Das Absolute ist tödlich
Der deutsche Rechtschreibkrieg und kein Ende
VON REINHARD KAHL
Nun endlich, dachte man, könnte doch Schluss sein mit dieser merkwürdigsten Politikposse der letzten Jahre, mit dem deutschen Rechtschreibkrieg. Aber nein. Die beiden jetzt auf den Markt gekommen Wörterbücher bieten genug Anstöße, dass die Scharmützel weiter gehen. Erschienen sind der gute, alte Duden, jetzt noch neuer und der Wörterbuch-Newcomer mit dem schönen Namen „Wahrig“, „Ideal auch für den Schulgebrauch,“ so die Eigenwerbung. Der Duden ist seit gut 10 Jahren um ein Drittel auf 1200 Seiten aufgedunsen. Vor zwei Jahren habe ich mir den damals als ultimativ angepriesenen Duden mit der allerneusten Rechtschreibung und allen Finessen gekauft. Aber den soll man jetzt schon wieder wegschmeißen.
Es kam vor einem Jahr nämlich was dazwischen. Kurz vor Inkrafttreten der neuen Rechtschreibung am 1. August 2005 – genauer: kurz vor dem Ende der Übergangsfrist, in der beide Rechtschreibungen, die alte und die neue koexistieren durften, vor einem Jahr also machten die Ministerpräsidenten der Unionsländer noch mal das Fass auf. So kam es zum deutschen Rechtschreibrat mit seinen Kompromissen, vielen „Kann-Empfehlungen.“ Die stehen nun in den neuen Wörterbücher und blähen sie auf. O.K. Warum nicht? Aber die neuen Kann-Spielräume sind nun der Stein des Anstoßes. Die FAZ kritisiert; „Noch nie war der Variantenreichtum der Rechtschreibung so groß.“ Was ist denn eigentlich gegen das Anwachsen von Varianten, wenn sie plausibel sind, zu sagen? Der Duden wählt aus der neuen Varianz der Möglichkeiten seine Empfehlung. Die sind gelb hervorgehoben. Viele von diese werden ihm nun den Ober-Ober-Lehrern rot unterstrichen. Fehler, Fehler, Fehler.
Es scheint als verspürten die Deutschen ein starkes Heimatgefühl im Kleinkrieg. Der Kulturkampf um die Bildung, der letzte Religionskrieg, der ihnen geblieben ist, mündet in bildungspolitischem Pragmatismus. Da konnte sich viel überschüssige Energie an solche Fragen binden, wie der, ob man Stängel oder Stengel schreibt? Quäntchen oder Quentchen? Hat man nun einer Wortstammregel zu folgen, oder einfach der Konvention? Preisfrage. Wie viele s und f braucht die Flussschifffahrt? Und natürlich dass oder daß? Immer wieder diese Lust am Entweder-oder. Mal im Ernst. Wer morgens die FAZ liest, mit der alten Rechtschreibung, die dort geheimnisvoll die “bewährte” genannt wird, und dann zu anderen Zeitungen greift, mit ihren nach eigenen Redaktionsregeln modifizierten neuen Rechtschreibungen, fällt dem überhaupt was auf? Ob “achtmal” nun mit oder ohne Bindestrich geschrieben wird, groß oder klein, ist das wichtig?
Entscheidend ist etwas ganz anderes. Vor und hinter den Bühnen der Rechthaber hat sich längst ein buntes Sowohl-als-Auch durchgesetzt. Tatsächlich hat die Doppelherrschaft von alter und neuer Rechtschreibung in den vergangenen Jahren ganz unbeabsichtigt einen enormen Zivilisationsgewinn gebracht. Die alte Leitdifferenz von “richtig – falsch”, die immer nur eine Möglichkeit durchgehen lässt, wird nun im Alltag von der überlegenen Unterscheidung “möglich – nicht möglich” durchsetzt und langsam ersetzt.
“Möglich – nicht möglich”, das ist etwas ganz anderes als die befürchtete Beliebigkeit, gar Anarchie im Schreiben! Nicht alles geht. Aber mit “möglich – nicht möglich” kehren in die Schrift wieder jene Spielräume zurück, die die gesprochene Sprache auszeichnen. Da gibt es zwischen dem mecklenburger und dem bayrischen Sound doch viel Platz! Wäre die Liquidation der Varianten ein Gewinn? Man stelle sich vor, es gäbe eine Rechtsprechkommission? Der erste Nebeneffekt wäre, dass viele glaubten, ohne Rückversicherung keine rechten Sätze mehr bilden zu können.
Der Regelperfektionismus, in dem sich die Anhänger der einen richtigen alten und der allein richtigen neuen Schreibweise nur so übertreffen, produziert nur bei den Schriftgelehrten Probleme. Nach der einen Dogmatik sollen wir belämmert mit ä schreiben, nach der anderen “belemmert” mit e. Dass Regeln, sobald es mehr als eine gibt, sich aneinander stoßen und nie wirklich aufgehen, ist tatsächlich ein Glück für jede Evolution. Wenn die Dinge nicht ganz aufgehen, dann gehen sie weiter. Das wissen wir ja von Ulrich Beck und den Theoretikern der Zweiten Moderne: Die Vielfalt unbeabsichtigter Nebeneffekte siegt über die braven Ziele.
Kaum vorstellbar, dass es vor 1901 keine staatlich erlassene Rechtschreibung gab. Damals wucherten barocke Ungetüme, zu denen auch noch unsere Großschreibung von Substantiven gehört. Jacob Grimm, der große Wörter- und Geschichtensammler schrieb klein. Ein Individuum konnte sich entscheiden. Vielfalt war möglich. Goethe hatte regelrecht Lust daran, gleiche Wörter verschieden zu schreiben, selbst seinen Namen mit h oder ohne, mal mit ö oder mit oe. Dann nahm Duden dem Regierungsrath in Preußen sein h und viele Beamte sahen ihre Autorität und Würde bedroht. Bismarck drohte seinen Staatsdienern und Diplomaten Strafen an, wenn sie die neue Mode mitmachten.
Doch bald hatte Duden, dessen Maxime ja hieß, “schreib wie du sprichst”, etwas anderes bewirkt als das Beabsichtigte. Der Vereinfachungsversuch öffnet der großen Normierung der Schrift Tor und Tür. Das passte hervorragend ins DIN-Zeitalter der ersten industriellen Moderne, in der die Deutschen Weltmeister wurden. Die durchregulierte Rechtschreibung, zumal in ihrer engen und ängDochstlichen Auslegung, sozialisierte für die Massenproduktion. Sie braucht strikte Normen, die unbedingt einzuhalten sind. Kreativität und Ideen hingegen brauchen Spielräume. Fehlertoleranz ist der wichtigste Begriff in Theorien über lernende Organisationen. Die industrielle Moral der Ausführenden, Anwender und Kopisten ist obsolet. Eine eng ausgelegte Rechtschreibung, egal welche, initiierte in eine reduzierte Denk- und Handlungsgrammatik. Also halten wir es künftig mit dem Meister aus Weimar. Goethe schrieb: “Ihr seht schon ganz manierlich aus, kommt mir nur nicht absolut nach Haus.” Das Absolute ist tödlich. Es hat, wie jede andere Perfektion, keine Zukunft.