Bildungssystem krankt an Selektion Ostseezeitung

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Wochenendausgabe, 26. Februar 2005

Greifswald und Umgebung

Bildungssystem krankt an Selektion

 

Der Landeselternrat hatte zur Podiumsdiskussion über das deutsche Bildungssystem eingeladen. Etwa 150 Eltern, Lehrer und Schüler kamen.

 

Innenstadt„Deutsche Schule ist schwer. Das ist ein Teil unserer Mythen: Was schwer ist oder bitter wie Medizin, tut gut, ist besser als etwas, das schmeckt. Man paukt, um die nächste Prüfung nicht zu verhauen. Dabei sollten unsere Kinder fürs Leben lernen. Wissen anwenden können heißt, Probleme erkennen, Lösungen finden. Heißt auch, miteinander kommunizieren zu können, im Team arbeiten“, predigt Reinhard Kahl vom Podium und setzt noch eins drauf: „In Deutschland wird den Kindern mit dem späteren Leben gedroht, anstatt dahin einzuladen.“ Widerspruch erhält der Hamburger Journalist und Filmemacher nicht. Dabei sitzen an diesem Donnerstag viele Lehrer und Eltern in der gut gefüllten Aula der Arndtschule. Engagierte Lehrer und Eltern, aber auch verärgerte, wie sich im Laufe der Diskussion zeigt.

„Wie viel Finnland braucht unser Bildungssystem?“ titelte der Landeselternrat das Forum und lud interessante Gesprächspartner ein. Zu ihnen gehörte Reinhard Kahl, der sich seit Jahren mit der Lust am Denken und Lernen befasst. Er drehte bereits mehrere Filme über beispielhafte Schulen in Skandinavien, aber auch Kanada und Frankreich. Zu den Gästen des Abends gehörten aber auch Bildungsminister Metelmann und Petra Linderoos von der finnischen Universität Jyväskylä.

Letztere beeindruckte das Publikum mit Einblicken in das finnische Bildungssystem. Das skandinavische Land, Spitzenreiter bei den PISA-Ergebnissen, habe ein „zentrales Geheimnis – die Heterogenität“. „Bei uns gibt es keine Selektion von Kindern. Die ersten neun Jahre lernen alle zusammen, werden gefordert und gefördert. Jede Schule ist gleich gut. Die Sorge, wo schicke ich mein Kind am besten hin, kennen die Eltern bei uns nicht“, betont die gebürtige Deutsche, die seit 1987 in Finnland lebt, drei Kinder hat und an der Universität als Lehrerin für Deutsch und Fremdsprache arbeitet.

Doch der bei uns im Land gerade diskutierte längere gemeinsame Schulweg findet nicht nur Freunde. „Ich glaube nicht an einen Konsens“, äußerte Ulf Burmeister, Schulleiter des Humboldtgymnasiums, und kritisierte die immer wiederkehrenden Strukturveränderungen nach einem Regierungswechsel. Doch Bildungspolitik brauche „Konsens über politische Grenzen hinweg“, appellierte er an Prof. Metelmann. Der musste sich an diesem Abend einige Vorwürfe gefallen lassen. So auch von Franziska Gutzmer, Sprecherin des Landesschülerrates: „Über die 5./6. Klasse wurde auf Krampf entschieden, ohne Inhalte zu klären. Dabei muss es genau um diese gehen“, unterstrich die Gymnasiastin aus Pasewalk. Markus Wiesenberg sandte ebenfalls eine Botschaft nach Schwerin: „Ich besuche eigentlich das Jahngymnasium in Greifswald, muss aber mittlerweile zwischen drei Schulen pendeln. Ist das noch normal“, fragte der Gymnasiast kopfschüttelnd.

Patentrezepte konnte nach der gut dreistündigen Debatte niemand mit nach Hause nehmen. Wohl aber viel Stoff zum Nachdenken. Insbesondere schaffte es der Publizist Kahl immer wieder mit seinen Worten ins Schwarze zu treffen. Nicht zuletzt, als er den Künstler Joseph Beuys zitierte. „Der hat mal gesagt: ‚Ich ernähre mich von Fehlern.‘ Doch in Deutschland herrscht die Ideologie des Perfektionismus und der Verachtung von Fehlern“, äußerte der 57-Jährige, „jeder denkt: Bloß keine Fehler machen! Dabei bringen uns gerade die voran, helfen uns in unserer Entwicklung. In Skandinavien hat man das längst begriffen.“

PETRA HASE


Beim Forum dabei: Petra Linderoos, Anja Ziegon vom Landeselternrat, Franziska Gutzmer vom Landesschülerrat, Prof. Metelmann, Reinhard Kahl und Detlef Klage von der Lehrergewerkschaft GEW.