DIE ZEIT 49 Der Unverzagte über Pisa Chef Manfred Prenzel

 

Der Unverzagte

 

In wenigen Tagen wird der Kieler Erziehungswissenschaftler Manfred Prenzel die offiziellen Ergebnisse der neuen Pisa-Studie präsentieren. Ein Porträt  Von Reinhard Kahl

 

Er sieht heute etwas müde aus. Sonst denkt man immer, Manfred Prenzel käme frisch aus den Ferien. An diesem Nachmittag im November wird er gleich auf einem Podium in Lübeck Platz nehmen. Zuvor hat er das Manuskript der neuen Pisa-Studie (Programme for International Student Assessment) beim Verlag abgegeben. Pisa 2003 heißt sie, weil die Daten im Jahr 2003 erhoben wurden. Sie soll zeigen, was sich seit der Vorgängerstudie (Pisa 2000), die Deutschlands Schulen ein schlechtes Zeugnis ausstellte, verändert hat. 400 Seiten mit Tabellen und Interpretationen darüber, was die deutschen 15-Jähringen können – im Vergleich zu den Gleichaltrigen aus mehr als 40 Ländern. Der innerdeutsche Vergleich der Bundesländer folgt im kommenden Sommer. In der zweiten Runde  des größten Schultests aller Zeiten hat Manfred Prenzel die Stafette von Jürgen Baumert, dem bekanntesten deutschen Bildungsforscher, übernommen. Nun ist er »Mr. Pisa«, Koordinator des Konsortiums der deutschen Pisa-Wissenschaftler.

Ein wenig graust ihm davor, dass die Öffentlichkeit jetzt wieder nur interessiert, wo wir in der Weltliga der Schulen stehen, seit die deutsche Presseagentur am Wochenendeerste Daten aus einer Rohfassung der Studie veröffentlicht hat. Dabei ist Prenzel anderes wichtiger: Wie lernen unsere Kinder? Und warum lernen sie in Deutschland eher unfroh und häufig schlecht? Auf den 400 Seiten wird man manche Antwort finden, aber wie er andeutet, stellen sich ihm vor allem neue Fragen. Welche? Darüber will er nicht reden. Denn eigentlich sind die Ergebnisse bis zum 7. Dezember top secret. Und Prenzel wird sich dran halten.

 

Manfred Prenzel ist nach Lübeck zur Abschlussveranstaltung eines Modellversuchs zur Qualitätsverbesserung in Schulen gekommen. Vertreter aus Ministerien und Lehrer sind angereist. Vor dem abendlichen Entenessen steht eine Podiumsdiskussion auf dem Programm. Da wird kritisiert, dass die Keller der Ministerien voll mit den Abschlussberichten von Versuchen seien, die dann doch nie Modell geworden sind. 90 Minuten Grundsatzdebatte. Das Thema der Diskussion ist bezeichnend: „Mit dem Mut der Verzweifelung – Zur Reformsituation in Deutschland.“

Manfred Prenzel nimmt die Brille ab, reibt sich die Augen und blickt auf den Tisch, als wolle er sagen, ich kann das nicht mehr hören. Aber dann antwortet er mit leiser Stimme und räumt ein, ja, so waren viele Modellversuche, überidealisiert und wirkungsschwach, wie unsere Schulen. Seit einiger Zeit, fährt er fort, suchen wir nicht mehr den Stein der Weisen, auf dem die Wahrheit für alle steht, sondern bauen Netzwerke mit Schulen, die tatsächlich ihren Unterricht verändern und dabei selbst lernen.

Inmitten der ins Grundsätzliche verliebten Bildungsveteranen provoziert  Prenzel, schon weil er große Worte meidet, zumal die moralisierenden. Er fragt: »Kann man denn mit den Kategorien Mut oder Verzweifelung begreifen, ob Schüler in der Schule lernen?« Er möchte auf die Schüler und aufs Lernen zu sprechen kommen. An diesem Nachmittag vergeblich. So mahnt er die an ihren Befindlichkeiten interessierten Schul- und Kultusbeamten: »Fröhlich und unverzagt zu sein, gehört zur Professionalität!« Er empfiehlt ihnen die Pfadfinder als Vorbild und setzt gegen die deutsche Schwere die Mentalität der bei Pisa erfolgreichen Länder. Sie stellen das Lernen und den Unterricht ins Zentrum und sind dabei entspannter und fröhlicher.

Manfred Prenzel ist Pragmatiker. Allerdings einer, wie man ihn häufiger ein paar hundert Kilometer weiter nördlich findet. Einer mit Ideen, Phantasie und Neugier. Kein Buchhalter oder Sachzwängler, die in Deutschland häufig die Gegenfront zu den nölenden Idealisten bilden. Bis zur Ente bleibt Manfred Prenzel nicht. Er fährt mit seinem Mini-Van zurück nach Kiel. Er hat Kinder. Nach der Manuskriptabgabe kommt jetzt der Rattenschwanz von Korrekturen. Und morgen ist wieder ein voller Tag im IPN, dessen Direktor er ist.

Das Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften in Kiel gehört zu den von Bund und Ländern finanzierten Leibniz-Instituten. Auch hier war Jürgen Baumert sein Vorgänger. Der hatte das Institut Anfang der neunziger Jahre vor der drohenden Schließung gerettet und auf die empirische Schulforschung ausgerichtet. Als Baumert 1996 zum Max-Planck Institut für Bildungsforschung nach Berlin ging, wurde ein frisch gebackener, noch unbekannter Professor für Pädagogische Psychologie aus Regensburg nach Kiel bestellt, der damals 45 Jahre alte Manfred Prenzel. Erst vier Jahre war er Professor. Lang dauerte der für deutsche Uni-Karrieren typische Wartestand als wissenschaftlicher Assistent bei Hans Schiefele und als Oberassistent bei Heinz Mandl in München.

Die Münchner Schule hat ihn geprägt. Prenzel spricht mit Erfucht von Schiefele, bei dem er schon Pädagogik studiert hatte. Lernen und Leistung, so dessen Grundidee, sind ohne Interesse und Motivation nicht zu denken. Aber die bloß auf Stoffvermittlung bedachte Schule ignoriert diesen Antrieb der Schüler. Von Mandel hat auf ihn ein gemäßigter Konstruktivismus abgefärbt: Wer lernt, schaffe sich damit seine Welt. Das vorhandene Wissen und gute Lehrer erleichtern das Lernen. Aber lernen muss jeder selbst. Und dazu gehört ganz wesentlich der Austausch. Lernen ist letztlich das Bilden von Netzen, inneren und äußeren. Das sieht man in den meisten Schulen noch anders. Ein Skandal? Ja. Doch Manfred Prenzel will keine Konfrontation, lieber dreht er diesen Sachverhalt um 180 Grad und fragt listig: Was passiert, wenn tatsächlich der innere Antrieb der Schüler geachtet wird? Was kommt in Gang, wenn die Kooperation unter ihnen gefördert wird? Dann verbessern sich auch deren Leistungen. Das zeigen Modellversuche, auf die er setzt und die er häufig evaluiert hat. Zum Beispiel das große Projekt Sinus, das in den Mathe und Naturwissenschaftsunterricht intelligente Aufgaben geschleust hat.

Zu denjenigen, die dem eigenen Schultraumata auf der Spur sind, gehört er nicht. Prenzel hat unter seiner Schule im fränkischen Forchheim nicht gelitten, aber er erinnert sich, dort schon früh mit dem Beobachten begonnen zu haben. Dabei ist ihm aufgefallen, dass manche Mitschüler gelitten und dass sich viele gelangweilt haben. Was sich in so einer Klasse und in den Köpfen von Menschen wirklich abspielt, wollte er mit seinem Studium der Pädagogik, Psychologie und Soziologie heraus kriegen. Damit ist er längst noch nicht fertig. Eigentlich sind ihm die vorhandenen Instrumente seiner Wissenschaft noch viel zu grob.

Deshalb führte er zum Beispiel mit seiner Mitarbeiterin Tina Seidel Videostudien über den Physikunterricht durch. Dabei konnten sie beobachten, wie im ersten Jahr des Unterrichts bei den Schülern häufig das Bild dieses Fachs grau wird. Vor allem Jungs haben anfangs die hohe Erwartung, dass endlich die eigene Kompetenz gefragt ist. Aber auf die kommt es im Unterricht gar nicht an. Und wenn Schüler erstmal ihre Sendeantennen und dann auch die Empfangsantennen einfahren, wird es schwer, sie wieder heraus zu fordern. »Kinder werden unterschätzt,« so heißt nicht erst seit Pisa, Prenzels Zusammenfassung seiner Forschungen.

Wie fast alle Beobachter der internationalen Bildungsszene blickt der Kieler interessiert nach Skandinavien. Ihn faszinieren der respektvolle Umgang, den Schüler und Lehrer miteinander pflegen, die Mischung aus Gelassenheit und Zielstrebigkeit –  und die Ergebnisse. Aber zu dem Aufruf, es den Finnen und Schweden gleich zu tun, und das selektive deutsche System durch Gemeinschaftsschulen bis Klasse neun zu ersetzen, will er sich nicht hinreißen lassen. »Was wäre denn, wir bekämen schwedische Strukturen und alles andere bliebe beim Alten?«, fragt er. Große Strategiedebatten in der Schulpolitik sind nicht seine Sache. Manfred Prenzel sieht sich nicht mit dem Fernglas auf dem Feldherrenhügel hoch über der Bildungslandschaft. Er zoomt lieber ganz nah an das feine Gewebe des Unterrichts, untersucht die Motivation der Schüler, die Kommunikationsstrategien der Lehrer und die Atmosphäre dazwischen. Und er glaubt daran, auf vielen Baustellen in den Schulen ließe sich die müde Seele des Systems nachhaltiger beleben.

 

Bereits Johan Amos Comenius verlangte vor mehr als 400 Jahren, „Lehrer, lehrt weniger, damit die Schüler mehr lernen können.“ Manfred Prenzel will diese Intuition in überprüfbare Forschung bringen. Auch mit dem Risiko widerlegt zu werden. Aber die Ergebnisse sprechen für seine häufig wiederholte Diagnose, dass Schulen, nicht nur die deutschen, längst noch nicht ihr Bestes geben.

Während jetzt alle über 2003 reden, ntlicht wird, arbeiten Manfred Prenzel und seine Mitarbeiter längst an Pisa 2006 und denken an Pisa 2009. Sie wollen noch näher ans Lernen ran und planen Längsschnittstudien, in denen sie Schüler über längere Zeit begleiten. Auch für Pisa 2006 wird Manfred Prenzel die Federführung in Deutschland haben. Dann wird auch wieder ein Nachfolger für Jürgen Baumert gesucht, als Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.