schlägt vor, sein Haus solle mit der Kunsthochschule und der Technischen Universität Hamburg Harburg fusionieren, um sich so für die ausgeschriebene Elite zu stärken. Genau das Gegenteil wäre richtig. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem Physiker Hans Günther Danielmeyer. Bevor er zu Siemens in den Vorstand wechselte, war er Gründungspräsident jener Technischen Universität Hamburg Harburg, die nun zum Zwecke der Elite geschluckt werden soll. Seine Grundidee war, eine gute Universität muss übersichtlich sein. Wenn der Bedarf steige, lieber eine zweite daneben setzen. Wenigstens 15 Prozent ihrer Zeit sollte den Wissenschaftlern für Informelles bleiben. Es müsste sich einfach ergeben, dass zum Beispiel ein Maschinenbauer einen Biochemiker trifft, und dass sich dann vielleicht die Ideen und Probleme des einen mit den Nöten und Überschüssen des anderen zu etwas nicht Planbarem kreuzen. Die Hochschule also ein Treibhaus für geistige Mutationen und ein Kloster für deren Prüfung. In solchen Klimaräumen muss so verschwendirisch mit Möglichkeiten gespielt werden können, wie es die Natur in der Evolution vor gemacht hat.

    Hans-Jörg Rheinberger, er ist Direktor am Max-Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, zoomt in seinen Forschungen ganz nah an das Thema Innovation heran. Wie ein Archäologe durchsucht er die Disziplinen und fand, dass nach den entscheidenden Entdeckungen gewöhnlich nicht gesucht worden ist. Man stieß auf sie, als etwas anderes ergründet werden sollte. Aber auch absichtloses Forschen ist kein Königsweg. Der Blick muss Ziele fokussieren und zugleich muss die Aufmerksamkeit anderes als das Gesuchte wahrnehmen können. In seiner Studie über die Entdeckung der Proteinsynthese zeigt Rheinberger, wie in einem Labor in Boston nicht zuletzt Abweichungen, die an künstlerische Verfahren erinnern, zum Erfolg beigetragen haben. Das Neue kommt als Unvorhergesehenes zur Welt. Es lässt sich weder im Rahmen eines theoretischen Systems, noch als experimentelle Notwendigkeit prognostizieren. Damit das Neue eine Chance bekommt, braucht es neben guter Atmosphäre und Neugier noch etwas Drittes. Die Mutter aller Innovation, verblüfft Rheinberger, sei das Missverständnis: "Wir gehen nie weiter, als wenn wir uns missverstehen," schreibt er und fährt fort: "Das Differential des Missens ist dasjenige, was bewirkt, dass es sozusagen haarscharf daneben gehen kann. In diesem haarscharfen Spalt tut sich ab und zu etwas Neues auf." Der Biologe und Nobelpreisträger Francoise Jacob nannte Labore, in denen das gelingt, "Maschinen zur Herstellung von Zukunft".

    Aber was ist Zukunft? Aufschlussreich ist die japanische Tradition, die dafür gar kein Wort hatte. Zukunft war vielmehr eine Lücke, die man in der Gegenwart lässt. In ihr nistet sich gewissermaßen Zukunft ein. Eine, die man plant, oder schon zu kennen meint, ist keine. Unter der falschen, aber laut knatternden Flagge Zukunft wird sie vernichtet. Man möchte den Fetischisten von Innovation und Zukunft einen Satz von Schopenhauer hinterher rufen: "Alle arbeiten sie für die Zukunft, dieser opfern sie ihr Daseyn; und die Zukunft macht Bankrott."

    Reinhard Kahl, Produzent und Publizist, geboren 1948, studierte Erziehungswissenschaften, Philosophie, Soziologie und Psychologie in Frankfurt und Hamburg. Produzent von Fernsehdokumentationen und Publizist. Mitarbeit u.a. in DIE ZEIT, WELT und taz. Kolumne 'P.S.' in der Zeitschrift PÄDAGOGIK. Im Hamburger Literaturhaus ist Kahl Gastgeber des monatlich stattfindenden 'Philosophischen Cafés'.



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    Individualisierung und Zusammenarbeit

    Reinhard Kahl, Individualisierung und Zusammenarbeit  -
    Erkundungen über den schiefen und geraden Turm von Pisa

     

    in:

    Bildung neu denken

    E. Nagel / E. von Vietinghoff (Hgg.)

     

    Eine Vortragsreihe des Hanns-Lilje-Forums mit Beiträge u.a. von Manfred Fuhrmann und Jürgen Oelkers

     

    Lutherisches Verlagshaus, Hannover 2003  

     

    Rechtschreibtheater

    DeutschlandRadio Berlin - 6. Februar 2004 • 17:32
    URL: http://www.dradio.de/dlr/sendungen/fazit/233636/

    5.2.2004
    "Ihr seht schon ganz manierlich aus..."
    Zum neuerlichen Theater um die Rechtschreibung
    Ein Kommentar von Reinhard Kahl
    Schultafel mit alter und neuer Rechstschreibung (Foto: AP)
    Schultafel mit alter und neuer Rechstschreibung (Foto: AP)
    Vielleicht sollten unsere Don Quichottes, die dieser Tage wieder mal in den Krieg für die ganze richtige Rechtschreibung ziehen, zwischendurch mal Goethe lesen. Er sagte, "Ihr seht schon ganz manierlich aus, kommt mir nur nicht absolut nach Haus." Das Absolute ist tödlich. Es hat, wie jede andere Perfektion keine Zukunft.

    Die Doppelherrschaft von alter und neuer Rechtschreibung hat in den vergangenen Jahren ganz unbeabsichtigt einen enormen Zivilisationsgewinn gebracht. Die alte Leitdifferenz von "richtig - falsch", die immer nur eine Möglichkeit durchgehen lässt, wird nun im Alltag von der überlegenen Unterscheidung "möglich - nicht möglich" durchsetzt und langsam ersetzt. "Möglich - nicht möglich", das ist etwas ganz anderes als die befürchtete Beliebigkeit, gar Anarchie im Schreiben!

    Mit "Möglich - nicht möglich" kehrt in die Schrift wieder ein Hauch von dem zurück, was die Dynamik der gesprochenen Sprache auszeichnet. Da gibt es zwischen dem Hamburger und dem bayrischen Sound, zwischen Görlitz und Aachen doch auch Platz! Wäre die Liquidation der Varianten ein Gewinn?

    Vor allem muss man verstanden werden. Und die Sprache sollte möglichst elegant, vielleicht sogar etwas erotisch klingen. Man stelle sich vor, es gäbe eine Rechtsprechkommission? Der erste Nebeneffekt wäre, dass viele glaubten, ohne bei ihr nach zu sehen oder nach zu hören, keine rechten Sätze mehr bilden zu können.

    Nein, der Regelperfektionismus, in dem sich die Anhänger der einen richtigen alten und der allein richtigen neuen Schreibweise nur so übertreffen, produziert inzwischen mehr Probleme als er löst.

    Nach der einen Dogmatik sollen wir belämmert mit Ä schreiben, nach der anderen "belemmert" mit E. Apropos, eben beim Versuch mit meinem Computer belemmert mit E zu schreiben korrigierte er das gleich selbst in Ä. Und jetzt nach meinem Widerspruch wird das Wort rot unterstrichen, wie von der Fehlerinquisition in der Schule.

    Dass Regeln, sobald es mehr als eine gibt, sich aneinander stoßen und nie wirklich aufgehen, das ist nur für Pedanten eine Not. Es ist tatsächlich ein Glück. Ein Glück für jede Evolution. Wenn die Dinge nicht ganz auf gehen, dann gehen sie weiter.

    Warum nur, fragt man sich, schon seit Tagen dieses Theater in den Feuilletons und nun auch auf den skandalfreudigen Vorderseiten der Zeitungen? Es wird der Popanz einer zentralstaatlichen Geheimloge aufgebaut, die uns nun wie ein ZK für die Sprache an seine Fäden nehmen will. Ach Gott.

    Reinhard Kahl (Foto: privat)
    Reinhard Kahl (Foto: privat)
    Die meisten schreiben doch sowie wie sie wollen. Wie sie wollen? Von der Betonung dieses Satzes "Wie sie wollen" hängt doch alles ab.
    Die behauptete Beliebigkeit und gefürchtete Verwahrlosung "die schreiben wie sie wollen" ist nicht von großem Vertrauen geprägt. Dann braucht man keine Regulative sondern Vorschriften. Aber wenn man mit etwas Achtung sagt, der schreibt wie er will, dann könnte es doch sein, er oder sie will etwas und das ist alles andere als banal.

    Und jetzt mal im Ernst. Wer morgens die FAZ liest, mit der alten Rechtschreibung, die dort geheimnisvoll die "bewährte Rechtschreibung" genannt wird und dann zur Süddeutschen greift, mit ihrer nach eigenen Redaktionsregeln modifizierten neuen Rechtschreibung und dann vielleicht noch die taz, mit linientreuer neuer Rechtschreibung, fällt dem überhaupt was auf? Ob achtmal nun mit oder ohne Bindestrich geschrieben wird, groß oder klein, ist das wichtig?

    Also halten wir es mit dem Meister aus Weimar: "Ihr seht schon ganz manierlich aus, kommt mir nur nicht absolut nach Haus." Goethe war gar nicht zimperlich, er schrieb seinen Namen mal mit H und mal ohne, das sollte ein Schüler mal wagen! Ja er sollte es wagen. Und er sollte Goethe, der ein großer Freund von Fehlern war, lesen.



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    PS 2 2004 Standards – deutsches Missverständnis

    PÄDAGOGIK - P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

    Standards – ein deutsches Missverständnis

    »Die Latte hängt für deutsche Schüler so hoch, dass sie die lieber unterlaufen, statt drüber zu springen.« Ein fast schon geflügeltes Wort von Jürgen Baumert. Wir haben höchste Ansprüche und dennoch, nein, eben deshalb bringen die Schüler nur so schwache Leistungen. Die Erbsünde des idealistischen Schulsystems ist, dass die realen Menschen den hohen Idealen kaum genügen. Schüler werden häufig schlecht gemacht, ja beschämt. Zu selten werden sie ermutigt und dürfen stolz sein. Aber das soll nun ja alles anders werden, und zwar durch Bildungsstandards. Sie seien, sagen die Kultusminister, ihre Antwort auf das Pisadesaster. Wirklich?

    An drei Tagen sollte das kürzlich in der evangelischen Akademie Bad Boll auf einer Tagung mit exzellenten internationalen Experten geklärt werden.

    Input und Output

    Weltweit gibt es die gleiche Drift. Weg von Schulen, denen nahezu alles vorgeschrieben wurde, »Input orientierte Systeme«, hin zu solchen, bei denen zählt, was Schüler wissen und können. Das heißt dann »Output orientiert«. Die Ziele werden zumeist vom Parlament vorgegeben. Die Wege werden den Schulen mehr und mehr frei gegeben. Sie müssen natürlich Rechenschaft geben. Darauf glaubt man ja in gegängelten Systemen verzichten zu können.

    Standards nennt man das Maß, an dem sich diese in Freiheit entlassenen Schulen zu orientieren haben und an dem sie dann auch gemessen werden. Eine Modernisierungsformel, nach der viele Länder ihr Bildungssystem erfolgreich reformiert haben. Also will man nun auch in Deutschland Standards. Aber was wird daraus, wenn sie mit Zusätzen wie »einheitlich« und »verbindlich« versehen werden?

    Es sieht schon wieder so aus, als würde ein deutscher Sonderweg eingeschlagen. Standards sind dann nicht die niedriger gehängte, realistischere Latte. Man überlegt nicht, was ist zu tun, damit möglichst viele über sie springen. Sie sind kein Korrektiv für freie Schulen, sondern werden womöglich genau das, was man zu diesem Wort auf Anhieb assoziiert: DIN-Normen für die Anstalten.

    In Bad Boll wurde die Debatte wie ein Bühnenstück inszeniert. Zunächst rückte der sächsische Kultusminister Karl Mannsfeld, CDU, damit heraus, dass zumindest in Sachsen die Standards keineswegs unser Gebirge von Lehrplänen ersetzen sollen. Er beschrieb sie geheimnisvoll als »Knotenpunkte auf Wegen«, die weiterhin durch Lehrpläne definiert werden. An diesen Knotenpunkten, die man besser Kontrollpunkte nennen sollte, wird der Schüler-TÜV durchgeführt. Da wurde es unruhig in der Akademie: Doppelregulierung statt Deregulierung?

    Erwartungen

    Nach dieser Eröffnung lehrte eine Revue von Präsentationen die mit 350 Teilnehmern überbuchte Veranstaltung das Staunen. Es berichteten Finnen, Schweden, Engländer, Holländer, Kanadier und Experten aus den USA. Und siehe da, in all diesen Ländern werden Standards nicht so wichtig genommen. Die Finnen gaben wieder mal den interessantesten Bericht. Viele wussten dort bisher gar nicht, dass sie so etwas wie Standards haben. Auch Pirjo Linnakylä, Professorin aus Jyväskylä, nicht. Sie erzählte, dass es natürlich »Erwartungen« an Schulen gäbe. Die stehen in einem Heft von 120 Seiten. Das enthält alle Ziele, von der Vorschule bis zum Abitur. Auf dieser Basis machen sich die Schulen selbst ihre Lehrpläne. Und es gibt etwas, das wir Deutsche gar nicht kennen: Lehrpläne für einzelne Schüler, zumal wenn sie Schwierigkeiten haben. Die Schulaufsicht wurde Mitte der 90er Jahre abgeschafft. Die Kommunen verlangen von Schulen Rechenschaft. Es gibt nationale Tests, die aber mehr die Schulen als die Schüler überprüfen. Die Schulen sind an dieser Diagnose interessiert, wenn auch nicht immer von den Ergebnissen erfreut. Eines der häufigsten von der Finnin gebrauchten Wörter heißt Vertrauen. Vertrauen gegenüber Schulen, Lehrern und Schülern. Und dann kritisch nachfragen, natürlich – aber niemals demütigen.

    Auch in Schweden wurden in den 90er Jahren die Lehrpläne auf nationale Curricula, ebenfalls dünne Broschüren, reduziert. Alle Schüler werden nach dem 9. Schuljahr gestestet. Auch von den Kanadiern erfuhr man, der Begriff Standards sei wohl etwas verwirrend. Ihnen reichten klare und knapp formulierte goals, Ziele. Und dann werden die Ergebnisse geprüft. So ging es in den Präsentationen weiter, mit nationalen Nuancen.

    Und die Deutschen?

    Putput

    Statt nun tatsächlich den Übergang vom Input- zum Output orientierten System zu wagen, hört man aufgeblasenes, halbherziges Putput. Man kann halt von der Kontrolle nicht lassen. Eines kommt in den Konzepten der Kultusminister kaum vor: Der Blick darauf, wie Schüler lernen. Und so verklumpt das neue Yin und Yang der Bildung mit den Polen Freiheit für Schulen auf der einen Seite und Standards als Verpflichtung auf Ziele und zur Rechenschaft auf der anderen Seite wieder mal zu noch stärkerer Gängelung. Es gibt halt keinen Spielraum, wenn das Misstrauen regiert.

    P. S.

    Das Tagungsprotokoll mit den aufschlussreichen Länderpräsentationen will die Evangelische Akademie Bad Boll diesmal ganz schnell fertig stellen. Es soll bereits im Februar zu beziehen sein: www.ev-akademie-boll.de/texte/start_te.htm

    P.P.S.

    Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: Kahl-Lob.des.Fehlers@gmx.de

    Leben entzündet sich an Leben

    „Leben entzündet sich nur an Leben“

    Über Erziehung, Bildung und das Generationenverhältnis

    Reinhard Kahl

     

    I.

    ambivalenz

    Mit den Werten verhält es sich wie mit der Zauberfee im Märchen: sobald man sie beim Namen ruft, ist sie schon wieder verschwunden. Werte gedeihen in Zwischenräumen. Tugend, Liebe, Überzeugung, Wissen und Gewissen, meinte Hannah Arendt, werden immer erst zu Werten erklärt, wenn sie bereits zu Mitteln gemacht und wie Sachen austauschbar geworden sind. Dann beginnt man abstrakt über sie zu sprechen. Sie werden relativierbar und durch andere ersetzbar. Sind sie dann noch Werte?

     

    Manchmal scheint es, als würde die Debattenkonjunktur des Themas mit dem Verschwinden der gelebten Werte einhergehen. Nie wurde in den vergangenen Monaten so viel von ihnen gesprochen, wie während des Kosovo-Krieges. 5000 Meter über dem Balkan wurden Werte zu unangreifbaren „Flugscharen“, und am Boden herrschte das ewige Durcheinander. Im Kosovo triumphierte die mörderische Religion des Entweder-oder, während sich in unseren Regionen Ambivalenz ausbreitete. Viele Menschen konnten sich zu keiner eindeutigen Meinung durchringen. Vielleicht keimt in dieser ausgehaltenen Uneindeutigkeit bereits ein neuer, unschätzbarer Wert? Aber keiner von den vielen, die in dieser Zeit innerlich zerrissen waren, hätte dabei flott von einem neuen Wert gesprochen und ihn taxiert. Am Boden treten Werte nicht rein und selten offensichtlich auf. Erst wenn sie hoch über uns am Himmel fliegen, werden sie leicht identifizierbar. So könnte man von den Werten sagen, was Peter Sloterdijk über die Begeisterungen schrieb: „Die Begeisterungen haben die Welt bisher nur verschieden überflogen, es kommt drauf an, zur Welt zu kommen.“

     

    II.

    „...ach, die werte“

    Das Themenfeld aus Erziehung, Bildung und Generationenverhältnis ist in der Wertediskussion gut für eine Probe aufs Exempel. Jede Debatte über Bildung und Erziehung wird unweigerlich zum Selbstgespräch der Gesellschaft darüber, wie sie ist, was sie sich wünscht und was sie befürchtet. Es geht also um die „Werte“.

     

    „Ach, die Werte“, seufzt Hartmut von Hentig, der Nestor der deutschen Pädagogik in seinem neuen, gleichnamigen Buch. „Über eine Erziehung für das 21. Jahrhundert“ heißt es im Untertitel. Hartmut von Hentig argumentiert leidenschaftlich und mit sicherem Gespür für die falschen Töne in der Agitation gegen den Werteverfall. Er verwehrt sich gegen die neuerdings wieder geforderte Werteerziehung. Das sei doch ein Pleonasmus. In der Erziehung ginge es immer schon um Werte, wenn auch implizit. Aber wie kann man das Implizite darstellen, ohne es zu verdinglichen oder in großer Distanz oben am Wertehimmel zu installieren? Das ist ein Dilemma, auch dieses Buches.

     

    Zunächst entzieht Hartmut von Hentig der Wertedebatte ihren doppelten Boden: Diejenigen, die nun laut nach Werten in der Erziehung verlangten, seien doch die gleichen, die die Schule zur dürren Unterrichtsanstalt gemacht hätten. Würden sie der Schule zugestehen, ein reicher, allerdings auch riskanter Erfahrungsraum zu sein, niemand käme auf die Idee, in Klarsichtfolie verpackte Wertetabellen nachzureichen! Wäre die Schule, wie Hentig fordert, eine kleine Polis, wäre sie die „embryonale Gesellschaft“, der Begegnungsort der Generationen, viele abstrakte Wörter würden sich erübrigen. Nun wollen die Händler der Werte die von ihnen selbst ausgetrocknete Wüste mit Kunstblumen versorgen. Daraus kann nichts werden.

     

    Hentig spottet über den Aufruf, die Schule müsse wieder mehr Werte vermitteln. Was heißt denn vermitteln, fragt er. Das Beschwören von Werten ist offenbar ein Indikator für deren Abwesenheit. Mit Werten verhält es sich ähnlich wie mit dem „guten Leben“. Auch das läßt sich positiv kaum beschreiben. Wenn es allerdings verletzt wird, bekommen wir eine Vorstellung von dem, was fehlt. Die von Hentig kritisierte Werteertüchtigung erinnert an Reden von Feiglingen, die mit großen Worten andere ermutigen wollen, statt selbst mutig zu sein.

     

    Eine weitere Grenze für eine Wertedebatte in der Erziehung findet von Hentig an der prinzipiellen Ungewißheit von Zukunft. Gewißheit schränkt die Offenheit von Zukunft ein. Also gilt es, die schöpferische Kraft des Nichtwissens zu entdecken. "Wir müssen den Wert `Gewißheit` relativieren, das heißt ihm einen anderen, den der Wahrhaftigkeit, gegenüberstellen. Wir müssen uns zweitens ein `philosophisches` Wissen aneignen: das Wissen, daß wir in den `wichtigsten Angelegenheiten` nicht wissen und zugleich, daß wir uns damit nicht zur Ruhe setzen können."

    Gedanken an die Zukunft rufen Ungewißheit hervor. Jeder stimmt zu. Aber die Umkehrung wird brisant: Nicht verleugnete Ungewißheit selbst erzeugt Zukunft! Sie ist der Kreißsaal, in dem Neues zur Welt kommt. Und in dem Maße, wie Wandel zunimmt, wächst der Bedarf an Potentialität, also an Ungewißheit. Wie können wir Ungewißheit mit Gewißheit ausbalancieren? Was folgt daraus fürs Aufwachsen? Leider läßt Hentig dieses spannende Thema fallen, nachdem er einige Gewißheiten über die Ungewißheit formuliert hat. Daß er das Thema Bildung verläßt, ist dennoch folgerichtig. Denn wenn Werte nicht proklamiert, sondern gelebt werden müssen, dann ist das zunächst die Sache der Erwachsenen. Ob nun in Larmoyanz oder voller Hoffnung, oft sind besorgte Reden über die nachwachsende Generation Ausreden der Erwachsenen, um nicht von sich selbst zu sprechen.

     

    So ist es konsequent, wenn Hartmut von Hentig von den Erwachsenen nicht das Befolgen von Erziehungsprinzipien verlangt, sondern daß sie, die Bürger, wieder Politik machen. Und damit meint er etwas anderes als die Aufführungen der Politiker-Politik, wie sie uns in der Tagesschau präsentiert werden. Hentig macht Vorschläge zur Neuerfindung der Politik. Abgeordnete sollten beim Einzug ins Parlament ihre Parteizugehörigkeit ablegen und keinem Fraktionszwang mehr unterliegen. Sie sollen ihre Meinung im Parlament ändern dürfen, ja ändern müssen. Was hätten die Reden im Bundestag für einen Sinn, wenn nicht den, sich gegenseitig zu überzeugen und sich überzeugen zu lassen? Politiker sollen lernen. Abgeordnete sollen als Personen agieren und keine Marionetten der Fraktion sein. Für Personen gäbe es nur eine letzte Instanz, ihr Gewissen.

    Hier flammt Hentigs Liebe zur antiken Polis wieder auf, seine Leitidee. Dazu gehört auch sein Glaube, daß Menschen mit vernünftigen Entwürfen über ihre Welt das einmal als richtig Erkannte auch verwirklichen. „Werte sind das, was wir um seiner selbst willen suchen: Zwecke. Tugenden sind meist ein Ergebnis von Erfahrung und sehr oft bloße Konventionen.“ Aber läßt sich unser Handeln so klar und sauber nach Zwecken, Mitteln und Ergebnissen trennen?

     

    III.

    „was“ oder „wie“

    Solche Fragen stellt die Amsterdamer Erziehungswissenschaftlerin Frieda Heyting in der von Hartmut von Hentig herausgegebenen Zeitschrift „Neue Sammlung“. Sie beginnt mit ihm eine Kontroverse über die Wirksamkeit von Ideen und Absichten. Für Frieda Heyting ist die Gesellschaft nicht Resultat unserer Entwürfe, wenngleich sie natürlich Resultat menschlichen Handelns ist. Wir haben die Gesellschaft nicht geplant, bevor wir sie geschaffen haben. Anstatt strategisch unsere Absichten zu verwirklichen, produzieren wir eine Vielzahl schwer kalkulierbarer Nebenfolgen. Wir wissen eben nicht, was wir tun, zumindest nicht vorher. Deshalb, so Heyting, sollten Aufmerksamkeit, Verantwortung und ein Gespräch ohne Aussicht auf letzte Worte an die Stelle der von Hentig letztlich doch noch geteilten Überzeugung treten, daß sich aus Werten und Zielen, über die man sich zunächst einigen muß, die nachgeordneten Mittel, Techniken und Handlungen ergeben, die benötigt werden, Ziele zu realisieren und Werte zu verwirklichen. Kommt es am Ende weniger auf das Was, also auf die weitgesteckten Ziele, als aufs Wie an? Schafft die Art und Weise, in der wir handeln, nicht jene übergreifende Atmosphäre, die dann auch als Ziel oder Wert verbal verdichtet wird? Kurz: Konstituiert das Wie nicht das Was? Ist das Wie nicht der Modus, in dem wir wirksam werden, also unsere Welt gestalten?

     

    IV.

    erwachsen gewordene erwachsene

    „In der Erziehung entscheidet sich, ob wir die Welt genug lieben, um die Verantwortung für sie zu übernehmen“, sagte Hannah Arendt vor vier Jahrzehnten, am 13. Mai 1958, in der Bremer Böttcherstraße. Ihre  Analyse hat seitdem an Aktualität gewonnen. Die Philosophin, die sich ungern Philosophin nennen ließ, vermied in ihrem Vortrag „Krise der Erziehung“ das alte Jammerlied vom Wertezerfall und jedes Lamento à la „nach uns nichts Nennenswertes“. Im Gegenteil: Ihr Thema waren die Erwachsenen. „Die Autorität ist von den Erwachsenen abgeschafft worden, und dies kann nur eines besagen, nämlich daß die Erwachsenen sich weigern, die Verantwortung für die Welt zu übernehmen, in welche sie die Kinder hineingeboren haben.“ Erwachsene hätten für die Welt, wie sie ist, den Kindern gegenüber einzustehen, auch und gerade dann, wenn sie mit ihr nicht einverstanden sind. Vor allem dürften sie den Kindern nicht die Probleme aufladen, die zu lösen sie selbst sich scheuten. Das sagte sie, lange bevor jedes Neugeborene in Deutschland mit über 20 000 Mark Staatschulden und jeder Menge ökologischer Hypotheken belastet wird. Zehn Jahre vor dem antiautoritären Schub nahm Hannah Arendt die Schattenseite der „Progressive education" in den USA aufs Korn und kritisierte hellsichtig, was vielen heute erst langsam dämmert: Die Erwachsenen haben vielleicht gar nicht so sehr versucht, die Kinder zu befreien, als sich selbst aus dem Staub zu machen. Sie enthalten ihren Kindern, die sie doch so idealisieren, etwas nicht Ersetzbares vor: sich selbst.

     

    Es ist natürlich ein Zufall, daß im Jahr 1999, auf den Tag 41 Jahre nach Hannah Arendts großer Rede, wieder an einem 13. Mai, einem Himmelfahrtstag, vor einem Gesamtschulkongreß in Berlin Günter Grass sprach. Sein Thema war „Erbarmen mit den Lehrern“. Das gefiel einem Publikum, das sich allzu gern als Opfer sieht. Grass bestärkte es darin: „Wer möchte da Lehrer sein, wenn die Politiker die Folgen ihres Unvermögens bis in die Schule hinein auslagern?“ Nirgendwo werden so hohe Larmoyanzwerte gemessen, wie in deutschen Lehrerzimmern. Wahre Brutkästen der Wehleidigkeit entstehen, wenn sich pädagogische Weltflucht und jenes Milieu der alt gewordenen Neuen Linken kreuzen, in dem man es vorzieht, Opfer zu sein, aus lauter Angst davor, Täter werden zu können. Was „Täter“ und „Opfer“ allerdings so unheimlich verbindet, ist ihr Reinheitswunsch, ihre Angst davor, sich zu mischen oder einzumischen und ihr Verzicht, risikoreich zu handeln. Also werden Feindbilder konstruiert und Vernichtungsphantasien gepflegt. Jemand muß ja Schuld haben. Günter Grass sichtet den Feind, den „Verfassungsfeind“, in den „Chefetagen von Daimler und Siemens.“ So rahmt man Weltbilder und bastelt sich die große Exkulpation: „Die Verfassungswirklichkeit sieht bis in die Chefetage der Firma Henkel & Hundt asozial aus“. Was kann man da noch machen, gar Lehrern empfehlen? Gar nichts. Nur eine Klagegemeinschaft eröffnen und sich an der Sorgenagitation, der einzigen, die geblieben ist, gegenseitig laben.

     

    Günter Grass spürte wohl diese Sackgasse und versuchte in seiner Rede am 13. Mai 1999 noch die Kurve. Er setzte auf „lernende Lehrer“. Aber auch diese Aufforderung blieb nur ein Appell von der Kanzel.

     

    Hannah Arendt sprach am 13. Mai 1958 nicht von dieser schwachen Abstraktion, „der Gesellschaft“, die verantwortlich zu machen sei. Verantwortlich ist nur, wer sprechen kann. Was also sagen Erwachsene im Subtext ihren Kindern, wenn sie ihre Verantwortung auf Abstraktionen oder Instanzen schieben? „Es ist, als ob sie ihnen täglich sagten: In dieser Welt sind auch wir nicht sehr verläßlich zu Hause, und wie man sich in ihr bewegen soll, was man dazu wissen und können muß, ist auch uns nicht sehr gut bekannt. Ihr müßt sehen, wie ihr durchkommt; wir waschen unsere Hände in Unschuld.“ Heute ist Hannah Arendts Befund evident: Erwachsene, die ihre Welt wie Untermieter bewohnen, die ihre Träume und Wünsche in Stoßseufzern oder im larmoyanten Konjunktiv artikulieren, die also eigentlich nichts wollen, diese Erwachsenen ziehen mutlose Kinder auf. Sie verweigern ihnen das wichtigste Lebensmittel: Resonanz.

     

    Uns fehlen nicht so sehr die Werte, schon gar nicht mangelt es uns an großen Appellen und scharfen Anklagen, es fehlen erwachsen gewordene Erwachsene. „Leben entzündet sich nur an Leben“, sagte Jean Paul. Selten wurde das klarer ausgedrückt als in Hannah Arendts großer Rede vom 13. Mai 1958:

    „Erziehen tun wir im Grunde immer für eine aus den Fugen geratene oder geratende Welt, denn dies ist die menschliche Grundsituation, in welcher die Welt von sterblichen Händen geschaffen ist, um Sterblichen für eine begrenzte Zeit als Heimat zu dienen. Weil die Welt von Sterblichen gemacht ist, nutzt sie sich ab; und weil sie ihre Bewohner dauernd wechselt, ist sie in Gefahr, selbst so sterblich zu werden wie ihre Bewohner. Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muß sie dauernd neu eingerenkt werden. Die Frage ist nur, daß wir so erziehen, daß ein Einrenken überhaupt möglich bleibt, wenn es auch natürlich nie gesichert werden kann (...). In der Erziehung entscheidet sich, ob wir die Welt genug lieben, um die Verantwortung für sie zu übernehmen und sie gleichzeitig vor dem Ruin zu retten, der ohne Erneuerung, ohne die Ankunft von Neuen und Jungen, unaufhaltsam wäre.“

     

    V.

    lob des anfangs

    Wie Hartmut von Hentig setzt auch Hannah Arendt an die Stelle, an der es häufig um Werte geht, Politik. Aber was ist Politik? Das ergibt sich für Hannah Arendt unmittelbar aus der menschlichen Kondition: der Mensch ist das Tier, das seine Dinge selbst in die Hand nehmen muß. „Wo Gewalt in die Politik eindringt“, schrieb sie, „ist es um die Politik geschehen“. Denn „der Mensch, sofern er ein politisches Wesen ist, existiert im Miteinandersprechen.“ Nur im Sprechen kann eine Welt vieler Möglichkeiten entstehen. Der Sieg der einen Wahrheit wäre für Hannah Arendt gleichbedeutend mit der Zerstörung der Welt. Die Auflösung der Zwangsvorstellung von der einen Wahrheit, die keine andere neben sich duldet, ihre Transformation in viele, nicht zu Ende gehende Gespräche und in viele Handlungen, die die Gespräche unterbrechen und Tatsachen schaffen, an die sich wieder Gespräche und neue Handlungen anschließen, diese Befreiung, die kein Paradies verspricht, aber die Möglichkeit gelingenden menschlichen Lebens, das ist Hannah Arendts Thema und ihr Begriff von Politik.

     

    In Lessing fand sie ein Beispiel für diese genuin politische Gesinnung. Er nämlich stellte Erfahrungen mit der Welt über die Weltanschauung, die ja immer ein System ist, das, wie Hannah Arendt sagte, „vor weiterer Erfahrung schützt, weil sie sich auf eine mögliche Perspektive festlegt“. An Lessings politischem Denken pries sie die Lust, mit der er in sich viele Möglichkeiten vereine; das sei die Voraussetzung dafür, auch die anderen, ja die Welt, im Plural sehen zu können. Lessing habe sogar einen der heiligen Grundsätze unserer Tradition, den der Widerspruchslosigkeit mit sich selbst, geopfert, wenn die verschiedenen Gedanken nur Stoff zum Denken böten.

    Die Welt nicht in den Rahmen eines Weltbildes zu zwingen, erweitert Möglichkeiten zum Handeln. Denn, so zitiert Hannah Arendt Lessing, der Mensch sei zum Handeln und nicht zum Vernünfteln geschaffen. Das Handeln, das Hannah Arendt vom Arbeiten und Herstellen unterschied, ist die Lust, das Leid, in jedem Fall die Leidenschaft, mit anderen Menschen eine gemeinsame Welt zu errichten. Diese gemeinsame Welt, das Zwischen, das Menschen verbindet und in Abstand hält, ist immer ungesichert, ist vergänglich und bedarf ständiger Erneuerung.

     

    Hannah Arendts Denken kreist um die Fremdheit, die Menschen als, wie sie sagte, Neuankömmlinge und Anfänger in der Welt haben, eine Fremdheit, die sie nur durch den Aufbau einer gemeinsamen Welt überwinden können.

    In der gemeinsamen Welt, in diesem Zwischenraum, in dem unabsehbare Möglichkeiten entstehen, wenn Freundschaften aufkommen, darf es aber, das ist sozusagen das Grundgesetz, nie nur eine Wahrheit geben, wie immer diese auch definiert sei. An die Stelle der Wahrheit tritt Freundschaft, die so wählerisch sei, wie das Mitleid egalitär ist. Freundschaft war für Hannah Arendt das Medium, in dem Neues und die menschliche Welt überhaupt erst entstehen. „Macht“, so schrieb sie, komme ursprünglich von „mögen“.

    Die Vorstellung von der einen Wahrheit, die ja in unserer Geschichte so bestimmend ist, war ihr ein Greuel.

     

    Jede Person, die wirklich eine Person ist, und kein Funktionär, ist widersprüchlich und kann nicht nur einer Wahrheit folgen. Jeder Mensch ist gewissermaßen ein Dissident, jeder ist anders unvollkommen, und eben weil wir unvollkommen sind, brauchen wir den Zusammenschluß, und dieser Zusammenschluß ist Politik. Politik wiederum gibt es nicht ohne das Wagnis der Öffentlichkeit. „Es geschieht nichts Neues unter der Sonne, es sei denn, daß Menschen das Neue, das in die Welt kam, als sie geboren wurden, handelnd als einen neuen Anfang in das Spiel der Welt werfen.“ Eine zentrale Kategorie in Hannah Arendts Denken ist die Person. Das ist nicht banal. Denn es ist ein Wagnis, nicht nur eine Rolle zu spielen und nur zu funktionieren: „Das Risiko, als ein Jemand im Miteinander in Erscheinung zu treten, kann nur auf sich nehmen, wer bereit ist, im Miteinander unter seinesgleichen sich zu bewegen, Aufschluß zu geben, wer er ist und auf die ursprüngliche Fremdheit dessen, der durch Geburt als Neuankömmling in die Welt gekommen ist, zu verzichten.“

    Die Wahrheit indessen, immer verstanden als Alleinvertretungsanspruch und nicht zu verwechseln mit der Wahrhaftigkeit des Sprechens oder mit jenen Wahrheiten beschränkter Geltung, die bereit sind, sich mit anderen Wahrheiten anzufreunden, die große, eine Wahrheit also ist das so verführerische wie zerstörerische Gegenkonzept zu dieser Pluralität und Dissidenz des Menschen. Wenn Hannah Arendt von menschlicher Pluralität sprach, dann hieß das für sie, daß jeder Mensch an einer Stelle in der Welt steht, an der noch nie ein anderer stand. Jeder hat einen anderen Ausgangspunkt. Es ist ein Ausgangspunkt für Bewegungen, für eine Reise. Es ist nicht der Standpunkt, von dem aus man den Rest der Welt rezensiert. Den einen, uns von der Qual unserer ursprünglichen Einsamkeit und Fremdheit erlösenden, einzig richtigen und stabilen Weltpunkt, ihn gibt es nicht. Glauben wir an ihn, dann bringen wir uns um die große zerklüftete und schöne Weltlandschaft, dann könnten wir dieses differenzierte Spiel in den Zwischenräumen mit einem Satz überspringen und dabei die Welt erledigen. „Jede Wahrheit, ob sie nun den Menschen ein Heil oder ein Unheil bringen mag, ist unmenschlich im wörtlichsten Sinne, weil sie zur Folge haben könnte, daß alle Menschen sich plötzlich auf eine einzige Meinung einigten, so daß aus vielen einer würde, womit die Welt, die sich immer nur zwischen den Menschen in ihrer Vielfalt bilden kann, von der Erde verschwände.“ Für Hannah Arendt war, wie für Kant, das Erwecken der Vernunft eine zweite Geburt, ein selbstgemachter Anfang gegen das Gelebtwerden. Denn die erste Geburt haben wir uns nicht ausgesucht. Die erste Geburt war für Kant ein „Skandal des Anfangs“, den Menschen nur kompensieren können, wenn sie sich die Freiheit des Selber-anfangen-Könnens nehmen. Die Urszene des Anfangens ist das Staunen. Auf sie folgt die Kraft des Anfängers, der selbst anfangen kann.

    Dieses Ziel kann weder durch Belehrung noch durch Überredung und schon gar nicht durch Indoktrination vermittelt werden. Es kann eigentlich gar nicht semantisch vermittelt, sondern nur in der Performanz mitgeteilt werden. Dieses Ziel wirkt nicht durch Inhalte, Bekenntnisse oder Werte, sondern durch das Wie des Denkens, des Handelns und vor allem des Sprechens. Es breitet sich wie eine ansteckende Gesundheit aus.

     

    Mit der Fähigkeit, „Ich“ zu sagen, statt vorschnell ins „Wir“ zu fliehen, plädiert Hannah Arendt nicht für den einsamen einzelnen und schon gar nicht für einen Misanthropen. „Menschlichkeit, die sich in den Gesprächen der Freundschaft verwirklicht, nannten die Griechen Philanthropia, eine Liebe zu den Menschen, die sich darin erweist, daß man bereit ist, die Welt mit ihnen zu teilen. Ihr Gegensatz, die Misanthropia oder der Menschenhaß, bestand darin, daß der Misanthrop niemanden findet, mit dem er die Welt teilen möchte, daß er niemanden gleichsam für würdig erachtet, sich mit ihm an der Welt und dem Kosmos zu erfreuen.“

     

    VI.

    empowerment

    Bildung, verstanden als Generationenverhältnis, ist die beste Arena, in der Erwachsene ihr Handeln und ihre Wirkung überdenken können. Hier können sie damit beginnen, andere Impulse zu setzen, als die für sie bisher gültigen. Wenn Schulen, Kindergärten und Hochschulen als Einrichtungen angesehen werden, an denen die Grammatik der Gesellschaft gewissermaßen als Verdichtung des Ganzen offen liegt, weil sie dort ja weitergegeben werden soll, dann können diese Orte für Erwachsene ein Spiegel zur Selbsterkenntnis und zur Welterkenntnis sein: Selbstversuche mit der von ihnen geschaffenen Welt.

     

    Eine Bildungsreform, die heute ansteht, wird mehr als nur eine Schulreform sein müssen. Eine mentale Währungsreform steht auf der Agenda. Und zum Glück gibt es bereits einige Hoffnung machende Schwalben vor dem Sommer. So zum Beispiel das Durham Board of Education in Kanada, wo die Bertelsmann-Stiftung nach Recherchen auf allen Kontinenten die innovativsten Schulen fand. Die „Stille Revolution“ in Kanada begann mit Lehrern, die sich aus Peter Senges Theorie über lernende Organisationen diesen Satz gemerkt hatten: „Wir haben den Feind lange gesucht. Nun haben wir ihn gefunden. Wir sind es selber.“ Das war nicht büßerisch oder selbstgeißelnd gemeint. Im Gegenteil, das Schlagwort dafür heißt Empowerment, und das ist schwer ins Deutsche zu übersetzen: Ermächtigung? - Machtverlagerung, jedenfalls nach unten.

    Lehrer müssen heute, im Übergang von der belehrten zur lernenden Gesellschaft, in ihrer Person mit dem Aufbruch beginnen, der für die gesamte Gesellschaft ansteht. In Durham haben sie dabei eine zunächst paradoxe Erfahrung gemacht: Wenn sie ihre Rolle als Wissensmonopolist aufgeben und Anfänger auf höchstem Niveau werden, haben sie die Chance, wieder zur Avantgarde in der Gesellschaft zu gehören.

     

    Auf einem Symposion von ISIS, dem internationalen Netzwerk innovativer Schulen, rechnete Steve Benson vom Ministerium für Erziehung und Unterricht in Neuseeland kürzlich vor, 80% der Technologie, die heutige Schüler später benutzen werden, seien noch gar nicht erfunden. Daraus folgerte er, Kinder müßten in Schulen vor allem die Erfahrung machen, Wissen selbst zu entwickeln. Sie müssen Erfinder werden, während die herkömmlichen Schulen doch vor allem Ausführende herangezogen haben. Das größte Hindernis, das dieser Wende von der Belehrung zum Lernen entgegensteht, seien nicht die Lehrpläne und auch nicht die Regierungen. Das größte Hindernis ist tief in die Institution Schule eingeschrieben, es sind Lehrer, die nie etwas anderes gemacht haben als zu unterrichten oder unterrichtet zu werden. Steve Benson: „Lehren kann keine lebenslange Karriere mehr sein, aber Lernen muß eine solche lebenslange Karriere werden.“

     

    Ein ebenfalls international strahlendes Beispiel für den anstehenden Aufbruch findet man in der Ferdinand Freiligrath-Schule in Berlin-Kreuzberg. Als diese Hauptschule am Ende schien, als Lehrer nicht mehr wollten oder nicht mehr konnten, als Unterricht nicht mehr möglich schien, holte man sogenannte „Dritte“ in die Schule, Künstler, Handwerker und andere Meister ihres Metiers. Sie verbreiten dort nun die Atmosphäre von erwachsen gewordenen Erwachsenen und zeigen Schülern andere biographische Modelle als das des verbeamteten Lehrers. Schulen müssen für Erwachsene selbst bedeutende Orte werden. Nur dann werden Schüler das Gefühl haben: Ich verpasse was, wenn ich nicht dorthin gehe - und eben nicht fürchten, sich und die Welt zu versäumen, wenn sie im Klassenzimmer sitzen.

     

    VII.

    nordlicht

    Vielleicht sieht es bald in vielen Schulen so aus wie in dänischen Berufsschulen. Überall hängt Kunst. Selbst in der KFZ-Werkstatt. Und zwar Originale. Etwa 15 000 € hält das EUC SYD, der Verbund zweier gewerblicher Schulen in Aabenraa und Sonderborg, in ihrem Jahresetat für den Ankauf von Kunst bereit. Der Besucher glaubt zuerst, sich verhört zu haben. „Noch nie“, sagt Paul W. Lorenzen, Abteilungsleiter für Umwelt und Lernmilieu, und klopft dabei auf das edle Holz seines Schreibtisches, „noch nie sind Bilder vandalisiert worden.“ Er kennt schon die ungläubigen Blicke ausländischer Besucher. Vor allem die Deutschen trauen bei einem Rundgang nach kurzer Zeit ihren Augen nicht mehr. „Hängen sie die Bilder bei Schulfesten ab?“ wollte kürzlich einer wissen. „Nein“, sagte Paul W. Lorenzen, „dann würden wir lieber keine Feste mehr feiern. Wir zeigen den Schülern damit unsere Werte.“ Und nach einer kleinen Pause: „Was uns wichtig ist, müssen wir zeigen und vor allem leben, aber nicht predigen.“ Aber etwas extravagant sei eine Berufsschule voller Kunst doch schon? Der freundliche Däne wird streng. „Das ist gar nicht extravagant, mein Herr, das ist so nötig wie Stühle und Tische.“


     

    Literatur in der Reihenfolge der Bezugspunkte im Text:

     

    Hartmut von Hentig: Ach, die Werte - Über eine Erziehung im 21. Jahrhundert. München 1999

    Frieda Heyting: Über Pluralität und Verantwortung

    Hartmut von Hentig: Vernunft, Verständigung, Verantwortung. In: Neue Sammlung, Vierteljahres-Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft, Heft 1/1999

    Hannah Arendt: Die Krise der Erziehung. In: Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft

    Günter Grass: Der lernende Lehrer. In: Günter Grass, Für und Widerworte

    Aus anderen von Hannah Arendt zitierten Büchern:

    Hannah Arendt: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Rede bei Verleihung des Lessing Preises, liegt in verschiedenen Ausgaben vor, u.a.: „Menschen in finsteren Zeiten" (Piper Verlag) oder EVA Reden, Bd. 27 (Europäische Verlagsanstalt)

    Hannah Arendt: Vita Aktiva oder vom tätigen Leben (Reihe Piper, Band Nr. 217)

    Das Durham Board of Education wird in dem Film von Reinhard Kahl, "Die stille Revolution", porträtiert. Das Video (45 Minuten) wird von der Bertelsmann-Stiftung, Carl-Bertelsmann-Straße 256, 33311 Gütersloh vertrieben

    Die Entwicklung der Ferdinand Freiligrath-Schule wurde in dem Film von Reinhard Kahl, "Die Dritten kommen", über fünf Jahre begleitet. Langfassung (108 Minuten) und Kurzfassungen (10 Minuten und 60 Minuten) werden vom Verlag Pädagogische Beiträge, Rothenbaumchaussee 11, 20149 Hamburg vertrieben

    Über die Erneuerung dänischer Berufsschulen: "Die Zukunft erfinden", eine Videodokumentation von Reinhard Kahl, 60 Minuten, Bertelsmann-Stiftung, Carl Bertelsmann Straße 256, 33311 Gütersloh

     

     

    ad personam:

     

    Reinhard Kahl, geb. 1948, freier Publizist, schreibt, macht Rundfunksendungen und dreht Fernsehfilme über die Lust am Lernen, die Qual, belehrt zu werden und die endlosen Dramen des Erwachsenwerdens.

    Im Hamburger Literaturhaus ist er Gastgeber des dort monatlich stattfindenden "Philosophischen Cafés."

     

    Von Söldnerheeren zu Kulturgemeinschaften

    19.01.2004

    Von Söldnerheeren zu Kulturgemeinschaften

    Ausgerechnet aus der Wirtschaft kommen revolutionäre Vorschläge für eine bessere Schule Von Reinhard Kahl

     


    Wie kommt es, dass viele Jugendliche, die in der Schule versagen, im Beruf aufblühen? „Da stimmt doch was nicht,“ meint Jürgen Hogeforster und kann von erstaunlichen Biographien erzählen. 21 Jahre war er Hauptgeschäftsführer der Hamburger Handwerkskammer, seit kurzem ist er im Ruhestand. Nun will er sich ganz auf die Bildungspolitik werfen. Eine private Fachhochschule will er aufbauen und helfen, ein deutsches Tabu zu knacken, das dreigliedrige Schulsystem. Aber was heißt dreigliedrig? Hogeforster erinnert an fast fünf Prozent Sonderschüler. So viele Ausgegliederte seien in der Welt einmalig. Kürzlich war er in Finnland. „Kein Mensch versteht da unser System.“


    Und schon wieder ist dieser Mann so frisch empört, als begegneten ihm die deutschen Eigenheiten zum ersten Mal. Hogeforster ist aber ein Veteran. Und eine Ausnahme in der deutschen Bildungsszene. Er hat seine Meinung geändert.


    Im gegliederten Schulsystem sah er Vorteile. Es müsste doch eigentlich für die unterschiedlichen Menschen passender sein und den Einzelnen besser fördern als die Einheitsschule. „Doch im Ergebnis,“ weiß er jetzt, „kommt genau das Gegenteil heraus.“ Weil in den Schulformen starre Bilder von Begabung herrschten, versuche man die Schüler diesen Bildern anzugleichen. „Sie kommen als unterschiedliche rein und gehen als gleiche wieder raus – gestutzt.“ Seit Pisa bremst Hogeforster seine anschwellende Radikalität nicht mehr und sagt: „Das ist ein unmenschliches und uneffektives System.“


    Gift für die Gesellschaft


    Das Hauptproblem sei, dass für mehr und mehr Kinder und Jugendliche die negativen Erfahren in den Schulen dominierten. Und dann folgt das Wort, auf das viele verzichten, weil es sofort Reflexe in deutschen Bildungskrieg entfacht: die frühe Selektion sei die Erbsünde unserer Schulen. Hogeforster nennt sie auch „ein Gift, das einzelne schädigt und die Gesellschaft schwächt“. Je mehr Schüler in höhere Schulen aufstiegen, um so mehr Versager produziere das System. Das Ergebnis: 15 Prozent der Jugendlichen seien nicht ausbildungsfähig, es sei denn sie kämen nach Ende der Schulpflicht erst mal in Einrichtungen, die sie wieder auf den Geschmack des Lernens bringen und das kaputte Selbstvertrauen wieder aufpäppeln.


    Noch mal die Zahl. 15 Prozent der Lehrstellenbewerber seien nicht ausbildungsfähig? Nein, sagt Hogeforster, 15 Prozent eines Jahrgangs. Er führt Studien an und tatsächlich entspricht die Quote der Pisastudie, die in Deutschland 23 Prozent der Fünfzehnjährigen als so genannte Risikokandidaten einstuft. Bei den Finnen sind es sieben Prozent. Hogeforster sieht diese Problemgruppe wachsen. „Das heißt wir müssen jedem fünften sagen, du bist umsonst geboren.“ Der promovierte Ökonom kann begründen, warum in der Wirtschaft das Humankapital wichtiger wird als Maschinen oder das flüchtige Finanzkapital. Noch höher schätzt der Mann, der jahrelang den Planungsstab des niedersächsischen Ministerpräsidenten geleitet hat, und Geschäftsführer des Prognos Instituts in Basel war, Vertrauen und Selbstvertrauen. Sie seien das allerwichtigste und das am schwersten zu fassende Kapital. Sein harter Vorwurf: Es werde in unseren Schulen zerrieben.


    Die meisten Betriebe gehen immer noch den naheliegenden Weg. Sie suchen sich die besten Bewerber raus. So haben inzwischen in Hamburg 15 Prozent der Lehrlinge Abitur. Die schwachen Schulabgänger werden zum großen in diversen staatlichen „Maßnahmen“ geparkt. Manche Wirtschaftsverbände verlangen, die Hauptschule aufzuwerten. „So habe ich bis vor einigen Jahren auch argumentiert,“ sagt Hogeforster, bis er den Glauben aufgeben hat, dass die Hauptschule jemals wieder eine Schule mit einem breiten Spektrum von Begabungen wird, wie das in ländlichen Teilen Süddeutschlands noch der Fall ist und dort wohl zu vergleichsweise guten Pisa-Ergebnissen führte. Aber dahin führe kein Weg zurück. „Keine Politik kommt dagegen an, dass die Eltern ihre Kinder auf höhere Schulen schicken.“


    Noch als Chef des Hamburger Handwerks schrieb er seine Kritik auf und skizzierte eine Schule, in der alle Kinder bis zum 9. Schuljahr zusammen bleiben. In diesem Konzept liest man, dass Schule nicht auf einen bestimmten Beruf vorbereiten, sondern fürs Lernen begeistern solle. Dabei seien Vorbilder gefragt. „Schulen und ihr Personal müssen selbst lernwillig und lernbereit sein, sich an Qualitätsstandards messen, eine höhere Eigenständigkeit haben und sich ständig verbessern.“


    Einige Monate wurden die Thesen diskutiert und schließlich ohne Gegenstimme am 18. Dezember 2003 vom „Parlament des Handwerks“ in der Hansestadt verabschiedet. 12 800 Betriebe mit 136 000 Beschäftigten vertritt das Gremium. Wenn es nach ihm geht, sollen Vorschulen vom fünften Lebensjahr an Pflicht werden. Der Wettbewerb zwischen den Schulen würde gestärkt. Ganztagsangebote sollen „das lokale Umfeld einbeziehen“. Und neben der Schulpflicht für Kinder würde es auch eine Weiterlernpflicht für Lehrer geben. Das Hamburger Handwerk steht nicht allein. Auch der Handwerkstag Baden-Württemberg beschloss eine Schule nach skandinavischem Vorbild, in der alle Schüler neun Jahre zusammen bleiben.


    War man vom Handwerk in Sachen Bildung bisher gewohnt, dass auf Rechtschreibung, Dreisatz und saubere Fingernägel gepocht wurde, so steht im Bildungsmanifest des Handwerks aus dem Südwesten: „Das Konzept ,Belehrung\' darf nicht länger im Mittelpunkt stehen. Es ist das Unterrichtsprinzip des auslaufenden Industriezeitalters“. Verlangt wird, eine neue Kultur in den Schulen. Kinder sollen Fehler machen dürfen. Und Lehrer sollen nicht als hochfrequente Sender ihre Schüler zu passiven Empfängern konditionieren. Kinder wollten doch lernen und würden in der Schule lernmüde. „Das Kernproblem“ ist für den Handwerkstag, dass „in Deutschland der Lernprozess nicht individuell an den Entwicklungsstand der Schüler gekoppelt ist. Stattdessen wird nach einem Einheitskonzept unterrichtet.“ Wer nicht der Norm entspricht, den stempele das System zum schlechten Schüler. „Das selektive System entlässt die Schule aus der Verantwortung, sich um schwierige und abweichende Schüler zu kümmern“.


    Natürlich wollen die Handwerker auch deshalb eine andere Schule, weil sie fürchten, dass sich bei ihnen bald nur noch die Invaliden sammeln. In Baden-Württemberg, schreibt der Handwerkstag, würden nur noch der Hälfte der Jugendlichen, die sich bewerben, Voraussetzungen für eine erfolgreiche Berufsausbildung mitbringen. Anders als in manchen früheren Verlautbarungen wird die Schuld nicht bei den Jugendlichen gesucht, sondern in der Art, wie hier zu Lande Schule gemacht wird.


    Der Vorschlag aus Baden-Württemberg ist noch detaillierter als der aus der Hansestadt. Statt des horizontalen, dreigliedrigen Systems soll es künftig drei aufeinander aufbauende Stufen geben. Basis wäre eine neue Vorschule. Ihr folgt die neunjährige „Grundstufe“. Ein dritter Absatz bietet ab Klasse 10 drei Wege: das allgemein bildende Gymnasium, das Berufsgymnasium und die duale Berufsausbildung. Übergänge zu den Hochschulen sollen allen offen stehen, die ihren Abschluss schaffen.


    Grüne Karte als Ansporn


    Auch in anderen Teilen der Wirtschaft beginnt eine Diskussion über eine neue Schule. Peter Haase ist Chef von „VW Coaching“, einer Gesellschaft mit 140 Millionen Euro Umsatz, in die der Wolfsburger Autokonzern alle Bildungs- und Fortbildungsaktivitäten ausgegliedert hat. Haase bemängelt, dass von der Hauptschule bis zur Universität Einzelkämpfer trainiert würden, die im Betrieb erst mühsam Zusammenarbeit lernen müssten. Ein Ausbildungsverbund in Wolfsburg hat in den vergangen Jahren 650 Jugendliche, zumeist ohne Schulabschluss, aufgenommen und davon wurden 92 Prozent anschließend in Arbeitsverhältnisse übernommen. „Wir verteilen in den Schulen ständig die rote Karte und geizen mit der grünen Karte,“ kritisiert Haase. Deshalb wurden jetzt „Profilkarten“ entwickelt, in denen die Stärken und Lernwünsche der Jugendlichen vermerkt werden. Schritt für Schritt werden diese Karten zu individuellen Lehrplänen ausgebaut. Wenn die Individualisierung des Lernens gelingt, braucht man dann noch Schulprofile von Hauptschule, Realschule und Gymnasium, die es sonst nirgendwo gibt?


    Auch die Unternehmensberater von McKinsey setzen in ihrem Plan für eine neue deutsche Schule darauf, dass dort alle Kinder neun Jahre zusammen lernen und dabei jeder seinen Weg findet. Ihr Vorbild ist die legendäre Futurum Schule in Schweden. Sie erinnert kaum noch an den üblichen Lehrerunterricht. Eher an Lernbüros. Jeder Schüler entwickelt in seinem Logbuch zusammen mit den Pädagogen seinen einmaligen Lehrplan. „Vielleicht müsste die Schule das Vorbild sein, das wir dann in die Arbeitswelt mit nehmen,“ überlegt McKinsey Boss Jürgen Kluge.


    Die neuen Töne für die Erneuerung der Bildung aus der Wirtschaft erstaunen manch einen, wurde ihr bisher doch zugeschrieben, nur an der profitablen Verwertung von Humankapital interessiert zu sein. Dieses Bild aus der alten Industriegesellschaft sitzt in Deutschland tief. Immerhin titelte 1966 die Wirtschaftszeitung „Industriekurier“: „Demokratie hat in Betrieben so wenig zu suchen, wie in Schulen, Krankenhäusern und Gefängnissen.“


    Worauf es heute ankommt, formuliert Thomas Sattelberger, Personalvorstand bei der Reifenfirma Continental als Frage für Betriebe, Schulen und die ganze Gesellschaft: „Wie machen wir aus Söldnerheeren Kulturgemeinschaften?“

    PS O1 2004 Krieg und Frieden

    Nach dem ersten Tag in der weiterführenden

    Schule kommt ein unglückliches

    Kind nach Hause. Am liebsten würde es

    nie wieder hin gehen. Kaum hatte nämlich

    der Klassenlehrer die Schüler begrüßt,

    drohte er mit leiser Stimme: »Ich

    sage hier alles nur einmal.« Und fügte

    hinzu: »Mit mir habt ihr Glück. Die

    Fachlehrer sind wirklich streng.« Das ist

    vielleicht keine Kriegserklärung, aber

    doch die Ankündigung von Kriegsrecht.

    Nicht nur der Lehrer und seine angedrohten

    Kollegen machten dem Kind

    Angst. Bedrohlich fand es auch einige

    Mitschüler, die offenbar nur auf das

    feindliche Signal von vorne gewartet hatten.

    Wird einer etwas lauter, rufen ihn

    andere pseudoempört zur Ordnung. So

    wird der Pegel ständig erhöht. Der Lehrer

    blickt stumm vor sich hin, als wolle

    er sagen, ihr werdet euch noch wundern,

    mich wundert schon gar nichts mehr.

    Binnen kurzem sind die Feindbilder gerahmt.

    Das Spiel »Blöder Lehrer – Dumme

    Schüler« ist eröffnet und könnte jetzt

    neun Jahre so weitergehen. Dem Lehrer

    hat das Verhalten der Schüler eindeutig

    bewiesen, dass man von Anfang an Härte

    zeigen muss. Die Schüler glauben nun

    eines sicher zu wissen: Hier sind wir nie

    zu Hause. Wie in jedem Krieg hat immer

    die andere Seite angefangen. Keiner will

    der Dumme sein, der als zweiter zieht.

    Feindbilder wollen gepflegt sein. Eine

    Haltung, die nicht nur dumm ist, sondern

    auch dumm macht. Denn ist der Kleinkrieg

    erst mal Alltag geworden, wie sollen

    sich Schüler und Lehrer dann noch positiv

    überraschen? Ist die soziale Neugierde

    geschwächt, lässt auch die auf die

    Welt, also auf das Wissen nach.

    Sich überraschen

    Aber genau daran erkennt man gute

    Schulen: Lehrer werden von Leistungen

    und Ideen ihrer Schüler ständig überrascht.

    »Wir haben doch tolle Schüler«,

    schwärmt Gisela John, Leiterin der Jenaplanschule

    in Jena, »dass ich immer

    froh bin, hier Lehrerin zu sein.« In den

    100 Minuten Projektzeit, die es an drei

    Tagen die Woche gibt, sitzen Schüler

    auch in Fluren an Tischen oder am Boden

    und arbeiten. Viele Besucher staunen nur

    kurz über diese Atmosphäre, dann meinen

    sie den Grund zu kennen: Das sind

    halt ausgesuchte Schüler, die keine Probleme

    machen. Falsch. Viele Kinder und

    Jugendliche haben Umwege hinter sich.

    Manche sind hier nach Phasen der Schulverweigerung

    erstmals heimisch geworden.

    Die Schulleiterin versteht nicht, wie

    schnell häufig nach der Substanz dieses

    »Schülermaterials« gefragt und nicht begriffen

    wird, »dass hinter dem Ganzen

    ein gemeinsam geschaffenes Regelwerk

    und gemeinsame Rituale stehen.«

    Wo ist Konrad?

    Heute ist die ganze Schule auf den Beinen,

    fast die ganze, bis auf die »Spatzen

    «, aus dem schuleigenen Kindergarten.

    Aber alle anderen 400 Schüler von

    Klasse 1 bis 13 sowie das Kollegium ziehen

    von der Tatzendpromenade 9 quer

    durch Jena zum Universitätshügel. Nur

    ein großer Hörsaal reicht für alle aus. An

    diesem Vormittag stellen die Lehrer ein

    Projekt vor, an dem in den nächsten drei

    Wochen alle Schüler und Lehrer, auch die

    Spatzen arbeiten werden: »Die Moderne.

    « Die Präsentation im Hörsaal ist

    kurzweilig und macht Hunger auf mehr.

    Lauter Gewebeproben aus den Projekten,

    die nun beginnen. Dann geht etwas

    schief. Während eine Lehrerin Brecht

    singt, erscheinen hinter ihr unpassende

    Dias und Schriften aus dem Beamer.

    »Der Computer spinnt«, ruft jemand,

    »wo ist Konrad?« Konrad ist ein Computergenie

    aus dem 9. Jahrgang, die

    Autorität auf diesem Gebiet.

    Diese Szene wäre in mancher Schule der

    Auslöser für großes Gejohle geworden.

    Lauter prustende Schülerbacken, die auf

    so was nur gewartet haben. Endlich mal

    Druck ablassen, ein kleines Match im sadistischen

    Pingpong mit dem Lehrkörper.

    Nichts davon. Vielleicht ein Lächeln. Keine

    Störung der Aufmerksamkeit. Bloß einige

    Lehrer finden die Panne peinlich.

    Wenn eine Schule diesen Test besteht,

    muss etwas ganz Besonderes mit ihr sein.

    Worin besteht ihr Geheimnis?

    Der größte Teil des Unterrichts findet Peter

    Petersens Jenaer Plan entsprechend in

    altersgemischten Gruppen statt. Die Jahrgänge

    eins bis drei bilden die Untergruppe,

    vier bis sechs die Mittelgruppe und sieben

    bis neun die Obergruppe. Leistungsdifferenzierung,

    die auch die deutschen Gesamtschulen

    mit dem Gift der Selektion

    schwächt, gibt es nicht. Mit der Förderung

    von Verschiedenheit und der gleichzeitigen

    Gewissheit von Zugehörigkeit wird eine

    Atmosphäre geschaffen, die Schüler zu

    faszinierenden Leistungen treibt. Beeindruckend

    ist, was Schüler am Ende der

    Projekte in ihren Präsentationen vorstellen.

    Und wie sie das machen. Neuerdings

    wird auch außerhalb der Projektzeiten die

    traditionelle Fachlichkeit zurückgedrängt.

    In den Oberklassen werden Physik, Chemie

    und Biologie zu »Natur« zusammengelegt.

    Dafür haben die Lehrer ein glänzendes

    Curriculum entwickelt. Viele Pädagogen

    hatten auch in dieser Schule Vorbehalte

    und Angst, die zugedrängte Fachlichkeit

    könne zu Leistungseinbußen, zumindest

    in der Leitwährung Abitur führen.

    Aber auch diesmal wurden die Lehrer

    mit den hervorragenden Leistungen ihrer

    Schüler überrascht.

    P.S.

    In Jena ebenso wie etwa auch an der Bodensee

    Schule, in Kassel Waldau oder in

    Hamburg an der Grundschule von Max-

    Brauer fällt auf, dass Lehrer schon vor

    den Schülern in der Klasse sind. Wie

    Gastgeber haben sie alles vorbereitet und

    warten. Das ist ein schöner Anfang, der

    wie jeder Anfang ein Muster für das

    Ganze setzt. Leider ist er die Ausnahme.

    In der Regel kommt der Lehrer zuletzt,

    häufig zu spät, blickt wie ein Inspektor

    und fragt, was ist denn hier los. Und

    manchmal droht er dann mit leiser Stimme:

    »Ich sage alles nur einmal…«

    P. P. S.

    Kritik, Zustimmung oder Brainstorming:

    Kahl-Lob.des.Fehlers@gmx.de

     

    Wunderbare Welt des Lernens / über Spitzer

    Süddeutsche Zeitung

    Die wunderbare Welt des Lernens

    Warum ein Psychiater, der eigentlich triviale Botschaften verbreitet, tausende von Zuhörern begeistert

    Von Reinhard Kahl

     

     

     

    So wild sind die Leute sonst nur bei Popkonzerten“, sagt ein Techniker, der Großprojektionen auf zwei Leinwände justiert. Die Stadthalle von Schwäbisch Gmünd ist um halb Sieben fast voll. An den Kassen stehen noch Schlangen. Dabei wird es gleich drei Stunden Worte ohne Pause geben. „Wie lernt das Gehirn?“

     

     

    Ende Oktober, an einem Abend kurz vor Sieben sitzt der Mann, den an diesem Abend 1200 Menschen hören wollen, unscheinbar am Rand von Reihe 8. Graue Jacke und dunkler Rollkragenpulli. Er mustert die Lehrer, Eltern, Ärzte, Kindergärtnerrinnen und Therapeuten. Erstaunlich viele junge Leute sind gekommen. Der Mann genießt den Auftrieb. Fünf Minuten nach Sieben tritt der Leiter des staatlichen Schulamtes, Wolfgang Schiele auf die Bühne. „Ich begrüße Herrn Doktor, Doktor, Professor Manfred Spitzer.“ Gejohle, Beifall. Was ist hier los?

     

     

    Manfred Spitzer ist Direktor der psychiatrischen Uniklinik Ulm, Autor von populären Büchern übers Lernen und die Hirnforschung, Guru einer neuen Szene und umstritten bei manchen seiner akademischen Kollegen aus den Lehr- und Lernwissenschaften. Der Mann, der in Medizin und Philosophie promoviert, Psychologie studiert hat, zweimal Gastprofessor in Harvard war, verblüfft sein Publikum gleich mit der ersten Folie. Ein fast um die Hälfte amputiertes Gehirn. Der Eingriff lag in früher Kindheit. Inzwischen spricht der erwachsene Besitzer des Torsos zwei Sprachen. Seine Gehirn hat sich trotz des Mangels gut organisiert. Verblüffung. Nach dieser Eröffnung muss sich keiner im Saal unvollständig oder gar als potentieller Versager fühlen. Keinem kriechen heute Abend diese Schuldgefühle über den Rücken, die Lektionen übers Lernen zum Beispiel beim Elternabend sofort wieder hervor holen. Dieses „Es-reicht-nicht, Du reichst nicht, Du hast wieder Fehler gemacht und wirst irgendwann als blinder Passagier enttarnt werden“.

     

     

    Trost für die 40-Jährigen

     

     

    Spitzer verkündet die frohe Botschaft einer neuen pädagogischen Bibel. Nichts treibe unser Zentralorgan lieber als zu lernen. „Es kann nichts anderes. Es kann nicht Nichtlernen.“ Schwups, die nächste Folie. „Und es macht ihm eine Heidenspaß.“ Gebannte Gesichter. Dann eine Abkühlung. Lernkurven, überwiegend aus amerikanischen Journalen, selten älter als zwei, drei Jahre. Sie zeigen, so Spitzer, „wie die Lernkurve unseres Gehirns nach und nach fällt“. Fürs Fremdsprachenlernen wird mehr Zeit benötigt und auch das Zusammenwachsen durchschnittener Nervenstränge geht nicht mehr so flott. Es geht abwärts. Ein zumindest vorläufiger Tiefpunkt wird auf einer Grafik mit 45 Jahren erreicht. So alt ist Spitzer.

     

     

    Jetzt wird es Zeit, Trost nachzuladen. „In welchem Alter erreichten Jäger in einer anthropologischen Studie die größte Beute?“ Die Folien zeigen: Deutlich über 40 und das Hoch bleibt. Spitzer erklärt, dass wir zwar erst schnell lernen, dann aber komme mit dem langsameren Lernen sozusagen die Feinjustierung. Ohne die gäbe es keine Höchstleistungen. Wer als Erwachsener schnell oder zu wild sei, verfehle das Ziel.

     

     

    Der Vortrag fesselt. Spritzer spricht dem Publikum irgendwie aus dem Herzen und dennoch ist für die 1200 das meiste neu und verblüffend. Und draußen, in der wissenschaftlichen Community? Bisher ist noch keiner von Spitzers Kollegen, Konkurrenten oder Mitbewerbern aus den Nachbardisziplinen aufgestanden und hat nachgewiesen, das nicht stimmt, was er vorträgt oder schreibt. Die Kritik lautet eher, alles olle Kamellen, wussten wir doch schon und zahlreiche Folgerungen seien überspannt. Es fehlten noch replizierbare Studien für viele Befunde der Hirnforschung. Vieles sei vorschnell, typisch für eine überhitzte Wissenschaftskonjunktur. Gewiss. Aber das Ereignis Spitzer ist nicht nur ein wissenschaftliches. Es spielt sich in Hallen wie Schwäbisch Gmünd oder ein paar Tage zuvor in Erding ab, wo ebenfalls die Stadthalle voll besetzt war.

     

     

    Wissenschaft hat unverständlich zu sein, das gehört zu den nachhaltigen Prägungen im kollektiven Imaginären der Deutschen. Wahrheit ist schwer und etwas dunkel. Wirksames Lernen gleicht eher einer bitteren Medizin. Im Schulalltag gilt immer noch, dass sich Lust und Leistung zueinander eher wie Feuer und Wasser verhalten. Manfred Spitzer verkündet die Gegenthese, ja er inszeniert und verkörpert sie. Spitzer zeigt zu jeder These eine Grafik, eine Studie oder Fotos von den neu entdeckten Hirnlandschaften. Für die meisten Thesen zeigt er auf den Hirnkarten eine Stelle: „Hier vorne werden im Hirn erzeugte opiumähnliche Stoffe ausgeschüttet.“ Pause. „Und was macht das?“ Pause. „Das macht Spaß! Wir können besser denken. Und wenn sie besser denken, bleibt es besser hängen und das wollen wir ja beim Lernen.“Das Publikum ist hungrig nach dieser Botschaft.

     

     

    Schulamtdirektor Wolfgang Schiele, der die Veranstaltung in der Stadthalle organisiert, hatte schon vor Jahresfrist bei einem Spitzer-Vortrag sein Saulus-Erlebnis und sagte sich, den lad’ ich ein. Dass er dafür die Stadthalle mietete, fanden viele übertrieben. Aber der in Schulreformen engagierte Mann machte eifrig Werbung für den Abend und erhielt 7000, in Worten siebentausend, Anmeldungen. Als Spitzer vor zwei Wochen zum vierten Mal in diesem Jahr nach Schwäbisch Gmünd kam, gab es wieder 3000 Kartenbestellungen und morgen, am 12. November wird die Halle beim fünften Auftritt wieder voll sein.

     

     

    In Wallung gerät das Publikum, darunter sind viele Lehrer, wenn es um die Schule geht. Spitzer erzählt von einer Studie seiner Freiburger Kollegen, wonach die Geistesaktivität von Schülern den ganzen lieben Tag lang nie so schwach ist wie vormittags in der Schule. Die Schüler stellen dort offenbar nur ihre Körper ab, machen ein intelligentes Gesicht, aber ihre Phantasie geht spazieren. Sie lernen Regeln auswendig und vergessen sie. Aber ihr Gehirn lernt nicht, sagt Spitzer, denn das Gehirn ist das Protokoll seiner Benutzung. Es verlangt Beispiele, will aktiv sein und dann macht es sich seine Regeln selbst. Das finde vormittags in der Schule zumeist nicht statt. Unserer Königsorgan ist dort untererregt und das häufig 13 Jahre lang. Ein Skandal.

     

     

    Aus Angst in den falschen Hals

     

     

    Es kommt noch schlimmer. Jetzt berichtet Spitzer von einer eigenen Untersuchung an der Universität Ulm. Demnach scheint es, als würden den Erfahrungen und Informationen, die unter Angst, Misstrauen und Stress aufgenommen werden, negative Vorzeichen eingebrannt. Das so gelernte Wissen wird eher zu harten Waffen geschmiedet und nicht als Gewebe geschmeidig gehalten, das weiter verknüpft werden soll. Unter Angst und Misstrauen Gelerntes bekommt man sozusagen in den falschen Hals.

     

     

    Mit Angst könne man natürlich ganz schnell lernen. Niemand legt seine Hand ein zweites Mal auf die heiße Herdplatte. „Aber aversiv mit Strafe, Wehtun und Schmerzen lernen sie nur, was sie nicht tun sollen, und nicht wo es lang geht.“ Jetzt erreicht der Abend seinen Höhepunkt. Spitzer weiß das. Der Punkt der Umkehr ist erreicht. Wir haben falsch gelebt. Spitzer kommt den alten Vorurteilen übers mühsame Lernen noch mal einen Schritt entgegen, um sie endgültig zu erledigen: Lateinvokabeln unter Angst und Tränen zu lernen, „das klappt schon. Doch wenn sie da raus geholt werden, wird die Angst mit raus geholt, mit aktualisiert. Und wenn wir eines wissen, dass sie, wenn sie Angst aktivieren, nicht mehr kreativ sein können.“ Große Stille. Als hätte Spitzer ein Betriebsgeheimnis des nicht mehr so richtig laufenden deutschen Systems ausgeplaudert. „Wenn wir wollen, dass unsere Kinder künftig Probleme lösen können, dann brauchen wir eine positive Lernumgebung in den Schulen.“ Donnernder Beifall.

     

     

    Aber was macht eine gute Atmosphäre aus? „Die Person des Lehrers ist das Wichtigste.“ Darauf hätte man auch ohne Hirnforschung kommen können. Spitzer will es beweisen und setzt auf die wirklichkeitsverändernde Macht unbestreitbarer Erkenntnisse seiner naturwissenschaftlich angelegten Studien, „mit denen wir noch ganz am Anfang stehen.“ Aber einiges sei sonnenklar. Was die Lehrer betrifft, greift er zu einer Analogie aus der Psychotherapieforschung: Egal was Therapeut und Patient miteinander anstellen, die Therapie ist erfolgreich, wenn sich beide wertschätzen.“ Für die Schule gelte das erst recht.

     

     

    Von zynischen Lehrer, über die ihm seine fünf Kinder berichten, spricht er erst nach dem Vortragsmarathon beim Essen mit einigen Unternehmern und dem Sparkassendirektor. Sie wollen ihre Weiterbildung nach Spitzer’schen Erkenntnissen umbauen. Lernen ist auch bei ihnen ein Schlüsselwort und sie wissen, dass das deutsche Erfolgsmodell, das eines des Industriezeitalters war, ausläuft.

     

     

    So einvernehmlich wie der Schulamtsdirektor, Spitzer und die Manager am Tisch sitzen könnte man glauben, der 30jährige deutsche Bildungskrieg könnte nun endlich beigelegt werden. Die Hirnforschung könnte für diese Gemeinschaftsfeld deutscher Bildungspolitik die Fahne liefern. Aber wenn es nach Spitzer geht, dann fängt die Wissenschaft überhaupt erst richtig an. Von seinem jüngsten Triumph kann er der Runde beim Wein berichten. Annette Schavan, Kultusministerin in Baden Württemberg, spendiert jetzt 2,3 Millionen Euro für das von Manfred Spitzer just gegründete „Transferzentrum für Neurowissenschaft und Lernen“ in Ulm.

     

     

    Schule kann gelingen (4)

    SÜDWESTRUNDFUNK

    SWR2 Wissen - Manuskriptdienst

     

    Freiheit und Standards

    Reihe: Schule kann gelingen (4)

     

    Autor: Reinhard Kahl

    Redaktion: Anja Brockert

    Regie: Maria Ohmer

    Sendung: 25.10.2003, 8.30 Uhr, SWR 2

    Archiv-Nr.: 018-9436

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    Bitte beachten Sie:

    Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.

    Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen

    Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

     

     

     

     

     

    manuskript

     

     

    Sprecherin

    Zum Beispiel der Schüler Andreas. Nach der vierten Klasse schrieb ihm der Grundschullehrer ins Zeugnis: "Ungeeignet für das Gymnasium". Seine Eltern akzeptierten das Urteil nicht. Hätte er keinen Professor für Erziehungswissenschaften zum Vater gehabt, was wäre wohl aus ihm geworden? So kam der Junge doch noch auf die höhere Schule. Dort musste Andreas wie Hunderttausende von Kindern in Deutschland an sich zweifeln: Bin ich der falsche Schüler auf der richtigen Schule - oder vielleicht doch der Richtige in der falschen Umgebung?

    Seine Schullaufbahn hat Andreas längst hinter sich. Irgendwann, erinnert er sich, wurde aus dem ängstlichen, schlechten Schüler ein mutiger, guter Schüler. Das Jugendorchester, in dem er Geige spielte, half ihm. Dankbar erzählt er vom  Dirigenten, der jedes einzelne Instrument hervorragend aufgebaut und dann alle zum Orchester zusammengeführt habe.

     

    Schließlich machte der fürs Gymnasium angeblich Ungeeignete sein Abitur mit sage und schreibe 1,0.

    Er gewann einen „Jugend forscht“ Preis.

    Er studierte mit großem Erfolg Physik in Deutschland und Mathematik in Australien. Dort traf er auf Forscher, die statistische Verfahren zur Messung von Schülerleistungen entwickelten, arbeitete daran mit und entwickelte sie weiter.

    Schließlich holte ihn die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, in der die 29 stärksten Industrienationen zusammengeschlossen sind, in ihre Zentrale nach Paris. Dort ist er für die Bildungsstatistik verantwortlich und erfand die Pisa Studie, die er weltweit koordiniert.

    Die Rede ist von Andreas Schleicher.

    Am 11. April 2003 erhielt er in Stuttgart den Theodor Heuss Preis.

     

    Cut 1 / Schleicher

    Die Pisa Ergebnisse  sprechen  auch hier eine klare Sprache Jede institutionelle Barriere, die wir aufbauen, behindert Lernen und verstärkt Chancenungleichheit.

     

    Sprecherin

    Andreas Schleicher plädierte in seiner Dankesrede dafür, Schulen mehr Eigenständigkeit und Vertrauen zu geben. Denn so wie man mit den Schulen umgeht, so gehen auch sie mit den Schülern um.

    Alle  Festredner waren sich einig: Mehr Freiheit für die Schulen. Bislang sind es aber nur wenige  Schulen, die sich die Freiheit nehmen. Doch es gibt sie. Und sie werden gewöhnlich nicht daran gehindert, eigene Wege zu gehen. Sechs solcher Schulen wurden in Stuttgart mit der Theodor Heuss Medaille ausgezeichnet, zusammen mit Schleicher, der den Theodor Heuss Preis erhielt.

     

    Zum Beispiel die Jenaplan-Schule in Jena. Die Schule fängt  bereits mit dem Kindergarten an, alle Schüler lernen bis zur 10. Klasse gemeinsam. Ein großer Teil macht Abitur.

     

    Cut 2 / Gisela John, Schulleiterin

    Wir haben tolle Schüler – oder?  Dass ich immer froh bin Lehrerin zu sein hier. Leute, die als Gäste kommen, sagen immer, das sind doch alles ausgesuchte Schüler, die machen doch nie Probleme. Die haben noch nicht begriffen, dass hinter dem Ganzen ein gemeinsam geschaffenes Regelwerk und gemeinsame Rituale stehen, dass man miteinander leben kann und sich nicht behindert.

     

    Sprecherin

    Gisela John, die Schulleiterin. Ihr Stolz auf die eigene Schule ist Teil einer pädagogischen Produktivkraft, die nur entsteht, wenn die Schule keine nachgeordnete Behörde ist, wenn sie sich nicht als Erfüller von Lehrplänen versteht. 

     

    Heute ist die ganze Schule auf den Beinen – das heißt, fast die ganze, bis auf die „Spatzen“,  die Kleinen aus dem Kindergarten. Aber alle anderen 400 Schüler von Klasse 1 bis 13 sowie das Kollegium ziehen von der Tatzendpromenade 9 quer durch Jena zum Universitätshügel. Ein großer Hörsaal reicht für die ganze „Jenaplan-Schule“ aus. An diesem Vormittag stellen die Lehrer ein Projekt vor, an dem in den nächsten drei Wochen alle Schüler und Lehrer und auch die „Spatzen“ arbeiten werden. Das Thema: „Die Moderne.“

     

    Cut 3 Atmo Projektpräsentation

     

    Sprecherin

    Die Präsentation im Hörsaal ist kurzweilig und lehrreich. Eine Lehrerin trägt das Gedicht „Anna Blume“ von Kurt Schwitters vor. Ein Chor von Lehrern und Oberstufenschülern singt Songs aus dem Musical „Cabaret“. Lauter Proben aus Projekten, die nun beginnen. Die Reihe ist lang. Dann geht etwas schief. Während eine Lehrerin Brecht singt, erscheinen hinter ihr unpassende Dias und Schriften aus dem Beamer. „Der Computer spinnt,“ ruft jemand, „wo ist Konrad?“ Konrad ist ein Computergenie aus dem 9. Jahrgang, die Autorität auf diesem Gebiet.

     

    Diese Szene wäre in manch anderer Schule der Auslöser für großes Gejohle im Saal geworden. Lauter prustende Schüler, die auf so etwas nur gewartet haben. Endlich mal Druck ablassen, ein kleines Match im sadistischen Pingpong mit dem Lehrkörper. Hier aber: nichts davon. Vielleicht ein Lächeln. Keine Störung der Aufmerksamkeit. Bloß einige Lehrer finden die Panne peinlich.

    Wenn eine Schule diesen Test besteht, muss etwas ganz Besonderes mit ihr sein. Worin besteht ihr Geheimnis?

    Es ist der Verzicht auf den Druck durch Selektion. Es ist der Abschied vom Gift des dreigliedrigen Schulsystems.

     

    Cut 4  Atmo /  Schüler O-Ton /  Atmo

    Also ich find’s gut mit den Noten, dass man da nicht so unter Druck gesetzt wird, in vielen Schule, (sonst sagt man) „ja, gut, lernen, ja, viel lernen,  ja, machen, dass man ne gute Note bekommt im Diktat oder in `ner Mathearbeit“. Hier ist das nicht so. Hier kriegt man in Englisch vielleicht mal Exercises, also wird nicht so unter Druck gesetzt. „Hoffentlich habe ich ne gute Note, hoffentlich“, das ist hier nicht so. Jede Woche haben wir sechsmal Englisch, also jeden Tag. Man lernt hier schon viel, es wird nur ruhiger angegangen. Ich lern hier mehr wie in einer anderen Schule.  Ich bin hier um Längen besser wie in anderen Schulen. Und ab der 8. gibt es ja eh Noten, aber ich finde da ist man reifer, viel reifer.

     

    Sprecherin

    Wolfgang geht in die fünfte Klasse. Er hat erst kürzlich an die Jenaplan Schule gewechselt. Jetzt lauscht er weiter der Projektpräsentation im Unihörsaal. Ein Lehrer skizziert, worum es bei Studien über den Komponisten Eric Satie gehen wird. Ausschnitte aus Charly Chaplins Film „Modern Times“ werden gezeigt. Eine Exkursion zum „Bauhaus“ wird vorgestellt. Worum soll es bei den „Blauen Pferden“ des Malers Franz Marc gehen;  wie wurde Fritz Langs „Metropolis“ gedreht? Nicht leicht, sich für eines der Angebote zu entscheiden. Und bei allen Projekten wird Wolfgang viele jüngere und ältere Mitschüler treffen. Auch das ist spannend. 

     

    Die Grundidee des Jenaplan, den der Reformpädagoge Peter Petersen in den zwanziger Jahren entwickelt hatte, ist die der Gemeinschaftsschule. Schüler sollen nicht nur mit gleichaltrigen Kindern oder Jugendlichen zusammen sein. Sie lernen besser in gemischten Gruppen. Nicht nur, weil Jüngere von Älteren lernen -  die Älteren bekommen auch von den Jüngeren Impulse.

    Verschiedenheit zuzulassen, Freiheit zu wagen, die Pflicht, zu erklären, was man will und zu verantworten, was man getan hat - das war so ziemlich das größte denkbare Gegenteil zur Schule der DDR. Aber auch im Westen herrscht – wie man weiß – noch Lehrplanwirtschaft.

    In Jena wurde in der Wendezeit diese Schule gegründet, die so sehr an lichte deutsche Bildungstraditionen anknüpft und auf die dunklen verzichtet. Später wurde sogar ein Passus in das Thüringer Schulgesetz aufgenommen, der reformpädagogisch ausgerichteten Schulen besondere Spielräume zubilligt, zum Beispiel was die Notengebung betrifft oder die Möglichkeit, vom Kindergarten über die zehnjährige Regelschule bis zur gymnasialen Oberstufe alles unter einem Dach zu haben. Eine Schule muss also nicht bloß Gesetze erfüllen, sie kann auch auf deren Veränderung hinwirken. Und es zeigt sich: So etwas wie den „Geist“ einer Institution gibt es wirklich. Er wirkt in der großen Konzeption wie im Alltag jedes Schülers.

     

    Cut 5              Gisela John

    Jeder Klasse Klassenraum ist anders, einer hat Streifen, einer ist grün, einer ist blau. Die Schule lebt von der Individualität der Schüler und von der Individualität der Lehrer und im Grunde auch von den Stärken und Schwächen, von den Macken der einzelnen. Man muss erkennen, wie ein Schüler lernt, und jeder lernt anders, und ich muss dem Schüler helfen, dass er erfolgreich ist. Ich muss dem nicht die Schwierigkeiten aus dem Weg räumen. Ich muss ihm helfen, dass er bereit ist Anstrengung aufzubringen und dass er sieht, es lohnt sich, er kommt damit zum Ziel. Also, ne Sache muss auch irgendwo ästhetisch sein. Also ein Gegenstand muss immer zu Ende gebracht werden und zwar so, dass es schön aussieht.

     

    Sprecherin

    Schönheit ist ein Maß des Gelingens, auch das einer Schule. Das ist in Deutschland ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke. Wenn man an die Normalverwahrlosung vieler Schulen denkt, kann man traurig werden. Aber warum sollten nicht Schönheit und Spiel, Ernst und Eleganz, die Anstrengung, eine Sache zu vollenden und sie dann anderen vorzustellen, Prinzipien von Schulen werden?

    Gelingen kann allerdings nur, was auch misslingen darf. Wenn Freiheit und Unsicherheit aus lauter Furcht vor dem Misslingen klein gehalten werden, dann wird der Kreativität die Seele genommen. Gelingen können Dinge nur, wenn im Handeln das Neue eine Chance bekommt, wenn nicht bloß Bewährtes angewendet, ausgeführt oder gar nur kopiert wird.

    An der Jenaplan Schule ist das Selberhandeln der Schüler eines der Bildungsziele. Das kann man nur erfüllen, wenn es nicht in eine ferne Zukunft geschoben wird, sondern wenn es sofort gilt. 

    Von 10.30 Uhr an sind an drei Tagen die Woche 100 Minuten Projektzeit. Über das ganze Jahr. Wer zu dieser späteren Vormittagszeit durch die Schule geht, erlebt eine für deutsche Schulen ungewohnte Arbeitsatmosphäre. Auf den Fluren, im Treppenhaus, in der Bibliothek, selbst im Lehrerzimmer und natürlich in den Klassenzimmern - überall sitzen, hocken oder stehen Schüler. Sie sind ganz bei sich selbst und bei ihrer Sache. Die meisten Türen stehen offen. Manchmal trägt ein Schüler etwas vor. Das nennt man Präsentieren, ein wichtiges Wort in dieser Schule. Diese 100 Minuten sind der Höhepunkt des Tages in dieser Ganztagsschule.

     

    Jedes Projekt dauert in der Regel drei Wochen, anschließend werten die Lehrer es  aus und versuchen, es für das nächste Mal zu verbessern. So lernen auch die Lehrer. Ja, man könnte sagen, sie forschen. Sie sind nicht in erster Linie Fachlehrer, sondern Experten des Lernens. Sie beobachten die Schüler, sich selbst und die Wirkung ihrer Arbeit. Je freier die Schüler im Unterricht lernen, um so gewissenhafter müssen Lehrer den Unterricht entwerfen, ja choreografieren. Und Schulleiterin Gisela John sogt dafür, dass die Lehrer miteinander im Gespräch bleiben.

     

    Cut 6     Gisela John

    Lehrer, die nicht wissen was wir machen – in  Jena, die reden schlecht über uns. Die sagen Spielschule, hier kann jeder machen was er will, hier geht´s kunterbunt durcheinander, Kraut und Rüben. Leute die kommen und gucken sagen, Mensch, ihr habt keine Schüler, das sind Wunderleute, die ihr hier habt, aber dass es eingebettet ist in eine Struktur, und die Schüler wissen, sie müssen ihre  Leistungen abrechnen. Wenn ich präsentiere vor den anderen, wenn ich in der Präsentation mir ein kleines Stückchen von meinem erarbeiteten Wissen raus suchen muss und zwar nach dem Aspekt, wie kann ich das interessant für die anderen gestalten und wie kann es anfangen, dass die mir zuhören und dass es den anderen auch was bringt. Und wenn ich in der Situation erfahren habe, dass ich andere belastet, weil ich das nicht richtig durchdacht habe oder mich nicht richtig vorbereitet habe, dann ist das unwahrscheinlich heilsam. Die wissen, es ist eineingebettet in einen Rhythmus in ein Ritual.

     

    Sprecherin

    Die Präsentation ist das wichtigste am Projekt. Darauf laufen die Arbeit, die Mühe und die Lust hinaus. Jetzt muss jeder Schüler zeigen, was er geschafft hat. Er muss sich verständlich machen und Fragen beantworten können. Er muss seine Zuhörer interessieren. Es gibt keine bessere Prüfung als das Präsentieren. Bei dieser Art der Abrechnung des Geleisteten kann man kaum betrügen - und will es  gewöhnlich auch nicht. Wer mogelt oder blufft wird schnell durchschaut. Da sind die Mitschüler gnadenlos. Und vor seinen Mitschülern will jeder gut da stehen. Außerdem lernen die Schüler von den Präsentationen der anderen mehr, als wenn Schritt für Schritt das Pensum durchgenommen wird. Der größte Effekt: Mit diesem Lernen in Zusammenhängen gewinnt die Schule Zeit. Denn wie aufwendig ist es, die komplexe Welt in dünne Schichten zu sezieren, auf Fächer zu verteilen und sie dann nach Lehr- und Stundenplan wieder aufzuwärmen? Das gelingt selten; und am Ende ist die verschulte Welt erkaltet und fühlt sich wie Pappe an.   

     

    In dieser Schule weiß jeder Schüler, zu welchem Jahrgang er gehört, aber wichtiger ist eine andere Einteilung: Man gehört erst drei Jahre zur Untergruppe mit den Jahrgängen eins bis drei, kommt dann in die Mittelgruppe mit den Jahrgängen vier bis sechs und schließlich in die Obergruppe für Jahrgänge sieben bis neun. Der 10. Jahrgang wird auf den Abschluss vorbereitet. Dann kommt die Oberstufe, die der größte Teil der Schüler besucht und dann Abitur macht.

     

    Neben den Stunden, in denen die Schüler in ihren altersgemischten „Stammgruppen“ zusammen sind, gibt es Kurse, die nach Jahrgängen angeboten werden. Während es in den gemischten Gruppen auf Klassengespräche, Zusammenarbeit und die Selbständigkeit der Schüler ankommt, steht in den Kursen eher der Unterricht des Lehrers im Mittelpunkt. Doch seit ihrer Gründung driftet die Schule immer mehr von den Kursen hin zu den heterogenen Stammgruppen, vor allem zu Projekten. „Da trauen wir uns immer mehr,“ sagt die Schulleiterin. Natürlich, gibt sie zu, haben Lehrer dabei Ängste zu überwinden. Lehrer erleben, wie sie ein heimliches, tief sitzendes Misstrauen zu überwinden haben: Irgendeine Stimme sagt noch, eigentlich wollten und könnten die Schüler von sich aus gar nicht lernen.

    Wenn Schule gelingen soll, dann muss der Lehrkörper diese Mitgift, die er aus der eigenen Schülerzeit in sich trägt, aufspüren und abbauen. Auch das macht man in Jena.

     

    Zu dieser Schule gehören auch behinderte Kinder und Jugendliche. Von den schwierigen Schülern lernt die Schule am meisten. Sie lernt, wie gelernt wird, und sie lernt, wie vielfältig die Menschen sind und dass alle aus ihren Schwächen versuchen, neue Stärken zu machen. 

     

    Cut 7    Gisela John

    Wir haben 16 Kinder, oder 17 Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, ein Kind aus dem Koma, das alles neu lernen musste, die beiden und richtig stark lernbehinderte Kinder, die kriegen auch keinen Schulabschluss.

     

    Sprecherin

    Am Umgang mit den Schwierigkeiten und Behinderungen der Schüler wächst die Schule. Das kann sie natürlich nur, wenn sie die Freiheit hat, aus ihren Erfahrungen und Beobachtungen Konsequenzen zu ziehen -  wenn also die Schule selbst ein lernender Organismus ist. Werden allerdings diejenigen Schüler, die Schwierigkeiten haben oder Schwierigkeiten machen, exportiert - von der höheren in die niedere Schule, von der Regelschule in die Sonderschule - dann nimmt sich die Schule die Chance, selber zu lernen.

     

    Cut 8 Stern
    Lernbehinderung ist ein Krankheitsbild, das es nur in Deutschland gibt, das gibt es überhaupt nirgends. Natürlich gibt es Kinder, die nicht so fix im Kopf sind, aber man käme nie auf die Idee, für sie Sonderschulen zu schaffen.

     

    Sprecherin

    ...stellt Elsbeth Stern vom Max Planck Institut für Bildungsforschung fest. Tatsächlich gibt es in Deutschland eine Sonderschülerquote von mehr als 4%. Das ist international ohne Beispiel. In Finnland wurden alle Sonderschulen vollends abgeschafft.

    Zum Profil der erfolgreichen Länder gehört auch: die einzelnen Schule ist selbständig.

    Dass Freiheit leistungssteigernd wirkt, gehört zu den Erfahrungen in fast allen Bereichen unserer Gesellschaft. Vor Ort kennt man die Probleme am besten und weiß, welche Strategien erfolgreich sind. Nur souveräne Institutionen können lernen. In Ländern, die sich in den internationalen Schultests als erfolgreich erwiesen haben, wie zum Beispiel Finnland, hat man die staatliche Schulaufsicht komplett abgeschafft; in Schweden wurde die zentrale Schulbürokratie – wie man sagt - „geschlachtet“. Dafür wurde eine neue Infrastruktur zur Beratung von selbständigen Schulen geschaffen. An die Stelle detaillierter Lehrpläne und Vorschriften sind knapp formulierte Ziele getreten, die sogenannten Standards. Sie beinhalten weniger Wissen, das abgeprüft wird, als Kompetenzen, die sich im Lösen von Aufgaben erweisen. 

    Das bedeutet natürlich auch, dass die einzelne Schule für den Erfolg ihrer Schüler verantwortlich ist und Rechenschaft geben muss.

    Sie kann nicht mehr sagen: Wir haben die falschen Schüler. 

    Elsbeth Stern, eine in ihrem Urteil vorsichtige Wissenschaftlerin, die sich solange zurück hält, bis sie ihre Thesen mit Studien beweisen kann, erbost die deutsche Ideologie, dass das frühe Sortieren begründet und von Vorteil sei. 

    Es stimme einfach nicht.  

     

    Cut  9             Elsbeth Stern

    Diese Vorstellung, dass man für jeden Schüler den richtigen Platz und zwar auf Dauer, wo er auf Dauer hingehört finden müsse, die ist so absurd, die lässt sich überhaupt nicht rechtfertigen. In jeder Lernsituation gibt es Kinder, die schon etwas können, und andere können es noch nicht. Damit muss man umgehen. Aber das kann man nicht damit, indem man ihnen man ihnen vier verschiedene Plätze dauerhaft zuweist, sondern indem man verschiedenen Lernsituationen anbietet.

     

    Zitator

    „Die Unterschiede zwischen den einzelnen Schulen derselben Schulform sind wahrscheinlich größer als Unterschiede zwischen den Schulformen“.

     


    Sprecherin

    So lautet ein Befund der innerdeutschen Pisa Auswertung, der sogenannten Pisa-E Studie, die im Frühjahr 2003 vorgelegt wurde. Und weiter lesen wir....

     

    Zitator

    „Zugespitzt ließe sich formulieren, dass eine leistungsorientierte Homogenisierung von Schule um so bessere Fördereffekte hat, je weniger sie gelingt“.

     

    Sprecherin

    Verklausulierter kann man den Skandal des deutschen Bildungssystems kaum formulieren. 

    Zahlen wiederlegen Ideologien:

    In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz erzielt fast ein Drittel der Realschüler bessere Mathematikleistungen als viele Gymnasiasten des Landes. In Bayern würden sogar 40 Prozent der Realschüler mit ihren Mathematikkenntnissen im Gymnasium zurechtkommen. Beim Lesen liegen immerhin 10 Prozent der Hauptschüler auf gymnasialem Niveau. 

     

    Elsbeth Stern hat im Max Planck Institut für Bildungsforschung Studien

    ausgewertet, die den Intelligenzquotienten von Schülern mit der von ihnen besuchten Schule in Beziehung setzen. Die Korrelation ist schwach.

     

    Cut  10          Elsbeth Stern

    Was man natürlich findet, sonst hätten wir ja die absolute Katastrophe, dass der Mittelwert schon so ist, dass im Gymnasium der IQ etwas höher ist als auf der Realschule und der wieder höher ist als auf der Hauptschule. Aber die Überlappung ist riesig. Wenn man es nur mal zweiteilt, Gymnasium / Nicht-Gymnasium, dann findet man bei 40 bis 50% der Schüler, das kann variieren zwischen den Studien, dass man sagt, mit diesem I Q kann man auf dem Gymnasium sein, damit kann man aber auf der Realschule sein.

     Das Problem ist ja, dass sich Begabungen normal verteilen, die „Gaußsche  Normalverteilung“, das heißt die meisten Menschen sind sich ziemlich ähnlich. 70% etwa weichen gar nicht mehr voneinander ab als der Test an Ungenauigkeit mit bringt. Nur die Extreme unterscheiden sich. Unserer dreigliedriges Schulsystem hat sich ad absurdum geführt, je höher der Anteil an Gymnasiasten wurde, weil man inzwischen den Schnittpunkt da setzt, wo sich die Leute am ähnlichsten sind.  Damit (steigt) die Fehlklassifikation, oder die Willkürklassifikation, weil man gar nicht klassifizieren kann.

     

    Sprecherin

    Lässt sich das deutsche, dreigliedrige Schulsystem noch verteidigen? Tatsächlich ist es ja zumindest ein viergliedriges System. Man vergisst die Sonderschüler. Und die deutsche Gesamtschule wäre ein fünftes Glied. Sie betreibt die Selektion häufig noch schärfer und noch beschämender. In jedem Fall gilt: die Raster, nach denen Schüler sortiert werden, verstellen den Blick auf die Individuen.

     

    Cut  11

    Die Grundidee der Dreigliedrigkeit ist ja eigentlich, wir wollen unterschiedliche Begabung fördern. Doch im Ergebnis kommt genau das Gegenteil heraus. //. Das ist ein unmenschliches System.

     

    Sprecherin

    ...sagt Jürgen Hogeforster. Er ist Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer in Hamburg. Er ging im Herbst 2003 in der Wochenzeitung DIE ZEIT mit einer vernichtenden Kritik am deutschen Schulsystem an die Öffentlichkeit. Statt Selbstbewusstsein verbreitete es ein Gift, das alle schwäche. Für viele Schüler, meint der Handwerkssprecher, lautet die Botschaft...  

     

    Cut 12

    Du bist umsonst. Und immer wieder, du bist nur dumm. / Das saugt die Kraft ab. Die Fülle der negativen Erfahrungen,  dass er dann eines Tages sagt, ich habe keine Lust mehr, und dann kommt: wir brauchen dich eigentlich nicht, du gehörst nicht mehr hierhin.

     

    Sprecherin

    Auch Hogeforster blickt nach Finnland und Schweden – auf die Systeme, die dadurch die allgemeine Intelligenz steigern, dass sie den Schülern Zugehörigkeit versprechen.

    Vor den Hamburger Handwerkern setzte sich bereits der Handwerkstag Baden-Württemberg für eine Schule nach skandinavischem Vorbild ein, in der alle Schüler neun Jahre zusammenbleiben.

    War man vom Handwerk in Sachen Bildung bisher gewohnt, dass auf  Rechtschreibung, Dreisatz und saubere Fingernägel gepocht wurde, so liest man im Bildungsmanifest des Handwerks aus dem Südwesten: 

     

    Zitator

    "Das Kernproblem ist in Deutschland, dass der Lernprozess nicht individuell an den Entwicklungsstand der Schüler gekoppelt ist. Stattdessen wird nach einem Einheitskonzept unterrichtet."

     

    Sprecherin

    Wer nicht der Norm entspricht...

     

    Zitator

     "....den stigmatisiert das System zum schlechten Schüler, das selektive System entlässt die Schule aus der Verantwortung, sich um schwierige und abweichende Schüler zu kümmern".

     

    Sprecherin:

    Natürlich wollen die Handwerker auch deshalb eine andere Schule, weil sich bei ihnen die Invaliden unseres Schulsystems sammeln. Nur der Hälfte der Jugendlichen, die sich dort bewerben, wird die Voraussetzung für eine erfolgreiche Berufsausbildung zugesprochen. Anders als in manchen früheren Verlautbarungen wird die Schuld nicht bei den Jugendlichen gesucht, sondern in der Art, wie hier zu Lande Schule gemacht wird.

     

    Cut 13  Hogeforster

    Lernen muss doch Freude machen. Aber wenn man immer unter Druck und Angst lernen muss, du fliegst in die nächste Schublade rein, dann  findet kein Lernen mehr statt. Also die Psychologie ist ne völlig verkehrte.

     


    Sprecherin

    Dass die neurotisierende Wirkung des deutschen Schulsystems von der Wirtschaft angeklagt wird, ist eines der Zeichen dafür, dass die Karten im Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft neu gemischt werden. Das deutsche System, das immer mit Erniedrigung und Aberkennung gearbeitet hat, brachte dem Industriesystem Vorteile. Wem in der Schule gesagt wurde, du bist nichts, aus dir wird nichts, reiß dich am Riemen, der hatte wohl den Antrieb, seine lebenslange Rehabilitierung zu betreiben, notfalls durch Maloche und Selbstausbeutung.

    Künftig kommt es mehr und mehr darauf an, Ideen zu haben - und dazu muss man sich selbst einigermaßen trauen. Und man muss hungrig auf die Welt sein.

     

    Bildung, schreibt die OECD, in ihrem Bildungsbericht 2003, wird zur wichtigsten Produktivkraft. Zugleich stellt sie für Deutschland fest: die Bildungszahlen sind fast so schlecht wie die Wirtschaftsdaten.    

     

    Cut 14

    Heute hängt Produktivitätszuwachs, hängt Wirtschaftswachstumganz ganz entscheidend von Bildung ab. Wir sehen dass Unterschiede beim Produktivitätszuwachs, Unterschiede beim wirtschaftliche Fortschritt ganz entscheidend auf Unterschiede zwischen den verschiedenen Staaten beim Um- und Ausbau der Bildung zurück zu führen sind

     

    Sprecherin

    Die Erkenntnisse von Andreas Schleicher, dem Chef der OECD Abteilung „Bildungsindikatoren“, dem Beinahe -Schulversager aus Deutschland und Pisa Erfinder, ohne den wir etwas ahnungsloser wären, werden uns die nächste Jahre weiter irritieren

    Die nächste weltweit durchgeführte Pisa Studie erscheint am 6. Dezember 2004, ausgerechnet am Nikolaustag. Wenige zweifeln daran, dass Schleicher nicht als Nikolaus, sondern als Knecht Ruprecht nach Berlin kommen wird. Nach dem Abschalten des Tonbands und dann doch noch zum Zitieren freigegeben sagte er:

    Deutschland hat höchsten noch ein Zeitfenster von 10 Jahren. Wenn bis dahin die Bildung nicht umgebaut ist, wird unser schönes Land ein Museum der alten Industriegesellschaft.


    Literaturliste zur Reihe „Schule kann gelingen“:

     

     

    Hentig, Hartmut von: Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit.

    Kartoniert - 124 Seiten - Beck
    Erscheinungsdatum: 2003
    ISBN: 3-406-50469-8

     

    Hentig, Hartmut von: Bildung

    Taschenbuch - 206 Seiten - Beltz
    Erscheinungsdatum: 1. April 2001
    Auflage: 3. Aufl.
    ISBN: 3-407-22035-9

     

    Kluge, Jürgen: Schluss mit der Bildungsmisere. Ein Sanierungskonzept.

    Gebundene Ausgabe - 241 Seiten - Campus Sachbuch
    Erscheinungsdatum: März 2003
    ISBN: 3-593-37189-8

     

    Oelkers, Jürgen: Wie man Schule entwickelt. Eine bildungspolitische Analyse nach PISA.

    Kartoniert - 228 Seiten - Beltz
    Erscheinungsdatum: März 2003
    ISBN: 3-407-22141-X

     

    Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens.

    Gebundene Ausgabe - 511 Seiten - Spektrum Akademischer Verlag
    Erscheinungsdatum: Oktober 2002
    ISBN: 3-8274-1396-6

     

    Schule kann gelingen (3)

    SÜDWESTRUNDFUNK

    SWR2 Wissen - Manuskriptdienst

     

    Der Vorteil verschieden zu sein

    Reihe: Schule kann gelingen (3)

     

    Autor: Reinhard Kahl

    Redaktion: Anja Brockert

    Regie: Maria Ohmer

    Sendung: 18.10.2003, 8.30 Uhr, SWR 2

    Archiv-Nr.: 018-9435

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    Bitte beachten Sie:

    Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.

    Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen

    Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

     

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    manuskript

     

     

    Cut 0  Atmo   /  Montessori Potsdam -

     

    Sprecher:

    Die meisten Besucher sind verdutzt. Schüler aus dem ersten, zweiten und dritten Jahrgang lernen in einer Klasse. Die Viert-, Fünf- und Sechstklässler sind ebenfalls zusammen. Auch die aus der Siebten und Achten. Eine Mischung wie einst in der Dorfschule. Behinderte Kinder gehören dazu. Die Besucher sagen „Wahnsinn“. Oder: „Das kann doch nicht sein.“ Denn das Frappierende ist:  Dieses vielgestaltige Bildungsbiotop zahlt sich in sehr guten Leistungen aus, obwohl  - oder gerade weil - hier niemand groß von Leistung spricht.

    Wir sind in der Montessori Schule in Potsdam. Eine ganz normale, staatliche Schule, nicht etwa  privat, keine reformpädagogische Konfessions-Schule. Es ist eine Gesamtschule bis Klasse 10. Die Pädagogik ist allerdings an den Ideen der italienischen Reformpädagogin Maria Montessori orientiert. Nach ihr nannte sich die Schule, als sie nicht mehr Karl Liebknecht Schule heißen wollte.

    Heute ziehen ihretwegen Familien von Berlin nach Potsdam. Sie erhielt den ersten Preis für innovative Schulen des Landes Brandenburg. 800 Besucher kamen im vergangenen Jahr, um sich selbst zu überzeugen.

     

    Cut 1 Kinder  aus 1, 2, 3

    Drittklässlerin: Da kann man sich die Materialien aus dem Regal suchen und damit arbeiten. Aber man darf sich nichts nehmen, was man schon kann. Das natürlich nicht.

    Erstklässlerin: Und wenn man es nicht kann, muss man  fragen, wie das geht.

    Drittklässlerin: Ja,  da fragt man die Lehrerin; da kann ich auch andere große Kinder fragen...

    Erstklässlerin: ...die das können.

    Drittklässlerin: Sie ist Erste und ich bin Dritte. Und die Drittklässler, wenn sie in der Vierten sind, können sich von den Fünf- und Sechstklässlern was abgucken.

    Erstklässlerin: Das ist  ganz anders als in der Schule; weil es hier Materialien gibt, in anderen Schulen nicht.

     

    Sprecher:

    Wir sind in einer der Klassen mit den Jahrgängen eins, zwei und drei. Die Besucher sind erstaunt, mit welcher Hingabe sich an diesem Morgen die Allerkleinsten, zwei Fünfjährige, für die größten Zahlen interessieren.

    Jeden Tag haben die Schüler 90 Minuten Freiarbeit. Die Kinder entscheiden selbst, was sie tun.

     

    Cut 2  Kinder aus 1, 2, 3

    Die Freiarbeit gestalten wir so, wir nehmen uns Materialien aus dem Regal. Viel mit Perlen, der Rechenrahmen zum Beispiel und  die groß Multiplikation, das  ist die da;  hier können die Erstklässler noch Zahlen üben; und tasten mit Augen zu.

     

    Sprecher:

    Jedes Kind macht während dieser beiden Stunden Freiarbeit etwas anderes:  Vorträge vorbereiten, sich gegenseitig Rechtschreibübungen diktieren, mit  Materialien zum Rechnen experimentieren. Und manche machen scheinbar gar nichts. Ein Mädchen, das eben noch einen Vortrag über Schneeglöckchen gehalten hat, geht quer durch den Raum, bleibt stehen, guckt nach unten, mindestens eine halbe Minute lang, blickt ganz ernst, lächelt in sich hinein, kehrt um, holt sich einen Holzkasten mit Perlen und anderem Material für Rechenübungen aus dem Regal und setzt sich auf den Boden.

    Was mag da wohl passiert sein?

    Das sind die Augenblicke, von denen man an dieser Schule meint, sie seien die wichtigsten und alles andere sei ohne sie fast nichts. Denn Lernen ist so verschlungen und diskontinuierlich wie ein Forschungsprozess oder wie moderne Musik. Langsam baut sich etwas auf. Verschiedenes wird ausprobiert. Nicht alles will passen, und dann das Aha, leuchtende Augen. Wie kommt es zu dieser Begeisterung fürs Lernen?

     

    Cut 3   6./7. Klässler:

    Dass wir ganz anders lernen als in anderen Schulen. Dass wir  keinen richtigen Regelunterricht haben.  In Mathe können wir uns unsere Materialien selber suchen, mit denen wir lernen wolle. Zum Beispiel in der ersten Stunde behandeln wir Brüche und die restlichen beiden Stunden können wir uns  dann Brüche - Karteien suchen, du damit trainieren und über. Es ist halt ganz anders. Es  macht auch viel  mehr Spaß.

     

    Sprecher:

    Das Geheimnis dieses Unterrichts, bei dem man erst mal gar nicht an Unterricht denkt, weil man den dozierenden Lehrer vergeblich sucht, das Geheimnis heißt: Verschiedenheit. Sie macht wach, steigert die Beteiligung, hebt die Leistungen.

    Verschiedenheit hat viele Aspekte.

    Ins Auge fällt die Vielfalt des Materials und die Ordnung, in der Dinge in Regalen stehen und von den Kindern selbstverständlich zurück gestellt werden.

    Dann die Unterschiedlichkeit der Arbeitsweisen und Zugänge beim Lesen, Schreiben, Rechnen. Manche Kinder arbeiten allein, andere mit Partnern. Man sieht wechselnde Gruppen.

    Die wichtigste Verschiedenheit aber liegt nicht in den Angeboten und Arbeitsweisen, auch nicht in der Altersmischung, sie liegt in der Individualität der Kinder. 

     

    Cut 4a   Ulrike Kegler
    Wenn Sie drei Kindern die große Multiplikation erklären wollen, dann ist es schon fast  unlösbar, denn die drei sind nicht an derselben Stelle. Die drei sind alle an einer unterschiedliche Stelle. Deswegen macht man die  entscheidende Geschichten nur mit Einzelnen.

     

    Sprecher:

    Ulrike Kegler, Schulleiterin der Montessori Schule Potsdam.

     

    Cut 4b   Ulrike Kegler

    Das ist ein Gesetz, dass man die Individualität an der Stelle, wo was Entscheidendes gelehrt wird, auch abfragt, an der Stelle sich auch nicht stören lässt. Da muss man für die 5 oder 10 Minuten oder eine Viertelstunde nur mit dem (einen) Schüler zu tun haben. // Ich bin hier. Und ich merke, da ist  einer im Rücken, da hält man nur die Hand hin und das reicht auch schon. Schüler, die in dem System groß geworden sind, die kommen dann gar nicht zu nah, das ist ne ganz entscheidende Sache.

     

    Sprecher:

    In unsere Schultradition ist man gewöhnlich der Überzeugung, es sei von Vorteil, wenn sich Schüler einer Klasse möglichst ähnlich sind. Das Ziel sind homogene Lerngruppen. Das erleichtere und intensiviere den Unterricht.

    In der fünften Klasse sei es erst mal die Aufgabe des Lehrers, alle Schüler auf den gleichen Stand zu bringen, das ist die gängige Rede, zumal in Gymnasien. Das ergibt sich durchaus logisch aus einer Tradition, in der das  Belehren Vorrang vor dem Lernen hat.

    Eine andere Tradition, die der europäischen Reformpädagogik entspringt, setzt statt auf Homogenität auf Heterogenität. Verschiedenheit wird als anzustrebender Vorteil gesehen, nicht als in Kauf zu nehmender Nachteil. Diesem Weg folgen viele europäische Länder mehr und mehr. Vor allem die Skandinavier. Auch für nordamerikanische und kanadische Schulen ist es selbstverständlich, das in jeder Klasse das ganze Spektrum an Stärken und Schwächen, höherer und niedriger Intelligenz vorkommt. Sie gehen diesen Weg nicht so sehr aus reformpädagogischer Begeisterung. Der Vorrang der Vielfalt ergibt sich aus der politischen Entscheidung in den Schulen, bis zur 9. oder 10.Klasse alle Kinder zusammen zu lassen.

    Seit den Pisa- Ergebnissen wächst nun auch in Deutschland die Aufmerksamkeit für diese andere, unerwartet erfolgreiche Tradition, der hierzulande nie der Durchbruch gelang.

    Dabei sprechen – nicht erst seit Pisa – die Ergebnisse der Forschung für gemischte Lerngruppen.

    Am Max Planck Institut für Bildungsforschung in Berlin forscht darüber die Psychologin Elsbeth Stern. 

     

    Cut 5a 

    Diese Vorstellung, dass man möglichst  homogenen Lerngruppen braucht und dann am besten lernt, ist einfach nicht richtig. Bei diesem fragend entwickelnden Unterricht, der bei uns die Regel ist, da mag das stimmen richtig, weil da der Lehrer im Kopf hat, was kann mein Schüler, was soll ich durch die Fragen raus locken und das ist häufig nur auf 2,3 Schüler der Klasse zugeschnitten.

     

    Sprecher:

    Elsbeth Stern nennt diese Art Unterricht „Osterhasenpädagogik“. Der Lehrer hat die Ergebnisse seiner Lektionen hinter Fragen und Andeutungen versteckt. Seine Schüler sollen sie suchen. In Lerngruppen, die die Verschiedenheit der Kinder begrüßen, muss man nichts extra verstecken, weil die Fragen, das Vorwissen und auch die Schwächen der Kinder eine schier endlose Ressource sind.  

     

    Cut 5b 

    Wenn man eher selbständiges Lernen fördert, in strukturierten Kontexten allerdings, dann können sich die Schüler erst mal selber über ihr Wissen und ihr fehlendes Wissen klar werden und es sich erarbeiten. Bei uns ist stark die Vorstellung, dass, wenn wir heterogene Gruppen haben, dann ist das gut für die Schwachen, weil die mit gezogen werden, aber die Starken leiden drunter. Die Vorstellung, dass man immer am einen Ende Kosten hat, ist sehr stark ausgeprägt. Das gilt nur, wenn der Unterricht so abläuft, wie er bei uns rund um die Uhr läuft: lehrerzentriert. Der Lehrer gibt was vor und die Schüler müssen hinterher hinken. Wenn wir mehr organisiertes Lernen hätten, dann  könnten alle Schüler  profitieren. Es ist Ne völlig falsche Vorstellung, dass die Begabten am besten lernen, wenn sie nur unter ihresgleichen sind.

     

    Sprecher:

    Die wissenschaftliche Begleitung der Montessori Schule Potsdam fand jetzt sogar heraus, dass in den nach Intelligenz, Alter und sozialer Herkunft bunt gemischten Klassen die starken Schüler besonders profitieren. Dabei kümmern sich in dieser Schule die Lehrer viel mehr um die Schwächeren. Doch der Erfolg der leistungsstarken Kinder ist eigentlich kein Wunder, denn sie können aus der anregenden Umgebung am meisten für sich machen. Wenn sie anderen Kindern erklären, was ihnen selbst schon einigermaßen klar ist, dann erklären sie sich ein Mathematikproblem, ein physikalische Experiment oder ihre Recherchen über Dinosaurier auch noch einmal selbst. Dann entwickeln sie neue, tiefere Fragen, und  gehen diesen mit anderen Schülern, mit den Lehrern oder im eigenen Kopf weiter nach. So wird das Lernen dialogischer und entfernt sich vom bloßen Kopieren.

    Aber auch Kinder, die langsamer lernen, profitieren davon, wenn Schüler von Schülern lernen. Sie sind ja nicht immer die Schwächeren. Dafür sorgt nicht zuletzt die Altersmischung. Wenn sie schon Drittklässler sind, also die ältesten in der Gruppe, werden auch sie Lehrer für die Kleinen. Und auch die Überflieger werden wieder Anfänger, wenn sie nach der dritten Klasse aus der Gruppe der Jahrgänge

    1, 2, 3 in die der Viert-, Fünft- und Sechstklässler eintreten.  Jeder ist mal unten und mal oben, und die Klasse ist nie im Gleichschritt.

    Das bringt allen Kindern Vorteile. Das Lernen steht im Vordergrund, und Lernen ist nun mal eine Aktivität der Schüler, kein Lehrer kann es ihnen abnehmen.

    Lehrer werden Designer möglichst anspruchsvoller Umgebungen. Ihre Aktivität verlagert sich in die Vorbereitung. Während des Unterrichts haben sie Zeit, sich um Einzelne zu kümmern, denn sie stehen ja kaum noch vor der Klasse. Sie gehen herum. Sie beobachten, beraten, helfen und nehmen sich immer wieder viel Zeit für Einzelne.

    Die deutsche Schule allerdings setzt mehr aufs Belehren und weniger aufs Lernen. Und sie zielt schnell auf Leistung. Leistung wird wichtiger als Lernen. 

    Wie bitte, fragen sich da viele, wo soll denn da ein Gegensatz sein? Leistung und Lernen sind doch in der Schule dasselbe.

    Nein, meint Elsbeth Stern. Dass wir Leistung und Lernen nicht unterscheiden, sei einer der Gründe für die Schwäche der Schüler in Deutschland.

     

    Cut 6 Stern 

    Unsere Schule ist sehr leistungsorientiert, aber nicht lernorientiert;  Man unterscheidet in  der Lehr- Lernforschung zwischen einer Leistungsorientierung, das ist: krieg ich meinen Abschluss mit guten Noten, damit ich damit Zugang zu weiteren Ausbildungsgängen habe. Lernorientiert heißt: habe ich die Mathematik wirklich verstanden. Habe ich verstanden, wie Phänomene zu erklären sind.
    Die Leistungsorientierung ist enorm bei uns, jeder Schüler tut gut daran, möglichst früh zu überlegen, wie er mit wenig Aufwand bestimmte Abschlüsse und Noten bekommt. Aber es interessiert nicht, bis zum Pisa Schock, was können die Schüler, nur stimmen die Noten.

     

    Sprecher:

     Sehen wir uns noch einmal  in der Potsdamer Montessori Schule um. Weshalb gelingt hier Lernen so gut? Wie kommt es, dass die Leistungen glänzen?

     

    Cut 7   Kegler

    Wenn Sie durch die Freiarbeit gehen, in manchen Klassen, sehen sie ganz viele Teppiche auf dem Boden ausgerollt und Kinder arbeiten auf der Erde, da finden Experimente statt usw. Das ist etwas, was die Leute immer sehr fasziniert,  da fällt nichts um, da tritt niemand auf den Teppich, da wird nicht gerempelt, da versucht man respektvoll seinen Weg zu gehen.

     

    Sprecher:

    Ulrike Kegler, die Schulleiterin, übertreibt nicht. Viele Besucher brauchen Zeit, um zu verarbeiten, was sie hier gesehen haben. Denn das Erfolgsrezept liegt im Indirekten. Nicht so sehr auf Ergebnisse zielen. Alle Kinder beteiligen. Und so gut es geht, jeden auf seine Art ins gemeinsame Spiel bringen. 

     

    Cut 8    Kegler

    Das ist für mich das geniale an der Montessori Pädagogik, dass das von Anfang die Basis ist,  aus der Beobachtung von Schülern, dass jeder anders ist, dass keiner zur gleichen Zeit an der gleiche Stelle  das gleiche Interesse hat. Je kleiner sie sind, umso deutlicher die Unterschiede. Je älter sie werden, um so mehr kommen die Interessen auf eine Ebene. Wenn man das beobachtet, muss man die Lehrmethoden danach ausrichten. Sie können nicht allen Kindern zur gleichen Zeit das Lesen beibringen. Das ist höchst kontraproduktiv. Sie haben unterschiedlich sensible Phasen und Offenheiten für unterschiedliche Dinge. Daraus muss sich ne Lehrmethode ableiten. Wenn dem Bedürfnis der Kinder, was ihre geistigen Interessen betrifft,  nachgegeben wird, dann entstehen ganz andere Dinge nebenbei. Dann entsteht nebenbei Freundschaftlichkeit, Respekt, Akzeptanz von Vielfalt.  Disziplin! Nicht diese Aufrecht- Disziplin, sondern ne innere Disziplin, die mit Freiheit viel zu tun hat. 

     

    Cut 9 Atmo Gesang 

    It´s got you and me ... the whole world in his hand

     

    Sprecher:

    Ähnlich wie die Montessori Schule in Potsdam arbeiten die Marchtaler Plan Schulen rund um den Bodensee. Es sind katholische Schulen. Sie sind ebenfalls an den Ideen der italienischen Ärztin und Reformpädagogin Maria Montessori orientiert, ohne ihnen dogmatisch zu folgen. Der Marchtaler Plan wurde bereits in den 70er Jahren in einer Fortbildungsstätte, dem Kloster Obermarchtal, beschlossen. Die Grundidee, und sie ist wichtiger ist als jede pädagogische Methodik, ist ähnlich wie in Potsdam: Achtung, ja Begeisterung dafür, dass jeder anders ist. Der Gedanke kommt hier aus der  christlichen Tradition: Jeder Mensch ist ein Wunder. Jeder ist auf seine besondere Weise ein unvollkommenes Abbild Gottes. Das wiegt schwerer als die Erbsünde.

     

    Auch an der Bodensee Schule St. Martin in Friedrichshafen wird die natürliche Verschiedenheit der Kinder durch die Altersmischung so recht zur Geltung gebracht. Altersmischung ist ein Katalysator. So kann die Illusion von homogenen Gruppen gar nicht erst entstehen. Die Altersmischung hat natürlich auch einen pragmatischen Wert. Die Kinder verstehen das sofort.

     

    Cut 10 Kinder      plus atmo

    Dann können die Älteren den Jüngeren oft helfen. Ich bin jetzt  in der Zweiten und sie in der Dritten – Jetzt kann sie mir das zeigen.

     

    Sprecher:

    Und der Lehrer ist nicht eifersüchtig.

     


    Cut 11 Lehrer  

    Die Kinder lernen von den Kinder manchmal besser,  wie von mir. Die sind unbefangener und haben einen direkteren Bezug und sie lassen sich auch mehr sagen von Gleichaltrigen. Ich denk das ist ein ganz großer Vorteil.

     

    Sprecher:

    Die Bodensee Schule in Friedrichshafen ist eine Grund- und Hauptschule mit einer Werkrealschule. In der siebten Klasse der Hauptschule - und die siebte Klasse Hauptschule gilt bei Lehrern als das schwierigste Pflaster - arbeiten pubertierende Jugendliche ähnlich konzentriert wie die begeisterten Grundschüler. Tag für Tag zwei oder sogar drei Stunden ganz individuelle Freiarbeit.    

     

    Cut 12   Schüler   

    1. Schüler: Fast jeden Tag wäre es gut, wenn wir Deutsch und Mathe machen. Ich habe heute schon etwas Mathematik gemacht, jetzt mache ich Deutsch
    Schülerin: Wir müssen nicht so das machen, was der Lehrer sagt. Wir machen hier die Karten so weit wir kommen.
    2. Schüler  Mir macht es besonderen Spaß, dass wir uns aussuchen könne, was wir an einem Tag machen. Also, wir sind nicht fest gebunden Deutsch an einem Tag zu machen. Wir können auch Mathe, wenn wir wollen
    .

     

    Sprecher:

    Aber, so fragen sich viele, die von der Pädagogik des Obermarchtaler Plan hören, das mag für die Schüler ja ganz angenehm sein. Doch was kommt bei so viel Freiheit, seinen eigenen Weg zu gehen am Ende heraus? Wie sieht es mit der Leistung aus?

    Schulleiter Alfred Hinz kennt dieses Einwand, der gewöhnlich nur wenige Minuten auf sich warten lässt.

     

    Cut 13 Hinz 

    Wir haben in Baden Württemberg in der 9. und 10.Klasse zentral gestellte Arbeiten von Stuttgart, vom Kultusministerium. Das ist auch ein Gradmesser. Und die schaffen wir mit einer Hand, trotz oder gerade wegen der freien Arbeit und trotz oder gerade wegen des vernetzten Unterrichts.

     

    Sprecher:

    Das ist wohl der entscheidende Mentalitätsunterschied: Gute Leistungen trotz oder wegen eines Unterricht, der Schülern individuelle Wege bietet . Schulleiter Hinz sagt: wegen.

     

    Cut 14 Hinz 

    Ich bin davon überzeugt, dass das der Beweis ist, dass die Schule sich ändern muss, weil wir auch Schulleistungen im alten Sinne bessere abliefern, ganz einfach.

     

    Sprecher:

     Die Bodensee Schule ist seit mehr als 30 Jahren Ganztagsschule. Ein Wort, bei dem es manch einem in Deutschland kalt den Rücken runter läuft. Noch mehr Schule? Schule den ganzen Tag?

    Gewiss, die Aussicht auf die Verlängerung der üblichen Vormittagsschule in den Nachmittag lehrt viele das Fürchten. Eine gelungene Ganztagsschule aber teilt den Schultag nicht einfach in Unterricht und Betreuung auf. So wie die Klassenräume und diverse Zwischenräume der Schule zu Lebensorten werden, ändert sich auch der Umgang mit der Zeit. 

     

    Cut 15 Stern

    Zeit haben ist ein wichtiger Faktor. Und zwar stressfreie Zeit, wo ich mich mit einem Problem auseinandersetzen muss. Diese Zeit sollte nicht im Klassenkontext sein, sondern unter kontrollierten Bedingungen nachmittags, in einer Ganztagsschule, wo man selber bestimmen kann, wo man noch etwas nachzuholen hat.

     

    Sprecher:

    Elsbeth Stern vom Max Planck Institut für Bildungsforschung denkt an eine andere Qualität von Zeit, als sie unsere Stundenplanwirtschaft in den Schulen hervorbringt.

     

    Cut 16  Stern 

    Man muss tätig sein  und man muss Zeit haben und man muss langfristig prüfen. Das ist ja auch so ein Problem, dass bei uns die Klausuren in der Schule immer sofort nach der Lerneinheit durchgeführt werden. Man lernt etwas und dann wird es  abgeprüft. Und dann lernt man das Nächste. So werden keine Zusammenhänge geknüpft.

    Zwischendurch wird vergessen. Wenn man nicht verständnisvoll lernt, kann es sinnvoll sein zu vergessen, weil die Stoffe nacheinander so wie eine Bauklotzreihe aneinandergereiht werden und sie werden nicht integriert:.

     

    Sprecher:

    In der Bodenseeschule gibt es das gemeinsame Mittagessen, Lehrer und Schüler zusammen. Mit dem Essen verhält es sich ja ähnlich wie mit gutem Unterricht: Es ist so wenig die bloße Einnahme von Kalorien wie Unterricht das reine Abspeichern von Informationen sein kann.

    Und dann die Mittagsfreizeit.

     

    Cut 17

    Wir haben Sozialpädagogen, wir haben Sozialarbeiter, wie haben Erzieherinnen, wir haben Jugend- und Heimerzieher und wir haben ganz einfach Mütter, die in der Mittagspause genau so da sind für die Kinder – nicht nur für die eigenen, sondern für alle, Wir haben  insgesamt  96 Freizeitgruppen und Arbeitgemeinschaften laufen in der Woche.

     

    Sprecher:

    Auch das weitetet den Horizont: Eltern, Künstler, Experten, die mitarbeiten, sind Botschafter aus der tätigen Welt.

    Die Rhythmisierung des Schultages, die Mischung unterschiedlicher Aktivitäten, die Herausforderung  der Sinne, all das verlangt eine neue Choreografie der ganzen  Schule – und den Abschied von der alten Stunden-Plan-Wirtschaft.

     

    Cut 18 Hinz

    Wir haben den Tag sehr sauber strukturiert. Das ist ganz wichtig. Wir haben uns völlig gelöst von diesem elenden 45-Minuten-Raster. Das kann man natürlich in der Ganztagsschule viel leichter als in der Halbtagsschule. Wir haben keine Glocke mehr, gar nichts.

     

    Sprecher 

    Was in Deutschland Aufsehen erregt, ist in Schweden und Holland, in Neuseeland und England ganz normal. Die Schulen in diesen bei Pisa und anderen internationalen Tests erfolgreichen Ländern verbindet vor allem eines: Sie haben mehr Gelassenheit.

    Und so sind auch die Kinder gelassener. Man sieht es als einen Vorteil an, verschieden zu sein. Zugleich steht für die Kinder in der Schule außer Zweifel: hier bist du richtig. Du gehörst dazu. Es wird nicht sortiert. Diese Schulen zielen nicht unmittelbar auf Leistung, aber auf Bildung. Wer dazugehört, muss mitwirken. Dafür soll die Schule das Rüstzeug liefern. Ebenso selbstverständlich wird verlangt, sich anzustrengen. Dass alle mitmachen wollen, wird unterstellt.

    In den ersten Jahre gibt es keine Noten.

    In Schweden gibt es bis Klasse acht keine Noten. Die Aufteilung der Kinder nach Leistungen untersagt dort das Schulgesetz. In England fängt die Schule um 9 Uhr an. In Holland können, wenn die Eltern es wollen, schon Vierjährige zur Schule. Man fragt nicht nach Schulreife. Die Schule ist ein Entwicklungsraum, sie ist dort spielerisch und ernsthaft zugleich. In Neuseeland schließlich wird jedes Kind an seinem fünften Geburtstag eingeschult. Das ist für das Kind ein Fest - und für die Schule ein Herausforderung. John kommt am 7. Juni und Mary am 28. August zur Schule, eben an ihrem Geburtstag. Die Illusion, dass alle ABC- Schützen auf dem gleichen Stand sind, wenn sie nach den Sommerferien  eingeschult werden, kommt gar nicht erst auf.

    Verschiedenheit ist von Anfang an das Wasserzeichen der Institution Schule.

    Auch in Holland gibt es nicht den einen Einschulungstermin im Jahr, sondern immer wieder kommen neue Kinder in die Klassen hinzu – und das bekommt dem Unterricht.  Denn jeder ist anders und jeder bringt etwas mit, zumindest seine Fragen.

    Nach diesem Anfang gibt es kein Zurück mehr zur „Homogenisierung“ der Generationen.

    Aber alle Veränderungen der Schule, die mit Verbesserungen der Atmosphäre beginnen, finden ihre Stunde der Wahrheit im Unterricht.   

     


    Cut 19  Hartmut von Hentig, der Nestor der deutschen Pädagogik

    Eine Unterrichtseinheit, Stunde oder Woche, was immer, muss ein Erlebnis haben, es muss etwas Aufregendes sein: `ha, das habe ich noch nie gesehen, du, was ist das?

    Das zweite ist: Nachdenken, wie sich das mit dem, was wir  vorher getan haben vereint, woran das anschließt. Also: Einordnen, Einordnen. Und  das dritte ist Einüben, dass ich auch darüber verfüge. ´Es ist mir nicht nur zufällig gelungen, jetzt mache ich drei-, viermal , ja jetzt kann ich es. Und dann kann ich morgen das nächste Erlebnis haben.´  Es muss aber bitte sehr jede Einheit dieses haben. Und wie viele Stunden sind immer nur Einübung, oder immer nur Einordnung und ebenso falsch sind immer nur Erlebnisse, das ist auch nicht richtig.    

     

    Sprecher

    Lernen ist Verknüpfen. Das wusste die guten Pädagogen schon immer. Die moderne kognitive Psychologie kann es nachweisen. Verknüpfen verlangt Interesse für Neues, auch für Fremdes, allemal für Verschiedenes. Wenn diese Basis stimmt, steht gutem Unterricht nichts mehr im Wege.  Die Lernforscherin Elsbeth Stern nennt guten Unterricht deshalb auch „Diversity Management“:

     

    Cut 20  Stern  

    Guter Unterricht knüpft an das Vorwissen an, also dass man seine Wissensspielzeugkiste auspackt und guckt,  was habe ich schon an Erklärungen zu liefern, manches ist vielleicht doch nicht das Richtige, aber das kann ich erst sehen, wenn es raus geholt habe. Auf manchem kann man was aufbauen. Wenn ich mir das als Schüler sehr früh angewöhnt habe, ich schau erst mal, was ich vielleicht dazu beitragen kann, die Aufgabe zu lösen und dann sehe ich, wie weit ich komme, dann ehe ich, wo mir Wissen fehlt. Dann habe ich eine ganz andere Einstellung, wie ich Aufgaben lösen. Ein Grund – das hat Allan Schönfeld aus Berkeley heraus gefunden -  warum Matheaufgaben häufig nicht gelöst werden, ist, dass sehr viele Schüler, auch die guten, diese grundsätzliche Einstellung haben, bei der Matheaufgabe sieht man die Lösung auf den ersten Blick oder aber man kann sie gar nicht lösen. Auch dass man einen Text häufig beim ersten Lesen nicht versteht, - das war mir auch gar nicht so klar, dass viele Erwachsene denken, einmal drüber gehen, wenn ich den Text nicht gleich verstehe, werde ich ihn sowieso nie verstehen.

     

    Sprecher

    Dieses Selbstmisstrauen -  „Ich schaffe es doch nicht“ - ist die bleibende Spur, die die Schule bei vielen Menschen hinterlässt. Dabei sind sie als Kinder voller Fragen und Neugier, ja als kleine Forscher in die Schule gekommen. Sie wollten was raus kriegen. Sie wollten erwachsen werden. Sie konnten mit Fehlschlägen ganz gut umgehen. Sie zogen aus Fehlern nicht die Konsequenz „ Das kann ich ja doch nicht“, sondern probierten einen Weg, und probierten noch einen Weg und vielleicht auch noch einen dritten Weg.

     

    Cut 21 Stern

    Diese Wege gehen viele Schüler und Erwachse gar nicht mehr, weil es nie in der Schule gefördert wurde, weil es immer darum ging, fehlendes Wissen zu verschleiern, man sagt möglichst nicht offen, ich bin noch nicht so weit, ich brauche noch zusätzliche Unterstützung.

     

    Sprecher

    Lernen setzt voraus, dass man nicht fertig ist. Das mag banal klingen, ist aber keineswegs selbstverständlich, solange eine Institution offen oder heimlich auf Perfektion setzt.

    Verschiedenheit wird im Schatten der Perfektion immer nur Abweichung sein, ein Defizit, das geschlossen werden soll, aber eben doch ein Defizit.

    Verschiedenheit kann aber auch Reichtum sein – und Unvollkommenheit ein Reservoir an Möglichkeiten.

    Schule kann gelingen (2)

    SÜDWESTRUNDFUNK

    SWR2 Wissen - Manuskriptdienst

     

    Eine pädagogische Währungsreform

    Aus der Reihe: Schule kann gelingen (2)

     

    Autor: Reinhard Kahl

    Redaktion: Bildung

    Regie: Maria Ohmer

    Sendung: 11.10.2003, 8.30 Uhr, SWR 2

    Archiv-Nr.: 018-9433

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    Bitte beachten Sie:

    Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.

    Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen

    Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

     

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    manuskript

     

     

     

    Atmo:  Lehrwerkstatt; anblenden, ganz kurz offen;

     

    Cut 1: (Jürgen Christ  - Werkmeister, BMW Motorradwerk Berlin Spandau)

    Die haben ein Suchtverhalten, möchten Vorgaben haben und zwar ganz genaue Vorgaben, bitte nicht nachdenken.

     

    Atmo:  Lehrwerkstatt unter Sprecher

     

    Sprecher:

    So erlebt Jürgen Christ, Lehrlingsausbilder im BMW Werk Berlin, viele, ja die meisten Schulabgänger.

     

    Cut 2: (Christ)

    Und das zweite: sie sind süchtig nach Zensuren. Nicht nach Lob, das ist nicht das Problem, sondern nach Zensuren. Nicht ob das Teil gut oder schlecht geworden ist,  ihre Welt ist nach Zensuren ausgerichtet. / Sie sind es nicht gewohnt alleine Entscheidungen zu treffen und die nachher auch zu vertreten, auch wenn sie falsch gewesen sind. Also zu sagen, o.k. ich hab einen Fehler gemacht, müssen wir halt ne neue Lösung finden. Aber zu der Entscheidung zu stehen.

     

    Sprecher:

    Mit seinen Lehrlingen im BMW Werk ist der Ausbilder schon dabei, aus der Welt der Zensuren auszusteigen. Statt dessen werden hier sogenannte „Rückmeldungen“ eingeführt, Dialoge. Denn es geht schließlich auch darum, zusammen zu arbeiten – das wird heute immer wichtiger, überall. Zensuren hingegen fördern den Einzelkämpfer.  

     

    Cut 3: (Christ)

    Ich will weg von den Zensuren. Wir haben als Gruppe lange gekämpft, um vorwärts zu kommen und zu wenigstens zu sagen, wir funktionieren ein bisschen als Gruppe. Das war sehr, sehr schwer. Es wurde nie darauf geachtet, was kann eigentlich mein Nebenmann und wo könnte ich von ihm lernen. Wir nutzen die Stärke des Einzelnen in der Gruppe und jetzt gehen wir dazu über zu fragen, wer hilft dem anderen? Wo ist ein Starker, der dem Schwachen hilft und ihn so ein bisschen hoch zieht.  

     

    Sprecher:

    Zensuren sind ins Gerede gekommen. Auch dort, wo man die stärksten Befürworter für diese traditionelle Leitwährung des Bildungssystems vermutet, in der Arbeitswelt. Die hat sich in den vergangenen Jahren stärker gewandelt als jeder andere Bereich der Gesellschaft.

    1967 noch hieß es im Wirtschaftsorgan „Industriekurier“:

     

    Zitator:

    „Demokratie hat in Unternehmen so wenig zu suchen wie in Gefängnissen, Krankenhäusern und Schulen.“

     

    Cut 4:  (Enja Riegel, Helene Lange Schule, Wiesbaden)

    Ich hab als junge Lehrerin in einem sehr konservativen Mädchengymnasium in einer Gesamtkonferenz den Antrag gestellt, dass die Noten abgeschafft werden sollen. Das war ein ganz furchtbarer Aufruhr und die Lehrer haben mit den Fäusten auf die Tische getrommelt und gesagt, ich soll in die DDR gehen. Das war damals das Schlimmste, was man jemandem androhen konnte: „Gehen sie doch nach drüben, da gehörnse hin! “

     

    Sprecher:

    Diese Zeiten sind vorbei. Enja Riegel, damals die junge Lehrerin, wurde später Leiterin der Helene Lange Schule in Wiesbaden  - einer eigenwilligen und durch Spitzenleistungen glänzenden Schule. Enja Riegel brauchte Geduld, ungefähr 25 Jahre, bis das Notensystem tatsächlich ins Schwanken geriet.

     

    Cut 5:  (Riegel, Fortsetzung Cut 4)

     Wir haben das dann in dieser Schule irgendwann erreicht, dass  es in den Klassen fünf und sechs keine Ziffernnoten gibt. Aber da war ich gar nicht die treibende Kraft. Das waren damals Schüler....

     

    Sprecher:

    ...und auch Eltern.

    Heute verdichten sich ausgerechnet bei einigen Müttern und Vätern, die in Unternehmen in den obersten Etagen sitzen, die Zweifel an der Aussagekraft, vor allem an der Wirkung von Noten. Spornen sie wirklich zu besseren Leistungen an? Oder zehren sie am Willen der Schüler, ihr Bestes zu geben?  Es kommt wohl darauf an, was man unter Leistung versteht. Geht es darum, gut zu funktionieren und von anderen gesetzte Aufgaben möglichst perfekt zu erfüllen? Oder kommt es darauf an, Probleme zu lösen, auch auf Wegen, die bisher vielleicht noch niemand gegangen ist? Anders gefragt:

     

    Zitator:

    „Wie machen wir aus Söldnerheeren Kulturgemeinschaften?“

     

    Sprecher:

    Der Manager Thomas Sattelberger. Fünf Jahre hat er bei der Lufthansa den Bereich Personalentwicklung geleitet. Neuerdings ist er Personalvorstand der Continental AG. Sattelberger verlangt einen Wandel in den Betrieben und in der gesamten Gesellschaft. „Früher“, - also in der klassischen Industriegesellschaft, schreibt  Sattelberger... 

     

    Zitator:

    „...stellte das Individuum eine gemietete Ressource, einen Kostenfaktor dar. Heute ist das Individuum ein „human asset“, das Humanvermögen. Diese immateriellen Vermögen der modernen, informationsbasierten Unternehmen sind zunehmend fragil. Unternehmen sollten Mitarbeiter zu Mitgliedern machen. Personen, die sich als Mitglieder betrachten, zeigen größeres Interesse als andere, die sich nur als gemietetes Gut betrachten.“

     

    Sprecher:

    Manager wie Thomas Sattelberger verlangen eine mentale Währungsreform: In den Betrieben, in den Schulen, in der ganzen Gesellschaft. Auf den Wandel drängt die Wirtschaft am stärksten. Sein Ausbleiben schlägt sich dort bereits in den Bilanzen nieder.

      

    In der Industriegesellschaft sollten die meisten Menschen Routinearbeiten verlässlich ausführen. In der aufziehenden Wissensgesellschaft müssen immer mehr Menschen selbständig Probleme lösen. Sie agieren an der Front zur Zukunft, also zu dem, was niemand kennt. Der Anteil klassischer Produktionsarbeit wird in den beiden kommenden Jahrzehnten auf 10% sinken, prognostiziert die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD. Software-Ingenieure und Handwerker, Ärzte und alle Beraterberufe können sich nicht nur auf vorhandenes Wissen stützen. Sie müssen es ständig modifizieren. Sie müssen selbst neues Wissen schaffen. Und das gedeiht nur in einem Klima, in dem sich die Menschen anerkennen. Sie werden sich nur dann trauen, ihren Intuitionen zu folgen und sich auch ins Unsichere zu wagen, wenn sie Fehler machen dürfen.

    Alle internationalen Schulstudien, nicht nur „Pisa“,  bescheinigen den deutschen Schülern passable Leistungen, solange es um Routineaufgaben geht. Der Leistungseinbruch erfolgt, sobald die Kompetenz, Probleme zu lösen getestet wird.

    Sie ist schwach. Dieser Mangel wird inzwischen in den meisten Schulen gespürt, einige haben ihn klar erkannt und manche Schulen sind schon ziemlich weit darin, ihn auszugleichen und ihren Alltag entsprechend umzubauen.

     

    Atmo: Grundschule

     

    Sprecher:

    Erstes Schuljahr. Eine Klasse, die den Besucher mit einer erstaunlichen Arbeitsatmosphäre überrascht.  Wir besuchen die Max Brauer Schule in Hamburg Altona. Im Frühjahr 2003 wurde sie als mutige Schule mit der Theodor Heuß Medaille ausgezeichnet. Sie geht von Vorschulklassen bis zum Abitur. Die Max Brauer Schule ist eine Gesamtschule der zweiten Generation, die die Fehler der Lernfabriken aus den siebziger Jahren vermieden hat.

    Noten gibt es in den ersten Jahren nicht, und auch in der Oberstufe arbeitet man an einer anderen „Währung“ der Leistungsbeurteilung.  

    Die Schule bekommt viel Besuch. Bestimmte Fragen werden den Lehrerinnen und Lehrern fast jedes Mal gestellt: „Strengen sich die Kinder denn an, wenn kaum Druck gemacht wird? Und wie kommt es, dass ihre Schüler dennoch so viel leisten, obwohl sie keine Noten bekommen?.“ 

    Sybille von Katzler, Lehrerin in der ersten Klasse, lacht dann und fragt zurück:  Warum sagen Sie eigentlich obwohl?

     

    Cut 6: (Lehrerin Sybille von Katzler)

    Ich glaube, das die Kinder ohne Noten mehr leisten. Die guten Kinder sowieso, weil den Level, ich habe schon ne eins oder zwei, gibt es ja nicht. Die machen weiter, die wollen ja unheimlich viel. Und dass die nicht so Leistungsstarken auch mehr leisten. Weil sie bescheinigt bekommen, dass sie sich angestrengt haben, dass sie sich bemüht haben, dass sie einen  riesigen Lernfortschritt gemacht haben./  Ich bin der festen Überzeugung, dass, wenn so funktioniert, mit so einer Arbeitsatmosphäre, wenn man die geschaffen hat, dass sie dann mehr Leistung bringen als mit Noten. /

    Noten sind so kontraproduktiv, /  dann muss man sehen, dass sie bei schlechten Noten den Mut verlieren, dass sie denken, ich bin fünf, nicht die Leistung ist fünf, ich bin schlecht.

     

    Sprecher:

    Die Kinder arbeiten gerade in einer sogenannten „Werkstatt“. Das Thema: die Jahreszeiten. Eine Werkstatt geht so: Es gibt so viele verschiedenen Aufgaben wie Kinder in der Klasse, hier also 21 Aufgaben zum Schreiben, Lesen, Rechnen und Malen, zu Natur und Alltag.  21 Aufgabenkästen stehen vor den Fenstern, und in jedem Kasten liegen wiederum 21 Exemplare, für jedes Kind also eines. Für jede der Aufgaben ist ein Kind der „Chef“. Seine Chefsache erledigt jeder zuerst. Vor allem macht er sie ganz gründlich und bespricht das Ergebnis mit „Billy“, so nennen die Kinder ihre Lehrerin Sibylle von Katzler. In manchen Stunden sind zwei Lehrerinnen in der Klasse. Mit Fragen oder mit den Lösungen aller anderen Aufgaben aus der „Werkstatt“ gehen Schüler dann nicht mehr zur Lehrerin, sondern zum jeweiligen „Chef“. Der weiß ja wie es geht. Und wenn nicht, dann ist für Zweifels- und Grundsatzfragen die Lehrerin zum Üben oder zum Noch-Mal-von-vorn-Anfangen da. So haben die Pädagogen für einzelne Kinder Zeit.

    Die Max Brauer Schule hat sich vom Stil des in Deutschland noch immer verbreiteten „fragend entwickelnden Unterrichts“ gelöst. Das ist ein Unterricht, in dem der Lehrer versucht, alle Fäden in seiner Hand zu behalten. Er legt mit seinen Fragen Fährten, auf die er Schüler er zu locken versucht. Kritiker nennen das auch die „Hundeschule.“ Schüler lernen zu erspüren, was der Lehrer will, statt selbst zu denken.

    Seit den internationalen Schulstudien weiß man, dass dieser stark von außen gelenkte Unterricht nicht sehr wirksam ist.

    Aber brauchen Kinder nicht straffe Zügel? Viele Eltern fragen: Müssen Kinder nicht auch Ellenbogen ausbilden, um sich später durchzusetzen? Geht es denn so ohne Druck?  Sybille von Katzler, die Lehrerin im ersten Schuljahr, widerspricht: Schüler strengen sich mehr an, wenn man ihnen vertraut und ihnen mehr Spielraum für Selbständigkeit und Zusammenarbeit gibt. Wenn sie für sich und miteinander lernen,  sind sie intensiver dabei, als wenn sie vor allem auf den Lehrer blicken und an Noten denken. Und wenn die Lehrerin heute die Arbeit der Kinder bewertet, hat sie das einzelne Kind im Auge, blickt auf seinen Fortschritt - und vergleicht es mit sich selbst,  nicht, wie bei der Notengebung, mit dem Klassendurchschnitt. 

     

    Cut 7: (Sybille von Katzler) 

    Die Anstrengung der Kinder wird ja nicht gemessen. Die strengen sich ja wahnsinnig an. Und der Lernfortschritt wird auch nicht gemessen. Einige Kinder machen einen ungeheuren Lernfortschritt, und trotzdem erreichen sie nie das, was leistungsstarke Kinder ganz locker erreicht haben. In den Noten spiegelt sich das in keiner Weise wieder, diese Anstrengung. Das demoralisiert die Kinder in ihrer Anstrengung. Auch für gute Kinder ist es so, wenn sie immer gute Noten haben, sie die aus dem Ärmel schütteln, warum soll ich mich dann noch mehr anstrengen?

     

    Sprecher:

    Demütigungen, auch die fortgesetzte Entwertung durch schlechte Noten, schwächt den Willen, sich mit seinen Leistungen zu zeigen, sich als Person vor anderen zu exponieren. Wenn die erwartete Resonanz nicht freundlich ist, steigt die Neigung, sich zu verstecken oder etwas vorzuspielen. Diese Tarnung kann auch darin bestehen, nur noch das zu tun, was verlangt wird, und damit die Unsicherheit und das Risiko zu mindern, die mit den eigenen Fragen und Antworten verbunden sind. Dann wirken Schüler zuweilen wie Untermieter im eigenen Leben. Was sie tun, sehen sie nicht mehr als ihre eigene Sache an. Sie taktieren. Sie fragen, wie viel Investition lohnt sich für das zu erwartende Noten-Ergebnis. In der Oberstufe agieren sie dann häufig wie Betriebswirte ihrer selbst. Sie verwerten und verwalten Bestände, sie produzieren nichts. Kreativität kommt so nicht auf. Sollen Menschen etwas Neues wagen, dann müssen sie es zunächst begehren, müssen es sich vorstellen. 

    Es muss Teil von ihnen geworden sein, bevor sie es ins Spiel der Welt bringen.

    In der Arbeitswelt wird verlangt, dass  selbstbewusste, erfindungsreiche, eben leistungslustige Menschen die Söldner ablösen. Wenn Unternehmen mit anderen innovationsfähigen Unternehmen im Wettbewerb sind, dann wird ihre Innovationsfähigkeit zur Überlebensfrage. Womit zuvor gegeizt wurde, nämlich den Mitarbeiten Spielräume und Anerkennung zu geben, wird nun  gewissermaßen zum Sachzwang. Denn die allseits verlangte Kreativität folgt keinem Kommando. Sie gedeiht am besten, wenn Neugier und Lust auf die Welt ganz absichtslos einfach sein dürfen.

    In der Max Brauer Schule versuchen die Lehrer bereits, den Rahmen für Neugier und Lust auf die Welt zu schaffen. Und wenn die Schüler aufblühen, dann ist das für Lehrer der beste Lohn.

     

    Cut 8:  (Lehrerin Frauke Vollkmer / Unterstufenleiterin)

    Das schöne ist ja, dass sie nicht das Gefühl haben, dass sie sich anstrengen: Sie bringen das natürliche Wollen mit, wir wollen hier was lernen. Das ist so. Im Leben lernt man gerne. Das kann -  ich sage nicht, es muss - schlagartig aufhören, wo ich eine Note bekomme. Das ist, als wenn ich Geld dafür kriege. / Die Erfahrung hat man ja auch in Klasse 5/6 gemacht, dass sich der Geist einer Klasse völlig verändert hat. In dem Moment, wo es Noten gibt, dass der Gedankenstrang, wenn ich eine Arbeit beginne, dann mache ich es für eine Note, und nicht, ich will das jetzt können, oder ich interessiere mich für dieses Thema. Das hört dann schlagartig auf, das ist einfach so.

     

    Sprecher:

    Frauke Vollkmer ist Unterstufenleiterin in der Max Brauer Schule. Ihre Beobachtungen werden von den internationalen Schulstudien,  zuletzt von der Grundschulstudie IGLU, bestätigt. Spitzenreiter im Vergleich der Viertklässler ist Schweden. Dort gibt es bis zur 8. Klasse keine Noten. Auch beim Pisa-Spitzenreiter Finnland geht es mit Noten frühestens in der 5. Klasse, häufig auch erst in der 7. los.

    Die Studien widerlegen, was manche Deutsche bis dahin vermutet haben: Ohne Noten fehle der Leistungsanreiz. Der Leistungsanreiz, auf den die Hamburger Lehrerinnen Sybille von Katzler und Frauke Vollkmer setzen, ist ein anderer:

     

    Cut 9:  (Lehrerinnen Sybille von Katzler  und Frauke Vollkmer)

    SK:

    Es ist die Arbeitsatmosphäre. Der überwiegende Teil arbeitet und dann arbeiten die anderen auch.

    F.V.

    Es gehört ganz dringend dazu, dass in so einer Gemeinschaft jede Arbeit auch eine Bewertung erhält. Die Bewertung, die erfolgt und darf auf keinen Fall wegfallen. Und zwar erfolgt die zum größten Teil durch die Gemeinschaft, indem die Dinge, die erarbeitet werden, vorgestellt werden und von den anderen gesehen und beachtet werden: aufgehängt und vorgelesen, es werden Bücher draus gemacht; es darf natürlich nicht so sein, dass jeder vor sich hin arbeitet, es dem Lehrer zeigt und der Lehrer sagt, hast du gut gemacht. Es ist eine andre Kultur, wie man die Dinge in die Öffentlichkeit bringt...

    SvK

    ....wertschätzt,/ wir haben ne andere Art von Leitungsbeurteilung, wir haben ne Leistungsbeurteilung, selbstverständlich, erst mal dass wir die Kinder loben, und sie auf die Fehler hinweisen, und ihnen sagen, das kannst du noch besser, sie anspornen, und dass es immer präsentiert wird; das die anderen immer ein Spiegel sind; sie lesen ihre Geschichten vor, sie zeigen was sie gemacht haben, sie haben ständig so ne Korrektur, / und sie wissen, was sie können; jedes kann Auskunft geben, was es kann. Und wenn man sie jetzt fragen würde, wo musst du noch besser werden, wüssten sie das auch.

     

    Sprecher:

    Wer die Grundschulklassen der Max Brauer Schule besucht, könnte an Robert Musils Vorschlag in seinem Roman „Mann ohne Eigenschaften“ denken, ein „Sekretariat für Seele und Genauigkeit“ einzurichten. In den Klassen spürt man etwas von dieser Kombination, von der Musil meinte, sie könnte die moderne Welt retten. Seele und Genauigkeit: Alles wird wichtig, auf die einzelnen Dinge kommt es an. Aber kein Ding wird von den anderen Dingen und vor allem nicht von ihren Produzenten abgeschnitten.

    Man könnte ins Schwärmen geraten, zumal die Schule auch den härtesten Test bestanden hat: PISA. 

    Die Max Brauer Schule gehört zu den Schulen, in denen der Pisa-Test durchgeführt wurde. Die Zahl der in den jeweiligen Schulen getesteten Schüler ist zu gering für ein verlässliches Ergebnis der einzelnen Schule, außer das Ergebnis ist ganz eindeutig. Das Max Planck Institut für Bildungsforschung, das Pisa in Deutschland erhob, teilt mit, dass 10 bis 15 Prozent der getesteten Schulen deutlich über dem sogenannten „Erwartungswert“ liegen, der sich aus dem Durchschnitt der Schulen und der sozialen Zusammensetzung der jeweiligen Schule ergibt. In der Max Brauer Schule liegen die Pisa Testergebnisse im Lesen, in der Mathematik und in den Naturwissenschaften deutlich zwischen 30 und 40 Punkten über diesem Erwartungswert. Dieser Abstand entspricht dem Pensum eines Schuljahres, erklärt das Max Planck Institut.

     

    Cut 10: (Svenja, Abiturientin, Max Brauer Schule)

    Meine Grundschulerinnerung ist, dass ich eigentlich keine Schule hatte / Da fand ich’s schade, wenn Ferien warn. Wir haben aber alle Schreiben gelernt, Lesen gelernt. Wir haben aber auch alle nebenbei viel gemacht, viel Theater gespielt, das fand ich Klasse. Dass man Berichtszeugnisse kriegt und nicht sagt, oh bei dir steht ne drei und bei mir steht ne eins, oder ne fünf – ich habe nie Zeugnisse von anderen Schülern gelesen, ich weiß, dass das bei Notenzeugnissen anders ist.

     Es war toll. / Dann hatten wir in der fünften Berichtszeugnisse, in der sechsten wurde abgestimmt, da entscheiden  die Eltern. Seit der siebten werde ich erst benotet, dadurch habe ich den Anfangsprozess in anderer Erinnerung. /Alle in meiner Klasse sagen, das ist die Topzeit gewesen.

     

    Sprecher:

    Svenja Oehmichen hat in der Max Brauer Schule gerade Abitur gemacht und freut sich nun auf die nächste Station, die Universität. Dass die Vorfreude während der Schulzeit nicht auf der Strecke geblieben ist, ja dass ihre Lernlibido sogar noch gesteigert wurde, sollte eigentlich gar nicht weiter erwähnenswert sein. Ist das nicht das wichtigste Ziel von Bildung?  Selbstverständlich ist diese Überzeugung hier zu Lande nicht. Glauben wir  überhaupt daran, dass Lernen zumeist Freude macht? 

    Svenja jedenfalls hat erlebt, dass ein gutes Klima auch eine gute Ernte einbringt. Das verdankt sie auch der Oberstufe. Die wurde in den vergangenen Jahren umgebaut. Ein Modellversuch:  „Profiloberstufe“. Dafür bekommt die Schule größeren Spielraum als er sonst gewährt wird. Seit 1993 wurde das Kurssystem in Klasse 12 und 13 nach übergreifenden Fragestellungen in „Profilen“ neu geordnet. Das naturwissenschaftliche Profil heißt Umwelt, die anderen sind Sprache & Kulturenvielfalt sowie Kommunikation. Dazu gibt es – gewissermaßen kontrapunktisch - Grundkurse. Zu den Leistungskursen Deutsch und Kunst im Profil Kommunikation gehören Grundkurse in Mathematik, Informatik und Philosophie. Dieses Set steht fest, da haben die Schüler keine Wahl. Dem aber steht der Vorteil gegenüber, das Projekte inhaltlichen Zusammenhalt bieten.

    Svenja Oehmichen hatte das Profil SPUK, Sprachen und Kulturenvielfalt gewählt. Auch hier ist die Arbeit überwiegend in Projekten organisiert.

    Der Besucher stellt seine Sympathie für diese Arbeitsform für einen Moment zurück und fragt, ob das nicht vielleicht doch ein bisschen „Schule light“ sei? Da geht Svenja hoch.

    Cut 11: (Svenja, Abiturientin, Max Brauer Schule)

    Wir haben Schüler, die erst in der zwölften zu uns gekommen sind, die schreien alle, wenn es heißt Projektarbeit,  die würden alle lieber ne Klausur schreiben, `ist doch viel leichter einmal sich ´n Tag hinsetzen, am nächsten Tag schreiben, dann hat man’s hinter sich, wenn du so ne Projektarbeit machst, dann musst du das Thema voll und ganz verstehen, um dann die 10 oder 20 Minuten zu erzählen zu können,, was der Kern ist / Es ist auf jeden Fall mehr Arbeit, mir macht sie auch mehr Spaß.

     

    Sprecher:

    Manchmal gleichen die Projekte schon fast Gesamtkunstwerken, sie sind längst nicht bloß die Additionen von Schulfächern. Zum Beispiel eine Revue über Jugend. Svenjas Freundin Vera Freitag hat sich dafür in ein Mädchen im Mittelalter versetzt...

     

    Cut 12: (Vera Freitag & Svenja, Abiturientinnen, Max Brauer Schule)

    Vera:

    ... ein junges Mädchen im Kloster. Da haben wir gesungen und versucht die Kulisse so zu gestalten, dass sie historisch korrekt ist und dann auch die Religion einbezogen, wie wichtig die in dieser Zeit gewesen ist und das komplett so zu gestalten, dass es zusammenpasst, dass der Gesang passt, dass die Kulissen passen – weil das wurde ja alles  in Geschichte bearbeitet. Wir mussten die Quellen raus suchen, wie das wirklich ausgesehen hat. Wir mussten belegen können, warum wir jetzt grade dieses Kleidungsstück anhaben und nichts anderes, allein das Klosterfenster, warum das so gewesen ist und woher wir das haben, Kleinigkeiten, die im Endeffekt viel ausmachen.

    Svenja:  

     Es ist ein ganz anderes Lernen, du kannst dir raussuchen, was dir wichtig erscheint, du kannst deine Schwerpunkte setzen, du kannst in Richtungen gehen, die du interessant findest, du kannst es auf eine Art den anderen Schülern vermitteln, wie du es interessant fandest. Dadurch gibt es eine viel größere Spannbreite, als wenn ein Lehrer erzählt, das Datum,  der Kreuzzug und der Krieg usw. Und ich behalt es auch besser auf jeden Fall.

     

    Sprecher:

    Dass Schüler so gar nichts auf ihre Schule kommen lassen wollen ist ungewöhnlich. Haben nicht auch Projektarbeit, Präsentation und die Betonung der Gruppe Nachteile? Wird die Allgemeinbildung nicht dem Spezialwissen geopfert?

     

    Cut 13: (Vera & Svenja, Abiturientinnen, Max Brauer Schule)

    Vera:

    Das ist ja nicht so, dass wir nur Projektarbeit machen, uns nur das aussuchen, was wir gerne möchten. Das Allgemeine geht nicht verloren. Man kann sich das nicht so vorstellen: Der Lehrer kommt in den Unterricht und sagt, so, jetzt machen wir mal ein bisschen Projektarbeit. Es ist so, es fängt mit theoretischem Unterricht, teilweise mit Frontalunterricht an/.  Es wird vorweg Geschichtliches erzählt, was man wissen muss.. /  Jetzt machen wir Liebespaare in ihrer Geschichte und ob es ne typische Liebesbeziehung in dieser Zeit ist, oder ob sie aus den Fugen gerät. Dazu haben wir auch das klassische Griechenland gemacht, die Reden aus dem Symposion und alles. / Das ist doch Allgemeinbildung, damit fangen wir immer an im Unterricht, das muss auch als Vorwissen dienen. 

     

    Svenja: 

    Es kommt drauf an, dass ich weiß, wie ich an Themen ran gehe. Ob man Metall schleifen muss oder ob man irgendwelche Pläne koordiniert, dann kommt es darauf an, dass du dir in deinem Kopf das Produkt vorstellen kannst um daran zu arbeiten, dass du weißt, was es für Möglichkeiten gibt, welche Wege kann ich gehen und das ist das worauf hier Wert gelegt wird. Und dann hat es für mich die Folge, dass ich mir die Kleinigkeiten auch noch besser merken kann.

     

    Sprecher:

    Die an den Oberstufen vieler deutscher Gymnasien grassierende „Wissensbulimie“ -  diese deutsche Schulkrankheit, den sogenannten „Stoff“ aufzunehmen und so schnell wie möglich wieder los zu werden - findet man an der Max Brauer Schule nicht, auch nicht nach drei Tagen Suche. Diese Schule gelingt, rundum – und gibt sich mit dem Erreichten dennoch nicht zufrieden.

    Von der Schulkonferenz wurde jetzt das Projekt „Traumschule“ beschlossen. Hier werden keine Ideen für ein „Wolkenkuckucksheim“ gesammelt, sondern Wünsche, die Realität werden sollen.

    Im Foyer stehen Tische, auf denen Architekturstudenten ihre Entwürfe für die „Traumschule“ ausgestellt haben.

    Die Modelle zeigen Lernbüros für die Schüler mit runden Tischen, es gibt Labors und Bühnen. Auch die Lehrer haben Arbeitsplätze, die, sagen wir es mal so, dem Zivilisationsniveau eines mitteleuropäischen Erwachsenen entsprechen: Mit Schreibtischen und Telefonen, vernetzten Computern und Bürostühlen mit richtigen Rückenlehnen; auch Sofas und Besprechungsecken gibt es.

    Die Schulleiterin erläutert den erstaunten Schülern: In dieser Traumschule sind die Lehrer 35 Stunden die Woche anwesend, und die Schüler werden dann bis in den Nachmittag hier zu Hause sein.

    Schön und gut, denkt der Besucher  - aber ist eine „Traumschule“ auch das richtige fürs spätere Leben? Wir fragen noch einmal einen Repräsentanten des Realitätsprinzips. Tom Sommerlatte ist der Europa Chef der international tätigen Unternehmensberatung Arthur D. Little. Worauf kommt es aus seiner Sicht an?

     


    Cut 13  (Tom  Sommerlatte )

    Aus meiner beruflichen Erfahrung in der Unternehmensberatung ist es in erster Linie die Projektorganisation: also keine Hierarchie und keine Abschottung nach bestimmten Bereichen, sondern die Projektorganisation, wo alle gemeinsam arbeiten, wo man auch einspringen kann, wenn der eine gerade zu viel hat oder nicht genau weiß, wie er weiter kommt, dann springen die anderen ein, und das heißt auch, dass nicht mehr der einzelne das Lob bekommen kann und die Belohnung, darauf ist er auch gar nicht mehr aus, dann würde er nämlich den Teamgeist zerstören.

    Das Team muss das Erfolgserlebnis als Gemeinschaft haben, `das haben wir gemeinsam geschaffen'. Bei Jugendlichen können das Gruppen sein, Banden oder wie immer man das nennen will, deswegen spielen Kinder so gerne Indianer. Bei Schülern und Studenten können das Teams sein und deswegen müsste man davon abgehen sie einzeln zu benoten sondern immer gruppenweise und er sitzt dann natürlich immer in unterschiedlichen Gruppen und kriegt dann auch seine eigenes Profil, und im Berufsleben sind es die Projektgruppen.


    Literaturliste zur Reihe „Schule kann gelingen“:

     

     

    Hentig, Hartmut von: Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit.

    Kartoniert - 124 Seiten - Beck
    Erscheinungsdatum: 2003
    ISBN: 3-406-50469-8

     

    Hentig, Hartmut von: Bildung

    Taschenbuch - 206 Seiten - Beltz
    Erscheinungsdatum: 1. April 2001
    Auflage: 3. Aufl.
    ISBN: 3-407-22035-9

     

    Kluge, Jürgen: Schluss mit der Bildungsmisere. Ein Sanierungskonzept.

    Gebundene Ausgabe - 241 Seiten - Campus Sachbuch
    Erscheinungsdatum: März 2003
    ISBN: 3-593-37189-8

     

    Oelkers, Jürgen: Wie man Schule entwickelt. Eine bildungspolitische Analyse nach PISA.

    Kartoniert - 228 Seiten - Beltz
    Erscheinungsdatum: März 2003
    ISBN: 3-407-22141-X

     

    Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens.

    Gebundene Ausgabe - 511 Seiten - Spektrum Akademischer Verlag
    Erscheinungsdatum: Oktober 2002
    ISBN: 3-8274-1396-6

     

     

     

    Schule kann gelingen (1)

    SÜDWESTRUNDFUNK

    SWR2 Wissen - Manuskriptdienst

     

    Treibhäuser der Zukunft

    Aus der Reihe: Schule kann gelingen (Teil 1)

     

    Autor: Reinhard Kahl

    Redaktion: Bildung

    Regie: Maria Ohmer

    Sendung: 4.10.2003, 8.30 Uhr, SWR 2

    Archiv-Nr.: 018-9432

    ___________________________________________________________________

     

    Bitte beachten Sie:

    Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.

    Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen

    Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

     

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    manuskript

     

     

     

    Atmo 1:  7. Klasse  - Hauptschule – Bodenseeschule

     

    Sprecher:

    Es ist noch nicht 8 Uhr. Die Schüler kommen in die Klasse, begrüßen ihren Lehrer mit Handschlag, gehen an ihre Tische und sagen anderen Hallo. Kleine Trauben bilden sich, so wie morgens an der Bushaltestelle oder im Büro.

     

    Atmo 1 hoch

     

    Sprecher:

    Andere gehen gleich an die Regale, holen sich Material und legen los. Sie fangen an zu arbeiten, ohne dass es geklingelt hätte. Niemand hat sie zum Lernen aufgefordert oder gar ermahnt. 

    Man traut seinen Augen nicht. Dabei sind wir in einer siebten Klasse, die Schüler mitten in der Pubertät. Und man sagt, in diesem Alter seien sie auf alles mögliche scharf, nur nicht auf Schule. Es ist eine Hauptschulklasse und das sei eigentlich der Tiefpunkt, hört man überall, 7. Klasse Hauptschule.

     

    Atmo ganz kurz hoch

     

    Sprecher:

    Die Bodensee Schule in Friedrichhafen. Wie kommt es, dass diese Schule gelingt? Worin liegt ihr Geheimnis? Oder geht es vielleicht nur darum, das Selbstverständliche zu entdecken? 

     

    Atmo 2: 

    Montessori Gesamtschule Potsdam; ganz harter Atmowechsel;

    kein Zweifel, dass wir jetzt anderswo sind;  Schüler spricht über Apfelsorten;

    Schüler spricht über Kastanien

    „Ich halte jetzt einen Vortrag über die Kastanie.“

     

    Atmo ganz kurz hoch

     

    Sprecher:

    Noch eine Schule, die morgens nicht so anfängt, wie man es erwartet. Die Montessori Gesamtschule in Potsdam. Eine staatliche Regelschule, die früher mal Karl-Liebknecht-Schule hieß. Die Schüler sitzen im Halbkreis und lauschen dem  achtjährigen Jacob, der über Kastaniensorten spricht.

     

    O-Ton-Atmo:

    “Die Esskastanie gehört nicht zu den Kastanien, sie ist mit den Buchen verwandt. Die Rosskastanie kann 200 Jahre alt werden ...

     

    Sprecher:

    Nach malte kommt Jacob. Der hält einen Vortrag über Apfelsorten. Neben seinen gut geordneten Notizzetteln stehen sechs Schalen voller Apfelscheiben, in jeder eine andere Sorte. Die reicht er nun herum. Auch schmecken ist eine Übung im Unterscheiden. Und lernen heißt hier, eher einen Unterschied zu machen und Zusammenhänge heraus zu finden, als etwas zu kopieren. Jacob erzählt, was er über Blüten, Ernte und Sorten bei Äpfeln alles heraus finden konnte. Die Kinder fragen nach. Wer aus Büchern bloß was zusammen gesucht oder von seinen Eltern nur was aufgeschnappt hat, kommt hier nicht weit. Aber warum auch mogeln. Das Leben ist so vielfältig, es schmeckt und es gibt so viel zu wissen. Weshalb sich dann betrügen?

     

    Atmo 3:

    Helene-Lange- Schule  Wiesbaden; wieder ganz harter Atmowechsel;

    Wassergeräusche; melodische Töne auf Wassergläsern

    Die Atmo nicht ganz kurz; etwas geheimnisvoll; man denkt: was ist denn jetzt los

     

    Sprecher:

    Merkwürdige Geräusche auf einem Flur. Wir sind in der Helene-Lange-Schule, Wiesbaden. Manchen gilt sie als die „Königin“ der deutschen Schulen. Ihr Motto könnte lauten: Schüler und nicht Fächer unterrichten! Auch wieder so eine Selbstverständlichkeit, die alles andere als selbstverständlich ist. Neben dem Unterrichten geht es hier ums Aufrichten. Ein Haus voller unterschiedlich temperierter Lerngelegenheiten. Zum Beispiel Theaterprojekte, die über Wochen gehen. Unterricht, der absolut verbindlich ist.  Oder Projekte, in denen sich Lernen, Handeln und Forschen mischen. Keine „in-der-Woche-vor-den-Ferien-machen-wir-mal-eine-Projektwoche-oder-so“ – Projekte.

    Wir wollen uns die Helene Lange Schule genauer ansehen, sozusagen Gewebeproben entnehmen. Sie stehen auch für die Pädagogik anderer Schulen, die gelingen.

    Wie hat die Helene Lange Schule es geschafft, ein wichtiger und kultivierter Ort zu werden - für Schüler wie für Lehrer? Wie kommt es, dass Schüler hier, wenn sie nicht dabei sind, fürchten etwas zu verpassen - und dass sie während ihrer Anwesenheit nicht immerzu träumen, das Leben sei anderswo? Wie schafft die Schule diese Anziehungskraft? Und wie hat sie jene „Abstoßungskräfte“ überwunden, die sich andernorts darin zeigen, dass die Lehrer mittags schneller in ihrem Golf sitzen als die Schüler auf dem Fahrrad?

       

    Cut 1:  Enja Riegel  

    Wir können uns so wunderbare Mathematikstunden ausdenken und herrliche Projekte, wenn die Menschen sich nicht mögen, wenn das Kind sich nicht angenommen fühlt, dann wird es das, was ich die Lebenszuversicht nenne, dann wird es das nicht mit bekommen. Wenn es zu häufig die Erfahrung macht, du gehörst hier nicht hin, du wirst ausgesondert, weg sortiert, weg geschmissen, was bleibt dann eigentlich anders übrig, als sich einer solchen Welt gegenüber destruktiv zu verhalten?

     

    Sprecher:

    Enja Riegel, die ehemalige Schulleiterin. Die eigenwillige Helene-Lange- Schule hat viel von sich Reden gemacht, seit sie sich im internationalen Pisa Vergleich als eine der erfolgreichsten erwiesen hat. Die Schülerleistungen liegen weit über dem sogenannten Erwartungswert, der nach dem sozialen Status der Familien errechnet wird. Die Leistungen übertreffen selbst die von finnischen, kanadischen oder koreanischen Lernweltmeistern. Das irritiert in Deutschland so manch einen, denn die Helene-Lange-Schule setzt auf die Selbständigkeit der Schüler, aber nicht auf Laissez-faire. Sie fördert die Individualisierung des Lernens und schafft die Atmosphäre für Kooperation. Form hat hier den gleichen Rang wie Inhalt. Das kann man auch Erziehung nennen. Oder Schulkultur. Und die zeigt sich im Alltäglichen.

     

    Cut  2: Ella v.Haasteren / Lehrerin

    Wir haben 17 Stationen, ihr bekommt einen Laufzettel und da stehen genau die Stationen aufgelistet. Deutsch, Geografie, Musik, Kunst, Sport sogar und Nawi, klar. Ihr sollt davon im Laufe der nächsten Wochen mindestens 10 bearbeiten. Ihr dürft alles machen, ist klar.

     

    Sprecher:

    Die Lehrerin Ella v.Haasteren  stellt den Schülern eine Aufgabenparcours vor. 17 Stationen. Die Aufgaben gehören zum Wasser – Projekt. Das geht über Wochen. „Nawi“ heißt übrigens Naturwissenschaft.

    Neben dem Projekt läuft der übliche – hier nie ganz übliche - Unterricht in Fächern wie Mathematik und Englisch weiter. Aber so weit es irgend geht, dreht sich in den nächsten Wochen alles ums Wasser. Die Schüler haben bereits die Qualität eines Bachs an drei Stationen seines Verlaufs vom Taunus in die Stadt Wiesbaden gemessen und damit begonnen, die Proben zu untersuchen. Sie lernen, wie man solche Wasserproben analysiert. Dafür muss man eine ganze Menge können und wissen. Aber die Schüler wollen ja unbedingt herausfinden, was mit dem Wasser im Bach los ist. Dafür nehmen sie manchen Umweg über komplizierte Techniken und trockene Methoden in Kauf. Überhaupt: der Umweg hat hier einen guten Ruf.

     

     Atmo Wasserprojekt kurz offen, dann drunter liegen lassen

     

    Sprecher:

    Zurück zu den Lernstationen. Einen ganzen Nachmittag lang haben die Lehrer des siebten Jahrgangs im Schülertreff auf 17 Tischen jeweils die Aufgaben rund ums Wasser vorbereitet. Das Wasserprojekt wird seit Jahren in der 7. Klasse gemacht,  ein Lehrerteam gibt das Aufgabencurriculum ans nächste weiter. Jedes Mal gehen neue Erfahrungen ein. So bildet die Schule Tradition  – in täglicher Kleinarbeit.   

    Schüler experimentieren etwa mit der Oberflächenspannung von Wasser, lesen Lyrik mit Wassermotiven, schreiben Aufsätze oder nehmen mit dem Mikrophon eine kleine Wassersymphonie auf, mit singenden Gläsern, Wassertropfen, Gieskannen und anderen ungewöhnlichen Instrumenten. Lauter Puzzleelemente fügen sich über Wochen zum Wissen über Wasser zusammen. Natürlich bleiben Lücken. Aber so entsteht ein Wissen, das nicht satt, sondern hungrig macht. Ein Wissen von dem -  wie bei Forschern - ein Sog nach mehr Wissen, nach neuen Verknüpfungen und nach Anwendungen ausgeht. Ein Wissen, das Fragen aufwirft und einen nicht mit Antworten zu deckt. 

    Bei jeder der Aufgaben lernen die Schüler etwas Neues kennen. Das fordert sie heraus, sich mit der jeweiligen Sache erst mal genau zu befassen. Ohne Genauigkeit geht es nicht. Sie arbeiten mal einzeln, mal mit Partnern, mal in Gruppen. Die Aufgaben führen an Probleme heran und verlangen Lösungen. Schüler lernen zu unterscheiden  - und müssen sich entscheiden.

    Etwas vom Prickeln eines Forschungslabors liegt in der Luft. 

     

    Atmo Wassermusik / kurz

     

    Cut 3:  Haasteren: 

    Das Stationen - Lernen bereitet natürlich viel Vorarbeit, aber während die Schüler hier an den Stationen arbeiten, hat man als Lehrer wenig zu tun, man hat Zeit, die Schüler zu beobachten und man sieht dann auch, wie die Stationen auf die Schüler wirken, und das macht zum Teil sehr viel Spaß, zu beobachten, wie sie mit den Stationen umgehen,  wie die Ergebnisse sind, /. / wenn ich sehe, dass die Schüler die Aufgaben verstanden haben, mit Spaß herangehen und gerade auch bei naturwissenschaftlichen Aufgaben die Freude am Experimentieren haben, das ist auch für uns Lehrer wirklich ein Genuss. / Wenn ich die Texte lese, die mich zum Teil sehr überraschen, bin ich begeistert. Das ist natürlich auch für die Schüler ne schöne Rückmeldung.

     

    Sprecher:

    Die Lehrerin Ella von Haasteren unterrichtet nicht nur die Fächer, die sie studiert hat; auch sie muss sich in neue Gebiete einarbeiten. Das ist der Preis, den alle in dem kleinen Lehrerteam zahlen. Im jeweiligen Jahrgangsrevier hat jedes Team sein eigenes Büro, sieben bis neun Lehrer gehören dazu – je nach dem, wie viele Lehrer auf vollen Stellen arbeiten. Seit die Lehrer nicht mehr nur als Fachlehrer ihre Stunden geben, erkennen sie mehr und mehr Vorteile in dieser neuen Mischung. Sie arbeiten immer enger zusammen – so, wie sie ja auch von ihren Schülern Zusammenarbeit erwarten. Am Anfang waren viele etwas widerwillig, wohl auch ängstlich. Inzwischen genießen sie die gesteigerte Resonanz. Sie nutzen den Blick über den Zaun auf die Domänen der Fachkollegen und profitieren von Fragen, die ihre Kollegen stellen. Man könnte sagen, na und? Ist doch selbstverständlich! In Schulen nicht. In Lehrerkollegien schon gar nicht.

    Die Schulforschung hat heraus gefunden: Lehrer reden wenig miteinander. Das hat sich in der Hela, wie man die Helene Lange Schule in Wiesbaden nennt, auch deswegen geändert, weil die Grenzflächen zwischen den Fächern im Alltag immer mehr Bedeutung bekommen haben. Überhaupt, das „Zwischen“ - es spielt in dieser Schule in vielerlei Hinsicht eine wichtige, vielleicht die Hauptrolle.

     

    Atmo Wassermusik / eher kurz

     

    Sprecher:

    Ein „Zwischenraum“ ist der sogenannte Schülertreff, in dem die 17 Lernstationen aufgebaut sind. Auffällig, wie ruhig es hier ist. Die meisten Türen zu den umliegenden Klassenzimmern stehen offen. 

     

    Atmo Wassermusik / eher etwas länger

     


    Sprecher:

    Was ist ein Schülertreff? Daran lässt sich schon fast die ganze Schule erklären – und das bedeutet, ihre Geschichte zu erzählen. Machen wir es kurz:

    Die Helene Lange Schule konvertierte Ende der 80er Jahre von einem Gymnasium zu einer Gesamtschule - einer, so lautete das Programm von Anfang an, die keine Lernfabrik werden wollte. Schon gar nicht sollte sie, wie viele deutsche Gesamtschulen, eine noch perfektere Sortiermaschine werden als das dreigliedrige Schulsystem.

    Wie schaffte sie das?

    Die Veränderung begann an vielen Stellen, aber grundlegend war die Veränderung des Raums. Das Haus wurde in viele „kleine Schulen“ mit jeweils eigenen Revieren aufgeteilt. Die vier Klassen eines  Jahrganges werden nun von dem dazu gehörigen Lehrerteam unterrichtet -  und jeder Lehrer unterrichtet möglichst nur in einem Jahrgang. Das Ergebnis: Schüler und Lehrer kennen sich. Neben dem Unterricht gedeiht auch das Informelle. Der Small Talk siedelt sich nun auch zwischen dem an, was die Hauptsache der Schule ist:  Unterricht, Theater, Projekte. Sonst findet die informelle Schülerwelt auf dem Schulhof statt oder unter der Schulbank. Sie bildet normalerweise eine Art Paralleluniversum.

     

    Cut  4: Schüler O –Töne

    Mädchen

    Man kennt sich, die Freunde, gerade die Halbfreunde, die man nur in der Klasse gern mag, grade durch die vielen Projekte, die wir in der Klasse zusammen gemacht haben, grad bei uns das Theaterprojekt, fünf Wochen aufeinander gehangen, das ist schon traurig, wenn man dann auseinander geht

     

    Junge

    Ich hab eine Freund in einer anderen Schule, der kennt außerhalb der Klasse kaum einen,  ich kenne jeden aus dem Jahrgang und 80% mit Namen und kann zu jedem was sagen, das ist was schönes, wie ne Familie, ja, wir sehen uns jeden Tag, das ist wie ein zweites Zuhause

     

    Sprecher:

    Ende der 80er Jahre wurden die Flurwände jedes vierten Klassenraums eingerissen, um Platz für die Schülertreffs dazwischen zu schaffen. Erinnern die Flure in Schulen sonst an Krankenhäuser oder Finanzämter, reine Transportwege, die ohne Umschweife von A nach B führen, so ist hier etwas Neues entstanden. Die zu Schülertreffs umgebauten ehemaligen Klassenräume weiten die Flure, als würde aus einem Kanal ein See werden. In diesen Zwischenräumen entwickelt sich Schulleben – so wie Flora und Fauna besser im Teich und in den Nischen unregelmäßiger Bäche gedeihen als in geraden Kanälen.

     

    Mal wird der Schülertreff als Werkstatt genutzt, mal als Probebühne, mal – wie derzeit bei den Siebtklässlern– für einen Parcours mit Aufgaben. Und natürlich sind die sechs Treffs im Haus ständig von Schülern bevölkert – nicht nur in den Pausen.

     

    Die Schulforschung kommt ja immer wieder zu dem gleichen Befund: Schüler gehen gern zur Schule -  in Deutschland allerdings vor allem deswegen, weil sie dort andere Kinder oder Jugendliche treffen; nicht so sehr wegen des Unterrichts.

     

    Die Helene Lange Schule bietet Schülerinnen und Schülern Treffpunkte an und kultiviert sie. Vor allem aber will die Schule Kinder und Jugendliche mit interessantem Unterrichts anziehen. Ein Freizeitheim ist die Schule nicht. Sie soll ein Ort für lebendiges Wissen sein. Freude an den Sachen, die es kennen zu lernen gilt, Freude am Wachsen der eigenen Kompetenz und schließlich Freude an Zusammenarbeit - das sollen die Attraktionen der Schule sein.

     

    Cut 5: Schüler O-Ton / Montage

    ... Mädchen
    Ich habe durch die Klasse so viel gelernt, die  bedeutet mir sehr, sehr viel und [lacht] ich habe diese Schule so lieb gewonnen, / in der Schule sind so viele Möglichkeiten

     

    anderes Mädchen:

    wir sitzen uns gegenüber, wir sind Gruppen, / die einen haben Stärken in Englisch, die in Mathe und dann arbeitet man zusammen und ergänzt sich gegenseitig. Das macht viel aus. Man arbeitet in Gruppen. Man ist so sehr ein Team geworden, ob man sich vorher gemocht hat oder nicht. Diese Zusammenarbeit war zuerst aufgezwungen, aber dann lernt man die Zusammenarbeit, dass andere einen anderen Arbeitsstil haben und sich einzuteilen, wer was macht und so. 

     

    Antonia

    Ich begreif es viel besser, wenn es meine  Klassenkameraden erklären, weil die wissen besser wo meine Schwächen liegen; 

     

    Junge

    Als ich hier hin kam, kleiner Stöpsel, habe ich mich nicht mal getraut, mit anderen Klassenkameraden zu reden, in der Hinsicht hab ich es wirklich weit gebracht.

     

     

    Sprecher:

    Und wieder könnte man denken, na klar, so muss es sein. Ist das der großen Rede Wert? Ja. Der Abstand zwischen dem Alltag an der Helene Lange Schule und dem Alltag an anderen Schulen ist groß. Immer wieder stellen wissenschaftliche Studien den deutschen Schulen ein schlechtes Zeugnis aus, insbesondere was die Atmosphäre betrifft. Schüler fühlen sich von Lehrern wenig geschätzt und kaum beachtet.

    Ein kleiner Exkurs in den Normalalltag einer deutscher Schule.

    Johann Kegler, inzwischen Student, hat als Schüler eines Berliner Gymnasiums unter der Bank den Alltag protokolliert. Eine ganz normale Mathematik Stunde zum Beispiel.

     

    Zitator:

    Ich erzähle dem Lehrer, was er erwartet, auch wenn ich es nicht verstehe. Mein Lehrer ist fest davon überzeugt, dass ich Mathematik verstehe und nur etwas faul bin. Jedenfalls gebe ich mir von Tag zu Tag Mühe, ihm diesen Eindruck zu vermitteln. Ich melde mich in der Stunde ein- bis zweimal, um etwas zu sagen. Was ich dann sage, habe ich mir vorher aus meinem Ordner raus geholt. Ansonsten verhalte ich mich still, höre ein bisschen Musik, lese in meinem Buch und schaue meinem Lehrer zustimmend in die Augen, wenn er mich beim Erklären seiner Aufgaben ansieht. Es ist die reine Strategiefähigkeit, mit der ich durch den Matheunterricht komme. Diesen Instinkt, zwei- bis dreimal in der Stunde fit zu sein, eignet man sich im Laufe der Jahre an.“

     

    Sprecher:

    Wichtiger als die Inhalte, der sogenannte Stoff, den Schulen vermitteln, sind die Haltungen, die dort ausgebildet werden, denn sie entscheiden darüber, was mit dem Stoff gemacht wird, ob mit ihm überhaupt etwas anderes gemacht wird, als ihn als Schulstoff in Prüfungen zu recyceln und ihn dann als träges Wissen mit zu schleppen oder zu vergessen. Wie gelingt es, Wissen mit möglichst viel anderem Wissen zu verknüpfen? Wie lassen sich die Wissensteile so aufladen, gewissermaßen magnetisieren, dass sie sich gegenseitig anziehen? Wie lässt sich das wissenschaftliche Wissen, das einem ja sonst nicht über den Weg läuft, zu komplexen Mustern verbinden?

     

    Oder anders gefragt, wo muss man ansetzen, damit die Wissbegierde, mit der die meisten Kinder ja in die Schule kommen, erhalten bleibt und kultiviert wird? Gelingt das nicht, dann wird das Lernen zum Füllen von Fässern ohne Boden. Und manche Reform gleicht der Anstrengung, das Fülltempo zu steigern und die Wände höher zu ziehen.

     

    Dass Schulen ein einladender Ort sein müssen, Treibhäuser der Zukunft, die den Schüler das sichere Gefühl geben, dazu zu gehören, das ist in Deutschland noch ein sperriger Gedanke. Viele halten das Lernen immer noch für eine bittere Medizin und glauben, Lust sei verdächtig.

    Die skandinavischen Länder und auch erfolgreiche Schulen in Deutschland zeigen: Lust und Leistung vertragen sich, Freude ist tatsächlich ein Götterfunken.

     

    Ein neues Licht auf diesen Zusammenhang wirft die Hirnforschung. Freiburger Hirnforscher haben Schüler ganze Tage mit Messinstrumenten versehen und herausgefunden, was vor einiger Zeit schon eine kanadische Studie an den Tag brachte: Die Aktivität der Schülerhirne ist vormittags am schwächsten.

    Den Psychiater und Neurobiologen Manfred Spitzer wundert das nicht...

     

    Cut 6:
    Wenn die Atmosphäre schlecht wird, dann wird das gleiche Material von anderen Hirnstrukturen gelernt.

     

    Sprecher:

    Manfred Spitzer ist Professor für Psychiatrie an der Universität Ulm. Er hat ein viel beachtetes Buch über „Lernen“ geschrieben, in dem er von eigenen und fremden Untersuchungen berichtet. Eines der wichtigsten Ergebnisse: Die Wirksamkeit des Lernens hängt von der Atmosphäre ab:

     

    Cut 7:

    Wir haben raus finden können, dass – wenn sie neutrales Material in einem positiven Kontext lernen, dann wird es so abgespeichert, wie sich das gehört, erst im Hippocampus, einer kleinen Hirnstruktur, dann im Kortex. Wenn sie genau das gleiche Material, mit Angst, Furcht oder Stress lernen, wird es ganz woanders abgespeichert, nämlich im Mandelkern und der ist normalerweise dafür da, dass wir angst- und furchtbesetzte Assoziationen ganz schnell dort heraus holen können, um unseren Körper, nämlich die Muskeln, Blutdruck oder Puls auf Flucht oder Kampf, einfach auf Konfrontation vorzubereiten.

    Und wenn wir eines wissen, / dann das, wenn sie Angst aktivieren, dass sie dann nicht mehr kreativ sein können. Wenn wir also wollen, dass die Schulen heute die Kinder auf ein Leben in 30 Jahren vorbereiten, vom dem wir nicht wissen können, wie es aus sieht, dann muss die Atmosphäre an den Schulen eine positive sein. 

     

    Sprecher:

    ...und das ist sie – Studien beweisen es – gewöhnlich nicht.

     Was läuft falsch?

    Johann Kegler notierte, als er noch Schüler eines Berliner Gymnasiums war:

     

     Zitator:

    „Die beiden großen Fehler der Schule sind folgende:  Erstens die Zeiteinteilung: Niemand kann sich in einer Dreiviertelstunde wirklich effektiv mit einer Sache auseinandersetzen. Wenn man sich gerade eingearbeitet hat und zu verstehen beginnt, klingelt es schon. Während diese erste Sache eigentlich einfach zu ändern wäre, ist der zweite Fehler weitaus schwerer zu beheben. Die Art und Weise, wie einem der Stoff vermittelt wird. Auf schmutzigen Tafeln, in kahlen Räumen mit kreischender Kreide. In Räumen, die schlecht belüftet sind und in denen man in Reih und Glied sitzt. Von Lehrern, die verkrampft oder schlaff sind und sich hinter ihren Notenbüchern verstecken.

     

    Sprecher:

    Zurück in die Helene Lange Schule.

    Dort sind die Räume keine sterilen Container mehr. Und auch die Zeit wird dort nicht mehr im 45 Minuten Takt auf Linie gebracht. So formatierte die Schule das Leben im Industriezeitalter. Es wurde effektiv gemacht, so wie man auch Flüsse kanalisiert hat.

    Nun stellt sich überall in der Gesellschaft die Frage, wie man kanalisierte Wasserwege wieder zu Flüssen rekultiviert. 

     

    Sprecher:

    Ein und derselbe Klassenraum wird in der Helene Lange Schule täglich mehrfach verwandelt. Morgens werden die Stühle für den Morgenkreis aufgestellt. Dann zurück an die Gruppentische gebracht. In der siebten Klasse vielleicht eine Rechenspiel. Kopfrechnen, zack, zack.

     
    Atmo  Rechnen

     

    Sprecher:

    Dann Referate.  Stehpulte werden nach vorn geschoben.

     

    Atmo  Referat  Englisch

     

    Sprecher:

    Weiter geht es mit dem Projekt, zu dem ein Teil der Klasse in den Schülertreff ausschwirrt.

    Natürlich gibt es auch Lehrervorträge mit zumeist  aufmerksamen Zuhörern.

    Zum Unterrichtschluss stellen die Schüler ihre Stühle auf die Tische. Der Putzdienst holt Staubsauger aus der Ecke. Die Schüler putzen selber.

     

    Atmo Staubsauger      (K I.8 :10)

     

    Sprecher:

    Selber zu putzen ist schon seit Ende der 80er Jahre Tradition. Damit verdient sich die Schule 30 000 € im Jahr. Geld, mit dem zum Beispiel ein Theaterregisseur oder andere Botschafter aus der tätigen Welt honoriert werden.

     

    Atmo: Wassertöne aus dem Stationenlernen

     

    Sprecher:

    Bei ihren Erkundungen und Aufgaben im „Stationen-Lernen“ teilen die Schüler sich ihre Zeit selbst ein. Sie können wählen. Dabei sind die Aktivitäten der Schüler durchaus Antworten auf die Vorgaben der Schule.

     

    In der Helene Lange Schule und in anderen Schulen in Deutschland, die ähnlich zu arbeiten begonnen haben, wollen die Schüler arbeiten. Häufig zur Überraschung manch kleinmütiger Lehrer. Aber sie arbeiten nicht wie Rädchen einer Maschine. Es kommt Unsicherheit ins Spiel, wenn man ihnen ihre Eigenzeit lässt, die sich mal beschleunigt, mal verlangsamt, und, die in intensiven Augenblicken still zu stehen scheint. Da steht plötzlich ein Schüler auf, blickt auf seinen Zettel, ganz versonnen und ein Lächeln fährt über sein Gesicht. Da hat in ihm gearbeitet und zu einem Ergebnis geführt. Neben dieser Eigenzeit erfahren Schüler die gemeinsame, mit anderen geteilte Zeit. In ihr gelten Verabredungen, Regeln und Rituale.

     

    Wenn zum Beispiel jemand seine Hand auf halbe Höhe hebt, heißt das Ruhe! Es ist mir zu unruhig! Jeder, der das sieht, ob Lehrer oder Schüler, hebt ebenso seine Hand. Und es wird still. Das ist wie ein Zauber. Wer dieses Ritual das erste Mal beobachtet, traut seinen Augen nicht.  

     

    Die wichtigsten Rituale spielen sich in der Schule zwischen Lehrern und Schülern ab. Wie sehen sie sich? Negativ, vielleicht sogar als Feinde? Oder bestimmen Respekt, Anerkennung, ja Neugier das gegenseitige Verhältnis? Für den Psychiater Manfred Spitzer lassen sich daraus Prognosen stellen, ob die Schule gelingt oder misslingt, ob dort Leistungstärke oder –schwäche herrschen. Manfred Spitzer zieht eine Analogie zu einer anderen Berufsgruppe, den Therapeuten:

     

    Cut 8:

    Egal was Therapeut und Patient miteinander anstellen, ob das nun Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, Handauflegen oder sonst was ist, die Therapie ist dann erfolgreich, wenn die beiden sich gegenseitig wertschätzen und wenn eine positive emotionale Atmosphäre von Anfang an besteht. Wenn das nicht der Fall ist, ist die Therapie, egal was die machen, nicht erfolgreich. / Wenn es für Psychotherapie zutrifft, dann trifft das allemal auch für die Schulsituation zu, so dass es zunächst mal auf das gegenseitige Annehmen und die gegenseitige Wertschätzung ankommt.

    Zynismus ist bei Lehrern, meine Kindern berichten mir das oft, ist bei Lehrern vollkommen unangebracht. Es kann nicht sein, dass sich Lehrer  zynisch über Schüler äußern, dann ist der Kampf schon verloren.  

     

    Sprecher:

    Es zeigt sich immer wieder: Das Wie kommt vor dem Was. Die Neurobiologie setzt noch ein starkes Argument auf die Tagesordnung, eines, auf das man auch ohne Wissenschaft kommen könnte: Menschen sind nicht zum Einzelkämpfer geschaffen.

    In vielen deutschen Schulen verzichtet man auf Kooperation, ja bekämpft sie oft als Schummeln, als eine Art Fahnenflucht vor dem, was man dort immer noch „das spätere Leben“ nennt. 

     

    Cut 9: 

    Was man gern übersieht ist, dass Menschen seit Jahrhunderttausenden in der Gruppe, in der sie sind, immer kooperieren. Man konkurriert mit anderen Gruppen, das mag schon sein, aber mit dem Nachbarn, mit dem konkurriere ich nicht, mit dem kooperiere ich. // Man soll nicht glauben, dass es in der Natur des Menschen liegt, dass wir sowieso alle gegen alle immer nur mit Ellenbogen kooperieren, / das stimmt einfach nicht. /  Die Neurobiologie hat gezeigt, wenn Menschen sich kooperativ verhalten, dass dann unser Belohnungssysteme anspringt, das heißt unserer Gehirn belohnt uns, wenn wir kooperativ sind. //  Wir kooperieren eigentlich gerne. Die Randbedingungen sollten in der Schule so sein, dass es die Kinder auch tun. 


    Literaturliste zur Reihe „Schule kann gelingen“:

     

     

    Hentig, Hartmut von: Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit.

    Kartoniert - 124 Seiten - Beck
    Erscheinungsdatum: 2003
    ISBN: 3-406-50469-8

     

    Hentig, Hartmut von: Bildung

    Taschenbuch - 206 Seiten - Beltz
    Erscheinungsdatum: 1. April 2001
    Auflage: 3. Aufl.
    ISBN: 3-407-22035-9

     

    Kluge, Jürgen: Schluss mit der Bildungsmisere. Ein Sanierungskonzept.

    Gebundene Ausgabe - 241 Seiten - Campus Sachbuch
    Erscheinungsdatum: März 2003
    ISBN: 3-593-37189-8

     

    Oelkers, Jürgen: Wie man Schule entwickelt. Eine bildungspolitische Analyse nach PISA.

    Kartoniert - 228 Seiten - Beltz
    Erscheinungsdatum: März 2003
    ISBN: 3-407-22141-X

     

    Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens.

    Gebundene Ausgabe - 511 Seiten - Spektrum Akademischer Verlag
    Erscheinungsdatum: Oktober 2002
    ISBN: 3-8274-1396-6

     

     

    Begeisterung, die begeistert

    04. NOVEMBER 2003

    Begeisterung, die begeistert

    Noch liegt Reinhard Kahls Film "Treibhäuser der Zukunft" nur in einer halbstündigen Vorfassung vor. Nächstes Jahr soll das Werk über Ganztagsschulen in einer 90-minütigen Version als Teil eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung initiierten Medienpakets als DVD mit Broschüre erscheinen. Aber bereits in der "Kurzfassung" ist "Treibhäuser der Zukunft" auf viel Resonanz gestoßen.

    "Nur wenn wir selbst von etwas begeistert sind, können wir auch andere begeistern!" Auf Bildung war dieser Satz einst nicht gemünzt, aber er sollte ein Leitgedanke in diesem Bereich werden, wenn es nach dem Journalisten und Filmemacher Reinhard Kahl geht. Begeisterung scheint in jedem Fall durch, wenn dieser über Ganztagsschulenmodelle berichtet - und diese Begeisterung überträgt sich auf seine Zuschauer. So geschehen auf der Startkonferenz zum Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" Anfang September in Berlin, wo dem Plenum Kahls Kurzfilm "Treibhäuser der Zukunft" vorgeführt wurde.

    Der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Film hinterließ einen nachhaltigen Eindruck bei allen Diskussionsteilnehmern, die ständig auf ihn Bezug nahmen. Die in "Treibhäuser der Zukunft" dargestellten Ganztagsschulen wurden als Referenzpunkt, wie Schule sein sollte, immer wieder ins Feld geführt. Wieso lösten die etwa 30 Minuten beim Publikum so starke Reaktionen aus? Ist es die Begeisterung, die andere begeistert?

    Bilder sprechen für sich

    Das Erfolgsrezept von Kahl scheint paradox: Seine Begeisterung ist unaufgeregt. Angenehm unaufgeregt. Mit ruhiger Stimme kommentiert der 55-Jährige das Geschehen, er findet passende Schlagworte, überschlägt sich aber nicht in seinen Wertungen. Oft nimmt er sich auch ganz zurück und lässt die Bilder sprechen.

    Und Kahl beherrscht die Bildsprache. Den alten Schultyp des klassischen Frontalunterrichts mit Pausenklingel nennt er "Belehrungsschule", eine Schulform, welche die Schüler auf ein Funktionieren in der Industriegesellschaft vorbereiten sollte. Dies wird mit der Arbeitsanweisung einer Lehrerin im Sprachlabor illustriert ("Und dann wird geübt!"), woraufhin sich die Tonbänder in Bewegung setzen. Schnitt: Im nächsten Bild drehen sich Bänder und Räder in einer Fabrik. Bilder nur allzu gleich: Vom Funktionieren im Labor bis zum Funktionieren in der Fabrik war es lediglich ein kleiner Schritt. "Lernen gerät in die Nähe von Fronarbeit", kommentiert Kahl das. Doch beim Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft reiche es nicht mehr, Kinder in Bewegung zu setzen: "Innovation kann nicht angeordnet werden", so der Autor.

    Und Schnitt: Ein wahrer Quantensprung. Statt der in Schwarzweiß im Gänsemarsch marschierenden Schüler, statt der wie mit dem Lineal gezogenen Tischreihen, hinter denen die Kinder wie Wachsfiguren kleben, kommt nun Farbe und Bewegung ins Spiel. Reinhard Kahl mischt sich mit seiner Kamera unter die Schüler der Bodensee-Schule St. Martin in Friedrichshafen, einer katholischen Grund- und Hauptschule. Die Schüler begrüßen dort ihren Lehrer per Handschlag, beginnen selbstständig und unaufgefordert mit ihrer Arbeit. Die Schule "riskiert" hier das "Selbstverständliche": "Die Schüler lernen selbst" - und motivieren sich selbst.

    Kamera auf Augenhöhe

    Kahl lässt die Kamera immer auf Augenhöhe der Schüler, er blickt nicht auf sie herab, sondern zeigt sie so, wie er sie auch in der Schule akzeptiert wissen will: Als gleichberechtigtes Gegenüber. In den altersgemischten Arbeitsgruppen funktioniert dies laut Klassenlehrer Michael Bucher schon bestens: "Kinder lernen von Kindern."

    Es gilt für alle Bilder, die in den Schulen eingefangen werden: Man sieht keine Aggressivität, kein Über Tische und Bänke-Gehen, sondern ruhige, konzentrierte und sich gegenseitig helfende Schüler. Sie singen, musizieren, spielen Billard und Fußball, fahren Fahrrad oder werkeln im Handwerksraum. Für Kahl sind die über den Tag verteilten Arbeitsgemeinschaften eine neue "Choreographie von Schule, der Abschied von der alten Schulplanwirtschaft". Der Lehrer wird dabei Teil der Gruppe - auch dies ein augenfälliger Unterschied zum Frontalunterricht alter Schule.

    Einen Beleg, dass Ganztagsschulen funktionieren, findet Kahl auch beim Blick über den nationalen Tellerrand und stellt etablierte Ganztagsschulen in Finnland, Schweden, Dänemark und Kanada vor. Können sich so viele Länder, deren Schüler im PISA-Test besser abschnitten als die deutschen, in ihrem Bildungsansatz irren?

    Moderne Architektur, offen und lichtdurchflutet; Grundschüler, die bereits vor dem Computer unterrichtet werden; finnische Schüler, die bei Lernschwierigkeiten Einzelunterricht erhalten - für Kahl ist es die Mischung aus Individualismus und Zusammenarbeit, die den Erfolg einer modernen Schule ausmacht. Hier sollten Schüler die "Vorfreude auf sich selbst" erlernen.

    Zeit füreinander zu haben, ist ein Wert an sich

    Dies erfordert besondere Anstrengungen der Lehrer. Monika Teitz, Klassenlehrerin der Martin Luther-Hauptschule im nordrhein-westfälischen Herten, die zur Ganztagsschule umgebaut worden ist, empfindet die Arbeit bis in den Nachmittag hinein als "anstrengend, aber wir haben einfach mehr Zeit." Zum Beispiel für Hausaufgabenhilfe.

    Zeit füreinander zu haben, ist schon ein Wert an sich: Zeit für ein Lob, Zeit, etwas zu erschaffen, und Stolz auf das Erreichte zu verspüren, sowie Fehler als Ansporn zu begreifen - in der Ganztagsschule erhalten die Schüler mehr Zeit-Räume, dies zu erfahren und daran zu wachsen. "Wertschätzung als Voraussetzung für Wertschöpfung", nennt Kahl dies. Mit solch griffigen Formulierungen bringt der Journalist seine Gedanken stets auf einen prägnanten Punkt - eine Stärke dieses Films, die bereits beim Titel beginnt.

    Mit seinen letzten Bildern zeigt Reinhard Kahl die singende und musizierende Schulband eines Hamburger Ganztagsgymnasiums: Strahlende, lachende Jugendliche - und das in einer Schule! Es fällt schwer, hier nicht begeistert zu sein.

    Der Kurzfilm ist ein Vorgriff auf ein Medienpaket aus DVD und Broschüre. Darin werden Beispiele gelungener Schulen, pädagogische Erfahrungen und bemerkenswerte Positionen von Pädagogen und Wissenschaftlern ausführlich dokumentiert. Das Medienpaket wird Anfang 2004 fertiggestellt sein und kann dann beim Bundesministerium für Bildung und Forschung über books@bmbf.bund.de bestellt werden.

    Ende des Inhalts

    Nach Pisa – Ende des 30jährigen Bildungskrieges?

    Radio 3 von NDR & ORB / WDR 3

    Gedanken zur Zeit 3. August 2002

    Reinhard Kahl

    Nach Pisa - Ende des 30jährigen Bildungskrieges ?

    Ausländische Beobachter können nicht verstehen, warum sich die Deutschen nun bald schon ein dreiviertel Jahr lang über Pisa so aufregen. Aber sie ahnen etwas. Schon im Dezember vergangenen Jahres, als der internationale

    Vergleich der Kompetenzen von 15jährigen veröffentlicht wurde, war die Meldung vom schlechten deutschen

    Abschneiden der englischen und schwedischen Presse fast so viele Zeilen wert, wie die Nachricht vom guten

    Ergebnis im eigenen Land. Engländer äußerten über das deutsche Desaster kaum verhohlene Genugtuung. Ihnen

    sind die Weltmeister des Industriezeitalters unheimlich.

    Schweden waren eher irritiert. Im Gesamtschulland glaubte manch einer, die früh auslesenden deutschen Schulen

    seien in ihrer Härte wohl nicht wünschenswert, aber sind sie in der Leistung nicht vielleicht doch überlegen?

    Und wir, die Deutschen? Irgendwie haben wir bisher einen Beweis von Tiefe und Qualität darin gesehen, dass

    Schulen bei uns weniger freundlich sind als die in Kanada, Schweden oder fernab bei irgendwelchen Finnen.

    Deutsche sagen häufig, geschadet hat es uns nicht, wenn sie sich an manche Demütigung in der Klasse und an

    die Angst erinnern, vielleicht nicht gut genug für die höhere Schule zu sein.

    Kürzlich in eine Fernsehdiskussion überraschte der Moderator seine Gäste: „Jetzt nennen sie bitte mal ganz

    schnell einen Satz, der ihnen zu ihrer Schulzeit einfällt.“ Vier von fünf Antworten waren Variationen von: „Aus

    dir wird nie was.“ Und da saß eine Kultusministerin neben vier Mitstreitern, die es alle weit gebracht haben.

    Trotz dieser Prophezeiung. Das Trotzen mobilisiert auch Gegenkräfte, aber es ist aufwendig und die Narbe, die

    der Wunde folgt, bleibt eine gefühlstaube Zone.

    Und natürlich, einer zumindest ist immer dabei, dem die Schule nichts anhaben konnte.

    Aber viele wurden in der Schule von einem vergifteten Gedanken infiziert: Du bist ein Niemand. Zugleich bot

    sie einen Ausweg an: wenn du dich am Riemen reißt und wenn du versuchst ein ganz anderer zu werden, als der,

    der du jetzt bist, dann kommst du in die Gnade von Anerkennung. Wer in diesen Pakt einwilligte, dem musste

    das spätere Leben, auf das die Schule doch immer drohend verwies, wie eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe

    vorkommen. Vielen blieben davon Alpträume.

    Diese Schule passte alles in allem in die klassische Industriegesellschaft, die einige einsame Erfinder, wenige

    Autoritäten und viele Ausführende brauchte. Wer seines Eigensinns beraubt und in seinem Stolz gekränkt war,

    der verlangte nach Prothesen, zum Beispiel nach viel Arbeit oder nach Zauberdingen wie Autos mit 150 PS,

    oben liegender Nockenwelle und Schiebedach.

    Aus der Sicht des mit Prothesen Vervollständigten, haben die vorangegangenen Operation nicht geschadet,

    sondern einen von einem selbst entlastet. Am Ende glaubte man daran, dass nur bittere Medizin wirkt, oder man

    ist davon überzeugt, dass Schüler, wenn man das Sitzenbleiben abschaffen würde, mit dem Lernen aufhören

    würden, wie es kürzlich in einer aufgeregten Mediendebatte, nach dem Vorschlag das Sitzenbleiben abzuschaffen,

    im vergangenen Frühjahr in vielen Kommentaren, zumal der Provinzpresse befürchtet wurde.

    Hätten mehr von denen, die über Pisa reden, die Studie gelesen, wüssten sie, dass es dass exzessive

    Sitzenbleibenlassen sonst nur in Portugal gibt. Etwa ein Drittel der deutschen Schüler haben, so heißt es in der

    Statistik, verzögerte Schullaufbahnen. Schule als Strafe, das ist ein im internationalen Vergleich ein deutscher

    Sonderweg in der Bildung. Er ist Ausdruck eines Glaubens, dem Lust und Leistung als unvereinbar gelten.

    Aber nun hat dieses kollektive Imaginäre, dieses unbewusste Gewebe von Selbstverständlichkeiten bei den

    Deutschen eine Riss bekommen und dieser Riss heißt Pisa. Auch wenn wir das Wort langsam schon nicht mehr

    hören können, die Sache für die Pisa steht, begleitet uns, und wir werden sie nicht mehr los, denn Pisa markiert

    einen Übergang. Es ist der von der klassischen Industriegesellschaft, aus der unsere Art Schule zu machen

    stammt, zu einer nachindustriellen Gesellschaft, in der man nicht mehr ein Leben lang fragen kann, „Mutti

    welches Bild soll ich jetzt malen,“ und in der man nicht länger Verantwortung für sich selbst nach oben

    delegieren darf, gemäß dem alten Motto der Infantilgesellschaft: „Das hat meine Mutter nun davon, wenn ich

    friere“. Dieses „das war ich nicht! Das bin nicht ich“ ist eine in den Alltag unserer Schule tief eingeschriebene,

    fatale Mentalität. Der Lehrer sagt, „Das steht im Lehrplan, das müssen wir machen.“ Er demonstriert den

    Schülern ein Leben in fremdem Auftrag, wenn er mit seiner Person nicht für das, was er tut, einsteht, ja wenn er

    davon überzeugt ist, im Zweifelsfall gar nicht Einfluss nehmen zu können, und das immer wieder bekundet. So

    muffelt es in unseren Schulen nach Larmoyanz und Überdruss.

    Glücklicher sind die Skandinavier, Kanadier und selbst die USA und Japan, die ihre Schulen eher als

    Gemeinschaftsfeld der Gesellschaft eingerichtet haben. Bis zum Altern von 16 Jahren gehen alle Schüler zur

    bürgerlichen Einheitsschule, der Gesamtschule. In Schweden gibt es bis 8. Klasse, in Finnland bis zur 4. keine

    Noten. Auch Japan hat bis ans Ende dieser Stufe keinerlei Differenzierung, auch nicht in A oder B Kurse. In

    Schweden wird diese Aufteilung vom Gesetz explizit untersagt. In Finnland heißt der wichtigste Grundsatz:

    Respekt. Man darf Kinder nicht beschämen. Anerkennung geben und Zugehörigkeit vermitteln, das ist der Kern

    einer überlegenen Kultur. Sie bringt kognitiven Gewinn, Zusammenhalt und verspricht der Gesellschaft

    wirtschaftlichen Erfolg. In Finnland kennt man auch keine staatliche Schulaufsicht. Schulleiter stellen Lehrer ein

    und Kollegien einigen sich über das, was unterrichtet wird. Das Gesetz und ein verständlich formulierter,

    knapper Lehrplan, der sich auch an Schüler und Eltern wendet, geben den Rahmen vor.

    Diese Modernisierungsleistung hat Deutschland noch vor sich. Zur Eigenart dieser Modernisierung gehört, dass

    man sie nicht kopieren kann, aber der Blick auf andere erweitert unseren Möglichkeitssinn. Vielleicht infizieren

    wir uns sogar mit einer ansteckenden Gesundheit?

    Zum Beispiel im Tensta Gymnasium in Stockholm. Gymnasium heißt in Schweden die Oberstufe für die 16

    bis 19jährigen. Tensta ist eines der angesehensten Gymnasien, obwohl 80% der Schüler Migrantenkinder sind.

    Warum sagen sie Obwohl, fragen die Schweden zurück. Mit den Migranten kämen Probleme, ja, aber es entstehe

    viel Neues. In Schweden übrigens nennt man sie Neuschweden. Die Schule kooperiert in naturwissenschaftlichen

    Fächern mit der Universität. Da treffen die Neuschweden ständig international zusammengesetzte Teams. Wie in

    der Nussschale wird am Umgang mit den ausländischen Kindern das Gesamtproblem deutlich: Wir haben ja

    schon Schwierigkeiten mit den Wörtern. Sagen wir Ausländer, dann klingt es nicht so, als wollten wir

    Mitbürger ansprechen. Sagen wir Migranten, dann hört man, wie sich jemand politisch korrekt aus der Affäre

    zieht, sich aus der Umfangssprache stiehlt.

    Diese Misere beleuchtet eine weitere Studie über Schüler im internationalen Vergleich. In der kürzlich

    abgeschlossen, demnächst auf Deutsch veröffentlichten internationalen CIVIC Studie über politische Bildung

    sind unsere Schüler Weltmeister in Xenophobie, in der Angst vor Fremden und in der Ablehnung von Fremdem.

    Mit Pisa hat die Globalisierung in der Bildung begonnen. Nicht nur dass wir uns international vergleichen

    müssen, wir müssen uns entscheiden, ob wir die Fremden und das Fremde begrüßen, oder in ihnen immer nur

    ein im Grunde störendes Problem sehen wollen. Nutzen wir die Unterschiede zwischen den Menschen zur

    Steigerung von Individualität und Intelligenz oder wollen wir möglichst homogene Gruppen? Die Schule nimmt

    die Kinder nicht wie sie sind. Sie fragt hier zu Lande, sind die Schüler für die Schule geeignet und nicht, wie

    würde die geeignete Schule für die Kinder aussehen. Deutsche Lehrer unterrichten ja gewöhnlich ihre Fächer und

    nicht die Kinder oder die Jugendlichen.

    Und wenn heute Politiker endlich das Selbstverständliche entdecken, Deutschunterricht für die fremdsprachigen

    Kinder, und das möglichst früh, schon im Kindergarten, dann klingt das zuweilen, als müssten sie erst in den

    Sprachwaschgang einer chemischen Reinigung. Die Botschaft ist wiederum, ihr gehört nicht dazu. Und es ist die

    gleiche Botschaft, die auch ein großer Teil der Deutschen in der Schule erhält. Jürgen Baumert, Direktor am Max

    – Planck – Institut für Bildungsforschung und Chef der Pisa Studie sieht darin geradezu eine Obsession unserer

    Schulen. Er sagt: „Man muss immer, um den Klassenerhalt bangen und kämpfen, vor allem wenn man nicht zur

    Topgruppe gehört. Die Gefahr, dass man abgeschoben wird, ist einfach zu groß.“

    Deutschland hat mit seinen Schulen nach Pisa zwei große Probleme. Auf der einen Seite die Kränkung bei den

    Kompetenzen der 15jährigen im internationalen Vergleich abgeschlagen in der Nähe anderer Fußballnationen wie

    Mexiko und Brasilien zu rangieren. Man muss noch mal daran erinnern: fast jeder vierte 15jährige bringt es bei

    uns im Lesen nur auf Grundschuleniveau. In Mathematik und Naturwissenschaften sind die Leistungen noch

    schlechter. Auf der einen Seite also diese Schwäche. Auf der anderen Seite die Verstörung, dass unsere Bittere-

    Medizin-Schule gar nicht überlegen ist, dass die These „geschadet hat es uns nicht“ vielleicht eine Lüge ist, dass

    wir uns um etwas betrügen und wir ahnen, dass wir betrogen worden sind, wenn wir in Stockholm, Helsinki

    oder Toronto sehen, dass die Schule tatsächlich eine Verabredung zum Leben sein kann.

    Eine moderne Schule vertaut den Schülern, dass sie lernen und auch etwas leisten wollen. Sie kann auf die

    Strippen der Außensteuerung, wie Noten verzichten, weil es ihr gelingt die viel nachhaltigere Innensteuerung

    aufzubauen und sie mit Kooperation zu stützen. Man könnte natürlich mit Recht sagen, dass ist nichts als die

    Entdeckung des Selbstverständlichen. Vieles davon hat die Reformpädagogik seit Anfang des vergangenen

    Jahrhundert vorgemacht. Aber anders als früher, wo die Reformpädagogik vielleicht im Recht war, aber sich

    nicht durchsetzen konnte, hat sie heute eine historische Chance, weil sie die bessere Vorbereitung auf eine

    Wissensgesellschaft ist. Auch die Wertschöpfungsketten in der Wirtschaft verlangen inzwischen

    Wertschätzungsketten in der Bildung. Wenn es auch schwer fällt, der Übergang von einer Kultur des Misstrauens

    zu einer des Vertrauens steht an, auch und gerade in den Unternehmen, selbst wenn jetzt die Geschichten von

    absahnenden und Bilanzen fälschenden Vorständen auf den ersten Blick Gegenbeweise sind.

    Ein Blick zum Wendekreis der Pädagogik, zu Schulen in Finnland und Schweden sowie nach Kanada zeigt, wie

    das geht und dass es der Gesellschaft nützt.

    Während diese Länder in den vergangenen Jahrzehnten begonnen haben ihre Schulen umzubauen, haben sich die

    Deutschen, genauer die Westdeutschen, einen 30jährigen Bildungskrieg der Rechthaberei geliefert. Er ist

    erschöpft und überholt – wenn auch eine alte Politik jetzt im Wahlkampf auf der Suche nach den verlorenen

    Schlachtordnungen noch einmal Anleihen bei ihm nimmt.

    Aber – und dafür sind die Pisa Ergebnisse wohl die Quittung, am Ende dieses Glaubenskrieges sind manches

    Bildungslandschaften verwahrlost. Der philosophische Aphoristiker Peter Sloterdijk bringt es auf den Punkt:

    „Deutsche Schüler verlassen nach 13 Jahren die Schule, wie Landsknechte eine aufgelöste Armee.“ Und so

    definiert er, was Lernen tatsächlich ist: „Vorfreude auf sich selbst“.

    Aber geht das denn, Lernen als Vorfreude auf sich selbst, fragen immer noch mit tiefem Zweifel die Deutschen

    und zwar nicht nur die Freunde des Sitzenbleibenlassens und der Selektion.

    Wie tief diese Erbsünde in unserem Bewusstsein sitzt, zeigte sich im Herbst vergangenen Jahres, beim Besuch

    einer Delegation von Schulräten und Bildungsplanern, aus der Reformfraktion in Schweden. Die Pisa Ergebnisse

    waren noch nicht veröffentlicht. Der Besuch sollte klären, warum die schwedischen Oberstufenschüler in einem

    anderen internationalen Vergleich, der Mathematik und Naturwissenschaftsstudie TIMS, an der Weltspitze

    stehen. Immer wieder wurden die Schweden von den Deutschen gefragt, wie kommen sie zu diesen

    Spitzenleistungen, obwohl sie keine Leistungsdifferenzierung in der gemeinsamen neunjährigen Folkeskole

    machen? Was, so gute Leistungen, wurde ungläubig gefragt, obgleich es bis zur 8. Klasse keine Noten gibt? Erst

    recht Kopfschütteln beim Oberstufenvergleich selbst, wo doch schwedische Schulen alles daran setzen, nach der

    9. Klasse möglichst alle aufs Gymnasium zu bringen. Tatsächlich schaffen das mehr als 90% eines Jahrgangs.

    Mehr als 70% des Geburtsjahrgangs erwirbt die Hochschulreife. 60% studiert. Irritationsresistent liefen die

    Fragen immer wieder auf dieses Obwohl hinaus. Kein Versuch mit dem Wörtchen weil.

    Die Deutschen scheinen sich im Zweifelsfall einig zu sein: es kann doch gar nicht sein, dass freiere und auf

    Gemeinschaft setzende Schulen auch noch die erfolgreicheren sind, dass gute Leistungen eher eine Echo auf

    Vertrauen als auf Misstrauen sind. Aber genau das ist die starke Lektion aus Skandinavien, Kanada und vielen

    anderen Ländern. „Du gehörst dazu“, ist dort die Grundbotschaft. „Du kannst mehr als du glaubst! Du bist ganz

    gut!“

    Eine noch nicht veröffentlichte Auswertung der internationalen PISA Ergebnisse, von der kürzlich Pirjo

    Linnakylä, die führende finnische PISA-Forscherin berichtete, zeigt erstaunliche kognitive Überlegenheit in den

    angelsäsischen und skandinavischen Kulturen. Das Geheimnis dieser Kultur nennt sie: ”Argumentation und

    gegenseitige Anerkennung”.

     

     

    Nach Pisa – Zukunft der Schule (4)

    Sehr geehrte Hörerin, sehr geehrter Hörer,

    wir danken für Ihr Interesse an unserem Programm und

    erfüllen gerne Ihren Manuskriptwunsch.

    Bitte, beachten Sie:

    Diese Kopie wird nur zur rein persönlichen Information

    überlassen. Jede Form der Vervielfältigung oder

    Verwertung bedarf der ausdrücklichen vorherigen

    Genehmigung der Urheberin/des Urhebers.

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    Südwestrundfunk

    SWR2 Wissen

    Titel: Eine Schule ohne Beschämung

    Lernen als Vorfreude auf sich selbst

    Aus der Reihe: Nach PISA – Die Zukunft der Schule (Teil 4)

    Autor: Reinhard Kahl

    Redaktion: Bildung

    Sendung: 9.11.2002

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    MANUSKRIPT

     

     

     

     

     

    Cut 1: (Wolfgang Edelstein)

    Ich bin immer wieder entsetzt, wirklich grundlegend entsetzt, über diese pausenlose Demütigung, der die Kinder ausgesetzt werden.

    Sprecher:

    ...sagt ein Vater, leidgeprüft. Wir halten seinen Namen noch einen Moment zurück. Er erzählt Geschichten von einem alltäglichen Krieg in der Schule, der häufig auf die Familien übergreift.

    Cut 2: (Edelstein)

    Meine Tochter kommt aus der Schule gestern, sie ist in der zwölften Klasse. Sie kriegt ihre Geschichtsklausur zurück. Und was sagt ihr der Lehrer: Du kannst nur labern. Sie hat Stunden gesessen und diese Aufsätze geschrieben, viel Mühe und sie kriegt Vieren und er sagt: Du kannst halt nur labern. Und ich sage: soll ich ihm mal einen Brief schreiben? Und sie sagt: mach das bitte nicht, vielleicht hat er ja sogar recht. Aber ich meine, die braucht Tage um sich zu erholen

    Sprecher:

    Häufig geht von der Schule Beschämung aus. Eine Botschaft, die das Lernen untergräbt:

    Zitator:

    Du gehörst nicht hierher. Du kannst nichts. Du störst.

    Sprecherin:

    Viele Schüler und Eltern halten diesem vergifteten Urteil nicht Stand. Schüler übernehmen es in ihr Selbstbild. Eltern tragen es an ihre Kinder mit Strafpredigten weiter. Sie drohen und ermahnen:

    Zitator:

    Streng dich endlich mehr an! Stell dich nicht so an! Aus dir wird nie was! Dann musst du eben abgehen.

    Sprecher:

    Dieser Vater hat den Mut, die Lehrer seiner Tochter aufzusuchen. Das Mädchen steht kurz vor dem Abitur.

    Cut 3: (Cut 3 &4: Edelstein)

    Ich rede mit der Mathematiklehrerin von Anna letztes Jahr. Also eine Studienrätin mit den Fächern Mathematik und Physik. Anna hat bei dieser Studienrätin konsistent immer Sechsen. Und ich meine, Sechs ist eine Unverschämtheit, weil es jede Entwicklungschance raubt, es ist nicht kompensierbar, d.h. es ist intentional so gesetzt und ich rede mit ihr und frage sie, ob sie wirklich auf der Sechs beharrt. Und sie sagt: es ist meine Aufgabe unfähige Schüler auszulesen. Ich sage, wie bitte? Ich dachte, es ist ihre Aufgabe den Kindern etwas beizubringen. Darauf hat sie nicht reagiert. Ich sagte, haben sie die Ergebnisse von Timms, damals gab es noch nicht PISA...

    Sprecherin:

    ....TIMMS, eine internationale Studie über die Kenntnisse der Schüler in Mathematik- und Naturwissenschaften...

    Cut 4:

    ...darauf sagte sie: ist alles Nonsens. In Timss steht nämlich, dass die Mathematikleistungen schlechter sind, gerade bei den guten Mathematiklehrern, diesen hochprofessionellen, als bei den anderen. Ist alles Nonsens sagt sie. Und jetzt hat sie, die nicht mehr, jetzt ist sie ja in der Klasse zu einem anderen Lehrer gekommen und da hat sie eine Vier. Sie lebt seit letztem Jahr in dem Terror, dass sie diese Lehrerin in der dreizehnten Klasse noch mal kriegt.

    Sprecher:

    Der Vater, man ahnt es, ist vom Fach: Wolfgang Edelstein, inzwischen emeritierter Direktor am Max Planck – Institut für Bildungsforschung in Berlin.

    Er hat die Dramen der Schule, hinter denen sich immer individuelle Tragödien verbergen, untersucht.

    Cut 5: (Edelstein)

    Die Frage ist, unter welchen Bedingungen verknüpft sich das Wissen und das Erlernen von Wissen mit einer Wahrnehmung zu einer Erfahrung sinnerfüllten Lernens. Das heißt, ganz primitiv gesprochen, was macht mir Sinn? Und wenn sie Kinder fragen, ob das Lernen interessant ist, kriegen sie in der Regel bei ganz kleinen Kindern ganz klare Indikatoren dafür, dass sie das interessant finden, dass sie mehr lernen wollen. Und je mehr Erfahrung sie mit der Schule haben, desto mehr nimmt das ab. Ich habe mal eine Untersuchung gemacht in Island über Lernfreude. Die Kleinen, also Erstklässler und Zweitklässler sind extrem hoch auf dieser Variable und schon in der dritten Klasse nimmt es ab, und von da an nimmt es kontinuierlich ab und es nimmt immer sprunghaft zu, wenn ein neues Fach kommt und im Laufe des ersten Jahres, in dem das Fach erfahren wird, nimmt es wieder ab.

    Sprecher:

    Man darf daran zweifeln, ob die Schulen, die wir heute haben, wirklich zum Lernen geeignet sind. Stand ihre Gründung im 19. und ihre Ausformung im 20. Jahrhundert nicht unter ganz anderen Zeichen als denen des Lernens?

    Sprecherin:

    Ging es nicht eher darum, Menschen in eine Arbeitswelt voller Routine einzupassen? Sollten die Menschen der Industriegesellschaft nicht vor allem funktionieren und fehlerlos ausführen, was von ihnen verlangt wurde, als sich zu entwickeln, den eigenen einmaligen Weg zu finden, also selbst etwas zu wollen?

    Sprecher:

    Das Eigene gedeiht nur in einer Atmosphäre von Anerkennung. Respekt ist eines seiner wichtigsten Lebensmittel. Diese Atmosphäre wirkt sich auch aufs Lernen aus. Ein kaum noch bestrittenes Ergebnis der PISA-Studie heißt:

    Sprecherin:

    In Schulsystemen, in denen Kinder und Jugendliche nicht so sehr um ihre Zugehörigkeit bangen müssen, in denen sie in den ersten 9 oder 10 Jahren ganz selbstverständlich dazu gehören, in diesen Systemen sind auch die Leistungen deutlich besser.

    Sprecher:

    Für das Maß an Anerkennung gibt es eine Art Lackmustest. Das Verhältnis zu den Fremden, zu den Kindern der Zuwanderer. Sie gehören in Deutschland immer noch nicht wirklich dazu. Eine Minderheit sind sie längst nicht mehr. Auch hier brachte die PISA- Studie neue Ergebnisse:

     

    Cut 6: ( Baumert)

    Fast 30 % der nachwachsenden Bevölkerung entstammt aus Zuwandererfamilien in den alten Ländern. Es kann einfach nicht sein, dass wir sie als Minderheit ansehen, dass wir es durchgehen lassen, dass sie die Verkehrssprache nicht adäquat können. Das heißt, wir kumulieren ein sozialpolitisches Problem ersten Ranges, weil wir in einer Frage, wie sich unsere Gesellschaft weiter entwickeln soll, unentschieden sind. Hier ist die Vogel Strauss Politik, die wir bisher betrieben haben, Kopf in den Sand die allerschlechteste Politik.

    Sprecherin:

    Jürgen Baumert, der in Deutschland die PISA- Studie verantwortet.

    Sprecher:

    Was die Förderung oder Vernachlässigung der Zuwanderkinder betrifft, schärfte die Studie unser Bewusstsein. Manches, was uns in Deutschland zwar nicht ideal, aber doch natürlich zu sein schien, stellte sich im Vergleich mit anderen Ländern als sehr eigener Weg heraus.

    Nehmen wir Schweden mit ähnlichem Ausländeranteil wie Deutschland. Wie gut die Ausländerkinder dort bei PISA abschnitten, erstaunte in Deutschland selbst die PISA- Forscher.

    Cut 7: ( Atmo, Tensta Gymnasium Stockholm, Sprachkurs)

    Sprecher:

    Schwedisch für Ausländer, ein Sprachkurs im Tensta Gymnasium in Stockholm.

    Sprecherin:

    Gymnasium nennt man in Schweden die Oberstufe für die 16- bis 19jährigen.

    Sprecher:

    Sieben junge Erwachsene sitzen mit ihrer Lehrerin zusammen. Sie sind kaum länger als ein Jahr in Schweden. Für deutsche Ohren ungewohnt – die Lehrerin Christina Uhr spricht voller Stolz von der Schule, vom Unterricht und vor allem von ihren Schülern, den Einwanderern. Kein Wort von einer Problemgruppe oder dergleichen

    Cut 8: ( Christiana Uhr)

    Wir haben drei verschiedene Klassen auf verschiedenen Ebenen. Dies ist die erste . Es ist eine gute erste Klasse. Sie sind so interessiert. Sie wollen wirklich etwas.

    Sprecherin:

    Der Umgang mit ausländischen Kindern und Jugendlichen macht deutlich, wie Schule überhaupt mit der Unterschiedlichkeit von Menschen umgeht.

    Das wird übrigens auch an den Begriffen deutlich. In Schweden spricht man nicht von „Ausländern" oder von „Migranten" – sondern von „Neuschweden."

    Sprecher:

    Das Tensta Gymnasium ist übrigens eines der angesehensten Gymnasien in Stockholm. Die Schule kooperiert in naturwissenschaftlichen Fächern mit der Universität. Dort treffen die Schüler ständig auf international zusammengesetzte Teams. In der Berufsausbildung - auch die bieten schwedische Gymnasien an - kooperiert die Schule mit internationalen Firmen. In der Wissenschaft und in den global operierenden Unternehmen ist es ganz normal, verschieden zu sein.

    Darüber, dass das Tensta-Gymnasium so erfolgreich und so gut angesehen ist, obwohl doch 80% der Schüler dort Neuschweden sind, wundern sich deutsche Besucher.

     

    Sprecherin:

    Warum sagen sie Obwohl - fragen die Schweden zurück. Mit den Migranten kämen Probleme, ja, aber es entstehe doch auch viel Neues.

    Cut 9: ( Inger Nyrell, Direktorin Tensta Gym.)

    Das ist eine neue Welt. Das ist sehr schwierig zu erklären. Es ist sehr friedlich hier, es ist sehr ruhig, man funktioniert gut. Man versteht sich untereinander. Außerdem sind die meisten Schüler sehr fleißig. Sie wollen wirklich in die Gesellschaft kommen und versuchen auch viel Arbeit zu leisten, um das zu schaffen.

    Sprecherin:

    Inger Nyrell, die Direktorin des Tensta Gymnasiums. Auch sie spricht voller Stolz von ihrer Schule und den Schülern.

    Sprecher:

    Stolz, das zeigt sich an den Ländern, die beim internationalen Schultest PISA besonders gut abschnitten, Stolz treibt das Lernen voran. Stolz bekundet Zugehörigkeit und schafft Sicherheit, aus der heraus man sich ins Unsichere wagen kann. Und Lernen bedeutet ja immer auch, einen Schritt ins Ungewisse zu wagen. Wer beschämt ist und sich wenig zutraut, wird solche Schritte vermeiden. So gesehen ist Stolz eine Produktivkraft.

    Sprecherin:

    Hingegen drückt der im deutschen Schulsystem latent drohende Ausschluss auf die Stimmung, schwächt das Selbstbewusstsein und die Lernbereitschaft.

    Cut 10: ( Edelstein)

    Man merkt das an allen Untersuchungen, die Schulzufriedenheit untersuchen, da ist die Schulverzweiflung und die Schulablehnung ja sehr, sehr hoch, zwischen einem Drittel und der Hälfte der Schüler. Und da rekrutieren sich die traumatisierten Kids, die dann in die rechten Gruppen abdriften und in andere Problemlagen, die wir immer vergessen, weil sie nicht auffallen, die mit Valium aufgefüllt werden, die haben wir haben wir doch auch, und nicht zu knapp.

    Sprecher:

    Bildungsforscher Wolfgang Edelstein hat Untersuchungen über die Stimmung in deutschen Schulen zusammen getragen und ausgewertet – über mehrere Jahre hinweg und in verschiedenen Schulformen. Mit dem Ergebnis: Viele Schüler und Lehrer betrachten einander mit einem „bösen Blick". Er ist wechselseitig, schaukelt sich hoch. Das vorherrschende Lehrerbild laufe bei deutschen Schülern immer wieder darauf hinaus:

    Cut 11: ( Edelstein).

    Sie trauen den Lehrern nicht. Sie halten sie für übelwollend. Sie würden nie mit einem Problem zum Lehrer gehen. Sie erhalten von der Schule nichts. Sie lernen darin nichts, was interessant ist, oder was ihnen nützt. Aber insbesondere misstrauen sie den Lehrern, bis zu fünfzig Prozent an den Gesamtschulen.

    Sprecher:

    Immer wieder erleben deutsche Schüler und ihre Eltern eine Art „Kulturschock", wenn die Eleven in der Oberstufe des Gymnasiums für ein paar Monate oder ein Jahr ins Ausland gehen. Zum Beispiel Benjamin, der Sohn des Bildungsforschers Wolfgang Edelstein. Er ging mit Sechzehn für ein Jahr von Berlin nach Boston. Schon nach einer Woche schrieb er nach Hause:

    Zitator:

    „Ihr werdet es nicht glauben, an den Schulen hier interessieren sich die Lehrer für die Schüler."

    Sprecher:

    Der neue Mathelehrer hatte in kurzer Zeit die Lücken identifiziert, die Benjamin von einem der renommiertesten Gymnasien in Berlin mitgebracht hatte.

    Der amerikanische Lehrer habe das „träge Regelwissen" in verständliches „Handlungswissen" transformiert, erklärte

    Wolfgang Edelstein kürzlich in einem Vortrag.

    In Boston änderte sich, was der Bildungsforscher die „Selbstwirksamkeitsüberzeugung" nennt. Aus einer pessimistischen Einschätzung wurde eine optimistische; Leistungen und Noten verbesserten sich.

    Später meldete Benjamin:

    Zitator:

    „Die Lehrer lassen nicht ab, bis jeder das Problem begriffen hat."

    Sprecherin:

    Wenn Wolfgang Edelstein seine persönlichen Erfahrungen nicht in vielen Studien beglaubigt fände, hätten wir Scheu, sie als typisch darzustellen. Um es deutlich zu sagen: Edelstein ist kein Lehrerhasser. Er war selbst einmal Lehrer und Studienleiter an der legendären Odenwaldschule, bevor der Soziologe und Linguist in die akademische Welt wechselte und in Berlin das Max Planck –Institut für Bildungsforschung mit aufbaute.

    Sprecher:

    Edelstein hat schon vor Jahren den Begriff „Self-efficacy", Selbstwirksamkeit, in die deutsche Debatte eingeführt.

    Das englische Wortspiel mit Efficiency und Efficacy, also mit Effizienz und Wirksamkeit, signalisiert, was die Stunde geschlagen hat. Das Ideal des Industriezeitalters, demnach Menschen effizient wie Maschinen zu funktionieren hatten, wird der Wissensgesellschaft nicht den Weg weisen. Jeder muss etwas wollen und Ideen haben, um wirksam zu werden. Positive Selbstbilder liefern dafür den Unterstrom. Selbstverwirklichung und Weltverwirklichung werden sich künftig immer mehr bedingen. Demokratie und Leistung haben eine Schnittstelle: selbstbewusste Menschen.

     

    Sprecherin:

    Das ist die positive Nachricht. Die schlechte ist, dass vielen das Selbstbewusstsein fehlt. Und vielen fehlen auch die minimalen Leistungsvoraussetzungen für gesellschaftliche Teilhabe. Zu den Risikokandidaten im Lesen gehört in Deutschland fast ein Viertel des Altersjahrgangs. Das zeigt die PISA- Studie. In Finnland zählen keine 7% zu dieser Gruppe kognitiver Verlierer.

    Cut 14: (Baumert )

    Man muss immer, vor allem wenn man nicht zur Topgruppe gehört, um den Klassenerhalt bangen und kämpfen. Die Gefahr, dass man abgeschoben wird, ist einfach groß. Das ist auch eine Folge der inneren Logik unseres Systems. Das liegt nicht an der schlechten Pädagogik der Lehrer oder an mangelndem Verantwortungsbewusstsein. Ihnen fäll es in ihrem Handlungsrepertoire im Alltag schwer, mit Unterschiedlichkeit umzugehen. Deshalb haben sie das Gefühl, selbst wenn sie homogene Lerngruppen haben, dass die Lerngruppen noch zu heterogen und unterschiedlich sind und grenzen dann aus.

    Sprecherin:

    So fasst PISA- Chef Jürgen Baumert die Diagnose für Deutschland zusammen.

    Sprecher:

    Während bei PISA erfolgreiche Länder in den vergangenen Jahrzehnten begonnen haben, ihre Schulen umzubauen, haben sich die Deutschen, genauer die Westdeutschen, einen 30jährigen Bildungskrieg der Rechthaberei geliefert.

    Sprecherin:

    Dafür waren die Pisa Ergebnisse die Quittung. Pisa bestätigte, was sensible Beobachter länger schon diagnostizierten: verwahrloste Bildungslandschaften. Peter Sloterdijk, der Philosoph, der seine Thesen auf den Punkt zu bringen weiß:

    Zitator:

    „Deutsche Schüler verlassen nach 13 Jahren die Schule wie Landsknechte eine aufgelöste Armee."

    Sprecher:

    Auch Peter Sloterdijk kann seine Studien über das „Atmosphärentier Mensch" mit alltäglichen Beobachtungen bei seiner Tochter verbinden. Sie hat das Glück, auf eine Montessori Grundschule in Karlsruhe zu gehen.

    Cut 15: ( Peter Sloterdijk)

    Und da sieht man so sehr deutlich, wie man mit einer anderen Klimapolitik, auch eine ganz andere Sprache mit den Schülern und eine andere Sprache der Schüler untereinander hervorruft, weil nämlich diese Lernlibido als das eigentliche Kapital mit dem dort gearbeitet wird, vorausgesetzt wird. Die Kinder bringen ihre Neugier, ihre Begeisterung, dieses unschätzbare Medium der Vorfreude auf sich selber, also die Vorfreude auf den eigenen nächsten Zustand in diesen Lernvorgang mit hinein. Eine Didaktik, die das respektiert arbeitet klimapolitisch ganz anders, als eine Schule, in der die Pädagogen auftreten mit einer Haltung: ihr werdet euch noch wundern, oder: ich werde es euch zeigen. In der diese Zumutungen einer verfrühten und ungerechtfertigten Versachlichung an die Kinder herangetragen werden.

    Sprecher:

    Das Motto „Lernen ist eine Vorfreude auf sich selbst" könnte wie ein Notenschlüssel vor den Partituren einer neuen Schule stehen. Und dass der beschämte und depressive Blick auf sich selbst Lernbehinderung bedeutet, könnte eine Erkenntnis sein, die den Abschied von der alten Schule erleichtern sollte. Lernlibido ist durch nichts zu ersetzen, weder durch Nachhilfe noch durch Ermahnungen und auch nicht durch mehr Unterricht.

    Cut 16: (Sloterdijk)

    Ich beobachte das mit größter Faszination bei meiner Tochter, die mir schon mit 2 Jahren aufgefallen ist als ein Mensch, die ein Lustprinzip hat, das ich nirgendwo bisher adäquat beschrieben gefunden habe, weder in der Psychoanalyse, noch in irgend einer anderen psychologischen Beschreibung. Ich habe dann die Entdeckung gemacht, dass also das primäre Element dieser Libido darin besteht, dass sie sich auf ihren nächsten Zustand freut und zwar auf ihr Werden, auf ihr eigenes Werden freut, und dass sie so eine Art Grubenlampe auf dem Kopf trägt, die ihr sozusagen den nächsten Arbeitsabschnitt des Lebens auf eine ganz diskrete Weise anleuchtet. Sie geht in ihrem kleinen Lebenstunnel voran immer mit dem Gefühl, dass sie das Licht am Ende des Tunnels schon sieht, dass ihr eigener, aus ihr herauskommender Projektor, also ihre Freude, das nächste Stück Leben anleuchtet. Ich glaube mit dieser dynamischen Libido, die das eigene Werden-Können im voraus ausleuchtet, mit der muss sich die Pädagogik verbünden.

    Sprecherin:

    Wie tief die Erbsünde des Misstrauen in unserem Bewusstsein sitzt, zeigte sich im Herbst des Jahres 2001 beim Besuch einer Delegation deutscher Schulräte und Bildungsplaner in Schweden. Die PISA-Ergebnisse waren noch nicht veröffentlicht. Der Besuch sollte klären, warum die schwedischen Oberstufenschüler in dem anderen internationalen Vergleich, der Mathematik und Naturwissenschaftsstudie TIMSS, an der Weltspitze stehen.

    Sprecher:

    Immer wieder wurden die Schweden von den Deutschen gefragt, wie sie zu diesen Spitzenleistungen kämen, obwohl sie keine Leistungsdifferenzierung in der gemeinsamen neunjährigen Folkeskole machen?

    So gute Leistungen, wurde ungläubig gefragt, obgleich es bis zur 8. Klasse keine Noten gibt? Erst recht Kopfschütteln beim Oberstufenvergleich, der die Schweden so überlegen abschneiden lässt - wo doch schwedische Schulen alles daran setzen, nach der 9. Klasse möglichst alle aufs Gymnasium zu bringen.

    Sprecherin:

    Tatsächlich schaffen es mehr als 90% eines Jahrgangs.

    75% des Geburtsjahrgangs erwerben die Hochschulreife. 60% studieren.

    Sprecher:

    Irritationsresistent liefen die deutschen Fragen immer wieder auf dieses Obwohl hinaus. Kein Versuch mit dem Wörtchen weil. Dabei gehörte die deutsche Pädagogendelegation zum reformerischen Lager. Die Deutschen scheinen sich im Zweifelsfall einig zu sein: es kann doch gar nicht sein, dass freiere und auf Gemeinschaft setzende Schulen auch noch die erfolgreicheren sind, dass gute Leistungen eher ein Echo auf Vertrauen als auf Misstrauen sind. Aber genau das ist die starke Lektion aus Skandinavien, Kanada und vielen anderen Ländern.

    Dort lautet die Botschaft:

    Zitator:

    „Du gehörst dazu. Du kannst mehr als du glaubst! Du bist ganz gut!"

    Cut 17: Alenius

    In Sweden we have the school 150 years now, during that time we have a classroom, the pupils and the teacher and about 40 minutes for a lesson. So, now it’s time to change it.

    Zitator: (voice over)

    In Schweden haben wir die Schule nun 150 Jahre: es gibt einen Klassenraum, Schüler, Lehrer und ungefähr 40 Minuten Unterricht. Nun ist es Zeit das zu ändern.

    Sprecher:

    Hans Alenius, Lehrer in der „Futurum" Schule in Balsta, nördlich von Stockholm. Der Besucher traut seinen Augen nicht. Schon die Architektur erinnert nicht mehr an Schulen, wie man sie kennt. Besucher werden durch Ateliers und Labors geführt. Sie sehen Räume, in denen Schüler gemeinsam in Arbeitsgruppen oder still für sich lernen. Man staunt im Lehrerbüro über Schreibtische und Computer für jeden Pädagogen. Dann gibt es noch ein professionelles Musikstudio. Alle diese Räume sind um runde, lichtdurchflutete Großräume gebaut, die an Markt- oder Dorfplätze erinnern. Nach zwei Stunden fragt einer der Besucher:

    Zitator:

    „Können wir denn auch mal richtigen Unterricht sehen?"

    Sprecherin:

    Der Lehrer lächelt. „Das hier ist unser Unterricht."

    Sprecher:

    Die Schule mit 1000 Schülern und etwa 100 Lehrern besteht aus sechs kleinen Schulen, die jeweils um einen der Gemeinschaftsräume gruppiert sind. Zu dieser kleinen Schule in der Großen gehen jeweils um die 160 Kinder und Jugendliche von sechs bis sechzehn, von der Vorschulklasse bis Klasse neun.

    Cut 18: ( Alenius)

    The basic is, that we mix ages of the pupil. The older the pupil get, the more we mix the ages, because older pupil help younger, and the younger also can help the older. And that is very, very important. In computing, in mathematic we have a six grade pupil, who helps pupil the eight grade. And that was impossible in the old school.

    Zitator: (voice over)

    Grundlegend ist, dass wir Altersgruppen mischen. Je älter die Schüler sind, desto mehr mischen wir sie. Ältere helfen Jüngeren, und auch Jüngere helfen Älteren. Das ist wichtig. Bei Computern oder zum Beispiel in Mathe haben wir einen aus der Sechsten, der hilft denen aus der Achten. Das war in der alten Schule unmöglich.

    Sprecher:

    Die Zusammenarbeit der Schüler ist ein Merkmal des schwedischen Erfolges. Die hohe Zahl der Gymnasiasten und die starken Leistungen erklärt Mats Ekholm, Generaldirektor der schwedischen Bildungsagentur Skolverket mit der ausgeprägten horizontalen Struktur:

    Cut 19: (Ekholm)

    Schüler lernen von Schülern. Schüler oder Kinder sind manchmal besser als Lehrer um etwas zu erklären. Bei Schülern in Schweden finden wir, dass bei ihnen im Laufe der Zeit die Lust an Mathematik zum Beispiel verschwindet. Und da versuchen wir heraus zu bekommen, wie kann man die Lust länger am Leben halten.

    Sprecher:

    Die schwedische Antwort heißt: mehr Aktivität, mehr Selbststeuerung, mehr Zusammenarbeit. Weniger traditioneller Unterricht, weniger Lehrervortrag.

    Erkenntnisse der Neurobiologie zeigen heute: Lernen beginnt mit der Aktivität der Sinne. Dann folgt das große Assoziieren der vielen Eindrücke mit dem, was in den verschiedenen Hirnzentren, die relativ autonom arbeiten, gespeichert worden ist. Und dann erst wird es Bedeutung geben.

    Sprecherin:

    In der Schule läuft es genau anders herum. Erst die Bedeutung – und zwar als auskristallisiertes Resultat von vielen Prozessen des Bedeutung-Gebens. Es wird hierarchisch von oben nach unten erklärt: erstens, zweitens, drittens. Die vielen Assoziationen, ohne die unser Gehirn gar nicht arbeiten kann, stören dabei nur. Assoziationen sollen in der Schule in eng gebahnten Kanälen ablaufen. Aber das wollen sie nicht. Folglich versucht man das Gehirn in der Schule beim Lernen ruhig zu stellen. Ganz abschalten lässt es sich ja nicht.

     

    Sprecher:

    In schwedischen Schulen, die neue Wege gehen, geht das Lernen von den Schülern aus. Man vertraut darauf, dass sie lernen wollen, wie alle Kinder, bevor sie zur Schule gehen.

    In der „Futurum" Schule in Balsta zeigt uns Markus Salmen seinen individuellen Lehrplan, sein Logbuch.

    Cut 20: (Markus)

    We have enormous freedom. Because if we want to do mathematics today, we can make it in our own schedule. If we want to have English, we can have it. One week we need to have more Swedish, we can have it and make more mathematics and something next week.

    Every day, sit down half an hour, an write in, what we have to do. I write in Monday morning what I gone to have Tuesday afternoon and write what I have to do in every subject.

    Zitator: (voice over)

    Wir haben viel Freiheit. Wenn wir heute Mathe machen wollen, dann nehmen wir das in unseren eigenen Stundenplan, oder wir machen Englisch. In einer Woche merke ich, dass mehr Schwedisch nötig ist, dann kommt Mathe und anderes nächste Woche dran. Jeden Morgen setzt man sich ne halbe Stunde hin und schreibt auf, was zu tun ist.

    Montag morgen schreibe ich schon auf, was ich bis Dienstagnachmittag in den verschiedenen Fächern machen will.

    Sprecher:

    Das Logbuch ersetzt Markus’ Stundenplan. Es ist Sache der Schüler, ob sie ihre wöchentlichen Matheübungen am Donnerstag Früh oder am Mittwoch Nachmittag machen. Aber sie müssen darüber Rechenschaft ablegen. Die Schüler für ihr eigenes Lernen selbst verantwortlich zu machen, das ist das oberste Lernziel. Diese Verantwortung verändert den Stil im Umgang mit den Lehrern. Instruktionen und Besprechungen mit den Lehrern finden mal vor großem Auditorium oder in ganz kleinen Gruppen statt. Aber diese Lehrveranstaltungen machen höchstens die Hälfte der Schulzeit aus.

    Sprecher:

    Auch der Schulalltag der Lehrer hat sich in Schweden verändert.

    Seit fast 10 Jahren arbeiten dort die Lehrer 35 Stunden in der Woche – und zwar in der Schule.

    Nur ein Teil davon ist Unterricht.

    Cut 21: (Lehrerinnen Titti Turner und Agneta Petterson)

    You are not alone, we have a lot of children together and if there is a problem, we can work it out together and we can support each other.

    2. Lehrerin

    The team have to see each other a lot. Therefore we have to bee here, so we ca talk, that is the meaning, it’s the way we do the school, it’s a team work, so the team must be here

    Sprecherin: (voice over)

    Man ist nicht allein. Wir haben viele Schüler zusammen. Und wenn es Probleme gibt, lösen wir diese gemeinsam und unterstützen uns.

    Das Team muss sich oft helfen. Dazu muss man vor Ort sein und miteinander reden, das ist der Sinn, das ist unsere Art Schule zu machen. Es ist Teamwork, und ein Team muss da sein.

    Sprecher:

    Wenn Lehrer ein Team bilden, strahlt das auf die ganze Schule aus. Dann sehnen sich Schüler sogar nach ihrer Schule, wenn sie mal krank sind. Und dass die Leistungen in der Futurum Schule stimmen, zeigen die innerschwedischen Tests.

    Mats Ekholm, der Generaldirektor von Skolverket, hat im Auftrag einer deutschen Landesregierung zwei Wochen deutsche Schulen besucht.

    Cut 22: (Mats Ekholm)

    In Deutschland sehe ich mehr einen befehlsführenden Lehrer. Da bin ich erstaunt, wie man in Deutschland die Zukunft vorzubereiten versucht. Ich sehe, dass man in Deutschland mit seiner Schule mehr für eine alte Zeit arbeitet.

    Aber das waren meine schwedischen Augen.

    Nach Pisa – Zukunft der Schule (3)

    Sehr geehrte Hörerin, sehr geehrter Hörer,

    wir danken für Ihr Interesse an unserem Programm und

    erfüllen gerne Ihren Manuskriptwunsch.

    Bitte, beachten Sie:

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    überlassen. Jede Form der Vervielfältigung oder

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    Genehmigung der Urheberin/des Urhebers.

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    Südwestrundfunk

    SWR2 Wissen

    Titel: Auf den Anfang kommt es an!

    Auswege aus der deutschen Sackgasse

    Aus der Reihe: Nach PISA - Die Zukunft der Schule (3)

    Autor: Reinhard Kahl

    Redaktion: Bildung

    Sendung: 2.11.2002

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    MANUSKRIPT

     

     

     

    Zitator:

    Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.

    Sprecher:

    Etwas übertrieben, diese Spruchweisheit. Auch Hans kann noch lernen. Er kann sogar umlernen und verlernen – und das, was sich allzu sehr verfestigt hat, auch wieder lockern und sozusagen „ent-lernen".

    Das zeigt die moderne kognitive Psychologie. Ihre Quintessenz klingt paradox:

    Zitator:

    Man kann nicht Nicht-Lernen.

     

    Sprecher:

    Dennoch ist der Hänschen-Satz ist klug – klüger zumindest als die deutschen Bildungseinrichtungen.

    Denn bei uns wird der Anfang des Lernens vernachlässigt. Später wird dann repariert.

    Sprecherin:

    Bei den Bildungsausgaben ist Deutschland in der Sekundarstufe 2, also der Oberstufe des Gymnasiums, international führend. Schlusslicht hingegen sind wir in der Vorschule und in der Grundschule.

    Sprecher:

    Die Kleinen und die Benachteiligten werden – so muss man es wohl sagen – vernachlässigt. Wir investieren in die Privilegierten, die Oberstufenschüler. Aber nach 10 Jahren Schule haben viele, die in die Oberstufe eintreten, innerlich schon abgeschaltet. Sie sind nur noch auf ihren Abschluss aus, der für sie eher einer Appretur gegen die Unbill des Lebens gleichkommt als einem Abitur, einer Reifeprüfung. So verpufft diese späte Investition.

    Zu den verheerenden Ergebnissen der PISA-Studie gehört auch dieses:

    Zitator:

    Die deutsche Leistungsspitze ist im internationalen Vergleich schwach.

    Sprecherin:

    Schon die Kleinen müssen sich im harten Wettbewerb um individuelle Karrieren bewähren. Nach der vierten Klasse, mit 10, 11 Jahren, werden die Weichen für die Schullaufbahn gestellt. Und da die Eltern wissen, dass es eine Entscheidung fürs Leben ist, drängen sie auf Erfolg und nehmen es hin, dass über ihr Kind schon endgültige Urteile gefällt werden.

    Das verkürzt die Entwicklungszeit der Kinder.

    Und weil man bei uns bislang die Zeit vor der Einschulung nicht wirklich als „Bildungszeit" schätzt, wird auch in die frühen Schuljahre - die beste Lernzeit – nur schwach investiert.

    Sprecher:

    Erst wenn das Kind dann in den Brunnen gefallen ist, wenn Jugendliche in der Schule gescheitert sind, wenn 10% eines Jahrgangs ohne Abschluss in die Zukunft entlassen werden...

    Sprecherin:

    Zum Vergleich: In Finnland blieben in den letzten Jahren im ganzen Land jeweils nur 50 Jugendliche ohne Schulabschluss!

    Sprecher:

    .... dann erst wird in Deutschland für die Problemkinder Geld ausgegeben – für fragwürdige Maßnahmen zur Eingliederung, Umschulung, letztlich zur Unterbringung.

    Und oft geht es dabei bloß um die Kosmetik von Arbeitslosenstatistiken.

    Kein vergleichbares Industrieland produziert so viel Scheitern wie Deutschland mit seinem dreigliedrigen, in Wahrheit jedoch fünfgliedrigen Schulsystem. Denn neben der Haupt- und Realschule sowie dem Gymnasium besuchen 5% der Schüler eine Sonderschule. Eine so große Gruppe ist international einmalig.

    Sprecherin:

    Als fünfte eigene Schulform hat sich in den meisten deutschen Bundesländern die Gesamtschule heraus gebildet. Schulen, die intern sogar noch schärfer auslesen als unserer gegliedertes System im Ganzen. Auch die deutschen Gesamtschulen sind im internationalen Vergleich kein Ruhmesblatt unseres Bildungssystems.

    Sprecher:

    Alles in allem bleibt ein gemeinsamer Nenner: Dem „Anfang" gegenüber haben wir hier zu Lande einen Vorbehalt.

    Das betrifft nicht nur die frühen Jahre und die Grundschulzeit. Auch der Neuanfang, der eine Seele des Lernens und des Lebens ist, wirkt eher verdächtig. Vielleicht, weil man ihm unterstellt, mit Scheitern, Fehlversuchen und Umwegen im Bunde zu stehen – und nicht mit Mut, Offenheit und Begeisterung?

    Zitator:

    „Der Anfang ist auch ein Gott, wo er waltet, rettet er alles."

    Sprecher:

    So schön hat Platon vor fast 2.500 Jahren den Anfang beschrieben. Und was haben wir aus ihm gemacht? Wir Deutschen, Weltmeister des Industriezeitalters, verliebt in die fertige Welt?

    Zwar hat sich der deutsche Generalverdacht gegenüber dem Anfang und den Anfängern in den letzten Jahren etwas gelockert.

    Doch im Zweifelsfall erwarten wir von anderen und von uns selbst noch immer Perfektion. Schon die Kinder sollen möglichst früh „fertig" sein und spätestens nach der vierten Klasse in Zügen Platz genommen haben, die mit unterschiedlicher Spurbreite ins spätere Leben fahren.

    Sprecherin:

    Der Glaube daran, dass Kinder schon früh im Wesentlichen fertig sind, ist lern- und entwicklungsfeindlich. Die kostspieligen Folgen dieser Haltung wurden uns noch nie so deutlich vor Augen geführt wie von der PISA-Studie:

    Cut 1a: (Baumert)

    Ich glaube, dass man durch die Bank durch und zwar in allen Schulformen Lesekompetenz als erworben voraussetzt - mit dem Abschuss des Schriftspracherwerbs am Ende der Klasse vier.

    Sprecherin:

    Jürgen Baumert, der wissenschaftliche Leiter des deutschen PISA- Konsortiums.

     

    Cut 1b: (Baumert)

    Dort erwarten im Grunde die Lehrkräfte, dass das erledigt ist. Sozusagen ein stufentheoretischer Schematismus, man hat es gelernt und man kann es dann, und was Hänschen nicht gelernt hat lernt Hans nimmer mehr, man guckt hinterher überhaupt nie mehr hin, wie gut die Lesekompetenz ist und ich bin sicher, dass an Hauptschulen die Standardtexte von Schimmelreiter und Pole Poppenspäler allein von der Art der Literatur und von der Sprache her für viele Schüler überhaupt nicht nachvollziehbar sind, und das Aufregende ist eigentlich, dass das nicht auffällt. Dass man klug über Texte reden kann, ohne die Texte verstanden zu haben. D.h. man kann durch die Sekundarstufe eins, durch die Mittelstufe marschieren, ohne dass ein Mangel in der Kompetenz in Basisqualifikationen auffällt.

    Sprecher:

    Dieser Befund war natürlich schon vor der Veröffentlichung der PISA- Daten bekannt. Dass in unseren Schulen viel geblufft und damit viel Energie verschwendet wird, wusste im Grunde jeder. Und viele ahnten: Die Täuschungen und Selbsttäuschungen von Lehrern und Schülern entspringen dem Verdruss von Betrügern, die selbst betrogen wurden.

    Nur dachte man in Deutschland bisher oft: So ist eben die Schule, und so sind die Menschen.

    Sprecherin:

    Nein. Sie können auch anders.

    Cut 2:

    Atmo & O-ton Finnland / Schüler singen und Atmo Vorschule / total 0´39

    (nach 0´23 Übergang vom Singen in den O-Ton der Vorschullehrerinnen - die ersten 8 bis 10 Sek. bitte offen lassen)

    Sprecher:

    Eine finnische Vorschule. Als erstes fällt die Atmosphäre zwischen den Erwachsenen und den Kindern auf: eine

    des gegenseitigen Respekts. Kinder niemals zu beschämen, das ist die Grundidee von Bildung in Finnland.

    Sprecherin: (als voice-over über dem O-Ton der Vorschullehrerinnen)

    Wichtig ist das positive Prinzip. Jedes Kind kann schon etwas, sagt die Vorschullehrerin Päivi Innilä aus Jyväskylä. Daran müsse man anknüpfen. Und ihre Kollegin, Joana Suni, fügt hinzu: man muss Kinder anspornen und so das Selbstbewusstsein stärken.

    Cut 3

    (den O-Ton verblenden mit Atmo Vorschule 0´25)

    Sprecher:

    In dieser Vorschulklasse in Jyväskylä treffen 15 Kinder auf 2 Vorschullehrerinnen und eine Assistentin. Auch Vorschullehrer haben in Finnland – wie alle anderen Lehrer – studiert. Aber nichts erinnert hier an unser Bild von Schule. Die sogenannte „Vorschulklasse" ist nur eine der Gruppen in der Vorschule.

    Sprecherin:

    In die Vorschule kommen schon wenige Monate alte Krippenkinder, die kaum laufen können. Sie finden hier ebenso wie die Sechsjährigen aus der Vorschulklasse viele Gelegenheiten, sich zu betätigen: zu spielen und sich zu bewegen. Die Vorschule ist hier die vielfältigste und aufwendigste aller Schulformen: Ihr Angebot reicht von Krabbelecken mit Kissen über Tobe-Bassins aus Tausenden kleiner Plastikkugeln bis hin zur „Science Corner", in der Reagenzgläser, Erlenmeierkolben und eine Sanduhr stehen.

    Besucher fühlen sich eine Kinderrepublik versetzt.

    Sprecher:

    Natürlich wird hier auch gesungen und gebastelt.

    Aber häufig sieht man die Vorschullehrer – zumeist sind es Lehrerinnen - mit vier- oder fünfjährigen Kindern in Gespräche versunken. Sie reden ernsthaft über Vogelflug, den Ursprung der Welt oder darüber, wie aus Wasser Dampf werden kann.

    Selten wird die Verwandtschaft von Ernst und Spiel so deutlich wie in dieser finnischen Vorschule, in der Kinder fröhliche Forscher, grübelnde Philosophen und dann wieder alberne Knirpse oder muntere Musikanten sind.

    Cut 4: (Atmo Zither und Singen, steht kurz offen)

    Sprecherin:

    Bis zum letzten Jahr, der „Vorschulklasse", kommen fast 100 % der jungen Finnen in die freiwillige Vorschule. Die Stadt Jyväskylä zum Beispiel hat sich verpflichtet, Eltern, die für ihr Kind eine Vorschule suchen, innerhalb von zwei Wochen einen Platz anzubieten.

    Cut 5: (Kinder zählen)

    Sprecher:

    Die Kinder spielen, lernen zu zählen, beginnen auch schon zu schreiben. Da man Kinder hier für geborene Lerner hält, will die Vorschule die Fragen der Kinder herausfordern, sie hungrig machen aufs Lernen und ihnen Gelegenheit bieten, ihrem Forscher- und Tätigkeitsdrang nachzugehen.

    Hier beginnt eine neue Pädagogik:

    Cut 6: (Atmo / O-Ton, die unten beschriebene Übung)

    Sprecherin (referiert O-Ton):

    Eine Lehrerin übt mit einem Jungen Selbsteinschätzung.

    Schon jetzt lernt der Junge, sich selbst zu prüfen. Die Lehrerin ermuntert ihn, sich zu fragen: „Kann ich meine Gefühle zeigen? Kann ich mit anderen spielen? Kann ich warten, bis ich dran bin?"

     

    Sprecher:

    Noten werden dem Jungen in den nächsten Jahren in der Schule nicht begegnen.

    Schon nach den ersten Schritten in eine finnische Schule oder Vorschule ist der Besucher von der Atmosphäre fasziniert:

    Abwesenheit aller Verwahrlosung, nicht nur an den Wänden, sondern auch „in den Wänden", wie man in Finnland sagt, wenn man vom Geist des Hauses spricht.

    Fast 5.000 Dollar ist den Finnen im Jahr ein Grundschüler wert, den Deutschen nur 3.531 Dollar. Später, in der Oberstufe kehrt sich das Verhältnis um - dann werden die finnischen Schulen billiger als die deutschen.

    Auf den Anfang zu setzen zahlt sich aus. Und der Anfang muss Erfolge ermöglichen. Dann kann man später manche Niederlage ertragen.

    Cut 8: (Atmo Vorschule Storskogen in Stockholm)

    Sprecher:

    Auch Schweden hat das Thema Vorschule mittlerweile ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt.

    Jedem Kind wird vom ersten Lebensjahr an ein Platz garantiert.

    In der Öffentlichkeit steigt das Ansehen der Vorschule, in der wie in Finnland akademisch ausgebildete Lehrer arbeiten.

    Sprecherin:

    Von den Vorschulen gehen in Schweden seit einiger Zeit neue Bildungsideen aus, die bis in die Hochschulen hinein wirken. Vorschulpädagogen haben als erste die neuen Erkenntnisse der Neurobiologie, also der Hinforschung, aufgenommen. Ihre Maxime heißt:

    Zitator:

    Selbstregulierung und Dialog.

    Sprecher:

    Der deutsche Hirnforscher Wolf Singer sagt:

    Zitator:

    Das Gehirn hat keinen Vorstandvorsitzenden.

    Sprecher:

    Es kann nur selbst lernen. Dazu aber braucht es den Dialog. Den Dialog mit anderen und den Dialog mit sich selbst.

    Zitator:

    „Denken ist das Gespräch zwischen mir und mir selbst."

    Sprecher:

    Sagte Platon. Was die Philosophen wussten, kann die Hornforschung nun beweisen.

    Dazu gehört auch, dass der Dialog nicht bloß als eine Wechselwirkung zwischen Empfänger und Sender betrachtet wird, sondern als ein Wechselspiel gegenseitiger Anerkennung.

    Als Konsequenz aus den Erkenntnissen der Neurobiologie sagen Pädagogen nun – und in den Vorschulen Skandinavien sagten sie es zuerst:

    Zitator:

    Kinder sind für andere Kinder der „erste Pädagoge". Der Lehrer ist der zweite. Und der Raum mit dem Interieur, das ist der dritte Pädagoge.

    Cut 9: (Eva Svedin, Vorschul-Lehrerin 0´16 – schon unterlegt und verblendet mit Atmo; brutto 0´47)

    We look upon the child...

    Sprecherin (referiert O-Ton):

    Die Vorschullehrerin Eva Svedin an der Vorschule Storskogen in Stockholm besteht darauf: das Kind ist ein kompetenter und einzigartiger Mensch. Nicht jemand, der mit einem leeren Rucksack kommt und mit einem vollen wieder geht.

    Regie: Atmo kurz offen

    Sprecher:

    Jedes Kind ist anders und jedes kann etwas anderes. Das sollen sie bereits in der Vorschule als ihren Vorteil entdecken – und nicht als Abweichung, die man korrigieren will.

    Kinder sprechen 100 Sprachen, heißt es in der Vorschule Storskogen, und Erziehung ist der Versuch, diese Sprachen zu verstehen und mit ihnen den Dialog aufzunehmen.

    Schon die Kleinsten präsentieren stolz ihre Produkte:

    Sie malen, fotografieren und diktieren den Lehrern kurze Texte. Das alles sammeln sie in ihren Mappen, den sogenannten „Portfolios". Und wenn sie diese später durchblättern, meint Eva Svedin, werden sie sich erinnern:

    Cut 10: (Eva Sevdin incl. Atmo)

    I did that, when I was .....

    Sprecherin (voice over):

    Das habe ich mit drei gemacht, damit habe ich mit drei angefangen. Damals konnte ich noch nicht mehr, und nun bin ich weiter.

    Sprecher:

    Dokumentieren, erinnern, reflektieren und vor allem: tätig sein - das sind die Prinzipien dieser Vorschule, in der Spiel und erste Anstrengungen nicht als Widerspruch gelten.

    Cut 11: (Kinder summen – kurz offen)

     

    Sprecher:

    Bei diesen Vier- und Fünfjährigen in der Stockholmer Vorschule Storskogen ist gerade Vincent van Gogh „Künstler des Monats". Bildbände von ihm liegen auf einem Tisch, Drucke hängen an den Wänden. Die Kinder versuchen, seine Bilder nachzumalen. In dieser neuen Vorschule werden Spiel und Lernen auf neue Weise kombiniert; sie ist poetisch und experimentell.

    Die schwedische und die finnische Vorschule sind Orte einer

    Kinder – Öffentlichkeit. Sie unterscheiden sich von der Intimität der Familie, stehen aber nicht in Konkurrenz zu ihr. Die Vorschule übernimmt die Rolle, die früher einmal der Dorfplatz, die Straßenecke oder die Brücke am Bach für Kinder hatten.

    Cut 12: (Gunilla Dahlberg)

    I think children are from the start rich children....

    Sprecherin (voice over):

    Ich bin davon überzeugt: Kinder sind von Anfang an reich...

    Sprecher:

    .... meint Gunilla Dahlberg, Professorin für Pädagogik an der Universität von Stockholm.

    Cut 12 weiter:

    Sprecherin (voice over):

    Und wenn wir nicht an reiche und kompetente Kinder glauben, werden wir arme Pädagogen. Wenn wir glauben, dass wir immerzu „Problemkinder" vor uns haben - und das ist üblich auf der ganzen Welt – dann machen wir sie auch zu armen Eltern. Dabei brauchen wir reiche Eltern.

    Sprecher:

    Das „Defizitmodell" in der Pädagogik hat viele Gesichter. Eines ist, dass die noch ganz kleinen, vermeintlich „defizitären" Menschen auch die am wenigsten wertgeschätzten und geringst ausgebildeten Pädagogen brauchen.

    Das sei grundfalsch, sagt Eskil Frank, Vize Rektor der Pädagogischen Hochschule Stockholm:

    Cut 13: (Franz)

    Die besten Pädagogen und die besten Lehrer sollen in der Vorschule arbeiten. Da können sie so viel zerstören. Das ganze Leben eines Kindes können sie zerstören. Aber wenn man zum Gymnasium kommt, da kann man nicht mehr so viel zerstören. Darum die besten Pädagogen in die Vorschule.

    Cut 14: (Kinder singen und Atmo / Kanada)

    Zunächst „Oh Canada ... zum Schluss Beifall".

    Sprecher:

    Kanada. Die South Simcoe School - eine Primary School für Schüler von Klasse eins bis zehn - liegt im Bezirk Durham, einem der sozialen Brennpunkte in der Nähe von Toronto.

    Vor 20 Jahren waren die Schulen hier noch das Schlusslicht des Landes. Inzwischen ist das „Durham Board of Education" Spitzenreiter. Weltweit gilt es als eines der interessantesten Bildungsbiotope. Hier hat man einen erfolgreichen Neuanfang gemacht und eine Wende von der Lehranstalt zur „learning organization", zur lernenden Schule, vollzogen.

    Sprecherin:

    An diesem Morgen sind nicht nur die Kinder, sondern auch ihre Eltern in die Schule gekommen. Auch die Eltern reden über Teamwork und Zusammenarbeit. Denn was ihre Kinder hier lernen sollen, das macht auch vielen von ihnen Schwierigkeiten – und ebenso den Lehrern.

    Mitte der 80er Jahre haben die Lehrer in Durham selbst mit dem begonnen, was sie ihren Schülern vermitteln wollen:

    Zitator:

    Cooperative group learning: Zusammenarbeit, Lernen in Gruppen.

    Sprecher:

    So lautete das Schlagwort. Und tatsächlich: Da treffen sich am Samstag Lehrer zu Fortbildungskursen und erarbeiten Programme für den Unterricht. Dass sie zusammen daran arbeiten ist mindestens ebenso wichtig wie das Ergebnis. Natürlich mussten sich dazu viele erst überwinden, waren sie doch auch in Kanada bisher eher Einzelkämpfer. Einer der Mentoren dieser Veränderung ist der Lehrer Norm Green.

    Cut 15:

    Now we find .... next century.

    Zitator (voice over):

    Wir sehen, dass sich Kultur und Gesellschaft ändern,

    wir brauchen Schüler, die in Teams arbeiten.

    Früher wurden unsere Schüler für Fabriken ausgebildet.

    (O-Ton zwischendrin frei)

    Und die Schulen waren selbst ein Spiegel der Industrie.

    Heute fordert die Industrie bewegliche Mitarbeiter,
    die im Team arbeiten.

    Sie brauchen für alle Berufe neue Fähigkeiten: diskutieren, argumentieren, nach Lösungen suchen und sie finden.

    Nun müssen wir uns auf diese Wirklichkeit einstellen. Die Schüler brauchen diese Fähigkeiten für das neue Jahrhundert.

    Sprecherin:

    In den Schulen Durhams sieht man die Kinder und Jugendlichen häufig mit den sogenannten „Mindmaps" arbeiten:

    Mehrere Schüler zeichnen Gedankenkarten zu einem Thema, notieren ihre Ideen und Assoziationen, verbinden sie miteinander und ziehen gemeinsam Schlüsse. Zu den verblüffenden Erfahrungen dabei gehört:

    Jeder denkt anders und jeder stellt sich die Welt anders vor. Eben deshalb müssen wir uns verständigen – und können es auch.

    Sprecher:

    Individualität und Zusammenarbeit, das ist das Prinzip der modernen kanadischen Schule.

    Das Modell ist - wie die Pisa Ergebnisse zeigen - erfolgreich. Voraussetzung des Erfolgs ist, dass die Lehrer diese Kooperation den Schülern nicht nur predigen, sondern selbst damit anfangen.

    Deutsche Lehrer, die im Rahmen von INIS, dem „Internationalen Netzwerk innovativer Schulen" nach Kanada fuhren und Schulen in Durham besuchten, kamen aus dem Staunen nicht heraus:

    Cut 17: ( Montage, mehre Stimmen / Transkript nur in Stichworten)

    Wie leicht Lernen vonstatten geht, die Leichtigkeit von Gruppenprozessen / bei uns immerzu schwierige Disziplinprobleme / mich hat am meisten fasziniert die Offenheit, Räume ständig offen, ein und ausgehen - für jeden transparent. / eine Kultur von Selbstverständlichkeiten, nicht so zwanghaft, „du musst lernen," Kultur: „ich will lernen", was ruhiges, selbstverständliches, zeigt sich nicht nur in Klassenräumen, auch im Umfeld - Eltern kommen und helfen

    Sprecher:

    Beim Treffen des „Internationalen Netzwerkes innovativer Schulen" in Kanada war eines der wichtigsten Themen, dass Lehrer heute Anfänger auf höchstem Niveau werden müssen.

    Sie müssen nicht nur das Gedächtnis der Gesellschaft weiter geben, sie müssen auch Agenten der Veränderung werden und Neues ermöglichen, also nicht nur das gesicherte Wissen weitergeben, sondern auch an ungeklärten Probleme arbeiten, so wie ihre Schüler später im Beruf.

    Aber - darauf wies der Pädagoge Steve Benson aus dem Ministerium für Schule und Bildung in Neuseeland hin:

    Cut 18: (Steve Benson)

    Too many of our teachers have done nothing but teaching...

    they came of out of school - school - ..., teachers can go out - update their own knowledge - not teaching a lifelong carreer, but learning has become a lifelong carreer ... most important how to learn by themselves, how to manage their own learning and not to relay on others, to teach them.

    if we can make that change, the one change, it would be the most significant.

    Zitator (overvoice):

    Zu viele unserer Lehrer haben nie etwas anderes gemacht als zu unterrichten oder unterrichtet zu werden. Wir müssen aber künftig andere Erfahrungen mit dem Lehren und vor allem mit dem eigenen Lernen machen.

    Lehren kann kein lebenslanger Beruf mehr sein, aber Lernen muss ein solch lebenslanger Weg werden. Am wichtigsten wird für alle Menschen, das eigene Lernen hin zu kriegen und sich nicht darauf zu verlassen, von anderen unterrichtet zu werden. Wenn uns dieser Wandel gelingt, dann haben wir viel geschafft.

    Sprecherin:

    Im Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft werden neue Tugenden wichtig. Nicht mehr möglichst früh mit dem Lernen fertig sein, sondern möglichst lange lernen können und wollen. Sicht nicht mehr träges Schulwissen aneignen, sondern selbst Wissen entwickeln.

    Cut 19:

    So somehow we have to …

    Zitator:

    Es muss eine Balance gefunden werden: auf der einen Seite die grundlegenden Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen und auf der anderen Seite die neuen, postmodernen Fähigkeiten der Selbstorganisation. Der Lehrer ist der Filter. Auf ihn kommt es an. Er muss einen mittleren Kurs finden.

    Sprecherin:

    Ob uns dieser große Neuanfang und die Kunst der Balance in Deutschland wohl gelingt?

    Es gibt mutmachende Beispiele für solche Anfänge.

    Cut 20: (Jürgen Kluge / McKinsey)

    Wir müssen früh investieren statt spät Qualitätsfehler und Folgen heraus zu operieren, das heißt wir müssen in frühkindlichen Bereich, in den Krippen, Kindergärten und im ersten Teil der Schule schwer investieren. Das wird sich volkswirtschaftlich auszahlen. Es gibt Untersuchungen, die einen Verzinsungsfaktor drei bis vier in der Schweiz und den USA dafür voraussagen.

    Sprecher:

    Jürgen Kluge, der Boss der Unternehmensberatungsgesellschaft McKinsey in Deutschland plädiert dafür den Anfang zu stärken. „McKinsey bildet", heißt eine Initiative der Unternehmensberater. Sie ist ein Beispiel für neue, ungewöhnliche Bündnisse in der Bildung. Im September 2002 riefen sie zu einem Kongress nach Berlin. Zu jedem Podium war auch ein Künstler geladen - denn Künstler seien die Spezialisten in Fragen, für die es keine schnellen und manchmal gar keine sicheren Antworten gibt.

    Der Regisseur Robert Wilson erinnerte dort an ein paar vernachlässigte Selbstverständlichkeiten wie „Laufen lernt man beim Laufen". Er berichtete davon, wie er mit angeblich „nicht erziehbaren Kindern" seine Art Theater zu machen erfand.

    Er selbst könne überhaupt nur an den Fragen arbeiten, auf die er keine Antworten habe – und erinnerte sich daran, wie grässlich es war, in der Schule dauernd Antworten auf Fragen geben zu müssen, die kein Schüler gestellt hat.

    Zur Schule der Zukunft, darauf konnten sich Manager von McKinsey, Künstler und die eingeladenen Bildungsexperten einigen, wird mehr gehören als unterrichten. Zur Schule der Zukunft gehört auch „aufrichten".

    Cut 2: (Jürgen Kluge)

    Ich zitiere da ein schwedisches Modell, wo die kleinen Kinder Orientierungsläufe machen müssen und so von dem zweidimensionalen, das immer mehr überhand nimmt, in ein dreidimensionales Erleben geführt werden. Eine ganz einfache Sache. Ich glaube wir müssen den Kindern, in den Krippen und Kindergärten, wenn das Gehirn sehr prägsam ist, eine breite Palette geben. Dazu muss die Erzieherinnenausbildung gefördert werden, wir müssen den Durchdringungsgrad mit Krippen auf 25% steigern, bei den Tagesplätzen in Kindergärten auf 50% , damit wir Anschluss finden, und dann müssen wir Qualität bieten.

    Sprecher:

    Jürgen Kluge von McKinsey.

    Die Globalisierung ruft nun auch in Sachen Bildung die Wirtschaft auf den Plan. Ausgerechnet sie erklärt, dass man mit Effizienzsteigerung allein nicht weit kommen wird. Wertschöpfungsketten, also die Wirtschaft, verlangen nach Wertschätzungsketten, nach Bildung, nicht nur nach Ausbildung. Zum guten Ausführen müssen auch Ideen kommen, was denn gemacht werden soll. Die alte Form der Arbeit schrumpft und wird von Maschinen übernommen. Wo die Perfektion der Maschinen aufhört, da fangen Menschen an. Phantasie und Schöpferkraft sind ihre Stärke. Eine Stärke, die ohne unsere Schwäche, die spezifisch menschliche Unvollkommenheit, gar nicht möglich wäre. Bildung wird immer mehr darin bestehen, diese Anfängertugend zu pflegen. Am Ende von Schule und Hochschule sollte man nicht „fertig" sein, sondern Anfänger auf immer höherem Niveau. Dafür müssen Orte geschaffen werden. Auch Globalisierung beinhaltet Lokalisierung: Orte schaffen, lokale Räume kultivieren, Treibhäuser der Zukunft bauen. Und: Abschied von der Lernfabrik.

    Sprecherin:

    Vor fast 200 Jahren erfanden die Dänen eine Strategie, von der wir jetzt lernen könnten:

    Zitator:

    Als Dänemark im 19. Jahrhundert nach verlorenem Krieg gegen England danieder lag, beschloss der König, den Haushalt für Kunst und Bildung zu erhöhen. Der Finanzminister protestierte. Der König aber – und das ist kein Märchen – antwortete: „Arm und elend sind wir sowieso, wenn wir jetzt auch noch dumm werden, können wir aufhören ein Staat zu sein."

    Nach Pisa – die Zukunft der Schule (2)

    Sehr geehrte Hörerin, sehr geehrter Hörer,

    wir danken für Ihr Interesse an unserem Programm und

    erfüllen gerne Ihren Manuskriptwunsch.

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    überlassen. Jede Form der Vervielfältigung oder

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    Genehmigung der Urheberin/des Urhebers.

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    Südwestrundfunk

    SWR2 Wissen

    Titel: Aus dir wird nichts!

    Aus der Reihe: Nach PISA – Die Zukunft der Schule (2)

    Autor: Reinhard Kahl

    Redaktion: Bildung

    Sendung: 26.10.2002

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    MANUSKRIPT

     

     

     

     

     

     

    Sprecher:

    In einer Fernsehdiskussion über die „Schule nach PISA" fragte kürzlich der Moderator:

    Zitator:

    „Jetzt nennen sie bitte mal ganz schnell den Satz aus ihrer Schulzeit, der ihnen am stärksten in Erinnerung geblieben ist."

    Sprecher:

    Vier von fünf Antworten waren Variationen auf: „Aus dir wird nie was." Und da saßen eine Kultusministerin und andere Gäste vor den Kameras, die es dennoch weit gebracht haben. Aber eine Wunde aus ihrer Schulzeit ist nie völlig verheilt.

    Sprecherin:

    Welche Wunde? Was macht die Schule für viele zu einem Trauma? Worin liegen die Erniedrigung und die Geringschätzung, die in vielen wieder aufsteigen, wenn sie an ihre Schule zurück denken?

    Sprecher:

    Manchmal sagt ein Eindruck mehr als große wissenschaftliche Studien. So berichtet Jürgen Baumert, der als Direktor des Max- Planck-Instituts für Bildungsforschung die deutsche PISA- Studie koordiniert, erstaunt davon, dass seine skandinavischen Kollegen durchweg gute Erinnerungen an ihre Schulzeit haben. Dem kann sich der deutsche „Mister Pisa" selbst nicht unbedingt anschließen.

    Sprecherin:

    Und wenn in Finnland auf einen Studienplatz in der Lehrerausbildung sage und schreibe 10 Bewerber kommen – obgleich Lehrer dort ein Drittel weniger verdienen als ihre deutschen Kollegen – dann muss das wohl auch an guten Erinnerungen an die eigene Schule liegen.

    Sprecher:

    Aber bevor wir den PISA-Weltmeister Finnland besuchen . .

    Sprecher:

    .... werfen wir einen Blick in den Spiegel. PISA macht uns Deutschen keine Komplimente.

    Cut 1 (Baumert) ca. 0´30

    Das Ergebnis, was in der Öffentlichkeit für die meiste Aufregung gesorgt hat, hat mich selbst am wenigsten überrascht. Ich finde es im Grunde auch am langweiligsten. Das ist nämlich das Ergebnis, dass Deutschland sich mittlerweile in allen untersuchten Bereichen in einem unteren Mittelfeld bewegt, das konnte man prognostizieren, das ist das am wenigsten Spektakuläre. Die Ergebnisse, die dahinter stehen, die haben alle- und zwar nicht nur die Öffentlichkeit - sondern auch alle Sachkundigen ganz überraschend getroffen.

    Sprecher:

    Sagt Bildungsforscher Jürgen Baumert. Jenseits des internationalen Rankings zeigt der Röntgenblick von PISA die Anatomie unseres Schulsystems und lässt Rückschlüsse auf sein Nervensystem zu.

    Cut 2: (Baumert) ca. 0´25

    Das erste Ergebnis ist, der Befund, dass die Leistungsstreuung in Deutschland so groß ist wie in keinem OECD Staat, d.h. also die Abstände zwischen der Spitzenleistung und der schwächsten Leistung sind so groß, wie wir sie in keinem modernen Industriestaat haben. Und zwar nicht deshalb, weil wir eine exzellente Spitze haben, die das Niveau nach oben treibt, sondern weil wir eine ungewöhnlich große Gruppe von Risikokandidaten haben.

    Sprecher:

    Für viele Beobachter und vor allem Beteiligte der Schule ist das Kränkendste an diesem Befund, dass die von den Schulen produzierte Ungleichheit in Deutschland zu allem anderen als Elitebildung führt. Sie drückt eher Verwahrlosung aus.

    Denn fast ein Viertel der deutschen Fünfzehnjährigen - PISA vergleicht ja in 32 Ländern die Fünfzehnjährigen - kann nur auf Grundschulniveau lesen - oder erreicht nicht mal diese Kompetenzstufe eins, die niedrigste von fünf Stufen, die PISA unterscheidet.

    Sprecherin:

    Zum Vergleich: In Deutschland gehören exakt 23,5 % zu dieser sogenannten Risikogruppe - in Finnland lediglich 7%.

    Cut 3: (Baumert) 0´25

    Der zweite überraschende Befund, der viele noch stärker getroffen hat, ist das Ergebnis, dass in Deutschland der Zusammenhang zwischen Merkmalen der familiären und sozialen Herkunft und die Leistungsentwicklung so eng verbunden ist wie ebenfalls in keinem OECD Staat, also in keinem anderen Land kann man die Leistungsentwicklung so gut vorhersagen, wenn man weiß, aus welcher Familie jemand kommt, und das ist überraschend.

    Sprecherin:

    Die Chancen eines Kindes aus der Oberschicht, das Gymnasium zu besuchen, sind in Deutschland drei mal so hoch wie für ein Arbeiterkind, das die gleichen schulischen Fähigkeiten hat.

    Sprecher:

    Das alles irritiert. Man fragt sich: wie kommt es, dass in Deutschland aus schlechten Leistungen...

    Sprecherin:

    ...die es natürlich überall auf der Welt gibt...

    Sprecher:

    ... dauerhaft schlechte Schüler werden?

    Dazu gibt es nicht erst seit dem 4. Dezember 2001, als die PISA- Ergebnisse veröffentlicht wurden, profunde Theorien. Bisher konnte man diese Erkenntnisse und triftigen Befunde übersehen. Wir glaubten, die besten Schule der Welt zu haben. Vielleicht nicht Schulen, die am meisten Spaß machen. Aber doch Schulen, die zu den besten Leistungen führen.

    Seit PISA hat diese deutsche Krähwinkelei ein Ende. Wir sind nicht gut. Dem Vergleich mit anderen Ländern kann niemand mehr ausweichen. Auch das ist Globalisierung.

    Cut 4 ATMO Doo doo – boogi singen / Ende Klavier 0´28 (ende total 0´31)

    Die Atmo bleibt kurz offen. Dann gut hörbar unter Sprecher.

     

    Sprecher:

    Jyväskylä in Mittelfinnland. Eine fünfte Klasse. Noten gab es für diese Kinder bisher noch nicht. In fast jedem Klassenzimmer sieht man ein Klavier. Und der Unterricht beginnt morgens nach einer Begrüßung mit Singen. Es ist, als würden Lehrer und Schüler sich stimmen – so wie man ein Musikinstrument stimmt. Dann wechseln in der Stunde klassischer Unterricht des Lehrers, häufig an der Tafel, mit langen Phasen von Gruppenarbeit der Kinder. Bei Hauptfächern wie Muttersprache oder Mathematik ist zumeist ein Assistenzlehrer dabei, der sich um Kinder, die langsamer sind oder Schwierigkeiten haben, kümmert. Sind die Schwierigkeiten größer oder ständig, verabreden sich Lehrer und Schüler, um zu Zweit oder auch mit einem sogenannten Sonderlehrer die Sache noch mal zu erklären, zu üben oder heraus zu bekommen, woran es liegt.

    Sprecherin:

    Die finnische Gesellschaft investiert mehr Geld in die Schulen als Deutschland. Aber der Unterschied ist nicht so erheblich, als dass er den großen Leistungsunterschied erklären könnte.

    Sprecher:

    Die Finnen investieren viel Vertrauen in die Kinder. Kinder niemals zu beschämen und nicht zu gängeln, das ist die finnische Grundidee. Respekt ist die Basis von Bildung in Finnland. Dieses Schulklima ist nicht bloß Ausdruck des finnischen Nationalcharakters. Auch das. Aber die hohe Wertschätzung der Kinder ist vor allem Ergebnis von vierzig Jahren Bildungspolitik.

    Sprecherin:

    Auf mehr als vierzig Jahre Schule in Finnland blickt Riita Piri (gesprochen wie Rriehta) zurück. Sie war Lehrerin, arbeitete in der nationalen Schulbehörde und schließlich im Bildungsministerium. Seit Anfang 2002 ist Riita Piri pensioniert.

     

    Cut 5: ( Piri) 0´44

    Also ich hatte sogenannte schwierige Fächer unterrichtet in der Schule: Fremdsprachen und zweite Landessprache und ich habe sehr viel schlechte Noten gegeben und die Schüler sind sitzen geblieben und haben auch die Schule verlassen müssen. Besseres wusste ich damals nicht. Dann mit der Gesamtschule wurde es anders, die Lehrer bekamen entsprechende Ausbildung, auch Grundbildung der Lehrer wurde anders und die älteren Lehrer bekamen Weiterbildung. Allmählich haben wir unsere Ausbildung, unsere Gesamtschule besser gemacht, so dass wir jetzt zu diesen PISA- Ergebnissen gekommen sind.

    Sprecher:

    Heute bleibt in Finnland kein Kind mehr sitzen, außer es ist in einer Ausnahmesituationen, etwa nach langer Krankheit. Und im Land mit etwas mehr als 5 Millionen Einwohnern blieben in den vergangenen Jahren nie mehr als 50 Jugendliche nach der 9. Klasse ohne Schulabschluss. In Deutschland sind es jährlich über 100 000, die ohne Abschluss, als zertifizierte Versager entlassen werden.

    Dieser finnische Erfolg hat seine Geschichte:

    Cut 6: (Riita Piri) 0´26

    Anfang der sechziger Jahre waren alle politischen Parteien einig, dass wir Gesamtschule(n) haben( wollen), das dauerte. Die Vorbereitung (war) lange. Aber Anfang der sechziger machte man einen Prinzipbeschluss und Ende der sechziger hat man das Gesetz gemacht und dann in den Siebzigern hatten wir den Übergang, der sieben Jahre dauerte.

    Sprecherin:

    Nun arbeitet die finnische Schule seit mehr als 30 Jahren von Klasse eins bis neun als Gesamtschule. Darin gibt es auch keine nach Leistungsgruppen eingeteilte Kurse. Immer wieder hört man von Lehrerinnen und Lehrern die finnische Konfession:

     

    Zitator:

    Jeder gehört dazu. Niemand ist überflüssig. Alle werden gebraucht im Land von 5 Millionen Einwohnern. Alle müssen etwas können, denn sie sollen ja etwas beitragen zum Wohl des kleinen Landes.

    Sprecher:

    Und immer wieder betonen die Finnen uns Deutschen gegenüber ihre beiden Generalformeln: Erstens Vertrauen und zweitens die Unterschiede der Kinder achten.

    Zur Respektierung der Unterschiedlichkeit von Kindern habe die Gesamtschule einen Schub gebracht, das kann Pirjo Linnakylä, Professorin an der Universität von Jyväskylä und eine der finnischen PISA-Wissenschaftlerinnen nachweisen:

    Cut 7: (Linnakylä)

    If you are teaching in a comprehensive school you have to take care of every student. You can not put the student to another school. If he doesn’t well, but you have to change your own teaching, so that it fits into every student’s interests and abilities.

    Sprecherin (overvoice):

    Wenn man an einer Gesamtschule unterrichtet, muss man sich um jeden Schüler kümmern. Man kann Schüler ja nicht auf eine andere Schulen abschieben, wenn sie nicht gut sind. Man muss seinen Unterricht so ändern, dass er zu den Interessen und Fähigkeiten der Kinder passt.

    Sprecher:

    Diesen Prozess haben die finnischen Lehrer anfangs als schmerzhaft, aber bald als bereichernd erlebt.

    In der wissenschaftlichen und bildungspolitischen Debatte seit PISA diskutiert man nun auch in Deutschland über Homogenität und Heterogenität in den Klassen.

     

    Sprecherin:

    Dürfen ganz verschiedene Kinder in einer Klasse sein? Ist im Unterricht Raum für verschiedene Lernwege – und Lernwege sind ja fast immer Umwege. Oder sollen diese Wege möglichst gleich sein, also standardisierten Plänen entsprechen?

    Sprecher:

    Das deutsche, dreigliedrige Schulsystem rühmt sich ja seiner Differenziertheit. Keine Einheitsschule! Aber bei genauerem Hinsehen erweist es sich als starr in seinen drei Leitbildern. Individuen haben in ihrer jeweiligen Einmaligkeit von Talenten und Fehlern in deutschen Schulen schlechte Karten.

    Denn die Lehrer fragen hier: passt der Schüler in die Schule? Sie fragen nicht: passt der Unterricht zu den Schülern? Häufig unterrichten sie einfach ihre Fächer, nicht aber die Schüler.

    PISA- Chef Jürgen Baumert, Direktor am Max Planck Institut für Bildungsforschung, sieht darin eine der Erbsünden deutscher Schulen:

    Cut 8: (Baumert) 0´42

    Für mich ist diese Unterrichtsführung einer der Gründe, weshalb alle Lehrer/innen - und zwar aller Schulformen - immer die falschen Schüler haben. Also wenn sie das hören, ja woran liegt es, „ja ich habe zu viele unbegabte Schüler", das sagen Hauptschullehrer genauso: „ wir müssten viel mehr auf die Sonderschule überweisen". Im Gymnasium: „Ja es kommen zu viele ungeeignete Schüler aufs Gymnasium". Und dieses ist im internationalen Vergleich wirklich verblüffend. Wir haben in der Sekundarstufe, in der Mittelstufe die homogensten Lerngruppen der Welt. Wir haben eine Dreigliedrigkeit. Die (Schüler) sind leistungshomogenisiert, und trotzdem ist die Klage über zu große Heterogenität bei uns so groß wie in keinem anderen Land.

    Sprecherin:

    Deutsche Lehrer wurden im nationalen Teil der PISA-Studie gefragt, welche Schüler in ihrer Klasse wohl zu der sogenannten Risikogruppe gehörten, also zu denen, die nur die niedrigste Kompetenzstufe erreichten – oder nicht mal die. Das erschütternde Ergebnis:

    Zitator:

    Neun von 10 Schülern mit diesen eklatanten Lücken wurden von ihren Lehrern nicht als solche erkannt.

    Sprecher:

    Man muss sich fragen: kennen die Lehrer ihre Schüler nicht? Sind Lehrer so sehr von ihren Bildern überzeugt, die sie sich von den Lernprozessen und ihren Abläufen machen, dass sich ihre Wahrnehmung der wirklichen, vor ihnen sitzenden Schüler trübt?

    Die Ansprüche vieler Lehrer gegenüber ihren Schülern sind nicht etwa zu hoch - sie sind von der Wirklichkeit abgekoppelt.

    Auch das zeigt der genauere Blick in die PISA-Studie.

    Jürgen Baumert und seine Kollegen haben Lehrplanexperten, zumeist aktive Lehrer gefragt, in welchem Alter Schüler wohl was können, zum Beispiel wann sie perfekt lesen können, und wer auch sehr schwierige Texte versteht:

    Cut 9: (Baumert) 0´42

    Das verblüffende war: alle Lehrplanexperten bis auf eine ganz kleine Minderheit sind der Meinung, dass die wesentlichen Anforderungen unabhängig von der Schwierigkeit bis zum Ende der achten Jahrgangsstufe erledigt sind. Sie sind der Meinung, dass die schwierigsten Aufgaben in der Hauptschule von etwa 60% gelöst werden, in der Realschule von 75 % und im Gymnasium von etwa 80 % gelöst werden und wenn man jetzt fragt, wie hoch sind denn die Lösungswahrscheinlichkeiten wirklich, dann sieht man, dass sie die leichtesten Aufgaben etwas zu schwer einschätzen, aber die schwierigsten Aufgaben grotesk unterschätzen, also von den 60 % Hauptschülern, die die schwierigen Aufgaben lösen sollen, ist die Lösungswahrscheinlichkeit 0.3 %, d.h. es gibt gar keinen Hauptschüler, der diese Aufgaben lösen kann. Und ähnlich grotesk ist die Verschätzung für die Realschüler, und von den Gymnasiasten sollen etwa 80 % die Aufgaben lösen, also sie sollen wirklich Expertenleser sein, 29 % sind es, d.h. also auch im Gymnasium gibt es eine groteske Unterschätzung der Schwierigkeiten von anspruchsvollen Leseaufgaben und unsere Frage ist: wie kommt denn das eigentlich?

    Sprecher:

    Fraglich ist also die diagnostische Kompetenz unseres Schulsystems. Wir würden uns ja wundern und auf die Barrikaden gehen, wenn das Gesundheitssystem Patienten, die gesund sind, für krank hält und Kranke für gesund.

    Sprecherin:

    Jedenfalls haben deutsche Lehrer ein generalisiertes Bild von Schülern, das mit der Wirklichkeit der Schüler nicht übereinstimmt.

    Der einzelne Schüler, der dem Bild nicht entspricht, wird als Abweichender oder gar als Versager gesehen und – das weiß man aus der Psychologie: so wie man gesehen wird, so wird man auch. Dieser systematische Verkennungsvorgang an den deutschen Schulen lässt sich auch in nüchternen Zahlen ausdrücken.

    Cut 10: ( Baumert) 0´58

    Wir haben eine extrem hohe Sitzenbleiberquote und wir haben Rückstellungsquoten, also 12 % der Schüler werden am Anfang der Schulzeit zurück gestellt, und wir haben zusätzlich noch mal 24 % von Personen, die wenigstens einmal eine Klassenehrenrunde drehen, insgesamt ein Drittel der Alterskohorte, die eine verzögerte Schullaufbahn haben. In kaum einem anderen Land - nur in Portugal - verteilen sich die fünfzehnjährigen auf so viele Klassenstufen wie in Deutschland. Also mit der Stichtagsregelung sollten wir 50 % in der Neunten und 50 % in der zehnten (Klasse) erwarten. Wir haben 23 % in der Zehnten, 64 % in der Neunten noch mal 20 % in der Achten, 10 % in der Siebten, den letzten fünfzehnjährigen in der fünften Klasse angetroffen, einen haben wir in der elften Klasse angetroffen. In Neuseeland sind 98 % der fünfzehnjährigen in der elften Klasse und machen ein Jahr später Abitur. Da ist irgendwie eine andere Philosophie im Umgang mit Lebenszeit.

    Sprecher:

    Die Hauptschwäche unseres dreigliedrigen Schulsystems ist nicht so sehr die Unfähigkeit, Begabungen zu erkennen und zu fördern. Die Hauptschwäche ist auch nicht, die Kinder stärker nach ihrer sozialen Herkunft zu sortieren als nach Talenten. Das sind große Schwächen. Aber sein noch viele größerer Nachteil ist, dass es die Schulen aus der Verantwortung entlässt, sich um schwierige Schüler zu kümmern. Kinder mit Schwierigkeiten beim Lernen – und Lernen macht immer auch Schwierigkeiten – werden zu schwierigen, störenden und schließlich gestörten Kinder, zu Schulversagern gemacht. Das ist in dem Ausmaß beispiellos im Vergleich mit allen anderen 32 PISA-Ländern.

    In diesem deutschen System wird die Chance vertan, Kinder und Jugendliche in ihrer Individualität zu erkennen und anzuerkennen, und ihnen die Möglichkeit zu geben, dabei etwas über ihr eigenes Lernen herauszufinden - so dass gewissermaßen die Intelligenz der Schule selbst steigt. Selektion vergiftet die Atmosphäre in Deutschland, auch an den Gesamtschulen.

    So klingt es wie Hohn, wenn Schulforscher herausfinden, dass die Gesamtschulen mit ihrer internen Differenzierung in verschiedene Leistungsniveaus schärfer sortieren als das dreigliederige System. Daraus folgt, dass ein bloßer Umbau unseres dreigliedrigen Schulsystems zu Gesamtschulen allein nichts verbessern würde, wenn nicht zugleich diese deutsche Neigung zum Herabstufen und Herabsetzen anderer zum Thema gemacht und tatsächlich zivilisiert würde. Die PISA- Spitzenreiter Japan und Finnland kennen diesen deutschen Sortier- und Selektionswahn nicht. In Japan wie in Finnland werden alle Schüler bis zum 9. Jahrgang gemeinsam unterrichtet. In Schweden ist jede Differenzierung bis Klasse neun vom Gesetz ausdrücklich verboten. Auch in den USA und Kanada sind die Schulen bis zur 10. Klasse für alle.

    Das immerhin wusste man. Der Schock, den die internationale PISA-Studie auslöste, war neben dem schlechten Abschneiden eine Erkenntnis, die nicht so recht in die deutschen Denkkoordinaten passt:

     

    Sprecherin:

    Die atmosphärischen Gewinne bringen in anderen Ländern am Ende reiche kognitive Ernte.

    Man muss nicht unbedingt mehr Lehrer einstellen, sondern seine Einstellung ändern, was viel schwieriger ist. Dass es möglich ist, beweisen andere Länder, zum Beispiel eben Finnland, das sein Schulsystem ursprünglich am dreigliedrigen deutschen Vorbild ausgerichtet hatte.

    Sprecher:

    Riita Piri, die pensionierte Lehrerin und spätere Ministerialrätin aus Helsinki, hat an einem Projekt mitgearbeitet, vom dem wir alle in Deutschland noch vor einem Jahr nicht geglaubt hätten, dass es leistungssteigernd wirkt.

    Cut 11 (Piri) 1´31

    Wir haben die Schulaufsicht, die Kontrolle im Grunde genommen abgeschafft. Wir haben Zuversicht, Vertrauen, das ist unser Grundkonzept, und wir haben unsere Lehrerschaft so gut ausgebildet, dass wir auf sie vertrauen können, z.B. bei uns spricht man nicht mehr Sanktionen. Wir haben im Gesetz Möglichkeiten zu Sanktionen, aber die sind nur, wir haben sie noch nicht für die Schule gebraucht.

    Wir haben innerhalb von zwanzig Jahren immer weniger Kontrollen gemacht und am meisten dann vor fünf Jahren und das läuft sehr gut. Also wenn man Zuversicht gibt, dann benimmt sich der Mensch auf gleiche Weise. Also das Vertrauen ist sehr wichtig.

    Sprecher:

    Deutsche Besucher in finnischen Schulen wundern sich darüber, dass die Schüler auch Prüfungsarbeiten mit Bleistiften schreiben. Dem deutschen Betrachter kommt gleich der Gedanke: Radiergummi, Schummeln, gerichtsfeste Prüfungen.

     

    Sprecherin:

    Der Bleistift in Finnland hat eine profane Tradition. Im Winter, bei Temperaturen häufig unter 20 Grad, platzen Füllfederhalter. Also schreibt man auch im Zeitalter von Filz- oder anderen Stiften weiter mit dem Bleistift.

    Sprecher:

    Der finnische Bleistift ist auch ein Beispiel dafür, wie man von anderen Ländern nicht lernen sollte. Denn natürlich kann man nicht einfach kopieren. Der Vorschlag, in deutschen Schulen künftig mit Bleistiften zu schreiben...

    Sprecherin:

    ...und viele Schnelltherapien nach PISA haben genau diese Logik...

    Sprecher:

    ... ändert natürlich nichts, das ist klar. Aber vielleicht könnten wir uns von den Strategien und vom Geist anderer Länder wie von einer ansteckenden Gesundheit infizieren lassen?

    Sprecherin:

    Diese andere Strategie verlangt zunächst die Kluft zwischen den idealisierten hohen Ansprüchen, wie Schüler eigentlich sein müssten, und der oft nicht wahrgenommenen Wirklichkeit dieser Schüler zu schließen. Man sollte sie als Individuen und nicht als Gymnasiasten, Hauptschüler, Sonderschüler oder Realschüler ansehen.

    Und vor allem sollte man aus Fehlern und Schwierigkeiten, die man nicht länger leugnet, Kapital fürs Lernen schlagen.

    Cut 12 (Piri) 1´00

    Wenn man Diagnose gemacht hat, zuerst kann man vielleicht feststellen, die Schwierigkeit ist nicht beständig, nur vorübergehend. Dann gibt man Förderunterricht. Aber wenn es so aussieht, dass die Schwierigkeit noch da bleibt, dann beginnt man irgendwie länger vielleicht mit Sonderschullehrer in der Klasse, oder nach der Klasse, oder während der Klasse, wie es immer am Besten geht. Sehr flexibel wird das Kind gefördert. Wir haben festgestellt, wenn man früh anfängt, z.B. in den untersten Klassen der Gesamtschule haben ein Viertel der Kinder irgendwelche Schwierigkeiten mit Lesen und Schreiben, aber dann, wenn sie in die höheren Klassen kommen, sind sie schon verschwunden.

    Sprecher:

    In jeder finnischen Gesamtschule gibt es neben den Lehrern ein zweites Kollegium. Dazu gehören Kuratoren, das sind Sozialarbeiter, die, wenn nötig, den Kontakt zur Familie suchen und sich um Hilfen für die Familie und Kinder kümmern. Sonderlehrer, die von Anfang an Lernschwierigkeiten diagnostizieren und zu beheben versuchen. Eine Schulkrankenschwester ist eine Art Vertrauensperson, zu der die Kinder nicht nur mit körperlichen Wehwehchen gehen. Ein Schulpsychologe, bzw. eine Schulpsychologin gibt es jeder städtischen Schule. Auf dem Land sind Schulen im dünn besiedelten Finnland manchmal sehr klein. Dann ist dieses zweite Kollegium für mehrere Schulen zuständig.

    Cut 13 Atmo „lautmalerisch sonderlehrer 0´17 die ersten „Laute" offen, dann unter Sprecherin weiter gut hörbar

    Sprecherin:

    Kinder, die Schwierigkeiten beim Hören und beim Artikulieren von Lauten haben, bekommen auch Probleme beim Lesen. Also üben die Sonderlehrer Hören und Artikulation, damit es gar nicht erst zum Versagen beim Lesen kommt.

    Sprecher:

    Und noch etwas fällt auf: Lehrer und die Mitglieder des zweiten Kollegiums überlegen gemeinsam: was können wir tun? Sie fragen nicht: wer hat Schuld?

     

    Sprecher:

    Sonderschulen wurden in Finnland abgeschafft.

    Für Kinder mit besonders schweren Behinderungen gibt es an machen Kliniken angegliederte Lerngruppen. Aber generell gilt:

    Zitator:

    Jeder gehört dazu -

    je früher desto besser -

    ein Problem zu haben, ist keine Schande.

    Sprecher:

    Man könnte auf die Idee kommen, die finnische Schule konzentriere sich auf Sozialpädagogik und vernachlässige vielleicht die Lehrinhalte. Ein Besuch im Unterricht zeigt, dass sich die sozialen und atmosphärischen Investitionen auszahlen.

    Cut 15 atmo

    erst Unterricht dann englisch üben und singen, Flur Atmo ´46

    Atmo so starten, dass unter der Sprecherin das allg. Unterrichtsgeräusch beginnt und das „Englisch Üben", dann einen Moment offen

    Sprecher:

    Nach Schwedisch, der zweiten Landessprache, und nach Englisch ab der dritten Klasse, geht es in der fünften Klasse bereits mit der dritten Fremdsprache los. Langsam starten und dann Gas geben, dass ist ein Geheimnis des finnischen Erfolgs.

    Mit Schülern aus der fünften Klasse kann man sich auf Englisch verständigen. Und einige Sätze Deutsch können viele auch schon. In der finnischen Schule übrigens ist der Anteil musischen Unterrichts sehr hoch, mehr Stunden für Kunst und Musik als für Mathematik. Aber eigentlich wissen wir das in Deutschland aus Studien auch: Schüler, die Musikinstrumente spielen, sind in Mathematik besser als andere Schüler. Der Unterschied : die Finnen ziehen daraus Konsequenzen. Und weil sie wissen, dass mit der Lust auch die Leistung ansteigt, erweist sich der Weg über Lust und Interesse als der direkteste zur Leistung.

    Cut 15 Pirjo Linnakylä, 0´27

    If your compare the results of Finnish and German students, how engaged they are, how often they go to the library, how many books and newspapers they read and how they feel about reading. Is reading enjoyable, or is it a waste of time. If you compare these results, you see that the Finnish students are much more and much more deeply engaged than the German students.

    Sprecherin (overvoice):

    Wenn man die Pisa Ergebnisse deutscher und finnischer Schüler vergleicht, hinsichtlich ihres Interesses, wie oft sie in Bibliotheken gehen, wie viele Bücher und Zeitungen sie lesen, und wie sie das Lesen empfinden, macht es ihnen Freude oder ist es für sie Zeitvergeudung, wenn man das vergleicht, sieht man, dass die finnischen Schüler mehr lesen und tiefer mit dem Lesen verbunden sind.

    Sprecher:

    Die Ergebnisse, an die Pirjo Linnakylä, die finnische PISA- Wissenschaftlerin erinnert, bestätigen, dass sich Lust und Leistung ergänzen und keineswegs - wie viele hier zu Lande immer noch glauben - so unvereinbar sind wie Feuer und Wasser. Andere PISA- Zahlen beweisen, dass sich die Förderung der Breite und eine starke Leistungsspitze keineswegs ausschließen, im Gegenteil.

    Die finnische Doppelstrategie, Lernen zu individualisieren und zugleich die Gemeinschaft zu stärken, geht offensichtlich auf. Vertrauen wird belohnt. Dem Land gelingt der Übergang von einer bindungsstarken Agrargesellschaft in eine erfindungsreiche Wissensgesellschaft.

    Sprecherin:

    Die Schulpflicht endet in Finnland mit dem 16. Lebensjahr. 60% der Jugendlichen gehen dann weiter zum Gymnasium, der Oberstufe mit den Klassen 10 bis 12. In Deutschland sind es etwas halb so viele. Auch an Berufsschulen können die Finnen die Berechtigung zum Studium erwerben. An Gymnasien müssen sie sich bewerben, und die Schulen sind nicht verpflichtet jeden aufzunehmen, egal mit welchen Noten er kommt. Gymnasien stehen untereinander im Wettbewerb. Sie haben unterschiedliche Profile. Nicht alle genießen den gleichen Ruf.

    Sprecher:

    Finnland ist dabei, eine Lerngesellschaft zu werden. Dieses Ziel wurde 1995 sogar in die Verfassung aufgenommen. Eine dafür vom Parlament gesetzte Marke, 70% eines Jahrgangs soll studieren, wurde im Winter des Jahres 2002 fast schon erreicht.

    Nach Pisa – die Zuknft der Schule (1)

    Kein Platz für kluge Fragen?

    Die deutsche Unterrichtskultur

    Aus der Reihe: Nach PISA – Die Zukunft der Schule (1)

    Autor: Reinhard Kahl

     

     

     

    Atmo / Sprechchor:

    „Neue Schulen braucht das Land. - Lernen ist einfach, wenn Schule Spaß macht...." Sprechchor, etwas runter ziehen, bleibt im Hintergrund, darüber drei O-Töne:

    O-Ton 1 (Baumert)

    Man muss immer, vor allem wenn man nicht zur Topgruppe gehört, um den Klassenerhalt bangen und kämpfen.

    O-Ton 2 (Piri)

    Also, wir haben die Schulaufsicht, die Kontrolle, im Grunde genommen abgeschafft. Wir haben Zuversicht. Vertrauen, das ist unser Grundkonzept.

    O-Ton 3 (kanadischer Lehrer)

    We think, teacher as learner is the concept, children as learner is the benefit.Sprecherchor, kurz offen, darunter startet bereits der Musikakzent „...Stimmt das Klima, ist Schule prima...." Musik (Instrumental Paraphrase aus Another Brick in the Wall, Pink Floyd), darüber: Musik (kurz offen, dann weg. Nicht verblenden. Eine Nanosekunde Ruhe.)

    Sprecher:

    Die PISA -Aufregung in Deutschland ist international ohne Beispiel. Die Studie erregt uns wie zuletzt nur der BSE Alarm. Aber die Aufregung über Bildung klingt nicht so leicht ab. Denn der Erreger sitzt nicht in den Hirnen einiger Rinder, die man schlachten und verbrennen kann. PISA ist der große Bildungs-Skandal-Erreger...

    Sprecherin: .

    ..was sich ja auch mit BSE abkürzen lässt.

    Sprecher:

    Dieser Erreger sitzt im kulturellen Gedächtnis, wühlt es auf und irritiert es. Aber Irritation ist, wie der Soziologe Niklas Luhmann einmal bemerkte, die wichtigste Voraussetzung zum Lernen. Das gilt zumal für Institutionen und Kollektive. PISA hilft der Gesellschaft zu lernen.Bisher war man hier zu Lande zwar nicht davon überzeugt, dass unsere Schulen die freundlichsten wären, aber man glaubte doch, sie seien besonders leistungsfähig. Das kann nach den PISA-Ergebnissen niemand mehr behaupten. Unsere Schüler gehen mit wenig Lust in den Unterricht, und sie kommen häufig geschwächt wieder heraus. Die Diagnose auch anderer internationaler Tests zeigt:

    Zitator:

    Es mangelt deutschen Schülern an Basisfähigkeiten, und vor allem an selbständigem Denken.

    Sprecher:

    War Bildung „made in Germany" vielleicht nur ein Erfolgsmodell der nun auslaufenden Industriegesellschaft?

    Sprecherin:

    PISA steht nicht allein. Schon bei TIMSS, der vorangegangenen internationalen Studie über Mathematik und Naturwissenschaften, zeigte sich, dass deutsche Schüler hinter den Spitzenreitern in Skandinavien und Ostasien um Schuljahre hinter hinken. Aber am stärksten irritiere der Befund:

    Zitator:

    „Je anspruchsvoller die Matheaufgaben werden, desto deutlicher treten die Schwächen der deutschen Schüler hervor."

    Sprecherin:

    Und noch ein internationales Ergebnis, das allerdings bisher kaum zur Kenntnis genommen wurde, muss verstören. Im Herbst 2001 wurde auch eine Studie über politische Bildung veröffentlicht. Sie heißt CIVIC. Danach sind unsere Schüler Weltmeister in der Xenophobie, in der Angst vor Fremden und in der Ablehnung von Fremdem.

    Sprecher:

    Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Befunden? Der Leistungsschwäche bei PISA; der Denkschwäche, die uns TIMSS, die Mathematikstudie attestierte; und schließlich der Demokratieschwäche und Fremdenangst, die CIVIC herausfand?

    Regie: Musikakzent (Falco: Nie mehr Schule)

    Cut 1:

    (Deutsche Kinder in Finnland)(Mädchen)

    Ich habe am Anfang auch gedacht, ich lerne hier vielleicht weniger, weil das hier viel einfacher war und viel netter und so.

    Sprecherin:

    Deutsche Kinder in Finnland.

    Cut 2:

    (Deutsche Kinder in Finnland)(Mädchen)

    Ich weiß nicht, vielleicht ist es in den deutschen Schulen ein bisschen schwerer, weil die Lehrer viel strenger sind, oder so.(Junge)Die Lehrer sind in der finnischen Schule viel gelassener.(Mädchen)Genau.(Junge)Und auch viel netter. In der deutschen Schule haben die sich wegen jeder Kleinigkeit sofort aufgeregt und sind sofort an die Decke geflogen. – (Alle Lachen) (Mädchen)Unsere Mathelehrerin hier sagt, wenn ich rede müsst ihr leise sein und zuhören, wenn ich nicht rede, dürft ihr sprechen.

    Sprecher:

    Wie diesen Schülern, die für ein paar Jahre im finnischen Jyväskylä leben, geht es vielen Deutschen. Wir glaubten bisher an die Kausalität, unsere Schulen seien, weil weniger freundlich und schwerer als die in anderen Ländern, auch die anspruchsvolleren und leistungsfähigeren.Lust und Leistung scheinen in unserer Vorstellung nicht recht zusammen zu passen. In deutscher Tradition wird Lernen häufig wie eine bittere Medizin empfunden. Nach diesem Glauben steigt mit dem Bittergeschmack sogar die Wirksamkeit. Es gibt allerdings noch eine Steigerungsstufe dieses Missverständnisses:

    Sprecherin:

    Statt Wermutstropfen zu verteilen, dünne Limonade auszuschenken: also das strenge, überdisziplinierte und häufig misanthropische Schulsystem durch Luschigkeit und folgenlose sozialpädagogische Freundlichkeit vermeiden zu wollen.

    Sprecher:

    Die Wirkung von Bittermedizin und anspruchslosem Billiggesöff ist ähnlich: Schüler sind mit der Schule und ihrem Lernen wenig identifiziert. Ihr Lernen scheint nicht ihre eigene Sache. Sie wirken wie Untermieter in ihrer Welt. Es fehlt an gegenseitigem Respekt zwischen Schülern und Lehrern.

    [OC: Vor allem fehlt es an jener Vorfreude auf sich selbst, die doch die Seele des Lernens sei, wie der Philosoph Peter Sloterdijk meint. Stattdessen, so formuliert der Meister des philosophischen Aphorismus...

    Zitator:

    „... verlassen Schüler in Deutschland ihre Schulen wie Landsknechte eine aufgelöste Armee." Ende OC]

    Sprecher:

    Zwischen Pisa und Erfurt haben wir in Deutschland viele Gründe, Verwahrlosung zu konstatieren. Das betrifft die Leistungen ebenso wie das Verhalten. Wir waren die Weltmeister der Industriegesellschaft. Sie setzte auf Disziplin, Belehrung - und im Zweifelsfall auf Misstrauen.

    Sprecherin:

    Die Wissensgesellschaft, auf die wir zu steuern, ist auf Selbstorganisation, Lernen und im Zweifelsfall auf Vertrauen angewiesen. Darin sind wir noch schwach.

    Zitator:

    „Und welches Bild soll ich jetzt malen?"

    Sprecher:

    In Schülerfragen dieser Art entblößt sich unsere Lernkultur, die auf Vorgaben, Außensteuerung und detaillierte Pläne setzt. Schüler und Schulen hängen an Marionettenfäden. Diese Kultur reicht von Ministerien bis in den Alltag des Unterrichts. Ministerien schreiben – anders als in anderen Ländern – in umfangreichen Lehrplänen den Unterricht vor und halten für alle Eventualitäten Vorschriften bereit. Kein Wunder, dass die gegängelten Lehrer ihren Schülern zu wenig Selbständigkeit zubilligen. Diese Außensteuerung ist eine Grammatik des Systems.

    Sprecherin:

    Deutsche Lehrpläne, diese dicken Bände, sehen respekterheischend aus, zumal wenn man sie mit den Broschüren in Norwegen oder Schweden vergleicht, oder mit dem knapp 100 Seiten dünnen Heft aus Finnland, in dem alles steht, was der Staat an Ergebnissen von allen Schulstufen erwartet. Die deutschen Wälzer dokumentieren hohe und allerhöchste Ansprüche. Tatsächlich ist es so, dass die detaillierten Lehrpläne hier zu Lande von Lehrern kaum gelesen werden. So machen die dicken Pläne ein doppelt schlechtes Gewissen. Hingegen werden die verständlichen und knapp gefassten Schriften, in denen die erfolgreichen PISA-Staaten ihre Erwartungen an Schulen formulieren, sogar von Eltern gelesen.

    Sprecher:

    So ist es häufig. Anderswo hängt die Latte niedriger als bei uns. Aber fast alle bemühen sich, drüber zu springen. In Deutschland wird die Latte häufig so hoch gehängt, dass es viele vorziehen, lieber unter ihr durch zu laufen. Übrigens gibt es in Skandinavien die Tradition eines vom Volk erkämpften Schulrechts, während uns noch die obrigkeitsstaatlich diktierte Schulpflicht in den Knochen steckt. Auch das ist Teil des kulturellen Gedächtnisses, das in jeder Schulstunde wirkt: ist es unsere Schule oder die von denen da oben?

    [OC: Sprecherin: Es liegt auf der Hand: Mindestansprüche zu formulieren, die zudem von allen geteilt werden, macht weniger Druck und ist wirkungsvoller, als mit höchsten Ansprüchen zu imponieren und sich dabei zugleich über die eigenen Möglichkeiten zu täuschen. Ende OC]

    Sprecher:

    Wohin man blickt, in die Wirtschaft, in die Wissenschaft oder eben in die Bildungseinrichtungen: die Steuerungszentralen müssen Macht abgeben. Zentralen können nur wenige Züge vorausplanen, wie ein Schachspieler. Auch der beste Spieler übersieht kaum mehr als drei Züge. Hinter diesem Horizont entsteht Zukunft, das Neue und das Unbestimmte. Deshalb muss dauernd beobachtet, unterschieden und neu entschieden werden, und daran müssen alle mitwirken. Wie lernt man das? Wie wird eine Atmosphäre für Selbständigkeit und für Kooperation angesetzt?

    Regie: Musikakzent (Kronos)

    Sprecher:

    Wenn sich nun die alte Grammatik der Außensteuerung auflöst, aber für eine Innensteuerung noch das Selbstvertrauen und die Übung fehlen, dann kommt Verwahrlosung auf.

    Cut 3: (Jorma Ojala)

    Die Kinder sind wie ein Spiegel...

    Sprecherin: .

    .. sagt der finnische Erziehungswissenschaftler Jorma Ojala.

    Cut 4: (Jorma Ojala)

    Wenn die Lehrer sie nicht achten, achten die Kinder die Lehrer nicht. Früher dachte man, dass die Kinder (uns Lehrer) zu verstehen haben. Es ist ganz umgekehrt: Lehrer haben die Kinder zu verstehen.

    Zitator: „Im Grund geht es in aller Pädagogik um das Generationenverhältnis....

    "Sprecher:

    ... sagt der Nestor der deutschen Pädagogik, Hartmut von Hentig.

    Cut 5 (Baumert)

    Also ich unterrichte gelegentlich auch an zwei Schweizer Universitäten und ich habe auch unsere deutschen Videos mitgebracht und dann Schweizer Lehrern vorgeführt. Und die erste Reaktion, als sie unsere Stunden gesehen haben war: das ist ja unglaublich.

    Sprecher:

    Jürgen Baumert, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, auch „Mister PISA" genannt. Der Erziehungswissenschaftler ist der wissenschaftliche Chef der PISA-Studie in Deutschland.

    Zuvor hatte er den internatonalen Mathematik- und Naturwissenschaftsvergleich, die TIMSS-Studie für Deutschland geleitet. Baumert berichtet von der Reaktion Schweizer Pädagogen auf deutsche Unterrichtsvideos.

    Cut 6 (Jürgen Baumert)

    Ich dachte: Was ist denn da unglaublich? Da sagen sie: Na, der Umgangston. Das sind ja permanent kränkende Bemerkungen seitens der Lehrkräfte. Für die war es so unglaublich, diese kleinen Abfertigungen: „schon wieder der Fehler", „das habe ich doch schon viermal gesagt", die Anmache, oder auch das Anbiedern: „ach komm schon, das weißt du doch," wenn man die richtige Antwort haben will. Das ist ein Umgang, der für die Schweizer einerseits wirklich abwertend ist und andererseits distanzlos ist. Man kommt den Schüler/innen zu nahe, indem man sich anbietet als Partner. Auf beides reagieren die hochsensibel, und so etwas sieht man in der Schweiz in der Tat nicht.

    Sprecher:

    Jürgen Baumert hat in Videostudien den Mathematikunterricht in Deutschland, Japan und den USA verglichen.

    Auch bei der kommenden zweiten Staffel der PISA-Studien, die im Frühsommer 2003 erhoben wird, steht Mathematik im Zentrum. Dabei geht es den PISA-Forschern nicht ums bloße Rechnen. Mathematik wird vielmehr als eine Sprache gesehen, die Verstehenshorizonte öffnet und zum Umgang mit Modellen befähigt. Schon bei seinen bisherigen Vergleichen des Mathematikunterrichts fiel Jürgen Baumert auf, wie starr und häufig hart der Matheunterricht in Deutschland ist. Das wird besonders am Verhältnis zum Fehler deutlich. Der Fehler ist eine Art Lackmustest auf den Geist der Schulen. In Deutschland, anders als in anderen Ländern, agieren viele Lehrer als eine Art „Fehlerinquisition".Das ist in der Art, wie bei uns unterrichtet wird, tief verankert. Auch in anderen Fächern. Dieser Unterricht ist nicht bloß eine schulische Methode, er ist Teil der Kultur. Am Mathematikunterricht wird dieses Initiationsritual ins Denken am deutlichsten. Entnehmen wir eine Gewebeprobe:

    Cut 7 (Jürgen Baumert)

    Der deutsche Unterricht beginnt: die ersten fünf Minuten werden die Hausaufgaben kurz vorgestellt, noch mal kurz wiederholt, und dann wird ein neues Thema eingeführt, in einem sehr kurzschrittig, fragend entwickelnden Unterricht. Der Lehrer hat ein Ziel vor Augen. Und in einem sehr geschickten Verfahren bringt er die Schüler dazu, dass sie dem Beweis folgen und nach 20 Minuten beim Ergebnis sind. Das ist so wie ein Trichterverfahren, von einer sehr weiten Frage führt man es immer enger, konvergent, bis die Lösung, die Routine an der Tafel steht oder in den Heften der Schüler. Und dann folgt eine kurze Phase, wo noch eine Übungsaufgabe gemeinsam durchgerechnet wird und dann gibt's die Stillarbeit, wo sehr ähnliche, häufig nicht abgestufte Aufgaben gelöst werden, das ist eine typische deutsche Stunde.

    Sprecher:

    Dieser Unterricht stimuliert Schüler nicht zum Denken, er ermuntert sie schon gar nicht, sich auf das unsichere Feld von Problemlösungen wagen. Es ist immer wieder dasselbe: Kluge Fragen stören den vorprogrammierten Unterrichtsablauf und müssen abgebügelt werden. Was wiederum zu Frustrationen bei den Schülern führt. Die Folge: Selber denken lohnt sich nicht. Schüler gewöhnen sich an, zu erahnen, manchmal auch nur zu raten, was der Lehrer wohl meint. Jürgen Baumert fasste diesen Habitus einmal auf einem Kongress in einer Anekdote zusammen:

    Zitator:

    Der Lehrer stellt mit dienstlich routinierter Stimme folgende Matheaufgabe: Ein Schafhirte hat 50 Schafe und vier Hunde! Wie alt ist der Schäfer? Die Antwort, die der Lehrer bekommt, heißt zumeist 54 oder 46. Wenn der Lehrer fragt, warum, sagen die Schüler, das hängt davon ab, ob man abzieht oder zuzählt.

    Cut 8 (Baumert)

    Es ist eine ganz bestimmte Auffassung von Mathematik, nämlich es gibt eine Lösung und es gibt einen Weg, der optimal ist, und den versucht man zu finden. Für Schüler gibt es wenig Ausfluchtmöglichkeiten in diesem Gespräch; es sind kurze Äußerungen, es gibt keine zusammenhängenden Sätze von Schülern, mehrere schon gar nicht, aber auch der Lehrer hat sehr knappe Fragen. Wir haben zum Beispiel in keiner der deutschen Stunden Lehreräußerungen gefunden, die länger als eine Minute waren. Also den Lehrervortrag, den man Lehrern immer unterstellt, den gibt es im Mathematikunterricht praktisch nicht. Es sind sehr knappe, gezielte Äußerungen. Wenn es gut gemacht ist, ist es 'ne ganz bestimmte hohe Kunst, die zu mittelmäßigen Mathematikergebnissen führt.

    Sprecher:

    Die Schüler spekulieren auf das fertige Ergebnis, oder auf die routinierte Operation. Sie wollen nachahmen. Wenn es hoch kommt, wollen sie anwenden. Das Gespräch im sogenannten „fragend entwickelnden Unterricht" ist ein Pseudogespräch: Der Lehrer weiß ja alles immer schon. Es stellt Fragen zum Schein.

    Auch Deutschlehrer fragen: Was meint der Dichter - und denken dabei häufig nur an ihre Interpretation.

    [OC: Im naturwissenschaftlichen Unterricht, auch das zeigen Studien, sind Experimente in deutschen Klassen selten. Das Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften in Kiel hat deshalb für Jugendliche, die am Wettbewerb „Jugend forscht" teilnehmen, Trainingskurse angeboten, damit sie die im Unterricht eingeübte, wenig forschende Haltung wieder verlernen. Ende OC]

    Die Schüler glauben, funktionieren zu sollen, und spielen dieses Spiel mit - im Laufe der Schulzeit mit nachlassender Beteiligung. Zum Schluss würden sie sogar das Telephonbuch auswendig lernen, wenn man das von ihnen fürs Abitur verlangte - und dieses Wissen natürlich nach dem Abitur sofort wieder vergessen. Ganz anders läuft der Unterricht in japanischen Schulen, die in der Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie TIMSS, wie auch jetzt bei PISA, sehr gut abschnitten.

    Sprecherin:

    Videos aus dem Mathematikunterricht in Japan zeigen eine Unterrichtskultur, die auch Jürgen Baumert zunächst nicht erwartet hatte. Der Lehrer fordert die Schüler auf:

    Cut 9: (Baumert)

    Findet so viele Lösungen wie möglich. Nicht eine Lösung, sondern das Problem hat viele Lösungen, die unterschiedlich sind, jede Lösung hat Vorteile, hat Nachteile, wir wollen versuchen so viele Lösungen wie möglich zu finden. In dieser Zeit geht dann der Lehrer durch die Reihen und guckt den Schülern über die Schulter. Also viele Lösungen, die üblicherweise kommen, hat er in seiner Unterrichtsvorbereitung stehen. Und er spricht dann mit Schülern, gibt nie Lösungen oder Ergebnisse vor, sondern regt Denken an; wenn einer nicht weiter kommt, stellt er `ne Frage, die zu der einen oder anderen Lösung führen kann, aber er formuliert das Problem eher neu, als dass er das Ergebnis mitteilt.

    Sprecher:

    Auch Wege, die nicht zum Ziel führen, gelten in Japans Klassen als interessant, manchmal sogar als interessanter als der routinierte, erfolgreiche Weg. Es wird deutlich: Mathematikunterricht an Schulen ist keine rein neutrale, kognitive Übung. Mathe-Unterricht ist die Einführung in eine Denkweise, ja, er ist ein geistiges Initiationsritual. Hier werden nicht nur die Synapsen jedes einzelnen Schülers geformt, hier werden auch die Muster des kulturellen Gedächtnisses immer wieder neu gewoben.

    Sprecherin:

    Herbert Pietschmann, Professor für theoretische Physik in Wien, ist bei einer kleinen Rechenaufgabe in Japan an die Grenzen abendländischer Schulweisheit geraten. Sein Gesprächspartner zählte auf, welche Religionsgruppen es in Japan gibt:

    Cut 10: (Pietschmann)

    Da hat er gesagt: `In Japan gibt es Christen, das ist ein kleinerer Teil von ungefähr 10% und dann ungefähr zwei Drittel Buddhisten und zwei Drittel Schintoisten.' Da hab ich gesagt: `Ein Drittel!' Da hat er gesagt: `Nein, zwei Drittel!' Dann sagte ich, `dann war das vielleicht vorher ein Drittel.` Dann hat er gesagt, `nein zwei Drittel.' Dann hab ich gesagt, `dann geht es aber nicht auf', da sagt er: `eben'. Diese Geschichte soll das verschiedene Denken demonstrieren.Bei jedem Japanaufenthalt hab ich bisher ein ähnliches Erlebnis gehabt. Dass Japaner irgendwann sagen, das ist das, was Abendländer so schwer verstehen, dass ein Japaner, der sagt, ich bin Schintoist, damit nicht sagt, ich bin kein Buddhist, weil dieses Entweder-Oder eben nicht gilt.

    Sprecherin:

    Ein Japaner kann sagen, ich bin erstens Buddhist, zweitens Schintoist, drittens Christ, viertens Liberaler, fünftens...

    Sprecher (fällt ins Wort):

    Da würde man in Deutschland längst sagen, für solche Leute haben wir ganz bestimmte Häuser – Irrenhäuser.Unsere monotheistische Tradition, der Glaube an den einen Gott, scheint in der Schule eine triviale Radikalisierung finden: habe keine andere Lösung neben mir.

    [OC: Cut 11: (Pietschmann)

    Ich habe einmal mit einem japanischen Kollegen darüber gesprochen und der hat gesagt, ein japanischer Lehrer würde nicht auf die Idee kommen, Hausaufgaben zu stellen, bei denen es nur eine einzige Lösung gibt.Ende OC]

    Sprecher:

    Wenn japanischer Unterricht auch sehr gleichförmige Seiten hat - so ruht er doch auf kulturellem Urgestein, das in sich vielfältiger ist als der Fels, auf den unsere Kultur gebaut ist.

    Cut 12: (Koji Suda)

    Japanische Kollegen machen erst mal Kontakt mit dem Schüler. Fachkenntnisse und so weiter kommt später. Erst mal muss man Kontakt haben, gut Freund oder Bekannte: macht besser lernen kann.

    Sprecher:

    Koji Suda ist Mathematiklehrer an einer japanischen Schule in Deutschland. Wer ihn hier besucht, ist erstaunt über die Disziplin und verwechselt sie zunächst mit Drill, vielleicht weil wir uns Disziplin zunächst als Außensteuerung und nicht als eine Haltung gegenseitiger Achtung vorstellen. Und dann wundert sich der Besucher, wie häufig er in der japanischen Schule das Wort „vielleicht" hört.

    Cut 13 (Koji Suda)

    Die Europäer - es muss man immer ja oder nein sein. Japaner sind manchmal „ja", aber „nein Tendenz inklusive", plus minus irgendwie, läuft (Lachen)

    Sprecher:

    Dieser japanische Möglichkeitssinn erinnert die Schüler daran, dass wir es immer mit Modellen zu tun haben, die nie so ganz aufgehen. Die Modelle werden nicht als die eine und einzige Möglichkeit indoktriniert, sondern als ein Modus von mehreren geübt.Jürgen Baumert und andere Japanreisende sind von der Kultur dieses Übens überrascht.

    Cut 14 a (Baumert)

    Also eine außergewöhnlich kultivierte Form intelligenten Übens im japanischen Unterricht. Beides, eine Kultur der Aufgabenstellung, in 50% des Unterrichts, den wir gesehen haben, gab es immer mehrere Lösungen. Die sind bewusst ausgewählt, die Aufgaben. Das Unterrichtstempo ist zügig, es wird keine Zeit verschwendet, aber das Interaktionstempo ist viele langsamer als bei uns. Die Schüler haben mehr Zeit.

    Cut 14 b (Koji Suda) (verblendet mit oben)

    Das geht nicht in europäische Methode, immer so kreisen und das finden Schüler gut. Sie können ohnehin nicht mehr als 3 Minuten intensiv denken. Deswegen immer lockern und dann wieder stärker.

    Sprecherin: Das gute Abschneiden japanischer Schüler in den harten Leistungstests....

    Sprecher: ... sie sind, wie gesagt, den deutschen Schülern um mehrere Schuljahre voraus ...

    Sprecherin: .

    .. wird für unsere Ohren noch rätselhafter, wenn wir von Jürgen Baumert hören:

    Cut 15 (Baumert)

    Die Japaner kennen Differenzierung nicht, sie haben die ganze Jahrgangsgruppe undifferenziert bis Ende der 9. Klasse in einem Klassenraum beieinander. Es ist eine radikale Gesamtschule, mit einem ganz geringen Sonderschüleranteil, der liegt bei 1,5% oder 1,9%.

    Sprecherin:

    In Deutschland gehen fast 5 Prozent der Kinder in Sonderschulen.Und noch etwas irritiert: oftmals sitzen in Japan mehr als 40 Kinder in einer Klasse.

    Sprecher:

    Internationale Studien und auch Untersuchungen in Deutschland haben gezeigt:

    Zitator:

    Weder auf die Klassengröße noch auf die Menge des erteilten Unterrichts kommt es an.

    Sprecher:

    So konnte die Rheinland Pfalz durchgeführte Studie MARKUS über den Matheunterricht keinen Einfluss des Unterrichtsausfalls auf die Schülerleistungen feststellen. Die im Unterricht eingeübte Denkweise ist wichtig. Es kommt mehr auf das Wie des Unterrichts an als auf die Menge der Stunden.

    [OC: Sprecherin:

    Weshalb vor Jahren, als nach dem schlechten deutschen Abschneiden bei TIMSS Politiker sofort mehr Mathematikunterricht forderten, Jürgen Baumert antwortete:

    Zitator:

    Weniger schlechter Matheunterricht ist besser als mehr schlechter Matheunterricht. Ende OC]

    Cut 16 (Baumert)

    Die Vorstellung, dass wir Denkgebäude aufbauen, auch die Wirklichkeit konstruieren, je nachdem, welches Vorverständnis wir wählen, das ist immer noch wenig verbreitet, vor allem auch in den Naturwissenschaften. Es geht um die richtige Formel, die eine Lösung, die man dann anwenden kann. Dass es viele Wahrheiten geben kann, auch in den Naturwissenschaften, je nachdem sich Sichtweisen ändern, in den Genuss kommen eigentlich nur Schüler in sehr gutem Physikunterricht der Oberstufe.

    Sprecher:

    Seit PISA weiß in Deutschland jedermann, wie schlecht unsere Schüler im internationalen Vergleich stehen. Aber wir sind geneigt, zu sehr auf die Ergebnisse zu blicken und dabei aus den Augen zu verlieren, was zu den schlechten Ergebnissen führt. Manchmal erinnern die Deutschen an einen Kapitän, über den sich Mark Twain lustig machte. Der handelte nach dem Motto:

    Zitator:

    „Wenn wir das Ziel aus den Augen verloren haben, verdoppeln wir unsere Anstrengungen."

    Sprecher:

    An Angestrengtheit fehlt es uns nicht. Eher an der Gelassenheit, die wir von Finnen und Japanern lernen können. Aber dieser Lektion trauen die Deutschen nicht. Der Mathematikdidaktiker Michael Neubrand - er ist der Mathematik-Chef im PISA-Konsortium - erlebt nach PISA vor allem Reaktionen der Mark Twain’schen Art.

    Cut 17: (Neubrandt)

    Eine Reaktion, stand in einer Zeitung, jetzt ist es aus mit der Spielpädagogik und es muss eine ernsthafte Pädagogik kommen. Im Hintergrund schwingt mit, jetzt muss wieder richtig gepaukt werden. Das ist gerade kontraproduktiv. Gerade der spielerische Zugang kann intellektuell hoch anregend und hoch wichtig sein. Der Gegensatz ist nicht hier spielerische Pädagogik und da Leistungspädagogik, der Unterschied ist Leistungspädagogik eingeschränkt, versus Leistungspädagogik mit offenen Augen und offenen Sinnen und mit allen Sinnen, das ist die eigentliche Polarität, in der sich das abspielen muss.

    Sprecherin:

    Fehler machen dürfen, das wären für die PISA-Wissenschaftler Neubrandt und Baumert die Lehre aus der Studie.

    [OC: Deswegen kommt in jedem Vortag von Jürgen Baumert, den er seit der Veröffentlichung der PISA- Studie hält, dieser Satz vor:

    Zitator:

    „Im Deutschen Unterricht stören immer zwei Sorten von Antworten, die intelligente Antwort, die vorgreift und beiseite geschoben werden muss, und der Fehler."

    Sprecher:

    Von Japan lässt sich nicht nur Fehlerkultur lernen. In den vergangenen Jahren wurde dort in den Schulen gegen großen Wiederstand besorgter Eltern die Pflichtstundenzahl reduziert, um mehr Freiräume zum selbständigen Lernen zu schaffen. Das neue Bildungsprogramm in Japan heißt „Würze fürs Leben." Und das Salz des Lebens und des Lernens ist der Fehler. Ende OC]

    Cut 18: (Baumert)

    Wenn ein Individuum Fehler macht, da ist immer noch was Richtiges dran, und der versucht, seinen besten Beitrag zu geben. Das ist die eine Seite, sozusagen die Seite der Akzeptanz. Sie nutzen Fehler teilweise, um sie bis zum Ende durchzuspielen, um dann zu gucken, was sind denn die Folgen, wenn wir dich mal ernst nehmen, kann das richtig sein und dann gibts 'nen neuen Ansatz. Bei uns geht’s eher: schelle Korrektur durch den Lehrer oder, was noch schlimmer ist, der nächste Schüler wird gefragt, dann kommt die richtige Lösung, sieht man in Japan seltener.

    Sprecher:

    Der Mathematiker Michael Neubrandt und seine Kollegen bereiten in diesen Wochen den nächsten PISA-Test vor, in dessen Zentrum die Mathematik stehen wird. Der erste PISA-Durchgang, dessen schlechte Ergebnisse uns immer noch beschäftigen, hatte ja auf das Lesen fokussiert.

    Sprecherin:

    Aber so wenig es beim Lesen ums Buchstabieren von Texten ging, wird es bei PISA 2003 nicht bloß um die Beherrschung der Grundrechenarten oder die Beherrschung von Sinus-Kurven gehen. PISA – und das ist neu - testet eben nicht den Stoff von Lehrplänen, sondern überprüft erstmals, was Schüler fürs Leben brauchen: Literacy. Das Wort steht für das Konzept einer modernen Schule, in der es um die Lesbarkeit der Welt geht. PISA kommt es auf Verständnis an, auf die Fähigkeit, sich im Alltag zu orientieren und vor allem handeln zu können. Das zeigt sich am deutlichsten an einem modernen Mathematikverständnis, dem es eher um die Bildung von Modellen und Lösungsstrategien geht, als um das Verfolgen eingespurter Wege.

    Sprecher:

    Aber wenn Professor Neubrandt diese Tage durch deutsche Klassen geht, findet er von diesem modernen Mathematikverständnis, das sich in vielen Ländern bereits durchgesetzt hat, noch wenig.

    Cut 19: (Neubrandt)

    Die meisten Schulbesuche, die ich mache, zeichnen sich dadurch aus, dass es schlicht und ergreifend langweilig ist, unterfordernd, nicht herausfordernd. Und dann wird’s auch nicht mehr lustig und es wird auch nicht mehr freudig und der Spaß ist weg, ja.

    Die Tatsache, dass eine Aufgabe vielfältig lösbar, erhöht die Schwierigkeit ganz gewaltig. Allein de Tatsache, dass vielfältige Lösungen möglich sind, und der Ansatz nicht von vornherein fest steht. Also all das sind Gedanken, die in diese Richtung laufen, wir müssen einfach in den Unterricht anspruchsvollere Aufgaben hinein bringen, und die in einer Form hinein bringen, die die Selbsttätigkeit der Schüler stärkt. Nicht vormachen, es gibt drei Lösungen, sondern selber finden lassen: der hat dieses gefunden, er hat das gefunden, wie hängt das zusammen, ist das unterschiedlich, ist das gleich? Auf der Basis von Selbsttätigkeit kann das nur entstehen.

    Das bildet Strukturdenken aus, jedenfalls für die Mathematik gilt das, ohne Strukturdenken gibt’s keine Mathematik

     

    Sprecher:

    Deutsche Schüler versagen in Mathematik, sobald sie in Alternativen denken sollen. Im maschinenhaften Ausführen sind sie noch ganz gut. Wenn es aber darum geht, sich mehrere Lösungsmöglichkeiten vorzustellen - man könnte auch sagen, wenn Freiheit, Selbständigkeit und Phantasie gefragt sind - dann brechen sie ein.

    Lernen ist ein geistiger Vorgang. Das hört sich vielleicht banal und etwas vorgestrig an, und dass dies alles eine Frage von Mentalität und Kultur ist, klingt erneut nach Ausrede. Aber es gibt keinen Zweifel daran, dass das Nervensystem der Bildung, vom einfachen Lernen bis hin zum komplexen Verständnis, zwischen den Menschen verläuft und nicht im Versorgungsschacht der Institutionen. Diese Nerven werden aus drei Grundstoffen gebildet: Vertrauen, Stolz und gegenseitiger Anerkennung. Sie ermöglichen den Dialog, also den dauernden Wechsel im Status: mal Sender, mal Empfänger sein. Die Frequenz dieses Wechsels ist ein Maß für die Intelligenz von Organisationen. Und diese dialogische Frequenz ist im System Deutschland bisher schwach.

    Sprecherin:

    Aber, so möchte man einwenden, wenn diese Diagnose stimmt, dann müssten bei uns die Wirtschaft und auch das geistige Leben noch mehr am Boden liegen als ohnehin. Nein. So schlecht könne unsere Schulen und die Jugendlichen, die sie verlassen doch nicht sein?!

    Sprecher:

    Ja und nein.

    Seit vielen Jahrzehnten beobachtet die Psychologie einen kontinuierlichen Anstieg der Intelligenz bei Jugendlichen, den sogenannten Flynn-Effekt. Er wird auch in Deutschland gemessen. Das Ergebnis könnte beruhigen, wenn es nicht noch einen zweiten Wert gäbe, auf den Jürgen Baumert hinweist.

    Cut 20: (Baumert)

    Die Kinder, von der intellektuellen Kapazität her legen sie zu. Das hat viele Ursachen, unter anderem die anregungsreichen Umwelten, auch in sozial schwächeren Familien. Wenn wir die Leistungsentwickelung angucken, wir haben für das Gymnasium Vergleiche von 1968 an aus unserem Institut, dann haben wir einen Abfall der Leistung bei gleichzeitig ansteigender Intelligenz. Das ist das eigentliche Problem.

    Nach Pisa – Ende des 30jährigen Bildungskrieges

    Radio 3 von NDR & ORB / WDR 3

    Gedanken zur Zeit 3. August 2002

    Reinhard Kahl

    Nach Pisa - Ende des 30jährigen Bildungskrieges ?

    Ausländische Beobachter können nicht verstehen, warum sich die Deutschen nun bald schon ein dreiviertel Jahr

    lang über Pisa so aufregen. Aber sie ahnen etwas. Schon im Dezember vergangenen Jahres, als der internationale

    Vergleich der Kompetenzen von 15jährigen veröffentlicht wurde, war die Meldung vom schlechten deutschen

    Abschneiden der englischen und schwedischen Presse fast so viele Zeilen wert, wie die Nachricht vom guten

    Ergebnis im eigenen Land. Engländer äußerten über das deutsche Desaster kaum verhohlene Genugtuung. Ihnen

    sind die Weltmeister des Industriezeitalters unheimlich.

    Schweden waren eher irritiert. Im Gesamtschulland glaubte manch einer, die früh auslesenden deutschen Schulen

    seien in ihrer Härte wohl nicht wünschenswert, aber sind sie in der Leistung nicht vielleicht doch überlegen?

    Und wir, die Deutschen? Irgendwie haben wir bisher einen Beweis von Tiefe und Qualität darin gesehen, dass

    Schulen bei uns weniger freundlich sind als die in Kanada, Schweden oder fernab bei irgendwelchen Finnen.

    Deutsche sagen häufig, geschadet hat es uns nicht, wenn sie sich an manche Demütigung in der Klasse und an

    die Angst erinnern, vielleicht nicht gut genug für die höhere Schule zu sein.

    Kürzlich in eine Fernsehdiskussion überraschte der Moderator seine Gäste: „Jetzt nennen sie bitte mal ganz

    schnell einen Satz, der ihnen zu ihrer Schulzeit einfällt.“ Vier von fünf Antworten waren Variationen von: „Aus

    dir wird nie was.“ Und da saß eine Kultusministerin neben vier Mitstreitern, die es alle weit gebracht haben.

    Trotz dieser Prophezeiung. Das Trotzen mobilisiert auch Gegenkräfte, aber es ist aufwendig und die Narbe, die

    der Wunde folgt, bleibt eine gefühlstaube Zone.

    Und natürlich, einer zumindest ist immer dabei, dem die Schule nichts anhaben konnte.

    Aber viele wurden in der Schule von einem vergifteten Gedanken infiziert: Du bist ein Niemand. Zugleich bot

    sie einen Ausweg an: wenn du dich am Riemen reißt und wenn du versuchst ein ganz anderer zu werden, als der,

    der du jetzt bist, dann kommst du in die Gnade von Anerkennung. Wer in diesen Pakt einwilligte, dem musste

    das spätere Leben, auf das die Schule doch immer drohend verwies, wie eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe

    vorkommen. Vielen blieben davon Alpträume.

    Diese Schule passte alles in allem in die klassische Industriegesellschaft, die einige einsame Erfinder, wenige

    Autoritäten und viele Ausführende brauchte. Wer seines Eigensinns beraubt und in seinem Stolz gekränkt war,

    der verlangte nach Prothesen, zum Beispiel nach viel Arbeit oder nach Zauberdingen wie Autos mit 150 PS,

    oben liegender Nockenwelle und Schiebedach.

    Aus der Sicht des mit Prothesen Vervollständigten, haben die vorangegangenen Operation nicht geschadet,

    sondern einen von einem selbst entlastet. Am Ende glaubte man daran, dass nur bittere Medizin wirkt, oder man

    ist davon überzeugt, dass Schüler, wenn man das Sitzenbleiben abschaffen würde, mit dem Lernen aufhören

    würden, wie es kürzlich in einer aufgeregten Mediendebatte, nach dem Vorschlag das Sitzenbleiben abzuschaffen,

    im vergangenen Frühjahr in vielen Kommentaren, zumal der Provinzpresse befürchtet wurde.

    Hätten mehr von denen, die über Pisa reden, die Studie gelesen, wüssten sie, dass es dass exzessive

    Sitzenbleibenlassen sonst nur in Portugal gibt. Etwa ein Drittel der deutschen Schüler haben, so heißt es in der

    Statistik, verzögerte Schullaufbahnen. Schule als Strafe, das ist ein im internationalen Vergleich ein deutscher

    Sonderweg in der Bildung. Er ist Ausdruck eines Glaubens, dem Lust und Leistung als unvereinbar gelten.

    Aber nun hat dieses kollektive Imaginäre, dieses unbewusste Gewebe von Selbstverständlichkeiten bei den

    Deutschen eine Riss bekommen und dieser Riss heißt Pisa. Auch wenn wir das Wort langsam schon nicht mehr

    hören können, die Sache für die Pisa steht, begleitet uns, und wir werden sie nicht mehr los, denn Pisa markiert

    einen Übergang. Es ist der von der klassischen Industriegesellschaft, aus der unsere Art Schule zu machen

    stammt, zu einer nachindustriellen Gesellschaft, in der man nicht mehr ein Leben lang fragen kann, „Mutti

    welches Bild soll ich jetzt malen,“ und in der man nicht länger Verantwortung für sich selbst nach oben

    delegieren darf, gemäß dem alten Motto der Infantilgesellschaft: „Das hat meine Mutter nun davon, wenn ich

    friere“. Dieses „das war ich nicht! Das bin nicht ich“ ist eine in den Alltag unserer Schule tief eingeschriebene,

    fatale Mentalität. Der Lehrer sagt, „Das steht im Lehrplan, das müssen wir machen.“ Er demonstriert den

    Schülern ein Leben in fremdem Auftrag, wenn er mit seiner Person nicht für das, was er tut, einsteht, ja wenn er

    davon überzeugt ist, im Zweifelsfall gar nicht Einfluss nehmen zu können, und das immer wieder bekundet. So

    muffelt es in unseren Schulen nach Larmoyanz und Überdruss.

    Glücklicher sind die Skandinavier, Kanadier und selbst die USA und Japan, die ihre Schulen eher als

    Gemeinschaftsfeld der Gesellschaft eingerichtet haben. Bis zum Altern von 16 Jahren gehen alle Schüler zur

    bürgerlichen Einheitsschule, der Gesamtschule. In Schweden gibt es bis 8. Klasse, in Finnland bis zur 4. keine

    Noten. Auch Japan hat bis ans Ende dieser Stufe keinerlei Differenzierung, auch nicht in A oder B Kurse. In

    Schweden wird diese Aufteilung vom Gesetz explizit untersagt. In Finnland heißt der wichtigste Grundsatz:

    Respekt. Man darf Kinder nicht beschämen. Anerkennung geben und Zugehörigkeit vermitteln, das ist der Kern

    einer überlegenen Kultur. Sie bringt kognitiven Gewinn, Zusammenhalt und verspricht der Gesellschaft

    wirtschaftlichen Erfolg. In Finnland kennt man auch keine staatliche Schulaufsicht. Schulleiter stellen Lehrer ein

    und Kollegien einigen sich über das, was unterrichtet wird. Das Gesetz und ein verständlich formulierter,

    knapper Lehrplan, der sich auch an Schüler und Eltern wendet, geben den Rahmen vor.

    Diese Modernisierungsleistung hat Deutschland noch vor sich. Zur Eigenart dieser Modernisierung gehört, dass

    man sie nicht kopieren kann, aber der Blick auf andere erweitert unseren Möglichkeitssinn. Vielleicht infizieren

    wir uns sogar mit einer ansteckenden Gesundheit?

    Zum Beispiel im Tensta Gymnasium in Stockholm. Gymnasium heißt in Schweden die Oberstufe für die 16

    bis 19jährigen. Tensta ist eines der angesehensten Gymnasien, obwohl 80% der Schüler Migrantenkinder sind.

    Warum sagen sie Obwohl, fragen die Schweden zurück. Mit den Migranten kämen Probleme, ja, aber es entstehe

    viel Neues. In Schweden übrigens nennt man sie Neuschweden. Die Schule kooperiert in naturwissenschaftlichen

    Fächern mit der Universität. Da treffen die Neuschweden ständig international zusammengesetzte Teams. Wie in

    der Nussschale wird am Umgang mit den ausländischen Kindern das Gesamtproblem deutlich: Wir haben ja

    schon Schwierigkeiten mit den Wörtern. Sagen wir Ausländer, dann klingt es nicht so, als wollten wir

    Mitbürger ansprechen. Sagen wir Migranten, dann hört man, wie sich jemand politisch korrekt aus der Affäre

    zieht, sich aus der Umfangssprache stiehlt.

    Diese Misere beleuchtet eine weitere Studie über Schüler im internationalen Vergleich. In der kürzlich

    abgeschlossen, demnächst auf Deutsch veröffentlichten internationalen CIVIC Studie über politische Bildung

    sind unsere Schüler Weltmeister in Xenophobie, in der Angst vor Fremden und in der Ablehnung von Fremdem.

    Mit Pisa hat die Globalisierung in der Bildung begonnen. Nicht nur dass wir uns international vergleichen

    müssen, wir müssen uns entscheiden, ob wir die Fremden und das Fremde begrüßen, oder in ihnen immer nur

    ein im Grunde störendes Problem sehen wollen. Nutzen wir die Unterschiede zwischen den Menschen zur

    Steigerung von Individualität und Intelligenz oder wollen wir möglichst homogene Gruppen? Die Schule nimmt

    die Kinder nicht wie sie sind. Sie fragt hier zu Lande, sind die Schüler für die Schule geeignet und nicht, wie

    würde die geeignete Schule für die Kinder aussehen. Deutsche Lehrer unterrichten ja gewöhnlich ihre Fächer und

    nicht die Kinder oder die Jugendlichen.

    Und wenn heute Politiker endlich das Selbstverständliche entdecken, Deutschunterricht für die fremdsprachigen

    Kinder, und das möglichst früh, schon im Kindergarten, dann klingt das zuweilen, als müssten sie erst in den

    Sprachwaschgang einer chemischen Reinigung. Die Botschaft ist wiederum, ihr gehört nicht dazu. Und es ist die

    gleiche Botschaft, die auch ein großer Teil der Deutschen in der Schule erhält. Jürgen Baumert, Direktor am Max

    – Planck – Institut für Bildungsforschung und Chef der Pisa Studie sieht darin geradezu eine Obsession unserer

    Schulen. Er sagt: „Man muss immer, um den Klassenerhalt bangen und kämpfen, vor allem wenn man nicht zur

    Topgruppe gehört. Die Gefahr, dass man abgeschoben wird, ist einfach zu groß.“

    Deutschland hat mit seinen Schulen nach Pisa zwei große Probleme. Auf der einen Seite die Kränkung bei den

    Kompetenzen der 15jährigen im internationalen Vergleich abgeschlagen in der Nähe anderer Fußballnationen wie

    Mexiko und Brasilien zu rangieren. Man muss noch mal daran erinnern: fast jeder vierte 15jährige bringt es bei

    uns im Lesen nur auf Grundschuleniveau. In Mathematik und Naturwissenschaften sind die Leistungen noch

    schlechter. Auf der einen Seite also diese Schwäche. Auf der anderen Seite die Verstörung, dass unsere Bittere-

    Medizin-Schule gar nicht überlegen ist, dass die These „geschadet hat es uns nicht“ vielleicht eine Lüge ist, dass

    wir uns um etwas betrügen und wir ahnen, dass wir betrogen worden sind, wenn wir in Stockholm, Helsinki

    oder Toronto sehen, dass die Schule tatsächlich eine Verabredung zum Leben sein kann.

    Eine moderne Schule vertaut den Schülern, dass sie lernen und auch etwas leisten wollen. Sie kann auf die

    Strippen der Außensteuerung, wie Noten verzichten, weil es ihr gelingt die viel nachhaltigere Innensteuerung

    aufzubauen und sie mit Kooperation zu stützen. Man könnte natürlich mit Recht sagen, dass ist nichts als die

    Entdeckung des Selbstverständlichen. Vieles davon hat die Reformpädagogik seit Anfang des vergangenen

    Jahrhundert vorgemacht. Aber anders als früher, wo die Reformpädagogik vielleicht im Recht war, aber sich

    nicht durchsetzen konnte, hat sie heute eine historische Chance, weil sie die bessere Vorbereitung auf eine

    Wissensgesellschaft ist. Auch die Wertschöpfungsketten in der Wirtschaft verlangen inzwischen

    Wertschätzungsketten in der Bildung. Wenn es auch schwer fällt, der Übergang von einer Kultur des Misstrauens

    zu einer des Vertrauens steht an, auch und gerade in den Unternehmen, selbst wenn jetzt die Geschichten von

    absahnenden und Bilanzen fälschenden Vorständen auf den ersten Blick Gegenbeweise sind.

    Ein Blick zum Wendekreis der Pädagogik, zu Schulen in Finnland und Schweden sowie nach Kanada zeigt, wie

    das geht und dass es der Gesellschaft nützt.

    Während diese Länder in den vergangenen Jahrzehnten begonnen haben ihre Schulen umzubauen, haben sich die

    Deutschen, genauer die Westdeutschen, einen 30jährigen Bildungskrieg der Rechthaberei geliefert. Er ist

    erschöpft und überholt – wenn auch eine alte Politik jetzt im Wahlkampf auf der Suche nach den verlorenen

    Schlachtordnungen noch einmal Anleihen bei ihm nimmt.

    Aber – und dafür sind die Pisa Ergebnisse wohl die Quittung, am Ende dieses Glaubenskrieges sind manches

    Bildungslandschaften verwahrlost. Der philosophische Aphoristiker Peter Sloterdijk bringt es auf den Punkt:

    „Deutsche Schüler verlassen nach 13 Jahren die Schule, wie Landsknechte eine aufgelöste Armee.“ Und so

    definiert er, was Lernen tatsächlich ist: „Vorfreude auf sich selbst“.

    Aber geht das denn, Lernen als Vorfreude auf sich selbst, fragen immer noch mit tiefem Zweifel die Deutschen

    und zwar nicht nur die Freunde des Sitzenbleibenlassens und der Selektion.

    Wie tief diese Erbsünde in unserem Bewusstsein sitzt, zeigte sich im Herbst vergangenen Jahres, beim Besuch

    einer Delegation von Schulräten und Bildungsplanern, aus der Reformfraktion in Schweden. Die Pisa Ergebnisse

    waren noch nicht veröffentlicht. Der Besuch sollte klären, warum die schwedischen Oberstufenschüler in einem

    anderen internationalen Vergleich, der Mathematik und Naturwissenschaftsstudie TIMS, an der Weltspitze

    stehen. Immer wieder wurden die Schweden von den Deutschen gefragt, wie kommen sie zu diesen

    Spitzenleistungen, obwohl sie keine Leistungsdifferenzierung in der gemeinsamen neunjährigen Folkeskole

    machen? Was, so gute Leistungen, wurde ungläubig gefragt, obgleich es bis zur 8. Klasse keine Noten gibt? Erst

    recht Kopfschütteln beim Oberstufenvergleich selbst, wo doch schwedische Schulen alles daran setzen, nach der

    9. Klasse möglichst alle aufs Gymnasium zu bringen. Tatsächlich schaffen das mehr als 90% eines Jahrgangs.

    Mehr als 70% des Geburtsjahrgangs erwirbt die Hochschulreife. 60% studiert. Irritationsresistent liefen die

    Fragen immer wieder auf dieses Obwohl hinaus. Kein Versuch mit dem Wörtchen weil.

    Die Deutschen scheinen sich im Zweifelsfall einig zu sein: es kann doch gar nicht sein, dass freiere und auf

    Gemeinschaft setzende Schulen auch noch die erfolgreicheren sind, dass gute Leistungen eher eine Echo auf

    Vertrauen als auf Misstrauen sind. Aber genau das ist die starke Lektion aus Skandinavien, Kanada und vielen

    anderen Ländern. „Du gehörst dazu“, ist dort die Grundbotschaft. „Du kannst mehr als du glaubst! Du bist ganz

    gut!“

    Eine noch nicht veröffentlichte Auswertung der internationalen PISA Ergebnisse, von der kürzlich Pirjo

    Linnakylä, die führende finnische PISA-Forscherin berichtete, zeigt erstaunliche kognitive Überlegenheit in den

    angelsäsischen und skandinavischen Kulturen. Das Geheimnis dieser Kultur nennt sie: ”Argumentation und

    gegenseitige Anerkennung”.

     

     

    Die Macht der Vorurteile bremst

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    Freiburg: Die Macht der Vorurteile bremst die Reformen - Badische-Zeitung.de

    28. Januar 2009

    Die Macht der Vorurteile bremst die Reformen
    Einer wunderbaren Stuhlvermehrung hätte es am Montagabend bedurft, um allen Interessenten Einlass ins BZ-Haus zu gewähren, die sich mit Reinhard Kahl auf die Suche nach der Schule mit Zukunft begeben wollten. Der Andrang von vorwiegend jungen Leuten, darunter viele angehende Lehrerinnen und Lehrer von Pädagogischer Hochschule (PH) und Universität, mag als Indiz für den Bekanntheitsgrad des Dokumentarfilmers ("Treibhäuser der Zukunft") gelten. Seit Jahren wirbt er mit Optimismus für eine Schule, die "Lust auf Welt" macht und vertraut dabei auf die "Infektionskraft" seiner Bilder. So auch an diesem Abend. Neben den Worten ließ er vor allem Filmausschnitte sprechen. Schließlich gibt es bereits genügend Beispiele von Schulen, die eingetretene Pfade verlassen haben und eine andere "Choreografie des Lernens" praktizieren: Enja Riegels Helene-LangeSchule in Wiesbaden, die ebenfalls mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnete Dortmunder Grundschule "Kleine Kielstraße", die Häuser des Lernens im Schweizer Kanton Thurgau. Was tun sie, dass ihre Schülerinnen und Schüler "nicht in die Schule gehen wie zum Zahnarzt", sondern "das Lernen als Projekt des eigenen Lebens" entdecken? Respekt und Vertrauen, Fehler machen dürfen und lernen, Probleme zu lösen statt mit Wissen voll gestopft werden, Teamfähigkeit der Lernbegleiter, maßgeschneiderte Angebote für jedes Kind sind Stichworte, die nur ansatzweise umschreiben können, was allen diesen Schulen gemeinsam ist. Wobei Schule, wie Reinhard Kahl selbst sie in seiner Jugend erlebt haben mag, als negative Bezugsgröße heute längst nicht mehr taugt, wie BZ-Redakteurin Petra Kistler als Moderatorin zu bedenken gab. "Es hat sich viel getan. Viele haben sich auf den Weg gemacht." Dennoch macht der bekennende Alt-68er Reinhard Kahl noch viel zu viele aus, die "zu ängstlich, zu kleingläubig" sind und ihr Nichthandeln mit System- und Strukturmängeln, falscher Bildungspolitik und mangelnden Ressourcen begründen. "Alles Ausflüchte", findet er. "Wenn man wirklich etwas will, gibt es niemanden, der einen bremsen kann." Es sei vor allem die "Macht der Vorurteile", die solchen Schulen im Weg stünden. PH-Professor Albrecht Holzbrecher, der den Abend mit veranstaltete, kennt die Zweifel der Eltern gegenüber manchen reformpädagogischen Bemühungen: Ist das auch richtiges Lernen, wenn wochenlang Theater gespielt statt Mathe gepaukt wird? Reinhard Kahl räumte ein, dass nicht alle Versuche gelingen und der Mut zum Risiko das Risiko des Scheiterns einschließt.

    http://www.badische-zeitung.de/die-macht-der-vorurteile-bremst-die-reformen

    31.01.2009