WDR Das Lerngenie der Kinder

MUSIK: Kronos QuartetTilliboyo

 

1. Sprecher

Deutschland vermisst seine Kinder. Kommt nun zu all den anderen Krisen auch noch die demographische Verfinsterung? Lauter letzte Menschen in einem Land ohne Zukunft?

 

2. Sprecher

So spricht die katastrophenverliebte, die panische Stimme. Ein Ton, der den Deutschen liegt, der aber vielen hierzulande langsam über ist.

 

3. Sprecher

Ein vollständigeres Bild wäre dieses: Die Kinder werden vermisst und sie werden neu entdeckt: Kinder als geborene Lerner. Säuglinge bereits als Forscher in Windeln.

Kinder als geniale Anfänger und insofern als Vorbilder für Erwachsene?

Das sind neue Töne.

Verändert sich die Gesellschaft selbst mit anderen Bildern von der Kindheit und vom Lernen?

Das zumindest ist eine Hoffnung, auf die man setzen muss, wenn von Kindern die Rede ist.

 

Ansage

Das Lerngenie der Kinder

Oder: Die Entdeckung der frühen Jahre

Ein Feature von Reinhard Kahl

 

 

Archiv : Atmo mit vielen Kindern verblenden mit Musikatmo  Originalmitschnitt / Vogelhändler Staatsoper Berlin (Barenboim)  steht kurz offen

 

O-Ton Take 1  Daniel Barenboim
Eine ganz radikale Veränderung der Erziehung, das ist mein Traum und ich glaube, ich habe verdient nach so viel Jahren diesen Traum zu haben.

Ich möchte, dass wir die Kinder nicht nur zur Musik bringen, sondern durch die Musik zum Leben bringen und über das Leben etwas zeigen und dass dann die gleichen Kindern weiter die Revolution machen, dass sie nach zwei, drei Jahren zur Schule gehen und dass sie dort fragen: Und wo ist die Musik?

 

 

ENDE Musik Vogelhändler

1. Sprecher

Der Dirigent und Pianist Daniel Barenboim hat etwas Großes vor: Ein Bündnis der Musik mit den Kindern. Zusammen mit Wissenschaftlern und Künstlern hat er in Berlin einen Musikkindergarten gegründet. Das wird gefeiert. Der Garten der Deutschen Staatsoper Unter den Linden in Berlin ist voll mit Kindern. Für sie spielt unter der Leitung des Generalmusikdirektors Daniel Barenboim das Staatsorchester Berlin.

 

Musik wieder offen

 

O-Ton Take 2  Daniel Barenboim

Es gibt so viele Dinge, die ich das Glück hatte, über die Musik zu lernen, zum Beispiel, dass es eine andauernde, permanente Verbindung gibt zwischen Inhalt und die Zeit. Manche Dinge brauchen Zeit um reifer zu werden. Andere muss man in einer bestimmen Geschwindigkeit vielleicht eher schnell… Das haben wir alle im Leben gelernt, manchmal durch sehr viel Leiden in persönlichen Begegnungen, in unserer professionellen Arbeit usw. und das lernt man in der Musik in einer Phase.

Wenn aus dem Kindergarten ein Kind rauskommt, ist es vielleicht nicht in der Lage das so zu artikulieren, wie ich das jetzt artikuliere, aber es hat gelernt, bestimmte Dinge muss man langsamer machen und bestimmte andere Dinge schneller. Das hat es durch die Musik gelernt. Aber wenn man ihm nur lehrt die Tonleiter zu spielen, lauter und leiser, schneller und langsamer, länger und kürzer, wenn das Musikerziehung ist, dann hat es nichts gelernt

 

Musikatmo Originalmitschnitt Musikraten / Musiker der Staatsoper Berlin in einer Kita – bleibt unter der nächsten Sprecherpassage

 

3. Sprecher 

Die Lebendigkeit der Musik und die der Kinder macht sie beide, die Musik und die Kinder für Daniel Barenboim verwandt. Diese Lebendigkeit ist bedroht. 

 

O-Ton Take 3  Daniel Barenboim

Was die Musik betrifft, ist die negative Tendenz, dass Musik wird mehr und mehr als spezialisiert gesehen. Mit Spezialsten für Spezialisten. Wir haben sozusagen spezialisierte Arbeiter, sie spielen Oboe und sie spielen Geige. Und das Publikum, was in die Konzerte kommt, ist auch ein Publikum, das spezialisiert ist. Ich meine damit Musik wird als etwas behandelt, womit man die Welt vergessen kann, als Ablenkungsinstrument, das ist es ja auch, aber es ist nicht nur das.

 

 

3. Sprecher 

Das gleiche Musikstück ist nie dasselbe. Es bildet sich der Geschmack für die Einmaligkeit und Kostbarkeit der Welt. Jeder Augenblick ist anders. So schärft die Musik auch den Sinn für die Kostbarkeit und die Einmaligkeit eines jeden Menschen.

 

O-Ton Take 4  Daniel Barenboim

Warum? Weil Musik ist vielleicht ein bisschen wie eine Religion. Man kommt so an einen Punkt, wo man Dinge nicht mehr trennen kann. In der Musik können sie nicht mehr trennen, was rationell ist, was emotional ist, was sinnlich ist. Die Musik bringt alle diese Elemente zusammen.

 

Musikatmo Originalmitschnitt Streichquintett / Musiker der Staatsoper Berlin in einer Kita – bleibt unter der nächsten Sprecherpassage

 

1. Sprecher 

Musiker der Staatsoper Berlin gehen in Kindergärten. Viele Kinder erleben Menschen, wie sie aus Instrumenten Töne hervorbringen. Vielleicht haben sie auch noch nie einen Handwerker oder einen Künstler bei seiner Arbeit gesehen.

 

 

3. Sprecher 

Aber es geht hier nicht nur um Instrumente und Töne, es geht nicht um Lektionen eines auch noch so gelungenen Musikunterrichts für die Allerkleinsten. Wir sind Zeugen eines schwer beschreibbaren Vorgangs, in dem sich Musiker und Kinder gegenseitig mit Leben anstecken. 

 

Musikatmo Klavier und Raum

 

1. Sprecher 

Der chinesische Starpianist Lang Lang und Daniel Barenboim spielen auf einem alten Klavier im Keller des Berliner Pestalozzi-Fröbel-Hauses, einem traditionsreichen Haus für die Ausbildung von Erzieherinnen.

 

3. Sprecher 

Hier begann der Musikkindergarten Berlin. Zwei Stars der Konzertsäle in einem Keller mit Kindern?

Die besten Leute für die Kinder?

 

O-Ton Take 5 Daniel Barenboim

Ich möchte, dass wir wirklich radikal neu denken über die Erziehung von Kindern durch Musik, nicht Musikerziehung, Erziehung von Kindern durch Musik.

Nichts bleibt so wie es ist und jeder Augenblick ist unwiederholbar, das ist die Lehre von der Musik. ////auch wenn wir Platten, Kassetten und Videos haben, das ist ein künstliches Medium, das uns erlaubt was zu halten, das eigentlich nicht zu erhalten ist und hilft uns eine unsere Sehnsucht nach einen Moment zu wiederholen wie ein Foto aber die Musik als solche ist unwiederholbar.

 

Musikatmo

 

2. Sprecher 

Die besten Leute für die Kinder? Und für sie die besten Räume, vielleicht sogar irdische Kathedralen bauen? Das ist gewiss ein sehr schöner, aber doch wohl verstiegener Traum. Unrealistisch. Oder? 

 

3. Sprecher 

Nein, die Aufforderung zum Umdenken  kommt heute von einer Seite, von der man es vor kurzem am wenigsten erwartet hätte.

 

O-Ton Take 5 Jürgen Kluge, McKinsey

Ich bin davon überzeugt, Bildung, vor allem frühkindliche Bildung ist der Schlüssel zu allem.

 

1. Sprecher 

Jürgen Kluge, der langjährige Deutschland Chef von McKinsey kommt zu dieser Schlussfolgerung im Rahmen des Projektes „McKinsey bildet“..

 

 

O-Ton Take 6 Jürgen Kluge, McKinsey

Es gibt in unserem Land keine bessere Anlagemöglichkeit als die, in Bildung zu investieren. Ich sage bewusst Investition. Es gibt da viele Langzeitstudien, vor allem aus den USA, die sich auf Vorschulprogramme stützen, und die versprechen von Renditen von 12 Prozent. Die Hochschulausbildung übrigens liegt, wenn man sich die Rendite ansieht, weit dahinter zurück, die Rendite liegt zwischen drei und vier Prozent.

 

MUSIK Kronos Quartett Escalay

 

4. Sprecher

Jeder Euro für die Bildung von Kindern, die noch nicht zur Schule gehen, bringt den Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt eine Rendite von zwölf Prozent.

 

O-Ton Take 7 Jürgen Kluge, McKinsey

Kultur, Bildung und Wissenschaft sind das Eigenkapital Deutschlands im Wettbewerb mit der globalen Konkurrenz. Wer diese Standortfaktoren vernachlässigt, führt Deutschland auf den Weg zum geistigen Billiglohnland.

Machen wir also Schluss mit der Gleichgültigkeit, mit der die Gesellschaft mit ihren Kindern umgeht, hören wir auf die Kinder systematisch zu unterschätzen. Begreifen wir Kinder als vollwertige Menschen.

Nehmen wir sie doch mit ihren Bedürfnissen ernst. Ein Hauptbedürfnis ist Erkennen, Lernbereitschaft, Lernbegierde. Nehmen wir die doch bei den Kindern an.

 

2. Sprecher

Wird Bildung nun etwa nicht mehr als Verursacher von Kosten gesehen? Wenn man die Zeitung aufschlägt, findet man Anderes. Bildung und Sparen sind immer noch ein Duett. Und nun soll Bildung ein Beitrag sein, die Menschen und die Welt reicher zu machen?

 

3. Sprecher

Stimmt und stimmt nicht. Die neue Idee von Bildung ist in Deutschland, anders als in manchen anderen Ländern, längst noch nicht Gemeingut. Oft gilt noch das Gegenteil:

 

O-Ton Take 8 Andreas Schleicher, OECD, Leiter der Pisa Studien

Deutschland ist ein Land, wo wir heiß darüber diskutieren, ob kognitives Lernen im Kindesalter schädlich sein könnte. Dafür bemühen wir dann den begriff der Schulreife: warten bis die Kinder reif für die Schule sind, die Schule, die wir seit immer haben. Das Ergebnis kennen wir aus der Pisa Studie.

 

1. Sprecher 

Andreas Schleicher leitet in der OECD Zentrale in Paris die internationalen Pisa Studien.

 

O-Ton Take 9 Andreas Schleicher, OECD, Leiter der Pisa Studien

Was ganz interessant ist, und diese Zahlen kennen sie wahrscheinlich noch nicht, dass die (Schul)Leistungen der 15jährigen mit mehr als einem Jahr Kindergarten in Deutschland eindeutig besser aussehen. Also ein deutlicher Gewinn. Was noch zu sagen ist, dass dieser Gewinn in anderen Ländern noch deutlich stärker ausgeprägt ist.

 

MUSIK Kronos Quartett Wawshishijay

 

3. Sprecher

Die Argumente für einen neuen Blick auf die Kinder sind eindeutig. Ihnen wird kaum noch widersprochen, wenn auch das alltägliche Handeln überwiegend noch von Vorurteilen bestimmt wird.

 

2. Sprecher

Etwa von der Vorstellung, Lernen sei doch das, was einem gegen den Strich geht, eher eine bittere Medizin, deren Wirksamkeit mit dem Grad an Bitternis steigt.

 

Musik Ende

 

3. Sprecher

Dann ist es nur folgerichtig, wenn sich Eltern auf dem Spielplatz darauf einigen, ihre Kinder lieber erst ein Jahr später einzuschulen, um ihnen noch ein Jahr kindliches Spiel zu lassen, bevor dann der Ernst des Lebens beginnt.

 

2. Sprecher

In der Schule wird dann immer noch mit dem späteren Leben gedroht.

 

3. Sprecher

Als seien Schule und Lernen eine Art Vorstrafe darauf.

Langsam aber ändert sich diese Einstellung den Kindern und dem Lernen gegenüber. Es beginnt damit, sie zum Lernen und ins Leben einzuladen. Lernen als das große, einmalige Projekt des eigenen Lebens anzusehen, eben nicht mehr als Drill und Rekapitulieren, ob nun Tonleitern oder Vokabeln, sondern Lernen als eine Vorlust auf sich selbst.

Das ist ein neues Denkmuster. Es ist vor allem ein anderes Muster wahrzunehmen und zu empfinden. Und zu staunen.

 

O-Ton Take10  Hubert Markl, em. Prof. für Biologie und ehemals Präsident der deutschen Forschungsgemeinschaft und der Max-Planck-Gesellschaft

 

Es gehört zu den kennzeichnendsten Wesensmerkmalen der Biologie unserer Spezies und zugleich zu den bis heute kaum erklärbaren Unglaublichkeiten unserer Natur, dass jedes einigermaßen gesunde Kind in wenigen Jahren zu sprechen und Sprache zu verstehen zu lernen vermag. Von Sanskrit mit 800 Verbformen bis zu den afrikanischen Sprachen mit nicht nur 2 oder 3 sogenannten „Geschlechtern“, sondern Dutzenden von Substantivklassen; vom isolierenden Chinesisch ohne jede Flexion, bis zum „agglutinierenden“ oder „polysynthetischen“ Türkisch oder Eskimo, die in ein ellenlanges zusammengehängtes Wort einen ganzen Komplexsatz fassen können.

 

1. Sprecher 

Der Biologe und ehemalige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft Hubert Markl.

 

3. Sprecher 

Der berühmte Forscher staunt wie ein Kind darüber, was die Kleinsten können. Auch in der Wissenschaft ändert sich der Blick auf sie, die, von der Kindermedizin abgesehen, noch vor einer Generation kaum ein Thema waren. Das Lernen in den ersten Jahren war wie das Wachsen des Körpers ein nicht weiter erklärungsbedürftiger Naturvorgang.

 

O-Ton Take11  Hubert Markl

Dass jeder x-beliebige Dreijährige auf der ganzen Welt, mal Einstein ausgenommen, der war ein Jahr später dran, jede beliebige dieser 7, 8 oder gar 10.000 Sprachen und ungezählte Aussprachedialekte davon, sogar das Altbayerische, geradezu begierig und weitgehend fehlerfrei erlernen, obwohl man später ein halbes Leben lang studieren müsste, um das später nachzulernen, das ist ein ganz unglaubliche Leitung, die wir noch nicht begreifen und würdigen können. 

Da zudem jedes Kind in dieser höchst sprachgeöffneten Phase seines Lebens die Fähigkeit hat, nicht nur seine Muttersprache, sondern auch eine Zweitsprache, z.B. das Englische, spielerisch mit auf zu nehmen, – jedenfalls unter Sprachbildungsbedingungen, von denen die Spracherziehung heute viel Vernünftiges weiß, – kann die Vor- und Grundschulperiode geistig höchst förderlich zu solchem Mehrspracherwerb genutzt werden, ohne die kleinen Geister zu überlasten. Vergessen wir nicht, dass solche Mehrsprachigkeit bei vielen Mischvölkern der Welt seit Jahrtausenden gang und gäbe ist, und auch nicht, dass schon heute zahlreiche Migrantenkinder unter Bedingungen heranwachsen, die sogar eine Dreisprachigkeit eher alltäglich macht, als eine klassische Sprachmonokultur, die manche von uns für normal halten mögen. Dem kleinen Köpfchen schadet dies nicht, es kommt ihm in seiner Entwicklung, wenn einfühlsam nahe gebracht, nur rundum zugute, damit es auch von früh an zu einem klugen Köpfchen werden kann.

 

MUSIK Penguin Cafe Orchestra: Yodel2

3. Sprecher

Ein ungewöhnliches Bündnis entsteht bei der Entdeckung der frühen Jahre. Künstler wie Daniel Barenboim und Wirtschaftsleute wie Jürgen Kluge, Wissenschafter wie Hubert Markl, also nicht nur die traditionellen Bewohner der Pädagogischen Provinz.

 

2. Sprecher

Sind wir etwa Zeugen eines Paradigmenwechsels, eines Umbaus an den grundlegenden Koordinaten des Denkens und Empfindens? Sollten der überhöhte Bildungsgedanke, der an Sonntagen proklamiert wurde und eine gewöhnlich griesgrämige Alltagspraxis in der Lernvollzugsanstalt tatsächlich überwunden werden?

 

3. Sprecher

Einen radikalen Blick aufs Lernen eröffnet die moderne Hirnforschung. Sie widerspricht der Vorstellung Lernen sei ein passiver Vorgang. Sie kündigt den Vorrang der Belehrung auf.

 

O-Ton Take12  Wolf Singer, Direktor Max-Planck-Institut für Hirnforschung Ffm

Ich glaube eine wichtige Erkenntnis ist, dass das werdende Gehirn in all diesen Reifungsprozessen die Initiative hat. Es ist keinesfalls so, dass da eine Tabula Rasa zur Welt kommt, die sich nun in beliebiger Weise prägen lässt, sondern das sich entwickelnde Gehirn, also der Selbstorganisationsprozess ist so angelegt, dass er sich die benötigten Informationen zum richtigen Zeitpunkt aktiv sucht und holt. Wir haben da ein Wort Neugier oder Spieltrieb.

 

 

 

1. Sprecher 

Wolf Singer, Direktor am Max-PlanckInstitut für Hirnforschung. Von ihm stammt das Bonmot…

 

4. Sprecher 

„Das Gehirn hat keinen Vorstandsvorsitzenden.“

 

Penguin Cafe Orchestra: Wildlife

3. Sprecher

Es braucht keine Anweisungen. Es ist intern auch nicht nach dem Prinzip Kommando und Ausführen, etwa nach dem Modell eines souveränen Ichs konstruiert, das sich selbst gewissermaßen an Marionettenfäden führt,. Es ist ein dauerndes Gespräch der unterschiedlichen Zentren miteinander und die größte Leistung seiner Selbstorganisation ist dabei, all diese Stimmen zu synchronisieren.

 

O-Ton Take 13 Wolf Singer

Kinder fangen irgendwann einmal an aufstehen zu wollen und versuchen dann das Gehen zu lernen, indem sie sich mit der Schwerkraft auseinander setzen und mit Objekten in ihrer Umgebung. Das kommt aus einem inneren Antrieb heraus, das tun zu wollen. Kleine Kätzchen spielen mit Wollknäuels, weil die üben wie man Mäuse fängt, das sind genetisch vorgegebene Programme, die sich irgendwann einmal ausdrücken und dafür sorgen, dass durch aktive Interaktion mit der Umwelt die Information aufgenommen wird, die das Gehirn braucht, oder die bestimmte Zentren im Gehirn brauchen um sich entsprechend ausbilden und anpassen zu können. Man tut also gut daran, weil es diese kritischen Phasen und Abfolgen von Lernprozessen gibt, genau hinzuschauen, was ein sich entwickelndes Gehirn wann braucht. Das drücken die meistens dadurch aus, dass sie, wenn man den Informationshunger adäquat stillt, mit Lächeln, Freude und Wohlbefinden antwortet oder mit frustrierten Handlungen, wenn ihnen vorenthalten wird, was sie suchen. Was nicht geht, ist zu versuchen in ein Gehirn irgend etwas hinein zu programmieren mit Nürnberger Trichtern oder Reizüberflutung oder Reizanbietung was, wofür es in dem bestimmten Entwicklungsschritt noch keine offenen Fenster gibt. Dann werden sowohl die Aufmerksamkeitsmechanismen Schwierigkeiten haben sich darauf zu konzentrieren, weil die notwendigen Erwartungen nicht vorstrukturiert sind und wenn die Aufmerksamkeit nicht auf etwas gelegt werden kann, dann kann man auch nichts lernen.

 

Kronos Quartet: Escalay

 

3. Sprecher 

Wenn sich die Ideen eines Daniel Barenboim mit den Erkenntnisse eines Wolf Singer treffen, dann könnte ein Jürgen Kluge zufrieden einer Zukunft entgegen sehen, in der die Investitionen in gute Lern- und Lebensbedingen der Kinder mit 12 Prozent Rendite prämiert werden. Das wäre dann vielleicht tatsächlich eine Wissens-, Bildungs-, oder wie Bundespräsident Horst Köhler sagt, eine Ideengesellschaft.

 

MUSIK Ende

 

Zu dem Interessanten und Neuen gehört auch, dass sich dieser Ertrag zwar nachträglich errechnen, aber nicht auf direktem, wirtschaftlichem oder politischem Weg ansteuern lässt. Das ist das Paradoxe. Die 12 Prozent Rendite ist nicht der Endeffekt eines wirtschaftlichen Kalküls, denn in den Fristen von Generationen plant niemand. So langfristig rechnet schon gar kein Politiker. Und kein Mensch macht mit dieser Zahl im Sinn aus einer Kita oder Schule einen schönen, anregenden und herausfordernden Ort. Diese Rendite ist eher die Nebenfolge eines guten Klimas in der Erziehung. Sie zeugt davon, dass Erwachsene die Kinder und die Welt mögen. – Ja, wagen wir das Wort: dass sie die Kinder lieben, so wie Augustinus Liebe definierte:

 

4. Sprecher

„Ich will, dass Du seiest!“

 

Musikakzent  (froh, verspielt, vielleicht Kronos, Piece of Africa Take 3

 

1. Sprecher 

Eine Reise zu den Kindern. Zu den Orten, an denen eine Zukunft mit ihnen schon begonnen hat.

 

3. Sprecher

Es gibt solche „Schwalben, die vor dem Sommer kommen“, wie der Dichter Friedrich Hölderlin schrieb.

Zum Beispiel wurde in Berlin am Prenzlauer Berg die Elias Kirche zu einem Mach-Mit-Museum für Kinder umgewandelt.

 

2. Sprecher

Im Kirchenschiff Einbauten mit einem Labyrinth von Gängen und Höhlen, durch die Kinder und Eltern krabbeln. Werkstätten, Ecken zum Malen und ein Spiegelzelt. Toberäume, ein vollständige ausrangierte Druckerwerkstatt, und naturwissenschaftliche Exponate zum Anschauung und für Experimente. Auch ein Café für die Eltern.

 

3. Sprecher

Das Mach-Mit-Museum ist ein noch ungewöhnlicher, öffentlicher Ort für Kinder und Familien. Eher ein Gesamtkunstwerk als eine so genannte Freizeiteinrichtung. Solche Häuser müsste es eigentlich in jedem Stadtteil geben, vielleicht mit Kindergärten und Schulen verbunden?

Immerhin planen einige deutsche Bundesländer, Baden-Württemberg und Hamburg voran erste Modelle für eine neuartige Bildungseinrichtung, ein so genantes „Haus des Lernens“ für die drei- bis zehnjährigen, das Kita und Grundschulen zusammenfassen wird.  Und es klingt ja auch hoffnungsvoll, wenn Annette Schavan, die Bildungsministerin bekennt:

 

MUSIK Ende

 

2. Sprecher

„Ich finde, dass in jeder Stadt die Schulen und andere Häuser des Lernens zumindest so aufwendig gebaut und ausgestattet sein sollten, wie die schönste Sparkasse der Stadt.“

Musik Kronos Quartett Tilliboyo

 

1.Sprecher

In Berlin, ein paar Kilometer vom Mach-Mit-Museum entfernt in Kreuzberg wurde ein Parkhaus zum Lern- und Kinderhaus umgebaut. Man hatte versehentlich ein Autohaus zu viel geplant.

3. Sprecher

Aus der Ruine wurde eine der schönsten Kitas der Stadt. Sie hat viel Platz für die Kinder. Unter einem Glasdach Palmen und eine offene und dennoch nicht sofort übersichtliche Architektur von Treppen, Räumen und Nebenräumen. Auf dem Dach inmitten des Kiez am Kottbusser Tor ein riesiger Kasten mit Blumen, Kräuterbeeten, Rasenflächen.

Natürlich sind Erzieher wichtig. Natürlich kommt es auf die Pädagogik an. Aber nicht weniger wichtig ist der Raum. Der Raum ist, wie der italienische Pädagoge Loris Malaguzzi sagt, der dritte Pädagoge. Die ersten Pädagogen sind die anderen Kinder. Der zweite sind die Erwachsenen. Aber ohne einen gelungenen Raum können sich die Menschen nicht entfalten.

 

2. Sprecher

Die Beschaffenheit des Raumes erzählt den Kindern, ob sie willkommen sind oder nur geduldet. Schafft man dort viele Gelegenheiten? Investiert man in ihre Talente oder wird immer noch nur betreut und verwahrt? 

 

1.  Sprecher

Mülheim an der Ruhr. Hier wurde im Sommer 2006 in den Park Witthausbusch, der an einen Wald grenzt, von der Stadt mit der Unterstützung einer Stiftung ein Glashaus gebaut, eine Lernwerkstatt, in die Gruppen aus Kindergärten zum ersten Forscherpraktikum ihres Lebens kommen.

Atmo Kinder jubelnd

Eine Woche lang kommen sie und beginnen mit Expeditionen in den Wald.

Atmo Kinder springen ins Wasser

3.  Sprecher

Die meisten Experimente sind zunächst Selbstversuche. Die Kinder springen in das fußhohe Wasser eines kleinen Bachs. Erzieherinnen und zwei Erziehungswissenschaftlerinnen der Universität Köln, die hier Erkenntnisse über den Forschergeist der Kinder sammeln, haben einen Bollerwagen mit Seilen, Hammer, Nägeln und anderem Werkzeug mitgebracht. Die Kinder setzen sich Grubenlampen auf die Köpfe und betrachten den Boden durch eine Lupe. Im Nu erobern die drei bis sechsjährigen Kinder den Hang einer Schlucht im Wald. Sie bringen die Taue an Bäumen an, ziehen sich den Abhang hoch, springen über den Bach. Sie hämmern an Wurzeln und Steinen und schichten den Lehm um. Man könnte Angst vor Unfällen haben.

 

O-Ton Take 14 Frau Eden 

Ich / sehe inzwischen wie gut die Kinder für sich selbst sorgen, das sind keine Selbstmörderkinder, keine Kamikazekids, sondern die gehen, man kann das gut sehen, gerade, Stückchen für Stückchen. Also ganz wichtig ist, dass jemand dabei ist und guckt, was passiert hier. Wenn es kippt, muss er auch ganz schnell da sein und entweder auffangen oder mal stoppen. Aber die Kinder sind unglaublich gut. Wir sind ja jetzt ein dreiviertel Jahr hier im Gelände und wir haben noch nicht einmal, nicht einmal die Erste-Hilfe-Tasche benutzen müssen und das ist für mich so klar wie gut die sind. Natürlich kann man immer mal wieder stolpern. Eben ist so eine ganz Kleine, eine dreijährige so schief gegangen und hier in das Bachbett gefallen, die hat sich unglaublich erschrocken, aber das ist auch eine wichtige Erfahrung. Halt wieder aufstehen, ein bisschen in den Arm genommen werden, jemand hört zu und dann geht es aber wieder weiter. Das war nicht das Drama und es ist nicht schlimm in das Wasser zu fallen.

 

 

 

2. Sprecher (fortlaufend, durch die Atmo-O-Töne unterbrochen)

Das Forscherleben beginnt nicht mit Belehrungen auf angeblichem Kinderniveau, sondern mit etwas ganz Ernsthaftem. Die Kinder nennen das übrigens Arbeit.

 

Atmo: „Hier wird Kleber gemacht. Schleimiger Kleber und fester Kleber. Eine Fabrik.

Der Sog ist enorm und die meisten Kinder haben keine Angst sich ins Unbekannte vorzuwagen. 

 

Am liebsten würden sie in der Materie baden.

Die Kinder wollen die Dinge im Experiment entdecken. Dabei schärfen sie ihre Sinne.

Atmo Jungen:. Die Erdmännchen suchen wir. Nein wir machen hier eine Baustelle – Das bewegt sich.

Hallo, ist da jemand..

Und dann finden sie die vergittern Eingänge eines Kriegsbunkers.

Atmo Jungen: Da geht man einfach durch die Erde einfach, das ist ganz dunkel da, ein Haus und da sind keine Fenster und keine Türen.

Mittags bringen sie dann die Ausrüstung zusammen mit der Ausbeute des ersten Expeditionstages zurück ins Basislager. Aus Lehm werden Kugeln geformt und gebrannt. Ein Kind fragt, warum eigentlich der Ofen dabei nicht verbrennt. Große Ratlosigkeit, viele Überlegungen. Bald haben die Kinder ihr Wissen zusammen getragen. Offenbar gibt es Stoffe, die leicht brennen und andere, die schwer oder gar nicht brennen. Die Kinder sind mit dieser Frage nicht fertig. Sie werden hungrig und nicht satt gemacht.  

 

1. Sprecher

Die Lernwerkstatt im Mülheimer Park ist auch Lernprojekt des Kölner Erziehungswissenschaftlers Professor Gerd Schäfer. Denn das Lernen der Kinder beginnen die Psychologen, Kognitions- und Hirnforscher eigentlich erst in Konturen zu verstehen.

 

O-Ton Take 14  Prof Gerd Schäfer, Uni Köln.

Eine der wichtigsten Einsichten, die wir jetzt zusehends auch durch diese Werkstatt gewinnen, ist, dass der Alltag und die Gestaltung des Alltags für Kinder wichtiger sind als alle speziellen Programme. Nämlich die Wirkung des Alltags, die ist dauerhaft, die hält an.  

 

3. Sprecher

Die geringe Nachhaltigkeit ist ja das Hauptproblem des schulmäßig angeeigneten, oft nur äußerlich übergestülpten Wissens. An den kleinen Kindern wollen die Forscher mehr vom Vorgang des Lernens selbst verstehen. Wie wird Neues in das komplexe Gewebe vorhandenen Wissens eingefügt? Wie verhält es sich mit der je verschiedenen Eigenzeit der Kinder und überhaupt mit lernenden Individuen?  

 

O-Ton Take 15  Prof Gerd Schäfer, Uni Köln

Diese Sachen / werden für die Kinder immer klarer und präziser / Dadurch entsteht eine Zeitorientierung, die sich am Erleben des Kindes orientiert oder man könnte sagen, die so ähnlich strukturiert ist wie ein Kinderspiel. Das Kind findet hinein, findet eine Phase wo es sich hoch konzentriert und findet dann auch ein Ende wo es sagt, es ist genug.

Atmo Kinderkurze Unterbrechung des O-Tons

Wenn sie ein Kind aus seinem vertieften Spiel heraus reißen, ist es meistens ärgerlich. Das heißt, es entsteht da ein Rhythmus des Arbeitens, so würde ich es nennen, der gewissermaßen von der Sache und vom Kind selbst gesteuert ist. / Etwas, das wir bei Kindern immer wieder finden, bis zu den Kleinsten: Sie suchen etwas, was sich lohnt überwunden zu werden. Sie suchen immer eine Herausforderung. Das beginnt schon bei den allerkleinsten in der Wiege, im Bettchen, sie suchen sich, sie gucken regelrecht, sie halten regelrecht Ausschau nach Möglichkeiten, was gibt es Neues, was ist interessant und wenn sie das Interessante erforscht haben, gucken sie sozusagen nach dem Neuen. Also sie sind regelrecht programmiert auf solche Prozesse, darauf etwas zu entdecken und dann heraus zu bekommen, was das denn ist. Das gilt beim Laufen lernen, beim Sprechen lernen ganz genauso.

 Von daher ist es kein Wunder wenn sie das Spiel als Arbeit betrachten, sie betreiben es mit großen Ernst und sie haben auch wirklich ernsthafte Fragen, die dahinter stehen.

Atmo Kinder – kurze Unterbrechung des O-Tons

Ich finde es immer das Allerschrecklichste, wenn von den Kindergärten gesagt wird: na ja, die Kinder müssen dies oder jenes lernen und wir können das auch schon im Kindergarten, wir machen es dann halt spielerisch. Das finde ich solch eine Entwürdigung des Spiels, weil es nämlich den ganzen Ernst des Spieles missachtet und das Spiel als wie ein trojanisches Pferd betrachtet. / Das erstaunliche ist, das stellen wir hier immer fest: Die Kinder sind ruhig, sie können sich konzentrieren, selbst zappelige Kinder konzentrieren sich hier und bleiben an ihrer Arbeit, das heißt, sie haben ein Interesse etwas heraus zu kriegen, sie sind uninteressiert an Langeweile. Spannung wollen sie und Spannung, wenn die in der Sache liegt, dann sind sie bereit ihren Kopf zu riskieren.

 

MUSIK: Pengui Cafe Orchestra: Simmon’s Dream

 

O-Ton Take 16 Prof. Gisela Lück, Universität Bielefeld

Ich bin mir ganz sicher, dass jeder, der hier im Raum sitzt, als er fünf Jahre alt war oder sechs Jahre alt war Warum-Fragen gestellt hat, die er heute nicht mehr stellen kann. Und ich vermute, dass je nachdem, welche Resonanz ihre Warum-Fragen bei den Erwachsenen, ihren Bezugspersonen, den Eltern gefunden haben aus ihnen eine naturwissenschaftsinteressierte Person geworden ist oder jemand, für den die Naturwissenschaften nicht so ganz oben auf den Prioritätenlisten stehen.

1. Sprecher