Badische Zeitung 18. 10. Interview zu den „Treibhäusern“

MON – Montagsseite

18. Oktober 2004 / MON 1


Wir können auch anders!

Reinhard Kahl zeigt Schulen, die Lust und Leistung steigern – nicht in Finnland, sondern in Friedrichshafen, Jena oder Potsdam / Von Petra Kistler

E in Film macht Schule. Er zeigt ungewöhnliche Bilder: eigenwillige Lernorte mit fröhlichen Schülern, selbstbewussten Lehrern, zufriedenen Eltern, überdurchschnittlichen Leistungen. Nicht im fernen Finnland, Schweden oder Kanada, sondern mitten in Deutschland: in Friedrichshafen am Bodensee, in Potsdam, Jena, Eichstätt, Hamburg oder Herten. „Treibhäuser der Zukunft“ nennt der Hamburger Journalist und Filmautor Reinhard Kahl diese Klassen- und Lehrerzimmer. Es sind Schulen, in denen sich Lust und Leistung nicht beißen, sondern steigern. BZ: Was ist das Geheimnis dieser Schulen? Kahl: Die Grundhaltung: Jedes Kind wird so akzeptiert, wie es ist. Alle Schüler sind willkommen, keiner wird als fremder Passagier betrachtet, der eigentlich nicht in diese Schule, in diese Klasse gehört.


„Es macht mehr Spaß, wenn wir leuchtende Augen hervorrufen statt böse Blicke zu ernten.“



Reinhard Kahl

BZ: Wie kamen Sie auf die Idee, sich an Schulen in Deutschland umzuschauen?
Kahl: Wer nach Pisa von den erfolgreichen finnischen Schulen berichtete, bekam häufig zu hören: „Jaja, die Finnen, so sind sie halt. Aber wir sind keine Finnen“. Ich wollte zeigen, dass es auch bei uns eine neue Schul- und Lernkultur gibt, die Mut zu Veränderungen macht. Es gibt in Deutschland eine lange Tradition der Reformpädagogik – zum Beispiel die Jenaplan-Schulen mit altersgemischten Gruppen, die 1933 in Deutschland geschlossen werden mussten.

BZ: Wie haben Sie die „Treibhäuser der Zukunft“ gefunden?
Kahl: Man spricht mit Leuten, wird auf Unbekanntes aufmerksam gemacht, trifft Repräsentanten, die überzeugen. Ich hatte wohl einen Schutzengel. Die Recherche war wie ein Rubbellos, bei dem mit verstärktem Reiben immer mehr zum Vorschein kommt.

Ungewohnte Bilder I: „Kopfhörer aufsetzen“, sagt die strenge Lehrerin. „Und jetzt wird geübt!“ Ihre Zöglinge, brav in den Kabinen des Sprachlabors sitzend, führen den Befehl aus. Gelernt wird auf Befehl, frontal von vorne. Lernen wird zur Fronarbeit.
BZ: Etliche Ihrer Treibhäuser sind kirchliche Schulen. Nur Zufall?
Kahl: Eine wichtige Bedingung fürs Gelingen ist ein gewisser Konsens. Dass Schulen die Lehrerinnen und Lehrer zugeteilt bekommen, ist ein unglücklicher Umstand – man stelle sich doch nur mal eine Schraubenfabrik vor, in der die Ingenieure, Kaufleute und Arbeiter vom Schraubenministerium eingestellt werden. Dass eine Schule sich die Lehrer aussucht, die zu ihr passen, ist eine Minimalbedingung fürs Funktionieren.

BZ: In Ihrer Filmdokumentation taucht keine Waldorfschule auf. . .
Kahl: . . . und keine Helene-Lange-Schule in Wiesbaden, keine Laborschule in Bielefeld, keine private Montessorischule. Ich wollte nicht auf die üblichen Verdächtigen zurückgreifen. Ich wollte Schulen zeigen, die unter Normalbedingungen arbeiten. Bei denen nicht sofort eingewandt werden kann: Ja die, ja unter den besonderen Bedingungen – aber bei uns ist dies alles nicht möglich. Es gibt eine doch unglaubliche Palette von Erklärungen, nach denen es den Schulen entweder zu gut, zu schlecht oder sonst wie geht und sie prinzipiell nicht anders können. An den Schulen gibt es ein Verliebtsein in den Opferstatus. Meine Botschaft ist: Veränderungen sind möglich, die Zukunft hat bereits begonnen.

Ungewohnte Bilder II: Es ist noch nicht 8 Uhr. Der Lehrer ist bereits im Klassenzimmer. Die ersten Schüler kommen, geben ihm die Hand. Sie holen sich Material aus den Regalen und legen los. Sie fangen an, ohne dass es geklingelt hätte. Niemand hat sie zum Lernen aufgefordert. Es gibt keine Fächer, dafür vernetzten Unterricht und altersgemischte Gruppen. „Es ist ein Vorteil, verschieden zu sein“, sagt Rektor Alfred Hinz von der Bodenseeschule St. Martin in Friedrichshafen, die im Mittelpunkt von Kahls Films steht. Jede Schule kann etwas tun, sagt er: Klemmt ein Taschentuch zwischen Klöppel und Glocke – und schafft endlich diesen elenden 45-Minuten-Takt ab. Leistung? „Die Anforderungen schaffen wir mit einer Hand“, sagt der Rektor.

BZ:
Auffallend an Ihrem Film ist, es wird nicht gejammert: Nicht über die Schüler, nicht über die Kollegen, die Eltern oder die Kultusminister.
Kahl: Das war wirklich so, ich habe nichts rausgeschnitten. Sicher, die Ressourcen an den Schulen könnten besser sein, aber sie sind auch nicht so schlecht. Trotzdem gibt es immer noch die Einstellung: Wir können nichts ändern. Das ist der Versuch, sich selbst in eine nichtsouveräne Position zu bringen: Wir sind abhängig, wir sind Opfer, andere sind für uns zuständig.

BZ: Was sind für Sie Kriterien für eine gute Schule?
Kahl: Das Gefühl der Zugehörigkeit, die Schüler und Lehrer müssen sich dort wohl fühlen. Dann wird auch der Ort wichtig, bei einer solchen Schule haut man nicht um 13 Uhr so schnell wie möglich ab. Dann kann es sein, dass Schüler, die krank werden, es schade finden, dass sie nicht zur Schule gehen können, während wir immer noch das Gefühl „Hurra, hurra, die Schule brennt“ haben. Wir müssen erkennen, dass die Verschiedenheit als Reichtum und nicht als Mangel angesehen wird. Das vier-oder fünfgliedrige Schulsystem – die Sonderschulen werden stets schnell vergessen – muss überwunden werden. Jürgen Baumert vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat mal gesagt: In Deutschland hängt die Latte so hoch, dass es besser ist, unten durchzukriechen als drüberzuspringen.

BZ: Es gibt doch immer mehr Jugendliche, die Nichtleistung „cool“ finden. Im Klassenzimmer stehen sich dann feindliche Fronten gegenüber.
Kahl: Weil man die Sache nicht als die eigene ansieht. Weil man nicht daran glaubt, dass Lernen bedeutet, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen. Der Streber ist demnach eine Art Kollaborateur, der mit dem feindlichen System der Schule, der Lehrer, der Behörden einen Pakt eingeht.

Ungewohnte Bilder III: Jean-Pol Martin, Professor an der Universität Eichstätt, geht einmal in der Woche in die Schule. Er unterrichtet nicht selbst, er macht Schüler zu Lehrern. „Unterrichten heißt, Widersprüche entstehen lassen, damit sie geklärt werden“, sagt er.

BZ:
Wenn die Arbeit in den Treibhaus-Schulen mehr Zufriedenheit schafft, warum schlagen dann nicht mehr Schulen den Reformkurs ein?
Kahl: Weil sie sich nicht trauen. Es bräuchte kluge Strategien, die vermitteln, welche Schritte man heute und welche man besser erst morgen macht.

BZ: Welche Schulen machen sich auf den Weg?
Kahl: Oft haben sie eine Mischung zwischen Leiden an der Sache und der Erfahrung, dass Veränderungen gelingen können. Wie beim Spruch der Bremer Stadtmusikanten: Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal. Es macht mehr Spaß, leuchtende Augen hervorzurufen statt böse Blicke zu ernten.

BZ: Wie kann die Reform vorangebracht werden?
Kahl: Es muss zum Beispiel eine Debatte darüber geführt werden, dass die guten Lehrer in die Schulen gehen sollen – und die schlechten eben nicht. Vieles, was jetzt als Reform von oben kommt, hat ja auch so einen Beigeschmack von Bestrafung. Die Reformen müssen stärker in die Regie der Schulen gegeben werden. Man muss sich auf Wichtiges konzentrieren. Wer eine Sache gut macht, macht alles andere besser. Nicht diese Panik, wie sollen wir dies alles schaffen. Deshalb ist es so wichtig, sich die Beispiele anzuschauen, wo es funktioniert.

BZ: Ihr Film findet großes Interesse bei Eltern und Lehrern.
Kahl: Das Interesse – vor allem von Gymnasien – ist enorm. Ich könnte jeden Abend irgendwo auftreten. Dieses Interesse widerspricht ja auch ein bisschen dem Bild von der Klagegemeinschaft. Es ist wie bei den Schulen: Man verliebt sich zu schnell in dieses Misslingen.

„Treibhäuser der Zukunft“- die 115-minütige Fassung gibt es als VHS-Video (15 Euro) oder als Dreifach-DVD (29 Euro) mit rund 14 Stunden Film, Interviews, Exkursen. Beides zu beziehen: Deutscher Kinder- und Jugendstiftung oder Beltz-Verlag, www.dkjs.de oder Telefon: 030 / 25 76 76 25.


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Petra Kistler

Redaktion Reportage

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