WDR 3 Gutenbergs Welt, Über Lehrer & Co.

Die Wiederentdeckung des starken Kindes

Von Reinhard Kahl

 

WDR 3

 

Besprechung der Bücher:

 

Lotte Kühn, Das Lehrerhasserbuch / Eine Mutter rechnet ab

Knauer Taschenbuch, München 2005

220 Seiten  6.95 EUR

 

Fee Czisch, Kinder können mehr / Anders lernen in der Grundschule

Verlag Antje Kunstmann, München 2005

334 Seiten    xxxx EUR

 

Donata Elschenbroich, Weltwunder / Kinder als Naturforscher  

 

Wieder mal schien die Wirklichkeit bestätigen zu wollen, was im Buch gelesen häufig übertrieben klingt. Lehrer sind so schnell dabei Schüler zu beschämen. Die Szene: Eine Lehrerin hält vor ihre Klasse ein Zeitungsfoto hoch und sagt zu einem Kind, das ist doch Deine Mutter. Die Mutter des Schülers hatte sich von hinten fotografieren lassen. Sie ist Buchautorin, wählte aber in diesem Fall ein Pseudonym, denn sie packt aus, was sie mit den Lehrern ihrer vier Kinder erlebt hat. Sie klagt an. Sie polemisiert. Sie ist ungerecht. Die Autorin hat offenbar auch nichts dagegen, dass ihr Manuskript unter dem reißerischen Titel “Das Lehrerhasser Buch“ in einer Reihe mit dem Bahnhasser- und Posthasserbuch erscheint. Dennoch: das Buch bildet vieles aus einem Schulalltag ab, der häufig schrecklich ist. Das Reißerische ist abstoßend. Aber hier ist etwas Besonderes im Spiel. Flugs finden wir uns in der Inszenierung nach einem Skript, das immer noch nicht antiquarisch ist: Der deutsche Bildungskrieg.    

 

Ein Lehrerfunktionär wollte das Buch erst beim Verlag verhindern, jetzt schreibt er in der Tageszeitung „Die Welt“ von der „Mami“, die wohl glaubt über Lehrer schreiben zu müssen, nur weil sie vier Kinder hat. Auch hier wieder dieser Ton. Das klein machen. Das Beschämen. Für viele Menschen ist dieser misanthropische Sound gleichbedeutend mit Schule. „Auf dich haben wir gerade noch gewartet… Du wirst Dich noch wundern… Ich wundere mich schon über gar nichts mehr…“.

 

Aber das Lehrerhasserbuch spielt selbst auf der Klaviatur des Ehrabschneidens. Es verzichtet auf Ambivalenz. Gerlinde Unverzagt, das von ihr selbst gelüftete Pseudonym ist Lotte Kühn, hat Ressentiment und Erkenntnis gemischt und dem deutschen Bildungskriege selbst einen weiteren Abschnitt hinzu gefügt. Lehrer sind in dem Buch monochrom Leute mit ausgebeulten Cordhosen, schlechtem Atem und arrogantem Grinsen. Aber es wird auch treffend beschrieben, wie zynische Lehrer mit sicherem Gespür für die Schwächen ihrer Schüler die Leistungslatte so hoch hängen, dass niemand drüber kommt. Andere Lehrer bilden mit ihren Schülern Opfergemeinschaften gegen die schlechte Welt. Auch sie trauen den Kindern und Jugendlichen nicht viel zu, nicht weil sie von ihnen zu viel, sondern weil sie von ihnen zu wenig oder gar nichts verlangen.

 

Vom Kleinkrieg in der Schule verabschiedet hat sich die Münchner Lehrerin Fee Czisch. Aber man merkt ihrem Buch noch die Kriegsspuren an. Sie hat sich von einer Schule frei gemacht, deren anfängliche Beschreibung derjenigen der Lehrerhasserin gar nicht so unähnlich ist. Fee Czisch, die nach 30 Jahren Schuldienst inzwischen an der Münchner Universität Lehrerstudenten ausbildet, präsentiert zunächst ein ziemlich geschlossenes Weltbild. „Die Schule,“ schreibt sie „scheitert an allen Kindern.“ Wirklich an allen? Kann eine Institution so total sein? Der Schule als einer – wie sie schreibt – „Zwangsanstalt“ setzt sie zunächst große Parolen entgegen: „Erfahrung statt Belehrung“. Aber bald kommt die Autorin zur Beschreibung ihrer ganz persönlichen Schulreform in der Klasse mit ihren Schülern. Dann wird es spannend.

 

Sie entdeckt, wie die Schüler über Fehler mit sich selbst in Gespräch kommen. Man versteht jetzt genauer, wie der Geist der Perfektion die Institution Schule samt Lehrkörper und Schülern vergiftet. Dann werden in der Schule häufig nur die Fächer, nicht aber die Kinder unterrichtet. Dabei wird das Lernen der Kinder behindert. Auch die Lehrer verhärten. Bald stellt sich dem Leser eine Frage, die beim Gebelle der Lehrerhasserin nicht auf kommen soll. Wie kann man aus diesen zirkulären Prozessen aussteigen?

 

Fee Czisch hat es versucht und es ist ihr gelungen. Ein Beispiel. Die Lehrerin muss Hofaufsicht führen. Vorher muss sie warten bis ihre Kinder den Klassenraum verlassen haben. Nächste Stunde ist Sport. Sie muss den Raum abschließen. Sie drängelt. Irgendwann entschließt sie sich einem ihrer Schüler den Schlüssel anzuvertrauen. Und zwar immer einem so genannten schwierigen Kind. Der Schlüssel, Teil des großen Abschließsystems ist immerhin 1000 Euro wert. Enttäuscht wurde sie von den Kindern nie. Vertrauen, das gegeben wird, verändert.

 

Kinder niemals bloß stellen, sie nicht überfordern, das sind Fee Czischs Maximen. Schüler nicht nur unterrichten, möchte man sagen, sondern auch aufrichten. Und dann passiert, woran viele Lehrer nicht glauben. Czisch schreibt: „Hat man stehen gelernt, will man laufen. Kann man sicher laufen, will man Rad fahren. Kann man Rad fahren, will man schnell fahren und sich in die Kurven legen. Schließlich will man freihändig fahren oder zu zweit – Schulkinder lernen so, wenn es sich lohnt.“

 

Aber dass Menschen lernen wollen, dass sie eigentlich gar nicht anders können, dass man sie dazu so wenig „motivieren“ muss, wie man ihnen nicht beibringen muss, Appetit zu haben, das können viele nicht glauben. Misstrauen in Kinder ist eine noch unzureichend erkannte Hypothek unserer Tradition.

 

Diese Tradition bricht. Kinder werden als Genies im Lernen entdeckt. Eine Pionierin dieser Entdeckung ist Donata Elschenbroich. Ihr vor Jahren erschienenes Buch über das „Weltwissen der Siebenjährigen“ hat die Sicht vieler Menschen verändert. Auch die von Bundesbildungsministerin Annnette Schavan, die dieses Buch kürzlich als Auslöser für ihren neuen Blick auf Kinder nannte. Das aktuelle Buch von Donata Elschenbroich heißt „Weltwunder – Kinder als Naturforscher“. 

 

Es knüpft an die aufregenden Erkenntnisse der Säuglingsforschung an. Kinder sind Forscher. Große Naturwissenschaftler wie zum Beispiel der Nobelpreisträger Ilya Prigogyne kennen diese Verwandtschaft. Er schrieb: „Der Wissenschaftler tritt ab. Es tritt das Kind auf.“ Lernen bedeutet ja nicht etwas zu kopieren, sondern zu unterscheiden. Das ist kein passiver Vorgang. Kinder vergleichen ihre Strategien mit den Ergebnissen. Sie bilden Hypothesen. Das zeigt Donata Elschenbroich und – das gefällt so sehr an ihren Büchern – sie liefert ein Protokoll ihrer Recherchen. Beobachtungen vor Ort. Exkurse zu Akteuren der pädagogischen Szene. Erinnerungen an die Kindheit von Naturforschern. Es entsteht ein facettenreiches Bild. Kein perfektes, abgedichtetes System, in dem die Begriffe über die Phänomene herrschen. Auch darin sind die Kinder ja den Forschern verwandt. Sie sind radikale Empiriker und Phänomenologen. Vielleicht ist das etwas, das vielen Lehrern fehlt? Zu häufig präsentieren sie eine fertige Welt. Das löst eher Abwehr im geistigen Immunsystem aus.

 

Die Bücher von Fee Czisch und Donata Elschenbroich sind sehr persönliche Bücher.  Im Lehrerhasserbuch gibt es zwar häufig das empörte Ich, aber keines das bereit ist sich zu ändern. Wer so bleiben will wie er ist, braucht Feinde. Wer lernt oder gar andere ins Lernen hineinziehen will, braucht Liebe, muss Menschen zumindest mögen. Sonst wird das nichts.