Rezension WDR Lernen & Selbstbestimmen

Westdeutscher Rundfunk Köln

Anstalt des öffentlichen Rechts

Appellhofplatz 1

D – 50 600 Köln

Sendemanuskript-Hörfunk

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Datum

11.7.04

Sonntag

 

Uhrzeit – von
12.05-13.00

bis

 

von

 

bis

 

Dauer

 

Sendereihe

Gutenbergs Welt „Schul-Zeit“

Titel

Buchsendung mit Gisela Corves

Folge / Untertitel

Manfred Spitzer, Lernen – Gehirn-Forschung und die Schule des Lebens
Manfred Spitzer, Selbststimmen

Rezensent:

Reinhard Kahl

Moderator(in):

Thomas Nachtigall

Bearbeiter(in):

Band-Nr.

 

Band (von – bis)

 

Band-Länge

Mitwirkende:

 

Aufnahmedatum

Aufnahme/Studio

Ton und Technik / Schnitt

Regie / Produktion

Kostenstelle / Kostenträger

203110/1131450

verantwortliche(r) Redakteur(in)

Thomas Nachtigall

Übernahme

Programmbereich

PG Wort WDR 3

Koproduktion

Programmgruppe

Ressort: Feature und Literatur

Verlag

Ó

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WDR 3 Gutenbergs Welt / Gisela Corves

Reinhard Kahl

Lernen und Selbstbestimmen

– Auf die Atmosphäre kommt es an

 

Am Lernen und an der Fähigkeit das eigene Leben selbst zu bestimmen, hängt wie gut wir uns in eine Zukunft navigieren, die weniger denn je, die Fortsetzung der Vergangenheit sein wird. Lernen und Selbstbestimmen sind allerdings auch Schlagworte. Sie werden in Büchern traktiert, die den direkten Weg zum Erfolg weisen und andere leere Versprechungen machen. Für die beiden Bücher von Manfred Spitzer mit den Titeln „Lernen“ und „Selbstbestimmen“ gilt dieser Vorbehalt nicht. Spitzer ist Direktor der psychiatrischen Uniklinik in Ulm. Seine Bücher sind Beispiele für eine Klarheit, mit der uns deutsche Wissenschaftler nicht gerade verwöhnen.

 

Furore macht nun schon seit mehr als einem Jahr sein Buch, „Lernen – Gehirn-Forschung und die Schule des Lebens“. Spitzers neues Buch „Selbstbestimmen“ präzisiert, was die Seele des Lernens ist, nämlich eine Vorfreude von Menschen auf sich selbst.

Dieser Gedanke ruft allerdings bei manch einem Widerstand hervor. Dürfen beim Lernen tatsächlich Lust und Leistung Hochzeit feiern? Ist Lernen nicht dann am wirksamten, wenn wir uns zwingen Wissenshäppchen einzunehmen wie bittere Medizin? Und wächst unserer Selbstbestimmung nicht beim Überwinden des Widerwillens? Spitzers Antwort:

Cut 1 0´40 Manfred Spitzer

Sie können auch mit negativen Dingen ganz schnell lernen. Sie legen nur ein einziges Mal die Hand auf die heiße Herdplatte und machen das nie mehr wieder. Sie wissen, das lassen Sie jetzt bleiben.

Aber der Punkt ist der, auf diese Weise, aversiv mit Strafe und Wehtun und Schmerzen lernen sie nur, was sie nicht tun sollen, und nicht wo es lang geht. Das geht nur positiv.

Wenn wir wollen, dass in 30 Jahren Problemlösen angesagt ist und auch funktioniert, dann brauchen wir eine positive Lernumgebung heute in den Schulen

Manfred Spitzer ist Wissenschaftler und ein Ratgeber der ankommt. Denn viele Menschen sehnen sich nach einer optimistischeren Idee vom Lernen. Er hat übrigens außer in Medizin auch in Philosophie promoviert und Psychologie studiert. Zweimal war er Gastprofessor in Harvard.

 

Als Spitzer vor einiger Zeit nach Schwäbisch Gmünd zu einem Vortrag eingeladen wurde, bemühten sich 7000 Menschen um Karten. Das muss etwas bedeuten. Im gleichen Jahr kam der Hirn- und Lernforscher noch viermal in die schwäbische Kleinstadt und jedes Mal war die Stadthalle zu klein und er sich nicht zu groß für diesen Auftritt.

So schreibt er auch. Klug und unprätentiös. Spitzer fasst in seinem Buch „Lernen“ den Stand der Forschung zusammen und berichtet von eigenen Studien, die zeigen, dass Lernen in Entspannung und mit Vertrauen am besten gelingt, Dann nämlich…

Cut 2 26´15

… werden hier vorne im Gehirn erzeugte opiumähnliche Stoffe ausgeschüttet, und was macht das? Das macht Spaß. Wir können besser denken. Und wenn sie besser denken, bleibt es besser hängen und das wollen wir ja beim lernen.

„Das Gehirn“, sagt Spitzer. „kann nichts anderes als lernen und das macht ihm die allergrößte Freude“ – außer man zwingt es oder setzt es unter Stress. Lernen, Denken, Handeln: das ist die Kombination auf die es ankommt, wenn man Neues schaffen und Probleme lösen will. Lernen ist kein gedankenloser Wissenskonsum, kein Kopieren und gleich wieder vergessen, dieses häufig an Bulimie erinnernde Schulritual.

Seine These: „Das Gehirn lernt immer!“ – Aber zuweilen lernt es auch Angst, Lernbehinderung und Selbstblockade – zumal in unseren Lernvollzugsanstalten

Cut 3 31´20

Puls hoch, Blutdruck hoc, Muskeln an. Das ist der Zustand der Angst: Fight, Fright, Flight: Sie sind auf Kampf oder Flucht vorbereitet. / Huch ! –

Wenn sie in einer Prüfung Angst haben, darf man sie nichts Schwieriges fragen. Wenn der Prüfling denken muss, dann stürzt er ab.

Aber es könnte ja einer sagen, wunderbar, machen wir doch Latein mit dem Rohrstock… Sie kriegen dabei die Lateinvokabeln schon rein, nur wann immer sie die wieder raus holen, holen sie die Angst mit raus. Und was kann man mit dem unter Angst Gelernten nicht mehr machen? Probleme lösen. Nun weiß heute keiner von uns, wie die Welt in 30 Jahren aussieht. Das müssten wir aber eigentlich wissen, wenn wir Kinder und Jugendlichen auf die Bewältigung ihrer Probleme in 30 Jahren vorbereiten wollen. Daraus folgt, dass wir ihnen keinen Kleinkram beibringen sollten, weil der sich sowie ändert.

Die neue Schule, die Spitzer vorschwebt und zu deren Erforschung er jüngst ein neues Institut gegründet hat, das Transferzentrum Neurowissenschaften und Lernen, die neue Schule ist weniger der Körper eines Lehrplans als eine Umgebung, die Schülern signalisiert, willkommen, gut dass ihr da seid. Keiner wird verdächtigt ein blinder Passagier zu sein. Für diese Grundsicherheit bedanken sich die Lernenden damit das Risiko einzugehen, selbständig zu agieren und selbst zu denken. Die fehlerfreundliche Schule ist eine, in der man mehr leistet und in der man am Ende weniger Fehler macht, oder immer neue und intelligentere Fehler macht, statt der dummen, alten Fehler.

Die Veränderung des Schulklimas wäre also die Zukunftsinvestition mit den vermutlich höchsten Erträgen, Spitzer zeigt, das ist kein Wohlfühlluxus. So ist es auch kein Zufall, dass inzwischen die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die bereits die Pisa Studie durchführt, eine neue Studie „Pisa für Erwachsene“ vorbereitet. Lernen wird die wichtigste Produktivkraft und es zeigt sich, dass Wertschätzung die wichtigste Voraussetzung fürs Lernen wird – und auch für Wertschöpfung.

Eine häufig in seinen beiden Büchern „Lernen“ und „Selbstbestimmen“ variierte These von Spitzer heißt: „Jedes Gehirn ist das Protokoll seiner Benutzung.“ Wir agieren als das bisherige Ergebnis unserer Geschichte, aber wir können sie steuern, ja wir können – auf der Basis dessen, was wir bisher geworden sind, selbst bestimmen. Wache Gegenwart ist der intelligente Zustand in dem Lernen und Selbstbestimmen gelingen.

Warum wird hier zu lande Kindern immer noch so häufig mit der Zukunft und dem „späteren Leben“ gedroht, statt sie dazu einzuladen?

Was ist los an unserer Schulen?

In seinen Büchern weist Spitzer nach, dass die Hirnaktivität von Schülern den ganzen lieben Tag nie so schwach ist wie ausgerechnet am Schulvormittag. Ein Skandal. Und der andere Skandal:

Cut 4

Ich bin Psychiater und ich weiß ein bisschen was über die Krankenhäuser. Deutschland hat mehr psychosomatische Klinikbetten als der Rest der Welt zusammengenommen. Und die sind voller Lehrer.

Erklärungsbedürftig ist ja weniger, dass wir lernen, als was uns am Lernen hindert. Die beiden Bücher von Manfred Spitzer bieten die Entdeckung des Selbstverständlichen. Das ist eine aufregendende Lektüre. Wer sich mit den oft noch aktuellen Hypotheken einer schwarzen Pädagogik nicht abfinden will, findet in den Büchern des Psychiaters, Hirn- und Lernforschers Manfred Spitzer sogar ein neues pädagogisches Testament.

Manfred Spitzer, Lernen – Gehirn-Forschung und die Schule des Lebens, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg, Berlin 2002, € 29.80

Manfred Spitzer, Selbststimmen – Gehirnforschung und die Frage; Was sollen wir tun? Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg, Berlin 2003, € 29.95