taz Blaupausen für den Spaß am Lernen


Blaupausen für den Spaß am Lernen

In Schulen sieht Lernen heute noch oft aus wie im Industriezeitalter. In einem Film von Reinhard Kahl kommt der Lehrplan nicht vor. Der Publizist zeigt Schulen und Lernorte, an denen fröhliche Schüler auftreten, selbstbewusste Lehrer – und Eltern, die sich freuen, dass die Schulfächer abgeschaftt werden
VON CHRISTIAN FÜLLER

Ohne Finnland. Ohne Schweden. Vergeblich wartet man auf die skandinavischen Musterschulen. Kann das sein? Dass jemand einen Film über Schulen dreht, ohne die allüberall zitierten Lernorte des hohen Nordens zu zeigen? Es geht offenbar. Seit Pisa die Deutschen und die Deutschen sich mit Pisa martern, ist das Finnlandisieren und das Schwedeln ein weit verbreitete Unsitte. Reinhard Kahls Film erliegt ihr nicht.

Kahls Schauplätze sind andere. Die Max-Brauer-Gesamtschule in Hamburg und die Bodenseeschule in Friedrichshafen. Wir sehen die Jenaplanschule in Jena und Schulen tief im Westen, in Gelsenkirchen und Essen. Überall in Deutschland findet der Bildungspublizist und taz-Autor Orte, die er „Treibhäuser der Zukunft“ nennt. Die Pathetik, die darin steckt, verfliegt schnell. Denn Kahl spricht nicht über Schulen. Er führt uns hinein, er schließt Lernorte für uns auf, von denen wir gar nicht wussten, dass Klassen- und Lehrerzimmer so überhaupt aussehen können. Lernen scheint anders zu werden – auch in Deutschland.

Dass er nicht fremdelt, ist also der erste Vorzug, den der 115-minütige Streifen hat. Der zweite, vielleicht bedeutsamere ist der: Es wird nicht gejammert, kaum einer schimpft, niemand lädt die Schuld für das vermaledeite Lernen bei anderen ab. Es kommen keine Lehrer vor, die über untätige Kultusminister oder faule Schüler schimpfen. Der Grundton des Personals, das zu Wort kommt, ist ein selbstbewusster. Das ist sehr ungewöhnlich.

„Kopfhörer aufsetzen“, sagt eine strenge Lehrerin. „Und jetzt wird geübt!“ Ihre Zöglinge, säuberlich in die Kabinen eines Sprachlernlabors einsortiert, führen den Befehl aus. Das Premierenpublikum lacht über die Szene aus den 70er-Jahren. Fehlte nur das Fließband, von dem sich die Schüler die Wissenshäppchen nehmen und in den Kopf stecken. Im Grunde geht dieses Lachen fehl. Denn das Lernen, das aus dem Industriezeitalter stammt, gibt es heute noch. Lernen auf Befehl, nach Lehrplan, frontal von vorne – das ist nicht etwa die Ausnahme, sondern heute die bedauerliche Regel.

Reinhard Kahl versucht mit seinem Film, plausibel zu machen, dass Schule so langweilig nicht weitergehen darf. Dabei skandalisiert er das alte Lernen kaum. Und macht um das neue Lernen für die Wissensgesellschaft auch kein großes Gewese. Kahl kann dokumentieren, dass das Lernen in der Zukunft ein anderes sein wird. Das mehr mit Begreifen, mit Experimentieren und Forschen zu tun hat als mit Pauken. Dafür sammelt Kahl viele Beispiele. Einen Professor etwa, der im katholischen Eichstätt die Universität verlässt und in die Schule geht. Nur unterrichtet Jean-Pol Martin nicht etwa selbst. Er macht die Schüler zu Lehrern, die KlassenkameradInnen unterrichten sich gegenseitig – mit aller Nonperfektion und Improvisation, die das mit sich bringt. „Unterrichten heißt“, so erklärt der Professor sein Prinzip, „Widersprüche entstehen lassen, damit sie geklärt werden.“

Man kann viele der großen Worte, die Film bisweilen macht, getrost beiseite legen. Denn es gibt so viel Beispiele, dass man ein ziemlich gutes Bild davon bekommt, wie das Lernen im Wissenszeitalter aussehen wird. Die Kernelemente sind, fast in allen modernen Schulen: den Stundenplan abschaffen. Den Lehrplan zurechtstutzen und auf den individuellen Schüler herunterbrechen. Die Lehrer den ganzen Tag in die Schule holen. Teams von Schülern bilden – und sie dann zwischen die Fächer am richtigen Leben selber forschen zu lassen. Dort, an den Schnittstellen der Fächer, entsteht neue Erkenntnis. So sieht man es den Rektor der Bodenseeschule Albert Hinz einer Elternschaft berichten – die nun völlig hingerissen ist, obwohl ihr Schulleiter ihr doch gerade alle Sicherheit des Lehrplans geraubt hat.

Der große Nachteil der Pädagogen ist, dass sie, wenn sie beschreiben sollen, wie gutes Lernen aussieht, furchtbar ins Schwafeln kommen. Bildung ist ein so wahnsinnig komplexer Prozess, dass am Ende eines Lehrervortrags oft unglaubliche Banalitäten herauskommen. Der Vorteil von Kahls Film ist, dass dort Lehrer das Prinzip neue Schule in unnachahmliche, ganz einfache Sätze packen. Hartmut von Hentig sagt: „Eine Unterrichtseinheit, eine Stunde muss ein Erlebnis haben, es muss aufregend sein.“ Die Rektorin der Montessori-Gesamtschule in Potsdam, Ulrike Kegler, sagt: „Wir dürfen die Schüler nicht beschämen.“ Und der Mann von der Bodenseeschule: Jeder Lehrer kann etwas tun, die sollen sich bloß nicht rausreden. Und das erste wäre, so Hinz: ein Taschentuch zwischen Klöppel und Glocke klemmen – damit man den elenden 45-Minuten-Takt der Regelschule endlich loswerden könne.

Spaß, Respekt, Ruhe, Konzentration, Selbstbewusstsein. Und das alles ohne Unterbrechung durch dieses schreckliche Klingeln. Wo gibt es das schon an deutschen Schulen? Ist es nicht geradezu eine fest verbürgte kulturelle Tradition, dass Kinder in der Schule getrost abschalten können, weil sie genau wissen: Mit dem Leben hat das, was zwischen acht und eins in den Klassenzimmern vor sich geht, nun garantiert nichts zu tun. Aufwachen, so liefert der Hirnfoscher Manfred Spitzer den Beweis, im physiologischen Sinne Erwachen, das tun die Köpfe der Kinder erst: nach dem großen Gong. Dann geht das Leben weiter.

Es ist allerdings auch richtig: Der Film von Reinhard Kahl hat enervierende Passagen. Weil er das notorische Anti-Spaß- und Gleichmacherprinzip der deutschen Schule ersetzt durch ein ebenso ubiquitäres „Wir können auch anders“: Schule geht nur individuell und mit Freude. Wer sich darüber echauffiert, ist freilich selbst schuld. Denn Kahl will doch ausdrücklich ein Archiv der Zukunft anlegen. Die alte Tour ist nicht die seine. Das die Schule zwar schlecht sei, aber man nun mal nichts ändern könne.

Wie viel Verwirrung an der Grenzlinie von alter und neuer Schule, von Ernst und Spaß am Lernen noch immer herrscht, mag der Fehlgriff eines der kundigsten Beobachter der deutschen Bildungsszene zeigen: „Warum erinnert uns das“, so rästelt Torsten Harmsen in der Berliner Zeitung über Kahls Schulen, „an die nach Pisa so arg gescholtene Kuschelpädagogik der Siebziger?“ Das ist ein Salto rückwärts. Denn Pisa widerlegt doch die Regelschule und nicht etwa die Reformschule. In der Bodenseeschule gibt es keine Fächer mehr, kein Klingeln und keine Belehrer, dafür offensichtlich viel Konzentration und Spaß. Wenn die Schüler dieser Schule aber Komptenztests wie den von Pisa spielend bestehen, wo gibt es dann, bitte sehr, noch ein einziges Argument für die deutsche Stino-Schule?

Einen Vorwurf muss man Kahl machen. Er hätte jene Zitate, in denen die Ganztagsschule als die Chance bezeichnet wird, mit Datum kenntlich machen sollen. So bringt er viele der Pädagogen, die diese Auffassung seit langem vertreten, in den Verdacht, Propagandisten des Ganztagsschulprogramms der aktuellen Bundesregierung zu sein. Das hat die Zukunft nicht nötig.

Reinhard Kahl: „Treibhäuser der Zukunft – Wie in Deutschland Schulen gelingen“. Zu beziehen für 15 Euro via Mail bei der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung: info@dkjs.de

taz Nr. 7402 vom 7.7.2004, Seite 18, 238 TAZ-Bericht CHRISTIAN FÜLLER

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