Greenpeace für die Bildung / NDR / Gedanken…

Gedanken zur Zeit /   7.  Februar 2004

 

GREENPAEACE FÜR DIE BILDUNG

 

Von Reinhard Kahl

 

Der Unterschied zwischen Schulen, die gelingen und anderen, in denen Grundlegendes nicht stimmt, lässt sich mit einem einfachen Test bestimmen. Wie wird der Satz betont, der ganz neutral ausgesprochen heißt: „Auf  Euch haben wir gewartet.“ Klingt es – „Hey, kommt her, wir machen hier was Tolles. Auf  Euch haben wir gewartet.“ Das hört man in Finnland, aber auch in guten Schulen Nordamerikas. Oder ertönt ein misanthropische Sound „Auf Euch haben wir gerade noch gewartet. Ihr werdet noch euer blaues Wunder erleben. Mich wundert schon gar nichts mehr.“ Letzterer Tonfall kommt uns bekannt vor. Gewiss, auch wir haben Schulen, in denen es von Anfang an selbstverständliche ist, dass die nächste Generation willkommen ist, dass jeder anders ist, anders sein darf und dass das interessant ist. Aber man muss zugeben, der Normalfall ist so eine Begrüßung in Deutschland nicht, weder in der Schule, noch in der Hochschule, wo in manchen Fächern Studienanfänger zu hören bekommen, die meisten von ihnen gehören gar nicht hierher. Tatsächlich haben wir in Deutschland im internationalen Vergleich eine niedrige Quote von Studienanfängern und eine sehr hohe Quote von Studienabbrechern. Das ist nicht rein fachlich zu erklären. Es liegt an einem Mangel, Menschen, so wie sie sind anzuerkennen, ja zu mögen und ihnen etwas zuzutrauen. Heimlich misstrauen wir Deutsche der – wie Soziologen sagen – Inklusion, dem Einschluss, deren Botschaft heißt: Jeder gehört dazu, keiner soll verloren gehen, ihr werdet gebraucht. Das scheint uns nicht der rechte Ansporn für Leistungen zu sein.

Wir glauben eher an Exklusion, an ein ständisches Einteilen der Ähnlichen und an den Ausschluss der angebliche Ungeeigneten. Man hat Angst vor Mischungen. Wie kommt es, dass in Deutschland der Anteil von Sonderschülern international mit am höchsten ist? Fast 5%, während in Finnland Sonderschulen abgeschafft werden. Dort allerdings kümmern sich in jeder Schule Sonderlehrer, Psychologen und Kuratoren um Kinder mit Schwierigkeiten. Dort studieren übrigens 72% eines Jahrgangs, Sie haben sich nicht verhört, 72%.

Neuerdings- man höre und staune – ist in Deutschland wieder Elite angesagt. Aber keine Elite, die sich herausbilden soll, für deren Entstehen also ein Klima zu schaffen ist, das möglichst viele Spitzenleitungen hervor bringt. Dazu gehörte das Eingeständnis, dass man vorab nicht wissen kann, was eine Spitzenleitung ist, oder gar eine Innovation sein wird. Das wäre eine sich nachträglich erweisende Elite. In Deutschland setzt man wieder auf eine Elite, die man schon kennt, die sich bewerben soll, um von oben beglaubigt zu werden – siehe die aktuelle Hochschuldebatte.

 

Bleiben wir erst noch bei den Schulen und dem deutschen Geiz mit dem Versprechen von Zugehörigkeit, dem Knausern mit der Anerkennung von Verschiedenheit und einer häufig gereizten Stimmung zwischen den Generationen. Hier zu lande glaubt man nicht, dass ein Vorschuss an Vertrauen menschlich gut und zugleich leistungssteigernd sowie kulturell aufbauend ist.  

Ein Irrtum.

Denn das ist nun bei jeder Schulstudie immer wieder der Befund: eine hohes Maß an Anerkennung und an Verantwortung, das die Erwachsenen für Kinder und Jugendliche aufbringen, ist ein verlässliche Prognose für deren gutes Abschneiden. Gemessenen werden in den Studien ja Kompetenzen, kein eng gefasstes Schulwissen, das man sich schnell rein haut und nach der Klausur oder Klassenarbeit wieder los werden will. Auch das ist eine Pisa Lektion: Bulimie – Lernen, ade!

Die Kompetenzen, die Studien wie Pisa, der internationale Test der 15jährigen oder die Grundschulestudie IGLU messen, umfassen das, was die neue Lehr-/Lernforschung intelligentes Wissen nennt, im Gegensatz zum trägen Wissen. Intelligentes Wissen ist solches, mit dem man etwas anfangen kann, ja das dazu einlädt, tätig zu werden. Man könnte sagen, es sind ungesättigte Wissensmoleküle, die auf Verbindungen mit anderen Wissensatomen aus sind. Dazu müssen sie etwas unvollkommen sein, keine in Folie verpackten perfekten Wissensbrocken, die tatsächlich wenig anschlussfähig sind. Und da haben wir gewissermaßen auf der Mikroebene des Wissen wieder diesen Unterschied:  Einladung in die Welt, an der man die gute Schule oder Hochschule erkennt, oder Abkapselung.

Wie kommen wir da raus. Wie überwinden wir in Deutschland diese immer noch feindliche Atmosphäre in der Bildung? Anders als in anderen Ländern ist Bildung hier nicht das Gemeinschaftsfeld, sondern ein Hackbrett der Gesellschaft. Bildungspolitik ist der letzte Religionskrieg, der uns geblieben ist. Wie könnten wir Frieden schaffen, nicht bloß Waffenstillstand. Hier geht es um deutsche Wunden, nicht nur um bildungspolitische. Aber Bildung, besser das dahinter stehende Generationenverhältnis, offenbart die Geheimgrammatik der Gesellschaft und sie ist auch eine Sphäre, in der man auf die Grammatik des Ganzen den größten Einfluss hat.

 

 Wir brauchen eine Art Greenpeace für die Bildung.

 

Damit meine ich dreierlei. Erstens Frieden. Das betrifft das Verhältnis der Generationen. Zweitens Nachhaltigkeit, wie in der Ökologie. Sie betrifft die Wirksamkeit des Lernens. Und drittens NGOs, Nichtregierungsorganisationen, als neue Akteure.

Was Greenpeace für Natur und Umwelt war, wer könnte das für die Bildung sein?  

Die Zeichen dafür stehen gar nicht schlecht.

 

Neue, ungewöhnliche Bündnisse für Veränderungen in Schulen und Hochschulen bilden sich neben der Politiker-Politik. Was ist Politik? Die Verabredung  die gemeinsamen Dinge in Angriff zu nehmen. Diese Politik wandert aus ihren traditionellen Domänen, den Parteien und  Parlamente aus.

Ein Beispiel. Ausgerechnet aus der Wirtschaft kommen heute die interessantesten sogar mutigsten Ideen zur Veränderung in Schulen. Etwa aus dem Handwerk.  

Die genaueste Kritik führte in der letzten Zeit der Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Hamburg, Jürgen Hogeforster. Statt Selbstbewusstsein, sagt er, verbreiteten unsere Schulen ein Gift, das alle schwächt. Für viele Schüler laute die Botschaft: „Du bist umsonst geboren, die Gesellschaft kann dich nicht gebrauchen.“ Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch schon der Handwerkstag Baden-Württemberg und verlangt für Deutschland  eine Schule nach skandinavischem Vorbild: Alle Schüler bleiben 9 Jahre zusammen. War man vom Handwerk in Sachen Bildung bisher gewohnt, dass Rechtschreibung, Dreisatz und saubere Fingernägel verlangt wurden, so argumentiert Bildungsmanifest des Handwerks aus dem Südwesten: „Das Konzept ,Belehrung‘ darf nicht länger im Mittelpunkt stehen. Es ist das Unterrichtsprinzip des auslaufenden Industriezeitalters“. Verlangt wird eine andere Kultur, eine in der man zum Beispiel Fehler machen darf. Das Kernproblem in Deutschland sei, dass der Lernprozess nicht den individuellen Entwicklungsstand der Schüler im Blick habe. Schlechter Unterricht werde vom selektiven System geschützt, denn es entlasse die Schule aus der Verantwortung, sich um schwierige und abweichende Schüler zu kümmern.  Das Ergebnis, so der Hamburger Hogeforster: „Die Fülle negativer Erfahrungen saugt vielen Schülern die Kraft ab.“

Dass die neurotisierende Wirkung der deutschen Schulen von der Wirtschaft angeklagt wird, ist ein Zeichen für das Neumischen der Karten im Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Das deutsche System mit seinen Erniedrigungen und Beschämungen, brachte der Industrie und dem Handwerk ja mal Vorteile. Wem in der Schule gesagt wurde, du bist nichts, aus dir wird nichts, reiß dich am Riemen, den trieb lebenslange der Drang sich zu rehabilitieren, notfalls durch Selbstausbeutung, häufig in Selbstverachtung. Künftig aber kommt es mehr und mehr darauf an, Ideen zu haben. Dazu muss ein jeder einigermaßen sich selbst und den anderen trauen, vor allem sollte er hungrig auf die Welt sein.

 

Aus diesem Grund setzen auch die Unternehmensberater von McKinsey auf eine Bildungswende. Jürgen Kluge, deren deutscher Boss, geht am weitesten. Er analysiert: In der Industriegesellschaft wollte die Wirtschaft, dass die ganze Gesellschaft, auch die Bildung, wie eine Maschine funktioniere. Aber künftig müssten Schulen und Universitäten für die Gesellschaft Maßstäbe setzen: „Vielleicht,“ sagt er, „müsste die Schule das Vorbild für die Arbeitswelt sein. Das würde dem menschlichen Entwicklungspfad viel besser entsprechen.“

Diese neuen Töne für die Erneuerung der Bildung aus der Wirtschaft erstaunen manch einen, wurde ihr bisher doch zugeschrieben, nur an der profitablen Verwertung von Humankapital interessiert zu sein. Dieses Bild aus der alten Industriegesellschaft sitzt in Deutschland tief. Immerhin titelte 1966 die Wirtschaftszeitung „Industriekurier“: „Demokratie hat in Betrieben so wenig zu suchen, wie in Schulen, Krankenhäusern und Gefängnissen.“

Worauf es heute ankommt, formuliert Thomas Sattelberger, Personalvorstand bei der Reifenfirma Continental als Frage für Betriebe, Schulen und die ganze Gesellschaft: „Wie machen wir aus Söldnerheeren Kulturgemeinschaften?“

 

Ja wie macht man das?

 

Ganz im Allgemeinen sind sich die meisten Experten mit Politikern und auch mit den klugen Wirtschaftsleuten einig. Wir brauchen Selbstständigkeit für die Akteure, also für Lehrer und Hochschulelehrer, für Schüler und Studenten, aber auch für die Institutionen selbst, für die Schulen und Hochschulen. Nur, die groß angekündigte Selbständigkeit wird sogleich wieder engherzig und misstrauisch portioniert.

Wäre es nicht denkbar Schulen und Hochschulen aus dem staatlichen bürokratischen Korsett, in dem sie nachgeordnete Behörden sind, heraus zu lösen, ihnen etwa als öffentlich rechtliche Anstalten unternehmerische Freiheiten zu geben, ohne sie zu privatwirtschaftlichen Unternehmen zu machen? In Schweden ist man diesen Weg gegangen. Schulen haben volle Selbstständigkeit. Schulleiter stellen Lehrer ein. Sie verhandeln über das Gehalt der Bewerber. Die Schule bekommt vom Staat Geld pro Schüler. Über ihren Haushalt ist jede Schule souverän.

Wenn auch in Deutschland Schulen und Hochschulen selbständig werden, dann  sollte das allerdings nicht bloß heißen, dass sie sich selbst verwalten. Das bedeutete nach Lage der Dinge, nur den Mangel zu verwalten. Nein, sie müssten das Recht und die Pflicht zum eigenen Profil bekommen. Sie wären nicht mehr die geklonten Exemplare eines Standardmodells, alle möglichst identisch, sondern sie müssten aus ihren jeweiligen Stärken und Schwächen eine institutionelle Biographie gewinnen. Von der Standardisierung haben wir bisher Gerechtigkeit und garantierte Qualität erwartet. Der internationale Schulvergleich und auch der Vergleich der Hochschulen zeigt, dass die Leistung mit der Autonomie der Einrichtungen steigt. Das betrifft auch und vor allem die Fähigkeiten der Absolventen.  Wenn auf das staatsbürokratische Standardmodell verzichtet wird, dann allerdings muss die Gesellschaft ihre Erwartungen an die Einrichtungen und die Ziele, auf deren Erreichen sie besteht, als Standards formulieren. In Deutschland pfropft man derzeit auf die standardisierten Schulen noch Standards. So raubt man ihnen den Rest an Spielraum.

 

Wo ist der Ausweg? Zum Beispiel hat der Club of Rome ein Konzept für eine Schule entwickelt, die mit den Dreijährigen, also der Vorschule, beginnt, und mit der Hochschulreife endet. Keine Rede ist mehr vom deutschen gegliederten System. Aber realistisch setzt der Club of Rome nicht darauf, dass der Bundestag oder die Kultusministerkonferenz nun jubeln und sagen, das beschließen wir. Schulen, die sich diese Richtung entwickeln wollen, können sich demnächst als Club of Rome Schulen akkreditieren lassen. Ein Kongress Anfang März wird die Sache mit lautem Paukenschlag in die Welt setzen. Dem Club of Rome ist es gelungen, in vielen Kultusministerien für diese neue Schule große Freiheitsspielräume heraus zu schlagen. Ein gutes und realistisches Beispiel wie ein Zusammenspiel von Regierung und Nichtregierungsorganisationen aussehen kann, man könnte auch sagen, ein Zusammenspiel von alter und neuer Politik.

 

Natürlich kommen hier auch die Stiftungen ins Spiel. Schon die Auftaktveranstaltung des Club of Rome demnächst wäre ohne ihre Unterstützung gar nicht möglich. Der Einwand, dann macht bald nur noch das große Geld Politik, der wer sonst kann stiften, ist nicht falsch. Aber wie wäre es, eine große Stiftung zu gründen, etwa in der Nähe der Deutschen Kinder und Jugendstiftung, in die nicht nur jedermann einzahlen kann, etwa ein Teil dessen, was vererbt wird, sondern auch einzahlen muss! Oh je, wird man sagen, muss? Aber vielleicht lohnt es sich den Gedanken durch zu spielen. Es wäre eine Art Steuer, und doch keine anonyme Steuer mehr. Nehmen wir an, um 10 % wird unsere Steuer bei der nächsten Steuerreform nicht gesenkt, sondern in der Weise umgeleitet, dass jeder Steuerbürger damit auch steuern kann. Man zahlt in das große Projekt Bildung, muss also seinen Teil liefern, kann aber sein Geld selbst adressieren. Der eine gibt es der reformerischen Universität Witten Herdecke, der andere der Grundschule im Brennpunkt. Das Geld läuft über eine große nationale Stiftungs- und Bildungsagentur, sie ist aber nur Dach und Organisation. Zwischen dem Bürger als Mäzen und den profitierenden Einrichtungen käme tatsächlich Verantwortung auf. Verantwortung kommt ja von „antworten“ und heißt nicht, wie hier zu lande so oft: „Ich trage die Verantwortung, also muss ich Ihnen doch nicht antworten.“  Gewiss, das Modell wäre im einzelnen zu prüfen und da liegt bestimmt manches Teufelchen im Detail, aber im Detail wartet auch manch ein Schutzengel. Auf Schutzengel wird unsere Land bald angewiesen sein. Wir brauchen Erneuerung! Ja, Erneuerung. Was uns derzeit angeboten wird nennt sich Innovation, und damit ist leider etwas ganz anderes gemeint.