Nach Pisa – Zukunft der Schule (4)

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Südwestrundfunk

SWR2 Wissen

Titel: Eine Schule ohne Beschämung

Lernen als Vorfreude auf sich selbst

Aus der Reihe: Nach PISA – Die Zukunft der Schule (Teil 4)

Autor: Reinhard Kahl

Redaktion: Bildung

Sendung: 9.11.2002

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MANUSKRIPT

 

 

 

 

 

Cut 1: (Wolfgang Edelstein)

Ich bin immer wieder entsetzt, wirklich grundlegend entsetzt, über diese pausenlose Demütigung, der die Kinder ausgesetzt werden.

Sprecher:

…sagt ein Vater, leidgeprüft. Wir halten seinen Namen noch einen Moment zurück. Er erzählt Geschichten von einem alltäglichen Krieg in der Schule, der häufig auf die Familien übergreift.

Cut 2: (Edelstein)

Meine Tochter kommt aus der Schule gestern, sie ist in der zwölften Klasse. Sie kriegt ihre Geschichtsklausur zurück. Und was sagt ihr der Lehrer: Du kannst nur labern. Sie hat Stunden gesessen und diese Aufsätze geschrieben, viel Mühe und sie kriegt Vieren und er sagt: Du kannst halt nur labern. Und ich sage: soll ich ihm mal einen Brief schreiben? Und sie sagt: mach das bitte nicht, vielleicht hat er ja sogar recht. Aber ich meine, die braucht Tage um sich zu erholen

Sprecher:

Häufig geht von der Schule Beschämung aus. Eine Botschaft, die das Lernen untergräbt:

Zitator:

Du gehörst nicht hierher. Du kannst nichts. Du störst.

Sprecherin:

Viele Schüler und Eltern halten diesem vergifteten Urteil nicht Stand. Schüler übernehmen es in ihr Selbstbild. Eltern tragen es an ihre Kinder mit Strafpredigten weiter. Sie drohen und ermahnen:

Zitator:

Streng dich endlich mehr an! Stell dich nicht so an! Aus dir wird nie was! Dann musst du eben abgehen.

Sprecher:

Dieser Vater hat den Mut, die Lehrer seiner Tochter aufzusuchen. Das Mädchen steht kurz vor dem Abitur.

Cut 3: (Cut 3 &4: Edelstein)

Ich rede mit der Mathematiklehrerin von Anna letztes Jahr. Also eine Studienrätin mit den Fächern Mathematik und Physik. Anna hat bei dieser Studienrätin konsistent immer Sechsen. Und ich meine, Sechs ist eine Unverschämtheit, weil es jede Entwicklungschance raubt, es ist nicht kompensierbar, d.h. es ist intentional so gesetzt und ich rede mit ihr und frage sie, ob sie wirklich auf der Sechs beharrt. Und sie sagt: es ist meine Aufgabe unfähige Schüler auszulesen. Ich sage, wie bitte? Ich dachte, es ist ihre Aufgabe den Kindern etwas beizubringen. Darauf hat sie nicht reagiert. Ich sagte, haben sie die Ergebnisse von Timms, damals gab es noch nicht PISA…

Sprecherin:

….TIMMS, eine internationale Studie über die Kenntnisse der Schüler in Mathematik- und Naturwissenschaften…

Cut 4:

…darauf sagte sie: ist alles Nonsens. In Timss steht nämlich, dass die Mathematikleistungen schlechter sind, gerade bei den guten Mathematiklehrern, diesen hochprofessionellen, als bei den anderen. Ist alles Nonsens sagt sie. Und jetzt hat sie, die nicht mehr, jetzt ist sie ja in der Klasse zu einem anderen Lehrer gekommen und da hat sie eine Vier. Sie lebt seit letztem Jahr in dem Terror, dass sie diese Lehrerin in der dreizehnten Klasse noch mal kriegt.

Sprecher:

Der Vater, man ahnt es, ist vom Fach: Wolfgang Edelstein, inzwischen emeritierter Direktor am Max Planck – Institut für Bildungsforschung in Berlin.

Er hat die Dramen der Schule, hinter denen sich immer individuelle Tragödien verbergen, untersucht.

Cut 5: (Edelstein)

Die Frage ist, unter welchen Bedingungen verknüpft sich das Wissen und das Erlernen von Wissen mit einer Wahrnehmung zu einer Erfahrung sinnerfüllten Lernens. Das heißt, ganz primitiv gesprochen, was macht mir Sinn? Und wenn sie Kinder fragen, ob das Lernen interessant ist, kriegen sie in der Regel bei ganz kleinen Kindern ganz klare Indikatoren dafür, dass sie das interessant finden, dass sie mehr lernen wollen. Und je mehr Erfahrung sie mit der Schule haben, desto mehr nimmt das ab. Ich habe mal eine Untersuchung gemacht in Island über Lernfreude. Die Kleinen, also Erstklässler und Zweitklässler sind extrem hoch auf dieser Variable und schon in der dritten Klasse nimmt es ab, und von da an nimmt es kontinuierlich ab und es nimmt immer sprunghaft zu, wenn ein neues Fach kommt und im Laufe des ersten Jahres, in dem das Fach erfahren wird, nimmt es wieder ab.

Sprecher:

Man darf daran zweifeln, ob die Schulen, die wir heute haben, wirklich zum Lernen geeignet sind. Stand ihre Gründung im 19. und ihre Ausformung im 20. Jahrhundert nicht unter ganz anderen Zeichen als denen des Lernens?

Sprecherin:

Ging es nicht eher darum, Menschen in eine Arbeitswelt voller Routine einzupassen? Sollten die Menschen der Industriegesellschaft nicht vor allem funktionieren und fehlerlos ausführen, was von ihnen verlangt wurde, als sich zu entwickeln, den eigenen einmaligen Weg zu finden, also selbst etwas zu wollen?

Sprecher:

Das Eigene gedeiht nur in einer Atmosphäre von Anerkennung. Respekt ist eines seiner wichtigsten Lebensmittel. Diese Atmosphäre wirkt sich auch aufs Lernen aus. Ein kaum noch bestrittenes Ergebnis der PISA-Studie heißt:

Sprecherin:

In Schulsystemen, in denen Kinder und Jugendliche nicht so sehr um ihre Zugehörigkeit bangen müssen, in denen sie in den ersten 9 oder 10 Jahren ganz selbstverständlich dazu gehören, in diesen Systemen sind auch die Leistungen deutlich besser.

Sprecher:

Für das Maß an Anerkennung gibt es eine Art Lackmustest. Das Verhältnis zu den Fremden, zu den Kindern der Zuwanderer. Sie gehören in Deutschland immer noch nicht wirklich dazu. Eine Minderheit sind sie längst nicht mehr. Auch hier brachte die PISA- Studie neue Ergebnisse:

 

Cut 6: ( Baumert)

Fast 30 % der nachwachsenden Bevölkerung entstammt aus Zuwandererfamilien in den alten Ländern. Es kann einfach nicht sein, dass wir sie als Minderheit ansehen, dass wir es durchgehen lassen, dass sie die Verkehrssprache nicht adäquat können. Das heißt, wir kumulieren ein sozialpolitisches Problem ersten Ranges, weil wir in einer Frage, wie sich unsere Gesellschaft weiter entwickeln soll, unentschieden sind. Hier ist die Vogel Strauss Politik, die wir bisher betrieben haben, Kopf in den Sand die allerschlechteste Politik.

Sprecherin:

Jürgen Baumert, der in Deutschland die PISA- Studie verantwortet.

Sprecher:

Was die Förderung oder Vernachlässigung der Zuwanderkinder betrifft, schärfte die Studie unser Bewusstsein. Manches, was uns in Deutschland zwar nicht ideal, aber doch natürlich zu sein schien, stellte sich im Vergleich mit anderen Ländern als sehr eigener Weg heraus.

Nehmen wir Schweden mit ähnlichem Ausländeranteil wie Deutschland. Wie gut die Ausländerkinder dort bei PISA abschnitten, erstaunte in Deutschland selbst die PISA- Forscher.

Cut 7: ( Atmo, Tensta Gymnasium Stockholm, Sprachkurs)

Sprecher:

Schwedisch für Ausländer, ein Sprachkurs im Tensta Gymnasium in Stockholm.

Sprecherin:

Gymnasium nennt man in Schweden die Oberstufe für die 16- bis 19jährigen.

Sprecher:

Sieben junge Erwachsene sitzen mit ihrer Lehrerin zusammen. Sie sind kaum länger als ein Jahr in Schweden. Für deutsche Ohren ungewohnt – die Lehrerin Christina Uhr spricht voller Stolz von der Schule, vom Unterricht und vor allem von ihren Schülern, den Einwanderern. Kein Wort von einer Problemgruppe oder dergleichen

Cut 8: ( Christiana Uhr)

Wir haben drei verschiedene Klassen auf verschiedenen Ebenen. Dies ist die erste . Es ist eine gute erste Klasse. Sie sind so interessiert. Sie wollen wirklich etwas.

Sprecherin:

Der Umgang mit ausländischen Kindern und Jugendlichen macht deutlich, wie Schule überhaupt mit der Unterschiedlichkeit von Menschen umgeht.

Das wird übrigens auch an den Begriffen deutlich. In Schweden spricht man nicht von „Ausländern“ oder von „Migranten“ – sondern von „Neuschweden.“

Sprecher:

Das Tensta Gymnasium ist übrigens eines der angesehensten Gymnasien in Stockholm. Die Schule kooperiert in naturwissenschaftlichen Fächern mit der Universität. Dort treffen die Schüler ständig auf international zusammengesetzte Teams. In der Berufsausbildung – auch die bieten schwedische Gymnasien an – kooperiert die Schule mit internationalen Firmen. In der Wissenschaft und in den global operierenden Unternehmen ist es ganz normal, verschieden zu sein.

Darüber, dass das Tensta-Gymnasium so erfolgreich und so gut angesehen ist, obwohl doch 80% der Schüler dort Neuschweden sind, wundern sich deutsche Besucher.

 

Sprecherin:

Warum sagen sie Obwohl – fragen die Schweden zurück. Mit den Migranten kämen Probleme, ja, aber es entstehe doch auch viel Neues.

Cut 9: ( Inger Nyrell, Direktorin Tensta Gym.)

Das ist eine neue Welt. Das ist sehr schwierig zu erklären. Es ist sehr friedlich hier, es ist sehr ruhig, man funktioniert gut. Man versteht sich untereinander. Außerdem sind die meisten Schüler sehr fleißig. Sie wollen wirklich in die Gesellschaft kommen und versuchen auch viel Arbeit zu leisten, um das zu schaffen.

Sprecherin:

Inger Nyrell, die Direktorin des Tensta Gymnasiums. Auch sie spricht voller Stolz von ihrer Schule und den Schülern.

Sprecher:

Stolz, das zeigt sich an den Ländern, die beim internationalen Schultest PISA besonders gut abschnitten, Stolz treibt das Lernen voran. Stolz bekundet Zugehörigkeit und schafft Sicherheit, aus der heraus man sich ins Unsichere wagen kann. Und Lernen bedeutet ja immer auch, einen Schritt ins Ungewisse zu wagen. Wer beschämt ist und sich wenig zutraut, wird solche Schritte vermeiden. So gesehen ist Stolz eine Produktivkraft.

Sprecherin:

Hingegen drückt der im deutschen Schulsystem latent drohende Ausschluss auf die Stimmung, schwächt das Selbstbewusstsein und die Lernbereitschaft.

Cut 10: ( Edelstein)

Man merkt das an allen Untersuchungen, die Schulzufriedenheit untersuchen, da ist die Schulverzweiflung und die Schulablehnung ja sehr, sehr hoch, zwischen einem Drittel und der Hälfte der Schüler. Und da rekrutieren sich die traumatisierten Kids, die dann in die rechten Gruppen abdriften und in andere Problemlagen, die wir immer vergessen, weil sie nicht auffallen, die mit Valium aufgefüllt werden, die haben wir haben wir doch auch, und nicht zu knapp.

Sprecher:

Bildungsforscher Wolfgang Edelstein hat Untersuchungen über die Stimmung in deutschen Schulen zusammen getragen und ausgewertet – über mehrere Jahre hinweg und in verschiedenen Schulformen. Mit dem Ergebnis: Viele Schüler und Lehrer betrachten einander mit einem „bösen Blick“. Er ist wechselseitig, schaukelt sich hoch. Das vorherrschende Lehrerbild laufe bei deutschen Schülern immer wieder darauf hinaus:

Cut 11: ( Edelstein).

Sie trauen den Lehrern nicht. Sie halten sie für übelwollend. Sie würden nie mit einem Problem zum Lehrer gehen. Sie erhalten von der Schule nichts. Sie lernen darin nichts, was interessant ist, oder was ihnen nützt. Aber insbesondere misstrauen sie den Lehrern, bis zu fünfzig Prozent an den Gesamtschulen.

Sprecher:

Immer wieder erleben deutsche Schüler und ihre Eltern eine Art „Kulturschock“, wenn die Eleven in der Oberstufe des Gymnasiums für ein paar Monate oder ein Jahr ins Ausland gehen. Zum Beispiel Benjamin, der Sohn des Bildungsforschers Wolfgang Edelstein. Er ging mit Sechzehn für ein Jahr von Berlin nach Boston. Schon nach einer Woche schrieb er nach Hause:

Zitator:

„Ihr werdet es nicht glauben, an den Schulen hier interessieren sich die Lehrer für die Schüler.“

Sprecher:

Der neue Mathelehrer hatte in kurzer Zeit die Lücken identifiziert, die Benjamin von einem der renommiertesten Gymnasien in Berlin mitgebracht hatte.

Der amerikanische Lehrer habe das „träge Regelwissen“ in verständliches „Handlungswissen“ transformiert, erklärte

Wolfgang Edelstein kürzlich in einem Vortrag.

In Boston änderte sich, was der Bildungsforscher die „Selbstwirksamkeitsüberzeugung“ nennt. Aus einer pessimistischen Einschätzung wurde eine optimistische; Leistungen und Noten verbesserten sich.

Später meldete Benjamin:

Zitator:

„Die Lehrer lassen nicht ab, bis jeder das Problem begriffen hat.“

Sprecherin:

Wenn Wolfgang Edelstein seine persönlichen Erfahrungen nicht in vielen Studien beglaubigt fände, hätten wir Scheu, sie als typisch darzustellen. Um es deutlich zu sagen: Edelstein ist kein Lehrerhasser. Er war selbst einmal Lehrer und Studienleiter an der legendären Odenwaldschule, bevor der Soziologe und Linguist in die akademische Welt wechselte und in Berlin das Max Planck –Institut für Bildungsforschung mit aufbaute.

Sprecher:

Edelstein hat schon vor Jahren den Begriff „Self-efficacy“, Selbstwirksamkeit, in die deutsche Debatte eingeführt.

Das englische Wortspiel mit Efficiency und Efficacy, also mit Effizienz und Wirksamkeit, signalisiert, was die Stunde geschlagen hat. Das Ideal des Industriezeitalters, demnach Menschen effizient wie Maschinen zu funktionieren hatten, wird der Wissensgesellschaft nicht den Weg weisen. Jeder muss etwas wollen und Ideen haben, um wirksam zu werden. Positive Selbstbilder liefern dafür den Unterstrom. Selbstverwirklichung und Weltverwirklichung werden sich künftig immer mehr bedingen. Demokratie und Leistung haben eine Schnittstelle: selbstbewusste Menschen.

 

Sprecherin:

Das ist die positive Nachricht. Die schlechte ist, dass vielen das Selbstbewusstsein fehlt. Und vielen fehlen auch die minimalen Leistungsvoraussetzungen für gesellschaftliche Teilhabe. Zu den Risikokandidaten im Lesen gehört in Deutschland fast ein Viertel des Altersjahrgangs. Das zeigt die PISA- Studie. In Finnland zählen keine 7% zu dieser Gruppe kognitiver Verlierer.

Cut 14: (Baumert )

Man muss immer, vor allem wenn man nicht zur Topgruppe gehört, um den Klassenerhalt bangen und kämpfen. Die Gefahr, dass man abgeschoben wird, ist einfach groß. Das ist auch eine Folge der inneren Logik unseres Systems. Das liegt nicht an der schlechten Pädagogik der Lehrer oder an mangelndem Verantwortungsbewusstsein. Ihnen fäll es in ihrem Handlungsrepertoire im Alltag schwer, mit Unterschiedlichkeit umzugehen. Deshalb haben sie das Gefühl, selbst wenn sie homogene Lerngruppen haben, dass die Lerngruppen noch zu heterogen und unterschiedlich sind und grenzen dann aus.

Sprecherin:

So fasst PISA- Chef Jürgen Baumert die Diagnose für Deutschland zusammen.

Sprecher:

Während bei PISA erfolgreiche Länder in den vergangenen Jahrzehnten begonnen haben, ihre Schulen umzubauen, haben sich die Deutschen, genauer die Westdeutschen, einen 30jährigen Bildungskrieg der Rechthaberei geliefert.

Sprecherin:

Dafür waren die Pisa Ergebnisse die Quittung. Pisa bestätigte, was sensible Beobachter länger schon diagnostizierten: verwahrloste Bildungslandschaften. Peter Sloterdijk, der Philosoph, der seine Thesen auf den Punkt zu bringen weiß:

Zitator:

„Deutsche Schüler verlassen nach 13 Jahren die Schule wie Landsknechte eine aufgelöste Armee.“

Sprecher:

Auch Peter Sloterdijk kann seine Studien über das „Atmosphärentier Mensch“ mit alltäglichen Beobachtungen bei seiner Tochter verbinden. Sie hat das Glück, auf eine Montessori Grundschule in Karlsruhe zu gehen.

Cut 15: ( Peter Sloterdijk)

Und da sieht man so sehr deutlich, wie man mit einer anderen Klimapolitik, auch eine ganz andere Sprache mit den Schülern und eine andere Sprache der Schüler untereinander hervorruft, weil nämlich diese Lernlibido als das eigentliche Kapital mit dem dort gearbeitet wird, vorausgesetzt wird. Die Kinder bringen ihre Neugier, ihre Begeisterung, dieses unschätzbare Medium der Vorfreude auf sich selber, also die Vorfreude auf den eigenen nächsten Zustand in diesen Lernvorgang mit hinein. Eine Didaktik, die das respektiert arbeitet klimapolitisch ganz anders, als eine Schule, in der die Pädagogen auftreten mit einer Haltung: ihr werdet euch noch wundern, oder: ich werde es euch zeigen. In der diese Zumutungen einer verfrühten und ungerechtfertigten Versachlichung an die Kinder herangetragen werden.

Sprecher:

Das Motto „Lernen ist eine Vorfreude auf sich selbst“ könnte wie ein Notenschlüssel vor den Partituren einer neuen Schule stehen. Und dass der beschämte und depressive Blick auf sich selbst Lernbehinderung bedeutet, könnte eine Erkenntnis sein, die den Abschied von der alten Schule erleichtern sollte. Lernlibido ist durch nichts zu ersetzen, weder durch Nachhilfe noch durch Ermahnungen und auch nicht durch mehr Unterricht.

Cut 16: (Sloterdijk)

Ich beobachte das mit größter Faszination bei meiner Tochter, die mir schon mit 2 Jahren aufgefallen ist als ein Mensch, die ein Lustprinzip hat, das ich nirgendwo bisher adäquat beschrieben gefunden habe, weder in der Psychoanalyse, noch in irgend einer anderen psychologischen Beschreibung. Ich habe dann die Entdeckung gemacht, dass also das primäre Element dieser Libido darin besteht, dass sie sich auf ihren nächsten Zustand freut und zwar auf ihr Werden, auf ihr eigenes Werden freut, und dass sie so eine Art Grubenlampe auf dem Kopf trägt, die ihr sozusagen den nächsten Arbeitsabschnitt des Lebens auf eine ganz diskrete Weise anleuchtet. Sie geht in ihrem kleinen Lebenstunnel voran immer mit dem Gefühl, dass sie das Licht am Ende des Tunnels schon sieht, dass ihr eigener, aus ihr herauskommender Projektor, also ihre Freude, das nächste Stück Leben anleuchtet. Ich glaube mit dieser dynamischen Libido, die das eigene Werden-Können im voraus ausleuchtet, mit der muss sich die Pädagogik verbünden.

Sprecherin:

Wie tief die Erbsünde des Misstrauen in unserem Bewusstsein sitzt, zeigte sich im Herbst des Jahres 2001 beim Besuch einer Delegation deutscher Schulräte und Bildungsplaner in Schweden. Die PISA-Ergebnisse waren noch nicht veröffentlicht. Der Besuch sollte klären, warum die schwedischen Oberstufenschüler in dem anderen internationalen Vergleich, der Mathematik und Naturwissenschaftsstudie TIMSS, an der Weltspitze stehen.

Sprecher:

Immer wieder wurden die Schweden von den Deutschen gefragt, wie sie zu diesen Spitzenleistungen kämen, obwohl sie keine Leistungsdifferenzierung in der gemeinsamen neunjährigen Folkeskole machen?

So gute Leistungen, wurde ungläubig gefragt, obgleich es bis zur 8. Klasse keine Noten gibt? Erst recht Kopfschütteln beim Oberstufenvergleich, der die Schweden so überlegen abschneiden lässt – wo doch schwedische Schulen alles daran setzen, nach der 9. Klasse möglichst alle aufs Gymnasium zu bringen.

Sprecherin:

Tatsächlich schaffen es mehr als 90% eines Jahrgangs.

75% des Geburtsjahrgangs erwerben die Hochschulreife. 60% studieren.

Sprecher:

Irritationsresistent liefen die deutschen Fragen immer wieder auf dieses Obwohl hinaus. Kein Versuch mit dem Wörtchen weil. Dabei gehörte die deutsche Pädagogendelegation zum reformerischen Lager. Die Deutschen scheinen sich im Zweifelsfall einig zu sein: es kann doch gar nicht sein, dass freiere und auf Gemeinschaft setzende Schulen auch noch die erfolgreicheren sind, dass gute Leistungen eher ein Echo auf Vertrauen als auf Misstrauen sind. Aber genau das ist die starke Lektion aus Skandinavien, Kanada und vielen anderen Ländern.

Dort lautet die Botschaft:

Zitator:

„Du gehörst dazu. Du kannst mehr als du glaubst! Du bist ganz gut!“

Cut 17: Alenius

In Sweden we have the school 150 years now, during that time we have a classroom, the pupils and the teacher and about 40 minutes for a lesson. So, now it’s time to change it.

Zitator: (voice over)

In Schweden haben wir die Schule nun 150 Jahre: es gibt einen Klassenraum, Schüler, Lehrer und ungefähr 40 Minuten Unterricht. Nun ist es Zeit das zu ändern.

Sprecher:

Hans Alenius, Lehrer in der „Futurum“ Schule in Balsta, nördlich von Stockholm. Der Besucher traut seinen Augen nicht. Schon die Architektur erinnert nicht mehr an Schulen, wie man sie kennt. Besucher werden durch Ateliers und Labors geführt. Sie sehen Räume, in denen Schüler gemeinsam in Arbeitsgruppen oder still für sich lernen. Man staunt im Lehrerbüro über Schreibtische und Computer für jeden Pädagogen. Dann gibt es noch ein professionelles Musikstudio. Alle diese Räume sind um runde, lichtdurchflutete Großräume gebaut, die an Markt- oder Dorfplätze erinnern. Nach zwei Stunden fragt einer der Besucher:

Zitator:

„Können wir denn auch mal richtigen Unterricht sehen?“

Sprecherin:

Der Lehrer lächelt. „Das hier ist unser Unterricht.“

Sprecher:

Die Schule mit 1000 Schülern und etwa 100 Lehrern besteht aus sechs kleinen Schulen, die jeweils um einen der Gemeinschaftsräume gruppiert sind. Zu dieser kleinen Schule in der Großen gehen jeweils um die 160 Kinder und Jugendliche von sechs bis sechzehn, von der Vorschulklasse bis Klasse neun.

Cut 18: ( Alenius)

The basic is, that we mix ages of the pupil. The older the pupil get, the more we mix the ages, because older pupil help younger, and the younger also can help the older. And that is very, very important. In computing, in mathematic we have a six grade pupil, who helps pupil the eight grade. And that was impossible in the old school.

Zitator: (voice over)

Grundlegend ist, dass wir Altersgruppen mischen. Je älter die Schüler sind, desto mehr mischen wir sie. Ältere helfen Jüngeren, und auch Jüngere helfen Älteren. Das ist wichtig. Bei Computern oder zum Beispiel in Mathe haben wir einen aus der Sechsten, der hilft denen aus der Achten. Das war in der alten Schule unmöglich.

Sprecher:

Die Zusammenarbeit der Schüler ist ein Merkmal des schwedischen Erfolges. Die hohe Zahl der Gymnasiasten und die starken Leistungen erklärt Mats Ekholm, Generaldirektor der schwedischen Bildungsagentur Skolverket mit der ausgeprägten horizontalen Struktur:

Cut 19: (Ekholm)

Schüler lernen von Schülern. Schüler oder Kinder sind manchmal besser als Lehrer um etwas zu erklären. Bei Schülern in Schweden finden wir, dass bei ihnen im Laufe der Zeit die Lust an Mathematik zum Beispiel verschwindet. Und da versuchen wir heraus zu bekommen, wie kann man die Lust länger am Leben halten.

Sprecher:

Die schwedische Antwort heißt: mehr Aktivität, mehr Selbststeuerung, mehr Zusammenarbeit. Weniger traditioneller Unterricht, weniger Lehrervortrag.

Erkenntnisse der Neurobiologie zeigen heute: Lernen beginnt mit der Aktivität der Sinne. Dann folgt das große Assoziieren der vielen Eindrücke mit dem, was in den verschiedenen Hirnzentren, die relativ autonom arbeiten, gespeichert worden ist. Und dann erst wird es Bedeutung geben.

Sprecherin:

In der Schule läuft es genau anders herum. Erst die Bedeutung – und zwar als auskristallisiertes Resultat von vielen Prozessen des Bedeutung-Gebens. Es wird hierarchisch von oben nach unten erklärt: erstens, zweitens, drittens. Die vielen Assoziationen, ohne die unser Gehirn gar nicht arbeiten kann, stören dabei nur. Assoziationen sollen in der Schule in eng gebahnten Kanälen ablaufen. Aber das wollen sie nicht. Folglich versucht man das Gehirn in der Schule beim Lernen ruhig zu stellen. Ganz abschalten lässt es sich ja nicht.

 

Sprecher:

In schwedischen Schulen, die neue Wege gehen, geht das Lernen von den Schülern aus. Man vertraut darauf, dass sie lernen wollen, wie alle Kinder, bevor sie zur Schule gehen.

In der „Futurum“ Schule in Balsta zeigt uns Markus Salmen seinen individuellen Lehrplan, sein Logbuch.

Cut 20: (Markus)

We have enormous freedom. Because if we want to do mathematics today, we can make it in our own schedule. If we want to have English, we can have it. One week we need to have more Swedish, we can have it and make more mathematics and something next week.

Every day, sit down half an hour, an write in, what we have to do. I write in Monday morning what I gone to have Tuesday afternoon and write what I have to do in every subject.

Zitator: (voice over)

Wir haben viel Freiheit. Wenn wir heute Mathe machen wollen, dann nehmen wir das in unseren eigenen Stundenplan, oder wir machen Englisch. In einer Woche merke ich, dass mehr Schwedisch nötig ist, dann kommt Mathe und anderes nächste Woche dran. Jeden Morgen setzt man sich ne halbe Stunde hin und schreibt auf, was zu tun ist.

Montag morgen schreibe ich schon auf, was ich bis Dienstagnachmittag in den verschiedenen Fächern machen will.

Sprecher:

Das Logbuch ersetzt Markus’ Stundenplan. Es ist Sache der Schüler, ob sie ihre wöchentlichen Matheübungen am Donnerstag Früh oder am Mittwoch Nachmittag machen. Aber sie müssen darüber Rechenschaft ablegen. Die Schüler für ihr eigenes Lernen selbst verantwortlich zu machen, das ist das oberste Lernziel. Diese Verantwortung verändert den Stil im Umgang mit den Lehrern. Instruktionen und Besprechungen mit den Lehrern finden mal vor großem Auditorium oder in ganz kleinen Gruppen statt. Aber diese Lehrveranstaltungen machen höchstens die Hälfte der Schulzeit aus.

Sprecher:

Auch der Schulalltag der Lehrer hat sich in Schweden verändert.

Seit fast 10 Jahren arbeiten dort die Lehrer 35 Stunden in der Woche – und zwar in der Schule.

Nur ein Teil davon ist Unterricht.

Cut 21: (Lehrerinnen Titti Turner und Agneta Petterson)

You are not alone, we have a lot of children together and if there is a problem, we can work it out together and we can support each other.

2. Lehrerin

The team have to see each other a lot. Therefore we have to bee here, so we ca talk, that is the meaning, it’s the way we do the school, it’s a team work, so the team must be here

Sprecherin: (voice over)

Man ist nicht allein. Wir haben viele Schüler zusammen. Und wenn es Probleme gibt, lösen wir diese gemeinsam und unterstützen uns.

Das Team muss sich oft helfen. Dazu muss man vor Ort sein und miteinander reden, das ist der Sinn, das ist unsere Art Schule zu machen. Es ist Teamwork, und ein Team muss da sein.

Sprecher:

Wenn Lehrer ein Team bilden, strahlt das auf die ganze Schule aus. Dann sehnen sich Schüler sogar nach ihrer Schule, wenn sie mal krank sind. Und dass die Leistungen in der Futurum Schule stimmen, zeigen die innerschwedischen Tests.

Mats Ekholm, der Generaldirektor von Skolverket, hat im Auftrag einer deutschen Landesregierung zwei Wochen deutsche Schulen besucht.

Cut 22: (Mats Ekholm)

In Deutschland sehe ich mehr einen befehlsführenden Lehrer. Da bin ich erstaunt, wie man in Deutschland die Zukunft vorzubereiten versucht. Ich sehe, dass man in Deutschland mit seiner Schule mehr für eine alte Zeit arbeitet.

Aber das waren meine schwedischen Augen.