Die kleinen Fehler sind die besten!

Die kleinen Fehler sind die besten!

Der deutsche Bildungsjournalist Reinhard Kahl wird nicht müde, das Hohelied des Fehlers zu singen. Er setzt sich für eine neue Schule ein, die die Unverwechselbarkeit der Menschen ernst nimmt. Und für Lehrkräfte, die ihre Chancen wahrnehmen, statt über bestehende Begrenzungen zu jammern.
Interview: Christine Haiden, Fotos: Andreas Röbl
 
 
Wir haben in Österreich eine ziemlich heftige Schuldebatte hinter uns …
… das haben die teutonischen Völker so an sich, die führen gerne Bildungskrieg. Das ist der letzte Religionskrieg, der noch geblieben ist, und Religionskriege lieben sie seit ein paar Hundert Jahren. 
 
Aus der Perspektive von Fehlern – werden in einem solchen Konflikt Fehler gemacht?
Da gibt es zwei Antworten. Man könnte sagen, man macht zu viele große Fehler und vermeidet die interessanten Fehler. Die kleinen Fehler sind die, aus denen man lernt. Weil man im Schulbereich eine große Angst hat, Fehler zu machen, etwas auszuprobieren, sich selbst auszuprobieren, führt man lieber Krieg. Was ein bisschen komisch ist.

Reinhard Kahl setzt sich für eine Schule ein, die die Individualität junger Menschen ernst nimmt.
Foto: Hinrich Schultze

 
Der Krieg ist die höchste Eskalationsstufe.
Der Krieg ist die Form, in der man den anderen abspricht, dass sie überhaupt interessant sein können, dass aus ihnen etwas hervorgehen kann. Diese Atmosphäre von Verdächtigung ist gerade im Bildungskrieg so stark. Oft weiß man gar nicht, worum es geht. 
 
Ist das ein systemisches Problem, dass Schule solche Verhaltensweisen hervorruft?
So wie die meisten Schulen noch sind, haben sie eine heimliche Religion. Die ist die der richtigen Lösung. Die Rückseite der richtigen Lösung sind die Fehler, die man nicht machen darf. Die Mentalität der Schule ist nicht, dass es viele Möglichkeiten gibt, sondern viele Unmöglichkeiten. Natürlich ist nicht alles möglich und beliebig. Es gibt aber so viele Möglichkeiten, Mensch zu sein. Sehen wir das als einen Vorteil? Oder messen wir ihn oder sie an einem Ideal, dem keiner standhält? Das ist die Erbsünde der Schule. Dass ein Perfektionsideal herrscht, dem keiner richtig standhält. Am Ende gehen die meisten eher geschwächt als gestärkt heraus. Das ist doch verrückt.
 
Bildung soll Menschen zu Kreativität führen, das wird auch keine Lehrerin, kein Lehrer abstreiten.
Wir kommen als Individuum auf die Welt. Dann gibt es Versuche, die Ecken und Kanten abzuschleifen. Das ist ein solcher Irrsinn. Menschen, denen man den Eigensinn ausgetrieben hat, sollte man dann wieder motivieren? Das klappt nicht. Wenn man Kinder beobachtet, wie sie lernen, sieht man, welchen unglaublichen Antrieb sie haben. Ein Kind lernt pro Tag drei, vier Wörter. Sie lernen den aufrechten Gang, alles ohne Lehrer. Stellen Sie sich einmal vor, man würde das Gehen in der Schule im Sitzen lernen! 
 
Aber wir haben auch ständig die Diskussionen um Leistungsnormierungen und um Standardisierung des Wissens. 
Wenn man dafür ist, dass Verschiedenheit gut ist, dann braucht man so etwas wie Standards, an denen man das misst. Wenn man aber die Standardisierung zum Hauptthema macht, ist das, als ob man Häuser nur mit Statikern, aber ohne Architekten baut. Dann kommen hässliche Häuser raus. Diese Standarddiskussion ist unglaublich angstgetrieben und hat vielleicht auch damit zu tun, dass wir ein schwach ausgebildetes Urteilsvermögen haben. Ein Beispiel: Der Lernforscher Manfred Spitzer macht bei seinen Vorträgen mit Lehrern gerne ein Spiel mit dem Publikum. Er unterbricht, gibt jedem ein DIN-A4-Blatt und sagt, jeder solle nur die wichtigsten Formeln der Mathematik aus der Oberstufe aufschreiben. Das sagt er so, dass keiner lacht. Dann beginnt er zu lachen, weil jeder weiß, dass dafür eine Streichholzschachtel reichen würde. Am nächsten Tag machen die Lehrer trotzdem wieder Unterricht, als würde man all dieses Zeug behalten, als würden noch immer beim Lernen Fässer gefüllt und nicht Elemente verflochten. So entsteht bestenfalls ein Bluffsystem, in dem man für die Prüfung lernt und anschließend nie wieder etwas damit zu tun haben will. 
 
Was heißt das für Standardisierungen?
Das Überprüfen von Standards ist dann gut, wenn man es in großem, auch zeitlichem Abstand zur Schule macht. Das war auch der Sinn von PISA, zu fragen, welche Kompetenzen sie haben, und nicht, welches Wissen. Es geht darum, wie Menschen Handelnde werden und weiterlernen können. 
 
Heftige Debatten gibt es zur Ganztagesschule. Wie können Kinder umfassend lernen, wenn man sie den ganzen Tag in der Schule belässt und nur künstliche Lernumgebungen schafft?
Das funktioniert nicht. Ich denke an eine Schule in Potsdam bei Berlin. Die haben ein völlig verwahrlostes Grundstück der früheren Stasi übernommen und gehen mit den Schülern der 9. und 10. Klasse da wochenlang raus, um zu bauen, daraus einen Bauernhof zu machen. Die Schüler, auch die schulmüden, kommen voller Begeisterung hin. Sie haben unglaubliche Lust, Werkzeuge zu benutzen, wirksam zu sein. Eine gute Schule findet nicht nur im Schulraum statt. Wenn eine Ganztagesschule nur zu einer beschäftigungstherapeutischen Anstalt wird, ist das furchtbar.
 
Viele Lehrer klagen, dass sie unter massivem Druck stehen, dass sie sozusagen in ihrer Arbeitssituation nicht verstanden werden.
Lehrer klagen gerne.
 
Stimmt das, werden sie nicht verstanden?
Ja, aber das sind so Zirkel. Leute, die sich selbst immer als Erstes als Opfer verstehen, sind solche, die selbst kein Opfer bringen wollen. Warum ändern sie denn nichts? Beispiele von guten Schulen sind solche, wo die Lehrer auch eine Schule machen, die sie selbst gut finden, wo sie sich wohlfühlen. Wer entscheidet, ich will mich da eigentlich gar nicht wohlfühlen, aber ich will um ein Uhr raus sein, bei dem stimmt doch etwas nicht. In einer kantonalen Schule in Bürglen in der Schweiz haben Lehrer aus drei Räumen die Wände rausgenommen. Sie haben nun eine Klasse von 60 Schülern und haben drei bis fünf Lehrer drinnen, die arbeiten zusammen. Der Klassenraum wird zu einer Art Lernbüro. Das Erste in der 7. Klasse ist – in der Schweiz gibt es eine sechsklassige Primarschule –, dass die Kinder nach der Sommerpause ihre Arbeitsplätze bauen. Die Lehrer haben auch ihre Arbeitsplätze mit einer kleinen Ampel, mit Grün, Gelb und Rot. Wenn sie ungestört arbeiten wollen, stellen sie die auf Rot, wenn sie bereit sind, etwas zu klären, machen sie Grün und wenn sie gelb ist, muss sich ein Schüler überlegen, ob es wichtig ist. Da kommt etwas von einem Zusammenleben mit Respekt auf, von Interesse. Da gibt es fast keine Disziplinprobleme, die diese Schule vorher hatte.
 
Was halten Sie von der Idee, Lehrer und Lehrerinnen sollten nicht nur eine Schulkarriere haben, sondern einmal irgendwo in einem nicht schulischen Bereich tätig sein und andere Erfahrungen sammeln?
Das finde ich auch. Aber man sollte die Schule auch öffnen für Lehrer, die vielleicht auf einem zweiten Bildungsweg hinkommen. Man sollte aber vor allem versuchen, dass man eine neue Gruppe von Lehrern kreiert, sogenannte Dritte. Handwerker, Künstler, Wissenschaftler, die das bleiben und einen Tag oder eine gewisse Zeit in die Schule gehen. Das hätte den Vorteil, dass Lehrer, wenn sie solche Dritte wie Menschensammler suchen, selbst aufgewertet werden. Dann haben sie nicht nur immer mit Kindern zu tun, sondern auch mit Erwachsenen. Dann werden sie mehr zu Managern dieser Lerninszenierung. Ich glaube, das wäre wichtiger, als dass jemand vor seinem Studium ein Praktikum gemacht hat. Entscheidend ist, dass Kinder in der Schule andere Erwachsene als nur Lehrer kennenlernen. Damit ist nichts gegen Lehrer gesagt, sondern dagegen, dass man nicht alles sein kann. Die meisten Schüler sind gar nicht richtig geistesanwesend in der Schule. 
Es wird immer geredet über Klassengröße und Unterrichtsausfall oder diese etwas absurde Diskussion über die schulautonomen Tage. Aber es reden nur wenige darüber, dass 70, 80 Prozent der Zeit nur der Körper rumsitzt und die Fantasie spazieren geht. Wenn man das schafft, dass die Leute, wenn sie da sind, auch da sind, hat man viel erreicht.
 
Ein interessantes Phänomen ist, dass viele sich vor allem an interessante Lehrer erinnern, die ein Fach mit Leidenschaft, wenn auch mit pädagogischen Fehlern unterrichtet haben. 
Menschen mit Eigensinn, die etwas aus ihren Fehlern gemacht haben.
 
Nimmt man zu wenig ernst, dass Lehrer auch Typen sein sollen?
Sollen sie doch auch nicht sein. Sie sollen doch irgendwie Lehrplanfunktionäre sein. Das andere ist doch gefährlich oder wird auch nicht geliebt. Man müsste es erst mal mögen, dass Menschen unterschiedlich sind. Wir haben so viele Verdächtigungs- und Verachtungsdiskussionen. 
 
Lehrer sagen, ihnen würde kein Fehler gestattet, Fehler würden immer härter geahndet.
Das stimmt doch gar nicht. 
 
So wird das empfunden.
Ja, aber das ist diese Jammergeschichte. Da muss man nach den österreichischen Lehrern fragen, die deswegen vorbestraft sind oder im Gefängnis sitzen. 
 
Kann man das System wirklich aus der Verantwortung entlassen?
Wer ist das System?
 
Das System, das sich aus Normen und Verwaltungen zusammensetzt, aus stark hierarchisierten Verläufen von Anweisungen und Rückmeldungen.
Und wer verlangt, dass man dieses Spiel mitmacht?
 
Die Lehrer in dem System meinen, das System sei stärker als sie und sie hätten zu wenige Handlungsmöglichkeiten.
Ich glaube, das stimmt einfach nicht. Das System ist doch das Spiel, auf das wir uns geeinigt haben und das wir mitspielen. Natürlich, ein möglicher Beobachterblick ist es, auf das System zu gucken, aber ein anderer Blick ist es, darauf als Akteur zu blicken. 
Diese Vorliebe für den Blick, der die Welt rezensiert als ein Theaterstück, in dem man nicht mitspielt, ist etwas schwach. 
 
Lieber kritisieren als handeln?
Ja. Man ist froh über alle Anzeichen, die man in diesen Verhinderungsdiskursen kapitalisieren kann. Wenn die Ministerin irgendeinen Käse baut, kann man sagen: Seht ihr, das geht nicht! Das sind alles so Zaungastperspektiven. Warum einigen sich viele Pädagogen darüber, lieber ein Zaungast zu sein als ein Zaunkönig? Warum haben sie häufig so wenig Lust am Leben?
 
Haben Sie eine Vermutung, woran das liegt?
Ich würde dazu neigen, dass es diesen Trägheitssog und Schweresog für Menschen gibt und dass die Frage ist, wie man die Gegenkräfte, die nach oben ziehen, an sich selbst und für andere ausbildet. Die Schule ist eine, in der diese Schwere gegenüber den hochziehenden Kräften dominiert.
 
In das Schulsystem gehen eher Menschen, die das anzieht?
Ja, aber es gehen auch Menschen hinein, die noch anderes wollen. Wenn ich an diejenigen denke, die die Lernaufwiegler sind, die etwas Interessantes gemacht haben, dann haben die das nicht so sehr aus irgendeiner Grundsatzüberlegung gemacht, sondern die haben gesagt: So will ich nicht leben. Ich will nicht in diesen muffigen Räumen sein, das Papier, das rumliegt, stört mich, deswegen hebe ich es auf und nicht, weil ich ein Vorbild sein will. 
Die also in der Lage sind, »ich« und »wir« zu sagen, und nicht immer »man« und »das System« sagen. Die sich fragen: Will ich das so? Und: Was habe ich zu verlieren, wenn ich dieses Spiel nicht weiter mitmache? 
 
Haben Sie aus Ihrer Erfahrung – Sie haben sehr viele Schulen besucht – eine Empfehlung zur Maximalgröße einer Schulklasse?
Die Erfahrung zeigt, man kann auch mit einer großen Schule so umgehen, dass man sie in viele kleine Schulen aufspaltet. 
Eine der interessantesten Schulen in Deutschland, eine Grundschule in Münster, ist gar nicht groß, 250 oder 300 Schüler. Die ist aufgeteilt in kleinste, altersgemischte Lernhäuser, Dörfer. Das Maß, mit wie vielen man verkehren kann, ist das Maß der Gruppen. Ein solches Lernhaus ist etwas anderes als ein Klassenraum, der altershomogen ist. Das ist eine Organisation von im Gleichschritt laufenden Lernrekruten.
 
Eine Untersuchung in Deutschland hat gezeigt, dass die Klassengröße an sich, auch wenn sie bei 25 Schülern ist, nichts ändert, wenn die Pädagogik sich nicht ändert.
Das ist einleuchtend. Wenn vor allem der Lehrer spricht, ist es egal, ob da 17 oder 700 sitzen. Diese Klassengröße ist eine Ausredendiskussion. 
 
Was ist für Sie die interessanteste Schule, die Sie derzeit kennen?
Ach, das ist wie die Frage nach dem interessantesten Menschen.
 
Eine Schule, wo sich eine Weiterentwicklung zeigt.
Interessant finde ich diese Potsdamer Montessorischule, dieses Rausgehen mit den Kindern in der Pubertät. Wo die Schüler das planen, wo sie das Grundstück vermessen, zuerst mit Schritten, dann mit ihrem Band, und dann merken, wie nah sie schon mit den Schritten dran waren, wo auch eine andere Körperlichkeit hineinkommt. In den Schulräumen stört der Körper und deswegen ist der dann auch gestört. Vom Leib gar nicht zu reden. Das ist doch Fernunterricht mit Anwesenheitszwang.
 
Was würden Sie als Erstes tun, wenn Sie Bildungsminister würden?
Zurücktreten. (Er lacht.) Ich glaube, die Musik spielt an anderen Stellen. Ein Schulleiter, eine Schulleiterin, ein Lehrer, eine Lehrerin, die gut sind, können mehr Einfluss haben als ein Minister. Ein Bildungsminister könnte sich zum Beispiel selbst auferlegen, dass er die Hälfte seiner Zeit an Schulen verbringt, mit den Leuten spricht, sich das ansieht und in die Gesellschaft zurückträgt. Ein Bildungsminister sollte die Illusion aufgeben, er würde an einem besonders langen Hebel sitzen. Wenn er etwas verändern will, soll er das Ministerium ändern. Wenn ein Ministerium aufhört, eine Superbürokratie zu sein, und eine lernende Organisation würde, wäre es fast nicht zu vermeiden, dass sich das positiv auf die Schulen auswirkt. \\