DIE WELT Kinder sind geniale Neuanfänger

Kinder sind genialeNeuanfänger

 

von ReinhardKahl, Journalist und Filmemacher

25.08.2009 – 14.20 Uhr

Kinder sind genialeUnterbrecher und Neuanfänger. Und genau dies fehlt der Gesellschaft insgesamt.Wo ist die Unruhe im Uhrwerk? Unterbrechen und Neuanfangen ist ebenso wichtigwie das Weitermachen.

Albert Einsteins Antwort aufdie Frage, wie er sich seine Erfolge erkläre, war ganz einfach. „Weil ich immerdas ewige Kind geblieben bin.“ Es versteht sich, dass dieses ewige Kind nichtsmit Infantilität oder irgendeinem Mangel an Erwachsensein zu tun hat.Vielleicht sollten wir uns Erziehung und den Prozess des Erwachsenwerdens vielmehr auch als Schutz dieses Kerns, des ewigen Kindes vorstellen. EineSelbstverständlichkeit? Ja, aber eine, die in der Industriegesellschaft anSelbstverständlichkeit verloren hat.

Ging es nicht in den vergangen150 Jahren vor allem darum, keine Fehler zu machen, möglichst immer schonfertig zu sein, selbst beim Lernen? Von diesen Obsessionen der fertigen Weltmüssen wir uns heute im Übergang zu einer nachindustriellen Gesellschaft lösen.Erfindungsreichtum, Staunen und Neugier rücken an die Spitze derErziehungsziele und der Gesellschaftstugenden. Dabei müssen diese Eigenschaftendes ewigen Kindes nicht erst erzogen werden. Sie sind ja da! Allen voran dieLernlust und die Neugier. Wir brauchen eine Kultur, die auf die Abtreibungdieses ewigen Kindes, des Lerngenies, verzichtet – nicht nur der Kinder wegen.

Immer mehr Menschen kennenkeine Kinder mehr

Immer mehr Menschen erschreckendarüber, dass sie gar keine Kinder mehr kennen. Viele Menschen wollen liebervon der ungestümen Energie und dem unersättlichen Fragen der nervenden Kleinenverschont bleiben. Vor allem diese aber bräuchten Kinder, von denen sie insLeben hineingezogen werden. Kinder sind geniale Unterbrecher und Neuanfänger.Und genau dies fehlt der Gesellschaft insgesamt. Wo ist die Unruhe im Uhrwerk?Unterbrechen und Neuanfangen ist ebenso wichtig wie das Weitermachen, dessenGefährdung heute alle Welt beunruhigt. Neuanfänge und Kontinuität kann man sowenig gegeneinander ausspielen wie den Plus- gegen den Minuspol oder wie dieVergangenheit gegen die Zukunft.

Kinder sind Zukunft in einemdoppelten Sinne. Sie sind nicht nur eine Zukunft, die brav in die Fußstapfender Vergangenheit tritt, eine, über die man genaue Aussagen machen kann. Kindersind eine Zukunft, die wir nicht kennen und die wir überwiegend niemals kennenlernen können, weil ja die meisten Möglichkeiten, die die Zukunft bereithält,nie verwirklicht werden. Der Sinn für eine offene, unendliche Zukunft, fürKontingenz und Unverfügbarkeit ist in Deutschland schwach. So schwach wie einfreundlicher, neugieriger, ja liebevoller Blick auf Kinder.

Der Hamburger Autor wurde unter anderem mit dem Grimme Preis unddem Civis Preis ausgezeichnet. Zuletzt produzierte er die Kinodokumentation„Kinder! – Über das Lerngenie“.