Horx – Die Presse Österreich Über die „Treibhäuser“

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19.02.2005 – Meinung / Gastkommentare
Zukunft Passiert: Wir Analphabeten
VON MATTHIAS HORX

B
eim großen Bildungsdialog in der Hofburg am letzten Montag herrschte schnelle Einigkeit. Zum Beispiel, dass die mangelnden Deutschkenntnisse von Ausländern besonders schuld sind an der schwachen Bildung der Österreicher. Dass man den Vorschulunterricht stützen und die Lehrer besser ausbilden muss. Dass Lesefähigkeit enorm wichtig ist. Aber niemand (außer Christoph Leitl) redete über die wichtigsten Zukunftsfächer:

Ausdrucksfähigkeit. Wer von uns kann auf einer Versammlung (und sei es einem Begräbnis oder einer Feier) aufstehen und sich ausdrücken? Täuscht es, oder kommen Österreichs Schüler immer noch seltsam stumm aus der Schule, verdruckst, auf konditionierte Weise sprach-los. Sie lernen, wenn es hoch kommt, stillsitzen und warten. Aber wie sollen wir (unsere Kinder) in einer Wissens-Welt (über)leben, in der die Präsentation von komplexen Gedanken die berufliche Zukunft bestimmt?

Kreatives Selbstlernen. Wer von uns (und unseren Kindern) hat Spaß daran, auf neue Reisen des Geistes zu gehen? Wissen wird uns in der Schule in Schachteln serviert, in „Fächern“. Wie mein Vater sagte: „Bier ist Bier, und Schnaps ist Schnaps“, und alles hat miteinander nichts zu tun. Aber das Wesen der Dinge ist die Verbundenheit. „Out-of-the-Box-Thinking“, vernetztes Denken, ist das Gold der Zukunft.

Selbstwissen. Wer von uns (und unseren Kindern) kennt sich selbst? Wer weiß etwas über seine Macken, seine Leidenschaften, seine Träume, seine Ziele? Über seinen Körper, und wie er gut mit ihm umgeht? Wie er sich über Krisen hinwegführt? Lehren unsere Schulen die Klugheit der Selbst-Betrachtung, die Grundlage ist für jede wahre Individualität?

Das ist der neue Analphabetismus, die „Leseschwäche“ der Wissensökonomie: Wir verfügen nicht über die elementaren Kulturtechniken einer Welt, in der Wissen nicht mehr fixiert und soziale Verhältnisse offen sind und das Individuum frei, aber auch verantwortungspflichtig wie nie ist. In der alten Gesellschaft der Industrie kamen wir mit passiven Strategien noch einigermaßen aus: Mund halten, sich nach den Vorschriften richten, nicht auffallen. Aber inzwischen kann selbst mein „Bankbeamter“ (sic!) sich nicht mehr auf die Vorschriften berufen, weil ich sie ihm als Kunde um die Ohren haue. In der Welt der Zukunft müssen sich auch Liebes- und Ehepaare anders miteinander verständigen als in der alten Welt der gesicherten Rollenteilung (Mann jagt Mammut, Frau putzt Höhle).

D
er deutsche Journalist Reinhard Kahl (www.reinhardkahl.de) hat sich mit der Frage zukünftiger Bildungsziele seit vielen Jahren intensiv auseinander gesetzt. Er hat Schulen der Zukunft gefunden, in denen all das wirklich gelernt wird: Individualität und Kooperation. Freies Sprechen und eigenständiges, vernetztes Denken. Neugier und Geduld. Dort wird der alte Frontalunterricht (die Osterhasen-Pädagogik: Der Lehrer hortet fixiertes Wissen hinter seinem Rücken, die Kinder müssen es suchen) zu Gunsten offener Formen des Selbstlernens aufgelöst. Seine DVD-Dokumentation Treibhäuser der Zukunft (bestellung@archiv-der-zukunft.de) geht unter die Haut. Man möchte weinen, wenn man sieht, wie Schule lebendiger Lebens-Raum werden kann. Und was unsere Kinder immer noch versäumen. Wetten, dass das auch in Österreich geht, früher oder später?

Der Autor ist deutscher Trend- und Zukunftsforscher und wohnt in Wien.

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Das Wesen der Dinge ist die Verbundenheit. Vernetztes Denken ist das Gold der Zukunft.

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