DIE ZEIT Leitstern am Lehrerhimmel

DIE ZEIT


37/2004 

Leitstern am Lehrerhimmel

Neue Schulen brauchen eine andere Führung. Der alte »Direx« hat ausgedient. Gefragt sind jetzt Ideengeber und Motivatoren

Als in Brandenburg die letzte Ferienwoche anbrach, lud Kultusminister Steffen Reiche zu einem denkwürdigen Treffen. Er bat die fast tausend Schulleiter seines Bundeslandes nach Berlin, um sie dort auf das neue Schuljahr einzuschwören. »90 Prozent des Erfolgs Ihrer Schulen«, feuerte der Minister seine Gäste an, »hängen von Ihnen ab.« Nun wäre es zwar fatal, wenn Lehrer und Schüler nur zu zehn Prozent am Lernerfolg beteiligt wären, dennoch enthält die ministerielle Übertreibung einen wahren Kern. Allmählich sehen die Bildungspolitiker ein, dass es beim notwendigen Veränderungsprozess in deutschen Schulen nicht auf ministerielle Blaupausen ankommt, sondern vor allem auf das Personal vor Ort – und dabei fällt den Direktoren der wichtigste Part zu. Illustration: Caroline Ronnefeldt für DIE ZEIT www.caroline-ronnefeldt.de

»Man kann die Rolle der Schulleiter kaum überschätzen«, sagt Jürgen Baumert vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Er hat die Wirkung der Männer und Frauen an der Schulspitze schon untersucht, lange bevor er die Federführung der ersten Pisa-Studie übernahm. Nun beginnt sich seine Erkenntnis allmählich in allen Kultusministerien durchzusetzen.

So hat Margret Ruep, Präsidentin des Oberschulamtes in Tübingen und Vertraute der baden-württembergischen Kultusministerin Annette Schavan, ein Buch über die Lernende Organisation Schulverwaltung verfasst. Darin bezeichnet sie Schulleiter als »die wichtigsten Gelingensfaktoren« für den Reformprozess. Sie müssten in ihrer Schule »Dialoge in Gang bringen«, Hierarchien schleifen und Orientierung bieten. Die Leiter seien für die Schule nach außen verantwortlich und müssten im Inneren die Lehrer für die Leistungen ihrer Schüler verantwortlich machen. Damit fordert Margret Ruep nichts anderes als die Einführung des Prinzips der Rechenschaftspflicht – etwas, das in jedem Wirtschaftsunternehmen selbstverständlich ist.

Bislang war es allerdings mit dem Gestaltungsspielraum deutscher Schulvorsteher nicht weit her. Sie durften weder neues Personal einstellen noch altes entlassen, ja sie konnten noch nicht einmal gute Lehrer mit einer Gehaltserhöhung oder Beförderung belohnen und schlechte abmahnen. In kaum einem anderen Industrieland, das zeigt eine Erhebung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), haben Schulleiter so wenig Einfluss auf Belegschaft, Gehälter und Budget wie in Deutschland. Bildungsbehörden versorgten die Schulen mit neuen Lehrern wie mit Tafeln oder Radiergummis. Dass ein Schulleiter sich einen neuen Kollegen vorher anschauen durfte, war nicht vorgesehen. Warum auch? Nach der Verwaltungslogik tragen ja alle Kandidaten das Gütesiegel des staatlich geprüften Beamten und sind gleich geeignet.

Das führte zu einer »Lebenslüge« in deutschen Lehrerzimmern, wie die Hamburger Schulleiterin Nele Degenhardt klagt. Schwächen bei Lehrern zu benennen galt als Tabu. Über tatsächliche Probleme werde im Lehrerzimmer nur getuschelt wie über Familiengeheimnisse, sagt Degenhardt. Das belegt auch die Grundschulstudie Iglu. Als in deren Rahmen die deutschen Lehrer nach den Gründen für schlechte Ergebnisse ihrer Schüler befragt wurden, fiel ihnen alles Mögliche ein – vom schlechten Einfluss der Eltern bis zum Fernsehprogramm –, nur nicht eventuelle eigene Versäumnisse. Mögliche Mängel in der Lehrerarbeit rangierten in der Befragung an letzter Stelle. Ein Klima konstruktiver Kritik entsteht so nicht.

Um dies zu ändern, sind nun fast alle Bundesländer dabei, die Rolle der Schulleiter aufzuwerten. »Es gibt eine Tendenz, die Verantwortung dorthin zu geben, wo sie hingehört: in die Hände der Schulleitungen«, sagt Peter Zimmermann, stellvertretender Vorsitzender der Bundes-Direktoren-Vereinigung und Leiter des Gymnasiums am Kaiserdom in Speyer. Noch ist der Kompetenz-Zuwachs bescheiden. Doch zumindest dürfen die Schulleiter in Rheinland-Pfalz inzwischen bei so genannten schulscharfen Einstellungen, in denen für eine freie Stelle ein ganz bestimmter Lehrer gesucht wird, über die Bewerber entscheiden. Und in den Gymnasien hat bei den meisten Beförderungen zum Oberstudienrat der Schulleiter das letzte Wort. Ist jedoch eine so genannte Funktionsstelle zu besetzen, etwa die Koordination der Oberstufe, hat der Direktor nur eine beratende Stimme – obwohl es sich um eine zentrale Position an seiner Schule handelt.

In Berlin sind die Schulleiter seit kurzem offiziell »Dienstvorgesetzte« für alle Lehrer ihrer Schule. Bisher war dies die Behörde. Nun trägt der Schulleiter die volle pädagogische Gesamtverantwortung und schreibt regelmäßig Beurteilungen seiner Mitarbeiter. »Jetzt kann ich einen Kollegen auch einmal ganz offiziell loben«, freut sich der Leiter des Berliner Beethoven-Gymnasiums, Wolfgang Harnischfeger.

Freilich ist diese offensive Rolle des Schulleiters gewöhnungsbedürftig. »Wer hat schon gern einen Chef?«, fragt skeptisch der Erdkundelehrer York Zebuhr vom Beethoven-Gymnasium. Bisher sei die Arbeit zwischen Lehrern und Direktor von Kollegialität geprägt gewesen. Niemand musste Angst haben, Kritik zu üben. Das, so fürchtet Zebuhr, könne sich nun ändern. Schulleiter Harnischfeger sieht die neue Regelung dagegen positiv: »Mit den Lehrern ist es wie mit Delfinen – wenn man sie bestrafen will, dann tauchen sie ab. Aber sie können ungeheure Kunststücke vollbringen, wenn man sie streichelt.«

Nicht jeder gute Lehrer weiß auch, wie man eine Schule managt

Wie aber erwirbt man sich als Schulleiter solche Fähigkeiten der Personalführung? Lange Zeit meinte man, Schulleiter hätten keine besondere Ausbildung nötig. Vielerorts wurden diese Posten nur nach pädagogischer Begabung und Dienstalter verteilt, ganz so, als ob ein guter Lehrer, der es lange genug in einer Schule ausgehalten hat, automatisch auch weiß, wie man eine Schule managt. Heute bieten verschiedene Bundesländer wie Bayern, Baden-Württemberg oder Hessen eigene Seminare und Übungen zu Personalführung, Schulrecht oder Schulentwicklung an, in denen sich Schulleiter auf freiwilliger Basis weiterbilden können. Auch Universitäten wie Kaiserslautern, Kassel oder Hagen bieten Kurse an – meist im Fernstudium –, welche die angehenden Schulmanager jedoch selbst bezahlen müssen. Einen anderen Weg geht Niedersachsen. Vom kommenden Herbst an können neue Schulleiter einen erfahrenen Kollegen für die erste Zeit als Coach an die Seite gestellt bekommen.

Inzwischen erscheint sogar ein eigenes Journal namens Pädagogische Führung. Dabei war der Begriff »Führung« in vielen Schulen lange tabu. Der Schuldirektor wurde nur gebraucht, wenn ein Lehrer mit einem Schüler nicht mehr fertig wurde. Dann wurde dem Unverbesserlichen gedroht, ihn zum »Direx« zu schicken. Im Übrigen war es für Leute, die sich als verbeamtete Freiberufler verstehen, Ehrensache, niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Schulleiter agierten bestenfalls als Moderatoren im Kollegium. Konferenzen leiteten sie selten selbst, sondern überließen dies den Kollegen. Diese sollten das Gefühl haben, an allen Entscheidungen mitzuwirken.

Um das heikle Wort »Führung« zu vermeiden, wurde sogar versuchsweise von Leadership in den Schulen gesprochen. Doch mittlerweile bekennt man sich wieder zu dem Begriff. »Führung heißt doch nicht befehlen«, stellt Erika Risse klar, die das Elsa-Brändström-Gymnasium in Oberhausen leitet und die Pädagogische Führung mit herausgibt. Zwar gibt sie zu: »Wir haben eine Zeit lang diskutiert, ob wir die Zeitschrift nicht umbenennen.« Doch dann blieb es bewusst bei dem irritierenden Namen.

»Es geht nicht darum, dass wir Schulleitern definieren, was richtig ist«, erklärt Risse. Aber fast alle Schulen hätten in den vergangenen Jahren Leitbilder aufgestellt und ihre Ziele in Schulprogramme geschrieben. Nun müsse das Gewollte auch durchgeführt werden – und da müsse sie als Schulleiterin eben drängen und manchmal vorangehen. Mitherausgeber Rainer Brockmeyer, der vor Jahren die Denkschrift Haus des Lernens verfasste und die Bertelsmann Stiftung berät, ergänzt: »Eine Idee muss von einer Person verkörpert werden.« Und gute Schulleiter seien Kristallisationspunkte von Veränderung.

Die erfolgreiche Rektorin versteht sich als Menschensammlerin

Das wohl bekannteste Beispiel für diesen neuen Typus ist Enja Riegel, die 20 Jahre lang die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden führte. Diese Reformschule wurde durch ihre überragenden Ergebnisse beim Pisa-Test berühmt – ihre Schüler hatten mehr als ein Jahr Vorsprung gegenüber denen anderer Schulen. Nun beschreibt Enja Riegel, die mittlerweile pensioniert ist, ihre Erfolgsstrategie in dem Buch Schule kann gelingen (S. Fischer). Demnach leitete Riegel ihre Schule wie eine Menschensammlerin. Traf sie jemanden, der durch pädagogische Arbeit überzeugte, fragte sie stets an, ob der- oder diejenige nicht Interesse hätte, irgendwann an der Helene-Lange-Schule zu unterrichten. Auch gute Referendare und Praktikanten, interessante Künstler oder Regisseure kamen in Riegels Talentkartei. Da sie als Schulleiterin normalerweise darauf warten musste, dass ihr ein Lehrer zugeteilt wurde, brauchte sie einen langen Atem. Es dauerte manchmal Jahre, bis sie beim Schulamt einen Bedarf anmelden konnte, auf den jemand aus der Kartei passte.

In der Arbeit mit Schülern und Lehrern lautete Riegels oberstes Prinzip: »Nicht wegsehen.« Sie ließ Wände einreißen und sorgte dafür, dass Schüler während der Pubertät außerschulische, reale Erfahrungen machten. Auch die Lehrer der Helene-Lange-Schule wurden zur Selbstständigkeit ermutigt und zum Teamunterricht. Das fördert nicht nur den Austausch innerhalb des Kollegiums, sondern bringt auch Stärken und Schwächen zum Vorschein – was in Wiesbaden konstruktiv genutzt wurde. So erweiterten alle ihre Kompetenzen (auch die Schulleiterin) und legten den Grundstein zum Erfolg.

Ulrike Kegler, Leiterin der staatlichen Montessori-Gesamtschule in Potsdam, litt lange unter der »Infantilität der Kollegen«, wie sie sagt. Oft werde in Lehrerzimmern nur verächtlich über Schüler gesprochen, auf die jede Schuld abgewälzt werde. Auch auf Konferenzen der Rektoren und Direktoren hörte Kegler immer wieder die Frage: Wer hat Schuld? Konstruktive Debatten darüber, was die Schulen selbst für ihren Erfolg tun könnten, erlebte sie selten.

Mittlerweile hat sie an ihrer Potsdamer Schule kräftig »Klimapolitik« betrieben, wie sie das nennt. In ihrem Lehrerzimmer ist es zum Beispiel verboten, verächtlich über Schüler zu sprechen. Lehrer, die sich dem nicht anpassen wollten, haben die Schule verlassen. Dafür hält Ulrike Kegler, ähnlich wie Enja Riegel, ständig nach Kollegen Ausschau, die in die Schule passen. Manchmal, sagt die Schulleiterin, müssten die Lehrer regelrecht aus ihren Verstecken herausgelockt werden. Der Erfolg gibt ihr Recht. Die Montessori-Gesamtschule hat den Innovationspreis für Schulen in Brandenburg erhalten und steht bei den erstmals in diesem Bundesland durchgeführten Vergleichsarbeiten zum Abschluss der zehnten Klasse in ihrem Bezirk an der Spitze.

Buchtipp: Armin Lohmann, Dorothea Minderop: Führungsverantwortung der Schulleitung Luchterhand 2004, Euro 21,90