Hartmut von Hentig wird 80 / 3 Texte

Süddeutsche Zeitung 23. 9. 2005

 

Menschen stärken, Sachen klären

 

Hartmut von Hentig wird 80

 

Von Reinhard Kahl

 

Sein Feind heißt Midas. Der lauert auch in Schulen. Bekanntlich haben die Götter der griechischen Mythologie ihm den Wunsch erfüllt, dass sich zu Gold verwandelt, was immer er anfasst. Hartmut von Hentig fürchtet den pädagogischen Midas. Ihm wird unter der Hand alles zur Belehrung. Schüler bekommen Antworten, bevor sie eigene Fragen stellen können. Es werden Fächer, aber nicht die Kinder unterrichtet. Der pädagogische Midas erstickt erst die Neugierde und dann das Lernen selbst. Diesem Generalverdacht setzt Hentig unverdrossen die allergrößten Hoffnungen entgegen. Die Schule soll eine kleine Polis sein, „to be a place for kids to grow up in,“ wie er immer wieder Paul Goodman zitierend insistiert.

 

Die Schule ist für den Nestor der deutschen Pädagogik eine ambivalente Angelegenheit. Dieser Gedanke zieht sich wie ein Wasserzeichen durch sein Werk. „Die größte Gefahr kommt der Pädagogik von ihrem eigenen Zweck,“ schreibt er in seinem kürzlich erschienenen Buch über Rousseau. „Will sie einen guten Menschen machen, wird sie ihn nicht bekommen.“ Was wäre die Alternative? Aus der Unterrichtsanstalt einen Lebensort machen. Das ist seit bald einem halben Jahrhundert Hartmut von Hentigs Programm und Passion.

 

Geborgen wurde er am 23. September 1925 in Posen. Sein war Vater Preuße aus Überzeugung und Diplomat von Beruf. Kindheit und Jugend verbrachte Hartmut in fünf Ländern, dreizehnmal wechselte er die Schulen. Das blieb ihm als weltbürgerliche Ressource. Unterschiede sind gut. Es gibt nicht die eine gute Schule. Das ist immer noch seine Überzeugung, auch wenn er später selbst welche gegründet hat. Worauf es ihm ankommt ist die Person. Fordert die Institution ihre Lehrer dazu heraus Individuen zu sein, oder will sie Unterrichtsfunktionäre? Sollen die Kinder und Jugendlichen ihren Eigensinn zu Interessen und Leidenschaften kultivieren oder lieber abschleifen? Die Personen so wichtig zu nehmen, das ist eine der Hentigschen Entdeckungen des Selbstverständlichen, das gar nicht selbstverständlich ist.]Klingt es nicht fast schon skandalös wenn er schreibt: „Will ich meine Pädagogik erklären, muss ich mich erklären.“

 

Nach kurzer Zeit als Soldat in den letzten Monaten des Krieges, erlebte er das Offizierslager in amerikanischer Gefangenschaft als seine erste Universität. 1945 begann er in Göttingen das Studium der alten Sprachen. Da wohnte er in einer Bude mit Richard von Weizsäcker, der in Berlin auch die Rede zum 80. Geburtstag halten wird. Hentig setzte das Studium in den USA fort. Zurück kam er mit dem Doktortitel, aber ohne staatliches Examen. Mitte der 50iger Jahre holte ihn Georg Picht als Griechisch- und Lateinlehrer an das Internat Birklehof. Hartmut von Hentig wird ein begeisterter Lehrer, Erzieher, Freund.

 

Seit Anfang der 60er Jahre veröffentlicht er seine Kritik an der Schule. Sein erfrischender Geist wird beachtet; er wird die erste Stimme in der anstehenden Erneuerung der Schule. 1963 wird der brillante junge Mann, nicht  habilitiert und ohne ein ordentliches Studium der Pädagogik, als Professor nach Göttingen berufen. Einige Jahre später schon, 1968, bekommt er einen Ruf an die neu gegründete Universität Bielefeld. Als Bedingung für den Wechsel verlangt er zwei Modellschulen: die Laborschule und das Oberstufenkolleg. Sie sollen für die Pädagogische Fakultät das werden, was das Klinikum für die Mediziner ist.

 

Jetzt kann er seinen eigne Pädagogik entfalten. Seine Schule ist ein überschaubarer Ort, an dem jeder erfährt, dass er gebraucht wird. Sie ist eine erste Öffentlichkeit, in der es Kinder und Jugendliche genießen, gesehen zu werden und in der sie lernen, sich zu exponieren. Regeln, Reviere und Rituale werden entwickelt. Das Wissen ist wichtig, aber noch wichtiger ist das Denken. 

Und wenn das nicht gelingt? Hentigs 1993 erschienenes Buch  „Die Schule neu denken“ wird von dieser Befürchtung getrieben. „Wenn eine Gesellschaft ihre jungen Menschen nicht braucht und sie dies ausdrücklich wissen lässt, indem sie sie an Orten, von denen nichts ausgeht, kaserniert und mit sich selbst beschäftigt, dann zieht sie ihre eigenen Zerstörer groß.“

 

In diesen Tagen diskutiert der seit 1988 in Berlin lebende mit Freunden und Wahlverwandten eine Art Manifest. Soll man für die Zeit der Pubertät den Unterricht nicht mit etwas anderem ersetzen? Mit wirklichen Aufgaben und Erfahrungen! Vielleicht ein soziales Pflichtjahr? „Die Menschen stärken und die Sachen klären.“ Das ist seine Antwort auch auf Pisa: Inmitten der vielen Statiker, die den Unterricht verbessern wollen, ist er der Architekt der Schule. Ihr wichtigstes Medium bleibt der Lehrer – oder sollte es endlich werden.

Person, Dialog, Denken, das klingt fast unzeitgemäß konservativ und zugleich in einer subversiven Weise zukünftig. Pädagogik, sagte Hentig einmal, sei ein so hochindividueller Vorgang, dass man sie nur mit der Liebe vergleichen könne. Wenn sich Menschen in ihrer ganzen Einmaligkeit und Besonderheit treffen, dann kommt auch das Neue zur Welt.

 

 

 

 

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HR 2  / Wissenswert / 23. September 2005

 

Reinhard Kahl

 

Denken ist wichtiger als Wissen

Hartmut von Hentig wird 80

 

 

Cut 1 

Ich will sagen,  die Schule, die jungen Menschen hilft erwachsen zu werden, oder ganz konventionell gesprochen, auf das Leben vorbereitet, die gibt’s eigentlich gar nicht.

 

Aber er glaubt, daran, dass sie möglich, ja nötig ist. Nötiger denn je. Hartmut von Hentig. Der Nestor der deutschen Pädagogik. Seine Stimme ist im Diskurs der deutschen Bildungsdebatte immer noch eine der leidenschaftlichsten. Seine Begeisterung gilt den Kindern. Ohne den Glauben an sie, wären seine Ideen längst verwelkt. Sein Leiden an der gewöhnlichen Schule mobilisiert seine Leidenschaft.

 

Cut 1  b

Wir bereiten immer das nächste Examen, also auf die nächste Klassenarbeit vor oder auf die Versetzung oder auf einen nächsten Laufbahnschritt vor, und um den Rest kümmert man sich sehr wenig.

 

 

Hentig wird nun 80.  Seine Kindheit verbrachte er in vielen Ländern, das brachte die Tätigkeit des Vater im auswärtigen Dienst mit sich. Insgesamt 13 mal hat er die Schule gewechselt.

 

Cut  2  

Und das belehrt einen ja gründlich darüber, dass es nicht die gute Schule gibt, sondern sie waren alle ein bisschen schlecht und ein bisschen gut und immer war ich gut dran, wenn ich die Schule selbständig nutzte. … Die Selbstständigkeit gegenüber dem System, das nicht unfehlbar war, das hatte ich also herausgefunden: es gibt nicht die Schule. Und das ist auch heute meine Überzeugung, auch wenn ich das in einem bestimmten Abschnitt meines Lebens entworfen habe und gefunden habe, das machen wir jetzt mal, weil das ist besser als was anderes, halt ich die doch nicht für die beste aller denkbaren Schulen, beileibe nicht.

 

 

Das war seine pädagogische Initiation und zeitlebens eine Ressource. Unterschiede sind gut. Sie machen nicht nur Freude, sie bringen auch Vorteile. Und der Unterschied aller Unterschiede liegt in den Personen, die Schule machen, in den Lehrern.

Die Personen so wichtig zu nehmen, das ist eine der Selbstverständlichkeiten, die gar nicht selbstverständlich sind. Klingt es nicht fast schon skandalös wenn Hartmut von Hentig schreibt:

„Will ich meine Pädagogik erklären, muss ich mich erklären.“

 

Pädagogik ist für ihn keine Sache und kein Programm, keine Maschine zur Produktion von Abschlüssen oder von Qualifikationen. Pädagogik ist für ihn ein Verhältnis zwischen Personen und zwischen den Generationen.

 

Das klingt unzeitgemäß konservativ und zugleich in einer subversiven Weise zukünftig. Pädagogik, sagte Hentig einmal, sei ein so hochindividueller Vorgang, dass man sie nur mit der Liebe vergleichen könne. Menschen kommen in ihrer ganzen Einmaligkeit und Besonderheit zusammen.

 

Hentig wird deshalb nicht müde, die „Schule neu zu denken,“ wie eines seiner  Bücher heißt.

 

Cut 3

Ich habe ja nie Pädagogik gelernt, bin Lehrer gewesen, Lehrer der alten Sprachen an süddeutschen Gymnasien. Habe da meine Fehler gemacht und habe vor allem, nachdem ich die überwunden hatte, an den ärgerlichen Rahmenordnungen unserer Schule gelitten.

 

 

Dass er selbst nie Pädagogik studiert hat, verhalf dem emeritierten Starprofessor der Pädagogik vielleicht gerade dazu seine eigene Pädagogik zu erfinden.

 

Cut 4

Es ist einer der Fehler unserer Schule, dass sie die entscheidende Ressource, die sie hat, den erwachsenen Lehrer, der ganz für die Kinder da ist, so wenig einsetzt. Das ist komischer Weise für sie eine austauschbare Sache, das ist ein Unterrichtsfunktionär, das wäre ja beinahe noch ein Mensch, er ist eine Unterrichtsfunktion.

Der Lehrer muss ein Mensch sein. Der muss auch seine Fehler haben und die muss er überwinden.

 

 

Hartmut von Hentig wurde am 23. September 1925 in Posen geboren. Sein Vater war Preuße aus Passion und Diplomat von Beruf. Nach der Schulzeit in so vielen Schulen, diesem unvergleichlichen „Praktikum“, aus dem die Leidenschaft seines Lebens wurde, begann er 1945 in Göttingen das Studium der alte Sprachen, das er in den USA fortsetzte. Zurück kam er mit dem Doktortitel, aber ohne staatliches Examen. Mitte der 50er Jahre holte ihn Georg Picht als Griechisch- und Lateinlehrer an das Internat Birklehof. Als er später sein Referendariat am Uhland Gymnasium in Tübingen nachholte, probierte Hartmut von Hentig einen anderen Lateinunterricht aus – einen Unterricht, der die Sprache inszenierte, eher wie Theater, keine Belehrung, kein Pauken.

 

Zu Beginn der 60er Jahre veröffentlicht Hartmut von Hentig seine Kritik an der Schule. Sein erfrischender Geist wird beachtet; er wird die erste Stimme in der anstehenden „Erneuerung“ der Schule.

 

Der Schulkritiker von Hentig, nicht  habilitiert und ohne Studium der Pädagogik,  wird 1963 als Professor nach Göttingen berufen. Einige Jahre später schon, 1968, bekommt er einen Ruf an die neu gegründete Universität Bielefeld. Als Bedingung für den Wechsel verlangt er die Gründung von zwei Modellschulen: die Laborschule und das Oberstufenkolleg an der Uni, das für die Pädagogische Fakultät das werden soll, was das Klinikum für die Mediziner ist.

 

[1972 hätte er in Hessen Kultusminister werden können. Aber als ihm klar wurde, dass ein Minister durchs Land ziehen und immer das Gleiche sagen muss, winkte er ab und betrieb weiter den Aufbau seiner Reformschule.

Er entwarf die Schule als einen Lebensraum für Kinder und Jugendliche, nicht als eine Unterrichtsanstalt. Er wollte eine Schule, in der Kinder dadurch besser lernen, dass sie dort auch leben.]

Die Schule – eine kleine Welt, wie die Polis, das überschaubare Gemeinwesen im antiken Griechenland.

 

Cut  5 

Sie muss erlebbar sein in ihren Grundelementen: der Einzelne und seine Würde wird dort geachtet. Das muss man dort erfahren, der Einzelne kann Einfluss nehmen auf das Ganze, das muss er erfahren, sogar ich kleinste Person unter den Größeren  habe mein Recht auf mein Wort und meine Meinung. Es muss Gemeinsinn geben. Es muss eine Befriedigung entstehen, weil ich meine Verantwortung getragen habe und nicht das überall erlebbare Weglaufen vor der Verantwortung. Schon ihre Lehrer machen ihnen dieses vor. Wir können keine gute Gesellschaft haben, wenn man nirgendwo erfahren hat, wo diese drei eben genannten Elemente einer guten Polis sind. In der großen erfahren wir es nicht. [Da ist Ellbogen gefragt, da betrügt man den Staat wo man kann, da geht man alle 4 Jahre auf Grund von idiotischen Plakaten und ohne jedes Urteil zur Wahl, das kann es doch nicht sein. Es müsste in dieser Schule erst einmal Polis sein und dann müsste sie so sein, dass man in ihr lebt und deshalb Lebensprobleme hat und deshalb Lösungen für sie sucht, Ordnungen, Reviere, Zeiten, Abgrenzungen, Rechte, alles sich selbst noch mal klar macht, den kleinen Gesellschaftsvertrag dort schließt. Und damit ist die Schule wunderbar beschäftigt und alle Dinge wie Geschichte oder wie Schreiben und Rechnen und Lesen, das sind ganz wichtige Mittel dabei.]

 

 

Hartmut von Hentigs Schule ist ein überschaubarer Ort, an dem jeder erfährt, dass er gebraucht wird. Sie ist eine erste Öffentlichkeit, in der es Kinder und Jugendliche genießen, gesehen zu werden und in der sie lernen, sich zu exponieren.

Und wenn Schulen das nicht gelingt ?

Dann werden sie verwahrlosen, dann werden sie Orte, an denen Zerstörung beginnt.

Hentigs 1993 erschienenes Buch  „Die Schule neu denken“ wird von dieser Befürchtung getrieben.  Er schrieb:

 

„Wenn eine Gesellschaft ihre jungen Menschen nicht braucht und sie dies ausdrücklich wissen lässt, indem sie sie in Schulen, an Orten, von denen nichts ausgeht, kaserniert und mit sich selbst beschäftigt, sie von allen Aufgaben ausschließt, dann zieht sie ihre eigenen Zerstörer groß.“

 

 

Cut  6

Die konservativen Erwachsenen, und die meisten sind das, haben Angst vor der nächsten Generation von Barbaren, die daher kommen und die Gesittung noch nicht gelernt haben, die Institutionen noch nicht verstehen, und die mit brutaler Kraft und unbefangen alles kaputt machen. Das ist die große Angst. Und dafür sorgt man in den Erziehungsanstalten, dass man das Stillsitzen und den Gehorsam und die Ordnung das alles bitte, bitte lernt, bevor man irgend etwas anderes wie Phantasie und Selbstentfaltung oder gar Selbstbehauptung oder gar Kritik, eigenes Handeln, lernt. Nein, nein, `bleibt mal still sitzen, ich sag dir schon, was du zu tun hast‘. Es ist Furcht, es ist die blanke Furcht, dass die jungen Leute, die ja das alles nicht wissen können, was wir schon wissen, dass die mit ihrer Unkenntnis und ihrer Unbefangenheit kühner sind, als wir es uns erlauben dürfen.

 

 

Die Ergebnisse dieser misstrauischen und lebensfeindlichen Schule sind dürftig. Vielleicht finden wir in diesem misstrauischen Klima und dem Kleinkrieg die triftigste Erklärung für das schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei PISA. Das Problem liegt tiefer als in Lehrplänen, Schulausstattung, Standards und so weiter.

Hartmut von Hentig warnt: Versucht die Pädagogik ihre Ziele auf dem kürzesten Weg zu erreichen, verfehlt sie dabei ihr Ziel. Das indirekte Spiel ist wirksamer als die direkte Einflussnahme. Respektvoller und schöner, ja eleganter ist es sowieso. In seinem 2003 erschienenen Buch „Rousseau oder die wohlgeordnete Freiheit“ schreibt er:  Zitat:

 

„Die größte Gefahr kommt der Pädagogik von ihrem eigenen Zweck. Will sie einen guten Menschen „machen“, wird sie ihn nicht bekommen.“

 

In der Schuldebatte kommen heute neue Töne auf. Nach der großen PISA-Irritation beginnt man tatsächlich, die Schule neu zu denken.

Eine Chance, aus der Schule den Ort zu machen, der Hartmut von Hentig immer vorschwebte, ist die Diskussion um die Ganztagsschule.

 

Cut 7

Ich habe eigentlich immer gefunden, dass die Ganztagesschule eine riesige Veränderung, vielleicht die größte überhaupt, der durchgreifendste Reform-Impuls wäre, den wir haben könnten. Wir haben die unsinnige Aufteilung von: es gibt Belehrung durch Unterricht und es gibt Leben und für das Zweitgenannte ist die Familie da. Die andere Aufgabe der Schule: „to be a place for kids to grow up in“, die wird durch die Ganztagesschule eingefordert, wird erst ermöglicht und auch eingefordert. Das Leben und seine Schwierigkeiten, Eitelkeiten und Ängste finden Antworten in dem Schulcurriculum, es stärkt, die Person wird gestärkt dadurch, dass ich das ein bisschen besser durchschaue, die Sache geklärt habe, na, das wäre die gute, gegenseitige Ergänzung.

Die Bildung, die Schulbildung, öffnet die Augen, stärkt das Lebensgefühl, gegenseitig, und wenn wir uns dann angucken, was wir da  haben: eine nach dem Fließbandmuster taylorisierte  Belehrungsanstalt.

 

 

Dagegen setzt Hentig die Person, den Lehrer als einen wirklich erwachsen gewordenen Erwachsenen. Sein wichtigstes Medium ist der  Dialog. Dialog ist nicht bloß Austausch, kein Hin -und Hersenden von Informationen. In jedem Dialog entsteht Welt, eben weil seine Teilnehmer verschieden sind. Das gleiche gilt für den inneren Dialog, das Denken. Es ist Hentigs zweites großes pädagogisches Medium, das für ihn in den Schulen zu kurz kommt. Das Wissen, sagt er, würde in unseren Schulen überschätzt, das Denken werde vernachlässigt.

Ohne Dialog und das Selbstdenken wird Bildung zur Abrichtung, zur Verwahrung oder gar zur  Indoktrination. Allerdings sind Dialog und Denken ohne Unsicherheit, ohne Fehler und Sackgassen, ja auch ohne sich in seinen Irrtümern sozusagen zu „zeigen“ undenkbar. Die Angst vor Umwegen, Fehltritten und vor Scheitern führt zu einer Schule, die diktiert, was richtig und was falsch ist, oder zu einer Schule der Gleichgültigkeit und Verwahrlosung.

Hentigs Gegenmittel?

 

Cut 8

Die Menschen zum Aushalten von Offenheit in unser Welt, zum Aushalten von Ambivalenz, von Zweiwertigkeit zu erziehen. Man muss das aushalten. Es ist ein Zwiespalt. Und nicht den kleinen Menschlein immer schon sagen, läuft alles nach dieser Regel: der Ablativ folgt immer wenn…, nicht wahr. Und dieses erst mal einprägen, dass die Welt geordnet ist wie ein Rechenschieber, das ist falsch. Sie dauernd darauf vorbereiten, dass das, was man ihnen jetzt gibt, Mittel sind für unterschiedliche Lagen: kann ganz anders sein nachher –  und du bist vor allem immer wieder anders als ich. Und deine Lösung könnte besser sein, probier mal aus, sieh mal zu, und ich helfe dir. Und dieses sich gegenseitig Helfen stört die Lehrer und die Schule und ihre Ordnung so furchtbar. Die gewaltigsten Maßnahmen, fahren sie dagegen auf. Es muss still sein.

 

1988 ließ sich Hartmut von Hentig vorzeitig emeritieren. Er bezog in Berlin eine Wohnung am Kurfürstendamm und nutzt dort die Zeit für Freunde, zum Schreiben und nach wie vor dafür, sich einzumischen – zum Beispiel mit Aufsehen erregenden Büchern wie „Die Schule neu denken“. Er brachte eine große Gedichtsammlung heraus und seine Reiseerinnerungen „Fahrten und Gefährten.“ Zuletzt erschien ein langer Brief an seinen Neffen Tobias: „Warum muss ich zur Schule gehen“; es folgten das Buch über Rousseau und eines mit dem lakonischen Titel „Wissenschaft – Eine Kritik.“

 

Hartmut von Hentig ist fraglos der Pädagoge, der die Bildungsdebatten in Deutschland seit Anfang der 60er Jahre am nachhaltigsten beeinflusst hat. Aber er hat keine akademische Schule gegründet, das würde seinem Prinzip des Selbstdenkens widersprechen. Epigonen, die sich bequem in seinem Denkgebäude einrichten wollten, wären ihm zuwider; schon die Vorstellung des festen Gedankengebäudes macht ihn skeptisch.

 

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NDR Kultur aktuell  &  SWR 2  Journal

 

23. September 2005

 

Reinhard Kahl

 

Der Meisterpädagoge, der nie Pädagogik studiert hat

 

 

 

Cut 1 

Ich will sagen,  die Schule, die jungen Menschen hilft erwachsen zu werden, oder ganz konventionell gesprochen, auf das Leben vorbereitet, die gibt’s eigentlich gar nicht.

 

Aber er glaubt daran, dass sie möglich, ja nötig ist. Nötiger denn je. Hartmut von Hentig. Der Nestor der deutschen Pädagogik.

 

Cut 1  b

Wir bereiten immer das nächste Examen, also auf die nächste Klassenarbeit vor oder auf die Versetzung oder auf einen nächsten Laufbahnschritt vor, und um den Rest kümmert man sich sehr wenig.

 

Die Tätigkeit des Vater im auswärtigen Dienst brachte es mit sich, dass Hartmut von Hentig in 5 Ländern zur Schule ging, sie insgesamt 13 mal gewechselt hat.

 

Cut  2   

Und das belehrt einen ja gründlich darüber, dass es nicht die gute Schule gibt, sondern sie waren alle ein bisschen schlecht und ein bisschen gut und immer war ich gut dran, wenn ich die Schule selbständig nutzte.

 

Das war seine pädagogische Initiation und zeitlebens eine Ressource. Unterschiede sind gut. Und der Unterschied aller Unterschiede liegt für ihn in den Personen die Schule machen, in den Lehrern.

Die Personen so wichtig zu nehmen, das ist eine der Selbstverständlichkeiten, die gar nicht selbstverständlich sind. Klingt es nicht fast schon skandalös wenn Hartmut von Hentig schreibt:

„Will ich meine Pädagogik erklären, muss ich mich erklären.“

 

Cut  3

Ich habe ja nie Pädagogik gelernt, bin Lehrer gewesen, Lehrer der alten Sprachen an süddeutschen Gymnasien. Habe da meine Fehler gemacht und habe vor allem, nachdem ich die überwunden hatte, an den ärgerlichen Rahmenordnungen unserer Schule gelitten.

 

 

Dass er selbst nie Pädagogik studiert hat, verhalf ihm vielleicht dazu, seine eigene Pädagogik zu erfinden.

 

 

Hartmut von Hentig wurde am 23. September 1925 in Posen geboren. Sein Vater war Preuße aus Passion und Diplomat von Beruf. Nach der Schulzeit in so vielen Schulen, begann er 1945 in Göttingen das Studium der alte Sprachen, das er in den USA fortsetzte. Zurück kam er mit dem Doktortitel, aber ohne staatliches Examen. Mitte der 50er Jahre holte ihn Georg Picht als Griechisch- und Lateinlehrer an das Internat Birklehof.

Zu Beginn der 60er Jahre veröffentlicht Hartmut von Hentig seine Kritik an der Schule. Sein erfrischender Geist wird beachtet; er wird die erste Stimme in der anstehenden „Erneuerung“ der Schule.

 

Der Schulkritiker von Hentig, nicht  habilitiert und ohne Studium der Pädagogik,  wird 1963 als Professor nach Göttingen berufen. Einige Jahre später schon, 1968, bekommt er einen Ruf an die neu gegründete Universität Bielefeld. Als Bedingung für den Wechsel verlangt er zwei Modellschulen: die Laborschule und das Oberstufenkolleg an der Uni, das für die Pädagogische Fakultät das werden soll, was das Klinikum für die Mediziner ist.

 

Er entwirft die Schule als einen Lebensraum für Kinder und Jugendliche, nicht als eine Unterrichtsanstalt. Die Schule – eine kleine Welt, wie die Polis, das überschaubare Gemeinwesen im antiken Griechenland.

 

Cut  4 

Sie muss erlebbar sein in ihren Grundelementen: der Einzelne und seine Würde wird dort geachtet. Das muss man dort erfahren, der Einzelne kann Einfluss nehmen auf das Ganze, das muss er erfahren, sogar ich kleinste Person unter den Größeren  habe mein Recht auf mein Wort und meine Meinung. Es muss Gemeinsinn geben.

 

 

„Die größte Gefahr“, schrieb von Hentig  „kommt der Pädagogik von ihrem eigenen Zweck. Will sie einen guten Menschen „machen“, wird sie ihn nicht bekommen.“

 

Sein wichtigstes Medium ist der  Dialog. Er ist nicht bloß Austausch, kein Hin -und Hersenden von Informationen. In jedem Dialog entsteht Welt, eben weil seine Teilnehmer verschieden sind. Das gleiche gilt für den inneren Dialog, das Denken. Es ist Hentigs zweites großes pädagogisches Medium, das für ihn in den Schulen zu kurz kommt.

Ohne Dialog und das Selbstdenken wird Bildung zur Abrichtung, zur Verwahrung oder gar zur  Indoktrination.

 

1988 bezog Hentig in Berlin eine Wohnung am Kurfürstendamm und nutzt dort die Zeit für Freunde, zum Schreiben und nach wie vor dafür, sich einzumischen

Hartmut von Hentig ist fraglos der Pädagoge, der die Bildungsdebatten in den vergangen 40 Jahren am stärksten beeinflusst hat. Eine wissenschaftliche Schule hat er nicht gegründet, das würde auch seinem Prinzip des Selbstdenkens widersprechen. Epigonen, die sich bequem in seinem Denkgebäude einrichten wollten, wären ihm zuwider; schon die Vorstellung des festen Gedankengebäudes macht ihn skeptisch.