dpa Kulturpolitik Nr. 52 v. 20. 12. 04 über die „Treibhäuser“

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Kulturpolitik

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Nr. 52/53/2004 20. Dezember 2004 – AKTUELLES

 

 

Bildung/Schulen/PISA/Film

Film „Treibhäuser der Zukunft“

macht Mut zu Schulreformen

Hamburg (dpa) – Wir können auch anders – zeigt ein Film über gute

Schulen in Deutschland. Wenige Tage nach Veröffentlichung der zweiten

PISA-Studie lockte der Streifen „Treibhäuser der Zukunft – Wie in

Deutschland Schulen gelingen“ von Reinhard Kahl am 12. Dezember

mehrere tausend Zuschauer in Sondervorstellungen von bundesweit 28 Cinemaxx-

Kinos. Und am Ende der Vorführungen gab es wie in Hamburg

und Göttingen großen Applaus. Der Dokumentarfilm berichtet über sehr

unterschiedliche Schulen mit neuen Ansätzen und anregendem Lernklima

aus dem ganzen Bundesgebiet. Er geht nicht auf den Streit um das tradierte

dreigliedrige Schulsystem in Deutschland ein.

In der aktuellen Bildungsdebatte trifft der Film offensichtlich einen Nerv:

den Hunger nach positiven Vorbildern im eigenen Land. Nach dem zweiten

internationalen PISA-Test haben sich die deutschen Schüler zwar teilweise

leicht verbessert und sind ins Mittelfeld gerückt. Doch die Kluft zwischen

guten und schlechten Schülern wurde zugleich noch größer.

Der Hamburger Autor und Regisseur Kahl stellt insbesondere Ganztagsschulen

vor, die „einen anderen Umgang mit der Zeit“ pflegen, wie er sagt.

Diese Lernorte können als Vorbild dafür dienen, wie individuelle Förderung

in einer heterogenen Lerngruppe konkret aussehen kann – sei es in einem

gegliederten Schulsystem oder in einer Gemeinschaftsschule. Die ausgewählten

Schul-Beispiele haben entweder ein neuartiges Konzept aus einem

Guss – wie die Jenaplan-Schule in Jena oder die Bodensee-Schule in

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Friedrichshafen – oder haben mit einzelnen Reformschritten begonnen –

wie das Willibald Gymnasium in Eichstätt.

Die porträtierten Schulen haben nicht nur den elenden 45-Minuten-Takt der

Schulstunden außer Kraft gesetzt, sondern den Schultag grundsätzlich anders

strukturiert. Der Film zeigt Kinder und Jugendliche, die hingebungsvoll

allein oder gemeinsam mit Lernmaterial beschäftigt sind. Er lässt Lehrer zu

Wort kommen, die bewusst ihr Einzelkämpfertum aufgegeben und sich für

einen anderen Unterricht samt der damit verbundenen Mehrarbeit entschieden

haben. Generelles Ziel ist die Überwindung der Schule als traditionelle

Belehrungsanstalt.

Die Schüler arbeiten in Lerngruppen, die aus mehreren Altersstufen bestehen.

Sie lernen mit individuellem Tempo und unterschiedlicher Schwerpunktsetzung.

Die Lehrkraft entwickelt einen Arbeitsplan mit jedem und für

jedes einzelne Kind. Die Grundhaltung ist Respekt. „Jedes Kind ist für sich

einmalig und existiert nicht noch mal auf der Welt. Da kann ich doch nicht

morgens einen Einheitsbrei über die Kinder gießen“, betont Alfred Hinz,

Rektor der katholischen Bodensee-Schule, eine der ältesten Ganztagsschulen

in Deutschland. Die Leiterin der Montessori-Gesamtschule in Potsdam,

Ulrike Kegler, sagt: „Die Kinder dürfen nicht beschämt werden.“ Lehrer

müssten mit ihrer Macht verantwortungsbewusst umgehen.

Das in den „Treibhäusern“ gepflegte pädagogische Konzept geht von der

Freude der Kinder am Lernen und am Begreifen ihrer Umwelt aus. Dazu

gehören ein hohes Maß an selbstständiger Arbeit und Entscheidung sowie

Projektunterricht. Auch lernen die Schüler, den so angeeigneten Stoff angemessen

zu präsentieren, sei es als Referat am Projektor oder als ein Essen

nach mittelalterlichen Rezepten. Damit üben sie zugleich Anforderungen

aus ihrer späteren Berufswelt ein. Dass Freude am Lernen und Leistung

sich nicht ausschließen, ja sich vielmehr bedingen, betont Hinz. Die

zentral vom baden-württembergischen Kultusministerium gestellten Arbeiten

in der neunten und zehnten Klasse „schaffen wir mit einer Hand“, sagt

er.

Der vom Bundesbildungsministerium finanzierte Film hat auch die DaimlerChrysler

University für Führungskräfte beeindruckt. Mit ihrer Unterstützung

wird nach Angaben von Kahl derzeit der Film englisch untertitelt. Als

Vorbild für das Management werde die neue Rolle der Lehrer gesehen, die

stärker beobachten als Anweisungen erteilen. Neben Bildungsforschern

wie Hartmut von Hentig unterstützt der Chef der Unternehmensberatung

McKinsey in Deutschland, Jürgen Kluge, die Biotope für ein gutes Lernklima.

Die Wirtschaft von Morgen brauche flexible Mitarbeiter, „die aus eigener

Motivation die höchstmögliche Leistung bringen“.

Die bundesweite kostenlose Vorführung des Streifens am 12. Dezember

war eine Gemeinschaftsaktion unter anderem der Deutschen Kinder- und

Jugendstiftung, des Archivs der Zukunft und der Cinemaxx-Kinos. Die Veranstalter

gehören dem „neuen Bündnis für die Bildung an“ (vgl. 51/2004, S.

16). Die Cinemaxx-Kette zeigte den Streifen im Rahmen ihrer Filmvorführungen

für Lehrer. Der Filmtext ist auch als Buch zusammen mit drei DVDs

erhältlich, auf denen die Interviews in Langfassung zu sehen sind.

Ursula Mommsen-Henneberger

(„Treibhäuser der Zukunft. Wie in Deutschland Schulen gelingen“, Beltz

Verlag, Weinheim 2004, 135 S., Euro 29,–, ISBN 3-407-85830-2 oder

Deutsche Kinder- und Jugendstiftung, Berlin, ISBN 3-9809294-3-4)