PS 2 2004 Standards – deutsches Missverständnis

PÄDAGOGIK – P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

Standards – ein deutsches Missverständnis

»Die Latte hängt für deutsche Schüler so hoch, dass sie die lieber unterlaufen, statt drüber zu springen.« Ein fast schon geflügeltes Wort von Jürgen Baumert. Wir haben höchste Ansprüche und dennoch, nein, eben deshalb bringen die Schüler nur so schwache Leistungen. Die Erbsünde des idealistischen Schulsystems ist, dass die realen Menschen den hohen Idealen kaum genügen. Schüler werden häufig schlecht gemacht, ja beschämt. Zu selten werden sie ermutigt und dürfen stolz sein. Aber das soll nun ja alles anders werden, und zwar durch Bildungsstandards. Sie seien, sagen die Kultusminister, ihre Antwort auf das Pisadesaster. Wirklich?

An drei Tagen sollte das kürzlich in der evangelischen Akademie Bad Boll auf einer Tagung mit exzellenten internationalen Experten geklärt werden.

Input und Output

Weltweit gibt es die gleiche Drift. Weg von Schulen, denen nahezu alles vorgeschrieben wurde, »Input orientierte Systeme«, hin zu solchen, bei denen zählt, was Schüler wissen und können. Das heißt dann »Output orientiert«. Die Ziele werden zumeist vom Parlament vorgegeben. Die Wege werden den Schulen mehr und mehr frei gegeben. Sie müssen natürlich Rechenschaft geben. Darauf glaubt man ja in gegängelten Systemen verzichten zu können.

Standards nennt man das Maß, an dem sich diese in Freiheit entlassenen Schulen zu orientieren haben und an dem sie dann auch gemessen werden. Eine Modernisierungsformel, nach der viele Länder ihr Bildungssystem erfolgreich reformiert haben. Also will man nun auch in Deutschland Standards. Aber was wird daraus, wenn sie mit Zusätzen wie »einheitlich« und »verbindlich« versehen werden?

Es sieht schon wieder so aus, als würde ein deutscher Sonderweg eingeschlagen. Standards sind dann nicht die niedriger gehängte, realistischere Latte. Man überlegt nicht, was ist zu tun, damit möglichst viele über sie springen. Sie sind kein Korrektiv für freie Schulen, sondern werden womöglich genau das, was man zu diesem Wort auf Anhieb assoziiert: DIN-Normen für die Anstalten.

In Bad Boll wurde die Debatte wie ein Bühnenstück inszeniert. Zunächst rückte der sächsische Kultusminister Karl Mannsfeld, CDU, damit heraus, dass zumindest in Sachsen die Standards keineswegs unser Gebirge von Lehrplänen ersetzen sollen. Er beschrieb sie geheimnisvoll als »Knotenpunkte auf Wegen«, die weiterhin durch Lehrpläne definiert werden. An diesen Knotenpunkten, die man besser Kontrollpunkte nennen sollte, wird der Schüler-TÜV durchgeführt. Da wurde es unruhig in der Akademie: Doppelregulierung statt Deregulierung?

Erwartungen

Nach dieser Eröffnung lehrte eine Revue von Präsentationen die mit 350 Teilnehmern überbuchte Veranstaltung das Staunen. Es berichteten Finnen, Schweden, Engländer, Holländer, Kanadier und Experten aus den USA. Und siehe da, in all diesen Ländern werden Standards nicht so wichtig genommen. Die Finnen gaben wieder mal den interessantesten Bericht. Viele wussten dort bisher gar nicht, dass sie so etwas wie Standards haben. Auch Pirjo Linnakylä, Professorin aus Jyväskylä, nicht. Sie erzählte, dass es natürlich »Erwartungen« an Schulen gäbe. Die stehen in einem Heft von 120 Seiten. Das enthält alle Ziele, von der Vorschule bis zum Abitur. Auf dieser Basis machen sich die Schulen selbst ihre Lehrpläne. Und es gibt etwas, das wir Deutsche gar nicht kennen: Lehrpläne für einzelne Schüler, zumal wenn sie Schwierigkeiten haben. Die Schulaufsicht wurde Mitte der 90er Jahre abgeschafft. Die Kommunen verlangen von Schulen Rechenschaft. Es gibt nationale Tests, die aber mehr die Schulen als die Schüler überprüfen. Die Schulen sind an dieser Diagnose interessiert, wenn auch nicht immer von den Ergebnissen erfreut. Eines der häufigsten von der Finnin gebrauchten Wörter heißt Vertrauen. Vertrauen gegenüber Schulen, Lehrern und Schülern. Und dann kritisch nachfragen, natürlich – aber niemals demütigen.

Auch in Schweden wurden in den 90er Jahren die Lehrpläne auf nationale Curricula, ebenfalls dünne Broschüren, reduziert. Alle Schüler werden nach dem 9. Schuljahr gestestet. Auch von den Kanadiern erfuhr man, der Begriff Standards sei wohl etwas verwirrend. Ihnen reichten klare und knapp formulierte goals, Ziele. Und dann werden die Ergebnisse geprüft. So ging es in den Präsentationen weiter, mit nationalen Nuancen.

Und die Deutschen?

Putput

Statt nun tatsächlich den Übergang vom Input- zum Output orientierten System zu wagen, hört man aufgeblasenes, halbherziges Putput. Man kann halt von der Kontrolle nicht lassen. Eines kommt in den Konzepten der Kultusminister kaum vor: Der Blick darauf, wie Schüler lernen. Und so verklumpt das neue Yin und Yang der Bildung mit den Polen Freiheit für Schulen auf der einen Seite und Standards als Verpflichtung auf Ziele und zur Rechenschaft auf der anderen Seite wieder mal zu noch stärkerer Gängelung. Es gibt halt keinen Spielraum, wenn das Misstrauen regiert.

P. S.

Das Tagungsprotokoll mit den aufschlussreichen Länderpräsentationen will die Evangelische Akademie Bad Boll diesmal ganz schnell fertig stellen. Es soll bereits im Februar zu beziehen sein: www.ev-akademie-boll.de/texte/start_te.htm

P.P.S.

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: Kahl-Lob.des.Fehlers@gmx.de