Die Zukunft lernt anders in: Publik-Forum

Die Zukunft lernt anders

An manchen Schulen arbeiten Schüler und Lehrer gemeinsam an Projekten. Lehrer kümmern sich um Schüler, nicht um Fächer. Und es gibt immer mehr solcher Schulen.
Von Reinhard Kahl

Als sich in Helsinki in diesem Jahr der Frühling bemerkbar machte, flogen einige hundert Bildungsexperten zum Wendekreis der Pädagogik. Insbesondere die erlösungsbedürftigen Deutschen wollten auf der internationalen Konferenz erfahren, worin das finnische Geheimnis besteht. Aber sie bekamen nur zu hören, was sie auch daheim hätten herausfinden können: Wer gute Leistungen will, darf Schüler nicht beschämen. Schulen müssen die Verantwortung dafür übernehmen, dass alle Kinder und Jugendliche Grundkenntnisse zum Beispiel in zwei Fremdsprachen erlangen. Das gelingt in Finnland. Keine 200 Jugendliche werden jährlich ohne Schulabschluss entlassen. Den falschen Schüler auf der richtigen Schule gibt es nicht. 71 Prozent der Schulabgänger in Finnland studieren.

Die Deutschen staunten. Und manch einer sagte: »Das schaffen wir nie!« Dabei gibt es auch bei uns hervorragende Schulen. Nur viel zu wenige. Wie man eine gute Schule macht, ist ja nicht unbekannt. Im Gegenteil. Überall in der Welt trifft man auf Spuren der deutschen Reformpädagogik. Spätestens der internationale Vergleich erinnert allerdings an die deutsche Erbsünde: das Abschieben von Schülern und Verantwortung. Schulen verhalten sich oft so, als seien sie nur Untermieter in einem fremdbestimmten System. Selbst die nötige Debatte über das gegliederte Schulsystem verkehrt sich unter der Hand zur Ausrede: erst mal das System ändern. Erst mal: eines der häufigsten Wörter, wenn bei uns über Bildung diskutiert wird. Bevor die Lehrerbildung nicht reformiert und solange nicht mehr Geld da ist, könne man leider kaum etwas machen. Wirklich? Bei allen Hindernissen: Lernen ist bei uns nicht verboten, auch für Schulen nicht.

Wie lernt eine gute Schule? Das Wichtigste, sagt Enja Riegel aus Wiesbaden, sei das Lehrerteam. Sie war 19 Jahre Direktorin der Helene-Lange-Schule, die bei Pisa mit Spitzenergebnissen glänzte. Lehrerteams unterrichten dort jeweils einen Jahrgang aus vier Parallelklassen. Jede Klasse hat ihr Revier: Vier Unterrichtsräume, einen zum Schülertreff umgebauten ehemaligen Klassenraum und ein Lehrerbüro. In dieser »Schule in der Schule« lernen die Schüler ebenso wie die Lehrer zusammen zu arbeiten. Und was sie tun, auch zu verantworten. In vielen Schulen ist das nicht selbstverständlich.

Wie geht das? Projekte werden von Lehrern gemeinsam vorbereitet. Das Projekt zum Thema »Wasser« in der 7. Klasse muss nicht jedes Jahr neu erfunden werden. Aber es wird jedes Mal modifiziert. So entstehen Traditionen. Die Pädagogen verlagern immer mehr ihrer Arbeit in gemeinsam abgestimmte Vorbereitung. Das entlastet und erleichtert den Abschied vom Einzelkämpfer. Lehrer gewinnen Zeit, ihre Schüler im Unterricht zu beobachten. Denn jeder lernt anders. Verschiedenheit sieht man hier nicht als Abweichung, sondern als eine Voraussetzung für Reichtum. Schüler sollen nicht mehr die Fragen der Lehrer beantworten, sondern Lehrer die der Schüler.

Auch andere Schulen sind auf dem Weg vom Lehren zum Lernen. Die Max-Brauer-Schule in Hamburg Altona ist wie die Helene-Lange-Schule eine Gesamtschule der zweiten Generation. Auf die typisch deutsche Aufteilung der Schüler wird verzichtet. Denn die in Gesamtschulen übliche Einteilung in A-, B- oder C-Kurse verstärkt die Beschämung im Vergleich zum zergliederten Schulsystem häufig noch und erzieht Schüler noch mehr zur Gleichgültigkeit. Anders in der Max-Brauer-Schule. Dort lernen schon die Grundschüler, auch mal Chef zu sein. In der Klasse stehen für 23 Kinder 23 Körbe, jeweils mit 23 Aufgaben. Für jeden Korb gibt es einen Chef. Dieser bespricht die Aufgabe mit der Lehrerin. Die Schüler gehen mit Fragen erst mal zum Chef, der auch die Ergebnisse überprüft. Kaija Küämäilen, eine finnischstämmige Lehrerin, erinnert sich, wie vor allem die ausländischen Jungen zunächst keine Mädchen als Chefin akzeptieren wollten. Denn wer mit einem Problem zum Chef geht, muss sich ja in dieser Situation bloßstellen. Bald aber erlebten die Schüler, wie sich eingestandene Schwächen in Stärken verwandelten und dass Chauvis nur eingebildete Starke sind. Die Schule besuchen viele Einwandererkinder. Dabei wird deutlich: Wenn Kinder in so vieler Hinsicht verschieden sind, dann schlagen die alten Strategien der gleichmäßigen Belehrung fehl. »Wir legen beim Arbeiten sehr viel Wert auf Leistung und auf Individualität«, sagt die Lehrerin Sybille von Katzler. »Jedes Kind ist anders, das ist ein großer Vorteil.« Ihre Schule schnitt im Pisa-Test sehr gut ab, mit Ergebnissen weit über dem statistischen »Erwartungswert«. Etwa ein Jahr Vorsprung holen die Schüler hier bis zur 9. Klasse heraus.

»Die zentralen Prüfungen nach der 9. Klasse erledigen unsere Schüler mit einer Hand«, sagt Alfred Hinz, Rektor der Bodensee-Schule St. Martin in Friedrichshafen, einer katholischen Grund- und Hauptschule. Hier wurden die Fächer abgeschafft. An deren Stelle treten freie Stillarbeit, Projekte und vernetzter Unterricht. Die Parole des Schulleiters: »Schule ist Stätte der Personwerdung. Wissensvermittlung kann sie gar nicht verhindern.« Tatsächlich hat es an vielen deutschen Schulen den Anschein, als wäre diese Verhinderung genau ihr Ziel. Häufig erinnert das Lernen an Bulimie. Schnell ganz viel rein und sich dann wieder erleichtern. Pauken und vergessen. Dass sich Lehrer wirklich für ihre Schüler interessieren, dass Schüler und nicht Fächer unterrichtet werden, ist die Erfolgsstrategie der Bodensee-Schule. Es ist kein Rezept, sondern eine Haltung. Die häufig als zu unscharf verdächtigte Atmosphäre ist, wie der Philosoph Peter Sloterdijk einmal sagte, das Allerrealste. Aus ihr kristallisiert sich Realität.

Man muss nur anfangen. In der Helene-Lange-Schule war das Putzen die erste kleine Revolution. Enja Riegel fand, da stimme doch etwas nicht, wenn Lehrer im Unterricht über die Abhängigkeit der Dritten Welt aufklären und anschließend türkische Putzfrauen kommen, um Schülern den Dreck wegzuräumen. Also wurden mit Elternspenden Staubsauger gekauft. Nach ein paar Jahren konnte gegenüber der Stadt durchgesetzt werden, dass die Hälfte des gesparten Geldes in der Schule bleibt. Der Übergang vom geputzten zum selbstputzenden System bringt der Schule jährlich 20.000 Euro. Davon engagiert sie Regisseure, die mit Neuntklässlern Monate lang Theater spielen. Die letzten vier, fünf Wochen vor der Aufführung von morgens bis abends nichts als Theater. »Wer viel Theater spielt, wird auch besser in Mathe«, sagt Enja Riegel. Tatsächlich gelingt so eine Entneurotisierung der Schule, eine nachhaltige Verbesserung des Klimas. Die Schüler sind hellwach, das spürt der Besucher sofort. Das Lernen wird für sie das große Projekt des eigenen Lebens. Die Helene-Lange-Schule besteht aus lauter Geschichten. Diese haben immer ein ähnliches Lernmuster: Nicht weggucken, sondern die Probleme verstehen und dann handeln. So entstehen Lernspiralen, bei Individuen wie auch in Institutionen.

Vielleicht ist es eine Chance für deutsche Schulen, dass sie sich als Institutionen eine Biografie anschaffen. Die wirklich eigenwillige Schule, die selbst lernt, die sich unterscheidet, wie sich auch Schüler unterscheiden. Das wird man in Deutschland nicht wie in Finnland schaffen, wo schon 1962 das Parlament die Umwandlung des Schulsystems beschloss. Deutschland führt über die Frage, ob Gesamtschule oder nicht, immer wieder Kulturkämpfe. Aber wenn sich einzelne Schulen ändern – und es werden tatsächlich immer mehr –, dann werden wir bald ein erfolgreicheres und lustvolleres Lernen haben. Alfred Hinz zitiert gerne die Dakota-Indianer: »Wenn du merkst, dass du auf einem toten Pferd sitzt, dann steig ab.«

Reinhard Kahl ist freier Journalist in Hamburg.
Auf drei DVDs mit dem Titel »Treibhäuser der Zukunft« stellt er das Spektrum gelungener Schulen dar. Sie sind mit einem Buch für 29 Euro über bestellung@archiv-der-zukunft.de erhältlich. Den Film mit Kurzfassungen gibt es auch als VHS (17,20 Euro)

 

zusätzlicher Kasten zum Artikel:

Das Gymnasium ist die Lieblingsschule der Deutschen. Unsere wahre Hauptschule. Und was die Schülerschaft betrifft, wird es immer mehr zur Gesamtschule, allerdings eine ohne die Schüler mit größeren Schwierigkeiten. Das ist auch für das Gymnasium nicht nur ein Vorteil. „Denn die guten Schulen,“ sagt der Erziehungswissenschaftler Peter Fauser von der Uni Erfurt, „lernen von ihren schwierigen Schülern.“ Schwierigkeiten und Fehler sind ein großer Prospekt, der die ganze Vielfalt des Lernens abbildet. Lernen besteht aus Umwegen, es verläuft eigenwillig wie die Dendriten auf Abbildungen des Gehirns.

 

Gymnasien wählen sich die besten Schüler aus. Aber dort konnte bei Jungen zwischen Klasse 7 und 9 so gut wie kein Kompetenzzuwachs festgestellt werden. Wie ist dieses Ergebnis möglich?  LAU brachte es zu Tage. Die Lernausgangslagen Untersuchung testet in Hamburg nach und nach alle Schüler eines Jahrgangs. Der schon lange gehegte Verdacht, dass das Gymnasium die pädagogisch schwächste Schule ist, wurde von dieser bisher gründlichsten deutschen Schulstudie erhärtet.

 

Aber wo die Not erkannt wird, rückt die Lösung endlich näher. Das Gymnasium Klosterschule in Hamburg hat sich, wie Pädagogen jetzt häufig sagen, „auf den Weg gemacht“. Der Kompass zeigt vom Unterrichten der Fächer zum Unterrichten der Schüler – wozu ja auch Aufrichten gehört. Denn wie Lehrer lehren, passt eben oft nicht dazu wie Schüler lernen. Den Stoff zu vermitteln ist eine andere Welt, als sich Wissen und Kulturtechniken anzueignen, um damit handeln und verstehen zu können.

 

In der Klosterschule wurden jetzt in den fünften und siebten Klassen Lehrerteams gebildet. Die Pädagogen  unterrichten möglichst nur in einem Jahregang. Sie begleiten ihre Schüler von der 5. bis zu 10. Klasse. Zum Team für vier Parallelklassen gehören sieben bis zehn Lehrer, je nachdem ob sie volle oder reduzierte Stellen haben. Das Team handelt souverän. Von der gegenseitigen Vertretung bis zur Vorbereitung großer Projekte haben sie das Heft in der Hand. Das findet der Schulleiter Ruben Herzberg schon deshalb dringend geboten, weil doch die Schüler ein Vorbild für Teamarbeit brauchen. Natürlich wollen sich auch viele Lehrer von vereinzelten Stundengeber verabschieden. Klassenlehrer geben jetzt zuweilen 12 Stunden die Woche in ihrer Klasse. Lernen gelingt besser, wenn es von vertrauten Beziehungen getragen wird. Das weiß man eigentlich überall, aber pädagogische Professionalität wird zumeist noch mit Fachlichkeit verwechselt. Nun geben Lehrer auch fachfremden Unterricht. Ein Deutschlehrer, der auch Mathe unterrichtet? Das galt im Gymnasium bisher als unerhört. Aber dieser Blick über den Zaun des eigenen Fachs bringt manchen Vorteil. Der Lehrer, der das wagt, muss sich von seinen Fachkollegen beraten lassen. Lehrer kommen ins Gespräch darüber, was sie erreichen wollen. Lernende Lehrer passen gut zu lernenden Schülern. Die Einrichtung von Lehrerteams hat sich die Klosterschule von der Helene Lange Schule in Wiesbaden abgekuckt. Die war ja auch ein Gymnasium, bevor sie Mitte der 80iger Jahre zur Gesamtschule konvertierte. Dort fand man heraus, dass Schüler bei fachfremden Lehrer sogar bessere Ergebnisse bringen.

 

Das Motto der Lehrerteams heißt für Schulleiter Herzberg, weniger lehren, mehr reden und vor allem mehr lernen. Dafür bekommen die Schüler neuerdings an drei oder sogar vier Tagen die Woche Studienzeiten. Eine Stunde am frühen Nachmittag. Dazu wurden die betreuten Hausaufgaben weiter entwickelt. Diese Schule ist das erste Ganztagsgymnasium in Hamburg. In den Studienzeiten arbeiten Schülerinnen und Schüler nach einem selbstgestellten und mit ihren Lehrern besprochenen Wochenplan. Dabei lernen sie auch sich die Zeit einzuteilen, ihre Kräfte einzuschätzen, die Arbeit zu planen, mit anderen zu kooperieren. Und wieder haben Schüler und Lehrer ganz ähnliche Lektionen. Schritt für Schritt wird die Schule für beide zum eigenen Arbeitsplatz. Dafür richten sich die Lehrer ihr Teamzimmer als Büro ein. Das brauchen sie auch, wenn demnächst drei Wochen lang nur ein Thema auf dem Stundenplan steht, ein großes Projekt zur Steinzeit, in dem alle Fächer verschmelzen.  

[dieser „Kasten“ wurde aus Platzgründen noch leicht gekürzt]