NDR Kultur – Gedanken zur Zeit – 30. November 2008
Reinhard Kahl
Führung – ein deutsches Tabu?
„Wen Du führen willst, dem folge“, schrieb Michel de Montaigne vor fast einem halben Jahrtausend in seinen Essais.
Noch viel länger ist es her, dass Laotse, der Philosoph aus dem alten China verlangte, „Wer führen will, der darf denen, die er führt, nicht im Wege stehen.“
Die beiden Weisen wussten, dass Führung nicht heißt, einer weiß, wo es lang geht und die anderen folgen.
Das neue Buch des Pädagogen Bernhard Bueb hat das Thema „Führung“ auf die Tagesordnung gesetzt. Es heißt „Von der Pflicht zu führen.“ Bueb hat bis zu seinem Ruhestand 2005 die Internatsschulen Schloss Salem geleitet. [So steht es auch nüchtern im Klappentext des Buches: „geleitet“ und nicht „geführt.“ Semantische Unterschiede sind nicht egal.]
Bueb, der zuvor mit seinem „Lob der Disziplin“ auf die Bestsellerlisten kam, provoziert, um nicht überhört zu werden. Flugs wurde er der Sympathie zur sogenannten „Schwarzen
Das will Bueb nicht.
Er hat, und das ist in jedem Fall sein Verdienst, daran erinnert, dass man wie beim Malen nicht ohne die Farbe Schwarz auskommt, weil ohne sie die Tiefe verloren geht und ein all zu transparentes, oft seichtes Pastell entsteht. Es kommt also auf die Mischung an. Auf das Maß. Auf den Kontext. Auf die jeweilige Geschichte. Versuchen wir also den Fallen des allzu Prinzipiellen zu entkommen. Bueb wird zu schnell zu prinzipiell, zum Beispiel wenn er schreibt, dass wir uns nach Leitern, Chefs und Autorität sehnten und dass es darauf ankomme ein Vorbild zu sein.
Treten wir einen Schritt zurück und blicken wir erst mal auf jene schwachen Erwachsenen, gegen die Bueb argumentiert, zumal wenn sie Pädagogen sind.
Erinnern nicht viele Lehrer, Eltern und Kita-Erzieher an Gastgeber, die bei einem Fest so tun, als wären sie selbst gar nicht da? Ihr wisst ja wo der Kühlschrank steht, sagen sie schon an der Tür. Das war’s. Keine Begrüßung. Wenig Form. Kaum ein Ritual. Und natürlich geben solche nicht erwachsen gewordenen Erwachsenen ihren Kindern oder Schülern zu verstehen: Seht zu wie ihr durch kommt, vielleicht wisst ihr besser, wie man lebt. Erwartet von uns nichts. Und wenn solche Erwachsenen dann Selbstregulierungstheorien bemühen, dann werden auch noch diese starken Erkenntnisse bei ihnen verkehrt. Denn Kinder, die tatsächlich alle lernen wollen, darf man natürlich nicht allein lassen, sie brauchen Respekt, eine gute Atmosphäre und vor allem Erwachsene. [Ganz traditionell ausgedrückt: Sie brauchen Welt. Wird ihnen diese verweigert, und das ist häufig der Fall, ist das der Bildungsskandal, den Bueb zu Recht kritisiert.]
Wenn also Erwachsene den Kindern Lebensformen und Herausforderungen schulden, heißt es nicht, dass sie diese den Kindern und Jugendlichen beibringen, wie Schulstoff, oder die Werte verbal vermitteln, sondern dass sie diese selbst leben und damit anstecken.
Wenn Lehrer von den Schülern Interesse und Neugierde verlangen, aber selbst nicht neugierig sind, dann bringen sie den Kindern eben nicht das bei, was sie proklamieren, sondern das, was sie tun[. Wenn Lehrer oder Vorgesetzte verlangen, ihr müsst zusammen arbeiten, aber nur mit Regelwerken und Leitbildern führen, und wenn sie selbst nicht daran denken zusammen zu arbeiten], dann sind sie so unglaubwürdig und so wenig ernst zu nehmen, wie Feiglinge, die salbungsvolle Reden über den Mut halten.
Sind sie mutig, dann könnte man das Führung nennen, man könnte aber bei Mut, dem großen Wort für diese riesige Tugend bleiben und auf das noch größere Wort, Führung, verzichten.
Wie ein wirklich erwachsen gewordner Erwachsener aussieht, der sich vor Führung nicht drückt, allerdings ohne das Wort auskommt, kann man in dem Film „Rhythm is it“ an dem englischen Choreografen Royston Maldoom sehen.
Der Film zeigt Ballettproben mit Teenagern für eine Aufführung der Berliner Philharmoniker unter Leitung von Sir Simon Rattle. Der Film konzentriert sich auf die Beobachtung einer Gruppe von Hauptschülern, Jugendliche also, denen man gemeinhin wenig zutraut. Royston Maldoom allerdings zweifelt nicht an diesen Schülern, was nicht heißt, dass er nichts von ihnen verlangt. Dazu gibt es eine Schlüsselszene. Der Choreograph empfiehlt einigen von ihnen auf einer Ballettschule weiter zu machen. Sie hätten das Zeug dazu. In dieser Szene steht neben den Schülern deren freundliche, aber grundbesorgte Lehrerin und interveniert: abends noch allein und im Dunklen mit der S-Bahn nach Wilmersdorf?
Plötzlich wird deutlich, welchen Unterschied es macht, ob jemand wie dieser Choreograph die Botschaft sendet, „Kommt her, ihr seid schon ganz gut, in Euch steckt aber noch viel mehr als ihr glaubt; Lasst uns was gemeinsam anfangen!“ oder ob der Erwachsene dieses Potential eher anzweifelt, den Jugendlichen vielleicht mitteilt, sie hätten doch nur Stroh im Kopf.
Wenn ein Pädagoge, wie die Lehrerin im Film, mit den Schülern eine Opfergemeinschaft gegen die Welt bildet, dann fordert sie die Jugendlichen ebenso so wenig heraus, wie es jene Zynikern tun, die Schülern ihre Talente absprechen und Kinder beschämen. Vielleicht ist die Opferfraktion den Zynikern viel verwandter als man gewöhnlich denkt.
Und da wären wir wieder beim bereits zitieren Michel de Montaigne, „Wen Du führen willst, dem folge.“ Der Führer, benutzen wir das kontaminierte Wort, sollte ein „Schrittmacher“ und „Schrittfolger“ sein, schrieb Montaigne. Und er fährt fort: „Verfehlen wir hier die rechte Proportion, verderben wir alles.“
Bleiben wir noch einen Moment bei Royston Maldoom. Seine Botschaft nach 30 Jahren Community Dance heißt: „Ich habe noch niemanden getroffen, weder bei traumatisierten Kindern in Bosnien, noch bei Grundschülern in London oder in einem Jugendgefängnis, der nicht tanzen kann.“ Und dann sagt er: „Sollte es Lehrer geben, die nicht glauben, dass jeder Schüler lernen will, dann sollten diese Erwachsenen nicht über die Schwelle zum Klassenraum treten.“ Ein Satz der sitzt. Aber auch hier hängt alles vom Kontext ab. Sagt das ein Royston Maldoom oder steht der Satz in einem Lehrer-Hasser-Buch, das mit der Art seiner Kritik an Lehrern weiter am Teufelkreis von Entwerten und Beschämen dreht?
Wie könnten wir diesen Abwärtsspiralen entkommen? Bueb empfiehlt den Lehrern Mut zur Führung, ja, die Pflicht zur Führung. Geht es nicht etwas pragmatischer?
Wer wird denn eigentlich Pädagoge? Beginnt die Berufswahl nicht allzu häufig mit einer Vermeidungsstrategie? Wollen sich nicht zu viele Lehramtskandidaten vor den Herausforderungen der Erwachsenenwelt schützen? Wie werden Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrerinnen und Lehrer ausgewählt und vorbereitet? Werden sie überhaupt ausgewählt? Wie vermeidet man, dass die Ratlosen diesen Beruf ergreifen? Wie werden die Besten und vor allem die Leidenschaftlichen angezogen? Dass es möglich ist die Besten zu gewinnen, zeigen die Finnen, wo – je nach Hochschule – zwischen sieben und zehn Bewerber auf einen Studienplatz für das Lehrerstudium kommen. Und das obwohl dort die Pädagogen schlechter bezahlt werden als bei uns. Aber der Beruf wird respektiert. Die jungen Lehrer haben ihre eigene Schulzeit gewöhnlich in guter Erinnerung. So werden Aufwärtsspiralen in Gang gesetzt. Eine Pathosdebatte über Führung ist nicht nötig.
Deutschland schwankt zwischen Auf- und Abwärtsspiralen. Auf der einen Seite der bekannte Alltag, in dem sich Lehrer, Schüler und auch Eltern häufig immer noch als Feinde behandeln. Auf der anderen Seite verbreiten jetzt Bilder aus solchen Filmen wie „Rhythm Is It“ eine ansteckende Gesundheit. Dass diese Erreger des Gelingens wirken, zeigen die vielen Kindergärten und Schulen, die sich umgründen und die zahlreiche Initiativen neue Schulen zu gründen. Allerdings fällt es den Deutschen so schwer zu glauben, dass etwas wirklich gelingen könnte.
Vielleicht ist dieses das Thema hinter dem Thema Führung: herrscht Vertrauen oder dominiert das Misstrauen?
Royston Maldoom`s „Kommt her – Ihr seit schon ganz gut – stellen wir was auf die Beine“, sein Nicht-locker-lassen, bis alle ihr Bestes geben und vor allem sein Können, seine Kunst und seine Erfahrung, das alles macht ihn zum Botschafter einer Welt, in die einzusteigen sich lohnt. In diese Welt zu führen, indem man mit ihr beginnt, das ist etwas ganz anderes als jene Variante von Führung, die davon ausgeht, dass Kinder und Jugendliche eigentlich ziemlich leer seien und nicht wissen was sie wollen. Und dann wird ihnen auch noch mit dem späteren Leben gedroht, als wäre es eine Strafe, satt sie zum Leben einzuladen.
Vielleicht wäre ein besseres Wort als Führung das Wort Herausforderung. Denn wer andere herausfordern will, muss doch daran glauben, dass in ihnen etwas Gutes steckt, muss deren Besonderheit entdecken wollen. Noch mal Montaigne: „Wen Du führen willst, dem folge.“