PS 12 Pisa, System & die Debatte

PÄDAGOGIK – P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

Pisa, das zerklüftete System und die unmögliche Debatte

Nicht so leicht, diese Dezember-Kolumne. Pisa steht vor der Tür und geschrieben wird Anfang November. Nach etwas Grübeln riskiere ich einen Text, der vor dem 7. 12. interessant und danach hoffentlich nicht überholt sein soll. Wer darauf besteht, dass nur gelingen kann, was auch schief gehen darf, ist dieses Experiment schuldig. Also: Am 7. Dezember werden die Ergebnisse der zweiten internationalen Pisa-Studie beschert. Diesmal sind mehr als 40 Länder im Vergleich.

Nehmen wir an, nur die Kinder der vom Pisa-Schock heftig irritierten deutschen Mittelschichten haben sich leicht verbessert, aber die Wirksamkeit der Schulen hat keinen erkennbaren Fortschritt gemacht. Nehmen wir an, Pisa bescheinigt erneut, dass unsere Schulen fast ein Viertel der Schüler in eine neue Unterschicht von Bildungsarmen entlassen. Und die Schere zwischen Schulen mit besseren und mit schlechteren Ergebnissen schließt sich hierzulande nicht, während es Länder gibt, bei denen dieser Abstand ohnehin geringer ist und weiter verringert wird. Nehmen wir ferner an, es mangelt unseren Schülern an Zusammenarbeit und Freude am Lernen. Und was, wenn sich sogar beweisen lässt, dass die Jugendlichen viel mehr Potential haben, als die Schule herausfordert? Noch die letzte Annahme, dass es den erfolgreichen »Bildungsnationen« gelingt, ihre Schulen langsam in autonome, »lernende Organisationen« zu entlassen, in denen sich Leistungen und Lernfreunde der Schüler verbessern.

Debatte?

Es wird einige geben, die werden argumentieren, zwischen dem Pisa-Schock im Dezember 2001 und dem Test im Mai 2003 konnte sich doch gar nicht viel tun. Und es gäbe doch positive Anzeichen. Ergo, sagen sie, sind wir auf dem richtigen Weg. Das könnte der Kammerton der KMK sein. Einige rot-grüne Politiker werden das Ende des Tabus verkünden. Sie stellen das selektive Schulsystem zur Debatte. Eine Reaktion darauf wird die Fixierung auf den Ländervergleich Pisa-E sein, der aber erst im Sommer 2005 kommt. Und was, wenn dann auch wieder Baden-Württemberg und Bayern besser als Bremen und NRW sind? Überall, wo das Gymnasium das höchste Ziel ist, und mehr haben auch die Sozialdemokraten nicht zu bieten, wird die Verelendung der niederen Schülerkasten in Kauf genommen. Geht die Mehrheit der Kinder in höhere Schulen, wächst die Zahl derer, die bei nicht ganz glatten Leistungen das Urteil fürchten müssen, ihr seid die falschen Schüler auf der richtigen Schule. Der vermeintliche Erfolg, viele aufs Gymnasium gebracht zu haben, treibt die neurotisierende Seite unseres System an. Ich mache diesen Exkurs, um zu begründen, warum in den Südstaaten, wo das gegliederte System weniger stark zerklüftet ist und verteidigt wird, eher wieder bessere Ergebnisse erwartet werden können. Aber wie soll die Öffentlichkeit diesen verwickelten Prozess verstehen? Wie bekommen wir endlich eine aufgeklärte und nicht mehr so ressentimentgeladene Debatte über die Schulen?

Debatte!!

So verhängnisvoll unser selektives System ist, so fragwürdig scheint es mir, seine Kritik und Abschaffung jetzt ganz oben auf die Tagesordnung zu setzen. Ich fürchte, dass wir dann binnen kurzem nur die große Statik des Makrosystems in einer technischen Weise diskutieren und dabei den Nerv des Themas abermals töten.

Ich glaube, andere Themen müssten die öffentliche Debatte anstacheln. Zum Beispiel, warum gehen in Deutschland viele Kinder zur Schule wie zum Zahnarzt? Warum wollen bei uns viele Jugendliche, wenn sie die Schule verlassen haben, mit Mathematik oder Literatur nie wieder etwas zu tun haben? Warum sehen wir in Ausgaben für Bildung immer noch eher Kosten als Investitionen in unsere Zukunft? Warum sind Schulen nicht die schönsten Häuser? Warum ist es nicht unser Ehrgeiz, dass die Besten Lehrer werden? Wie kann es sein, dass die Intelligenz der Schüler steigt, aber ihre Schulleistungen sinken?

Auf die Fragen von Organisation und Struktur kommt man dabei sowieso. Meine Befürchtung ist, wir könnten in der bekannten Art des deutschen Bildungskrieges bei den Organisations- und Strukturfragen schon enden und mit ihnen untergehen, bevor wir richtig angefangen haben. Damit jetzt wirklich was passiert, dürfen wir diese Debatte nicht der großen Politik und den Leitartiklern in den Medien überlassen. Wir brauchen eine etwas andere »Polytik« mit vielen Anfängen. Auch das ist ja eine Falle der System- und Strukturdebatte über das gegliederte Schulsystem, dass es die Illusion fördert, es komme auf zentrale Stellschrauben an. So suspensiert man sich vom Handeln.

Handeln!!!

Wir brauchen jetzt ein großes Brainstorming über Lernen und Bildung. Schulen müssen sich die Freiheit nehmen, das zu machen, was sie für richtig halten und verantworten können. Wir brauchen eine große Bürgerinitiative, viele Menschen, die Zeit, Ideen und Geld investieren. Schulen müssen die Zukunftswerkstätten einer Wissens- oder »Ideengesellschaft« werden, wie der Bundespräsident ganz richtig sagt.

P. S.

Georg Bernhard Shaw hat es in seiner Weise auf den Punkt gebracht. »Man gibt immer den Verhältnissen die Schuld für das, was man ist. Ich glaube nicht an die Verhältnisse. Diejenigen, die in der Welt vorankommen, gehen hin und suchen sich die Verhältnisse, die sie wollen, und wenn sie die nicht finden können, schaffen sie die selbst.«

P.P.S.

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de