Tempo, Tempo ZEIT online 2

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DIE ZEIT
Tempo, Tempo?
Oder wie man Zeit gewinnt. Ein Plädoyer für das langsame Lernen, für Intensität statt Fülle

Von Reinhard Kahl „Wir brauchen mehr Tempo auf Deutschlands Ausbildungswegen. Wir müssen um Jahre schneller werden!“ Das sagte vor ein paar Tagen Annette Schavan. Was folgt aus dieser Feststellung der Bundesministerin für Bildung und Forschung? Studiert schneller, liebe Studenten, beeilt euch, ihr Schüler und Lehrer, redet schneller? Nähern wir uns dem vertrackten Thema Zeit ganz langsam und auf Umwegen. Wir starten am Tag nach Neujahr in Norderstedt am Rande von Hamburg. In den Weihnachtsferien kamen jeden Morgen 28 Kinder in ein Freizeitheim zum Forschercamp. Das jüngste Mädchen war vier, der älteste Junge elf Jahre alt. Eine Woche lang beschäftigten sie sich mit nur einem Thema, der Elektrizität. Als sie morgens kamen, war es noch dunkel. Als die Eltern sie abholten, dämmerte es schon wieder, und viele Kinder wollten einfach nicht nach Hause. Sie wollten Müttern und Vätern erst noch zeigen, was sie alles herausgefunden hatten. Am Ende dieser ungewöhnlichen Ferien flossen Tränen. Eingeladen hatte das Team „Kinder entdecken Naturwissenschaften“ um die Erziehungswissenschaftlerin Anja Gottwald. Dazu gehören ein Umweltingenieur, eine Biologin, ein Tischlermeister und ein Student – alle naturwissenschaftlich versiert und, was wichtiger ist, begeistert. Die Kinder haben mit den Erwachsenen den ganzen Tag experimentiert, diskutiert, gebaut und gegrübelt. Zwischendrin gingen die Kinder in den Toberaum, halfen bei der Essensvorbereitung oder verzogen sich in Ruhe in die Kinderbibliothek. Sie kamen dahinter, warum ,,sich das Minus zum Plus verwandeln will.“ Sie haben herausgefunden, warum der Glühfaden sofort durchbrennt, wenn man das Glas drum herum kaputt macht. Sie haben große Leuchttürme und eine Drahtseilbahn gebaut und sich gegenseitig Vorträge über Edison oder Graf von Volta gehalten. Auf die Idee zu den Vorträgen kam der achtjährige Lukas: „Das kann ich in den Weihnachtsferien vorbereiten, das geht mit Wikipedia“, meinte er, als er im Dezember vom Forschercamp erfuhr. Wir haben das Tag für Tag gefilmt. Es wird ein Film über das Lerngenie der Kinder. Wir haben das Privileg, ohne Zeitdruck zu drehen – wie einen Tierfilm über Menschen. Insofern waren das Kamerateam, die Kinder und die unpädagogische Pädagogen in den Forscherferien miteinander verwandt. Wir hatten Zeit. Niemand war auf dem Sprung. Alle haben sich in dieser Woche mit Konzentration und Begeisterung angesteckt. Keiner wusste am Ende, war das nun ein Monat oder ein Tag, und niemand hat daran gezweifelt, dass die Kinder in diesen Tagen mehr über Elektrizität gelernt haben, und das auch wirklich verinnerlicht haben, als die meisten Menschen in ihrer ganzen Schulzeit. In der Woche darauf sind wir nach Fulda gefahren. In Hessen waren die Weihnachtsferien besonders lang. In der dortigen Kinderakademie haben Kinder eine Woche von morgens bis abends Mathematik gemacht. Thema war das Pascalsche Dreieck. Wieder erlebten wir diese Mischung aus Theorie, freier Arbeit und dem langsamen Entstehen von Produkten. Die Kinder waren zunächst nur der Schönheit und der Ordnung der Mathematik auf der Spur. Am Ende bauten sie kleine Rechenmaschinen. Man könnte diese Tage in Norderstedt und in Fulda als die gelungensten Beispiele von Tempo und Zeitgewinn ansehen, wenn man sie nur vom Ergebnis her betrachtet. Sie sind allerdings das denkbar größte Gegenteil von Beschleunigung, wenn man sich den Ablauf und die Stimmung dieser Tage ansieht. Jean Jacques Rousseau hatte bereits vor 250 Jahren diese Paradoxie elegant formuliert: ,,Wenn du Zeit gewinnen willst, musst du Zeit verlieren.“