PS 2 Ge-pisa-ckt und ein Leserbrief

PÄDAGOGIK – P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

Ge-pisa-ckt?

Können sich die meisten Deutschen überhaupt eine gründliche Erneuerung der Bildung vorstellen? Angesichts von Gesundbetern und Pisamasochisten kommen Zweifel daran auf. Die einen signalisieren Entwarnung, seit nach den leichten Verbesserungen beim internationalen Schülertest der Schmerz nachlässt. Und andere, ausgerechnet Reformer, werden kleinlaut, seit sie um ihren wichtigsten Verbündeten fürchten: eben diesen Schmerz und die Aufregung über katastrophale Ergebnisse. Hat ein anderer Blick eine Chance? Einer, der nicht so sehr auf den Platz in der Weltliga der Schulen schielt, sondern die Schüler im Auge behält, und sich über den deutschen Widerwillen zu lernen wundert. Schaffen wir es, uns von der Sympathie fürs böse Ende ebenso zu verabschieden wie von der Unsitte, Kindern mit dem späteren Leben zu drohen und zum Glauben an ein neues pädagogisches Testament zu konvertieren?

Im Großen wie im Kleinen

Aber wohin man sieht, wird in der Bildungspolitik das verbindende Band immer wieder zerrissen, geflickt und erneut zerrissen. Das bevorzugte Schlachtfeld für die Profilierungsscharmützel der Landespolitiker ist die Bildungslandschaft. Das nennen sie Föderalismus. Hinter den Eifersüchteleien und Machtkämpfen steht immer noch der Kulturkampf. Er verschafft offenbar den Genuss von Déjà-vu-Erlebnissen. Ohne ihre Kleinkriege fehlt vielen Deutschen etwas. Haben wir uns mit unseren Problemen und gegenseitig angedrohten Katastrophen so sehr angefreundet, dass wir fürchten, ohne sie einsam zu sein?

Blickwechsel. Zwei finnische Austauschschülerinnen in Berlin klagen, dass es ihnen schwer fällt, in der deutschen Klasse zu lernen. Da sei ständig Unruhe. Vielen Mitschülern sei die Schule egal. Manche hassten sie. Die meisten kämen eigentlich nur, um sich zu treffen. Sogar Lehrer hätten die beiden Finninnen schon gefragt, ob sie persönliche Probleme hätten. Warum? Weil sie so tief in den Unterricht eintauchten und alles immer ganz genau wissen wollten. In Deutschland nennt man solche Schüler Streber. Ein Wort, das andere Sprachen nicht kennen oder sich als Lehnwort bei uns ausleihen. Der Streber gilt als Kollaborateur. Aber die beiden finnischen Schülerinnen sagen, dass sie es gewohnt sind, für ihr Lernen selbst verantwortlich zu sein, und dass sie in der Schule lernen wollen. Was denn sonst?

Feindseligkeit

Schüler aus anderen Ländern fragen in Deutschland immer wieder: »Warum sind die Lehrer eigentlich eure Feinde?« Dann werden die Deutschen still. Diese Frage haben sie sich noch nie gestellt. Es scheint, als seien Misstrauen und Herabsetzung hierzulande immer noch ein verbindendes Band. Auch damit lässt sich eine Gesellschaft zusammenhalten. Einem Kind zu sagen, Du bist ein Niemand, macht es willig, sich durch Anpassung und später durch Mehrarbeit zu rehabilitieren. Aber eine Schule, die von vielen Schülern immer noch als eine zur Bewährung ausgesetzte Vorstrafe aufs spätere Leben erlebt wird, hält die nächste Generation heute nicht mehr an der Kandare. So macht sich bei den auf Außensteuerung Konditionierten Verwahrlosung breit. Auch das steckt hinter dem skandalösesten der deutschen Pisaergebnisse, wonach fast ein Viertel der Fünfzehnjährigen zu den »Risikokandidaten« zählt, die allenfalls Grundschulniveau erreichen.

Wie kommt es nur, dass einem in Schulen auf Schritt und Tritt Unwirtlichkeit, Feindseligkeit und Entfremdung begegnen? Lernen wird häufig zum Mittel fürs bloße Überleben entwertet und verachtet. Es schrumpft auf die Frage, welche Noten brauche ich, um aufs Gymnasium zu kommen oder um dort zu bleiben? Wer das Nötigste geschafft hat, lehnt sich zurück. Es ist ja nicht seins.

Schulneurotizismus

Für die neue Pisa-Studie wurde neben dem Verständnis von Texten, Mathematik und Naturwissenschaften auch die »Problemlösekompetenz« untersucht. Während in den schulbezogenen Tests die deutschen Resultate um den internationalen Mittelwert von 500 liegen, fallen die Ergebnisse beim Problemlösen mit 513 Punkten deutlich besser aus. Dabei haben diese Aufgaben überwiegend eine mathematische Struktur. Nur sind sie anders formuliert. Ausgerechnet das explizite mathematische Wissen, das doch in der Schule geübt worden ist und tief verstanden sein sollte, bleibt Schülern eher fremd. Ist es ihnen vielleicht sogar in der Schule fremd geworden? Produzieren unsere Schulen Entfremdung? Gewiss, der deutsche Schulneurotizismus hat mit dem »gegliederten System« zu tun, in dem viele Schüler abstiegsbedroht sind und das sie zu Angst und Verstellungen führt. Allerdings haben unsere Gesamtschulen, von einigen hervorragenden Beispielen abgesehen, dieses Problem auch nicht gelöst. Wenn sich etwas ändern soll, reicht es nicht, bloß die »Systemfrage« nach der Schulgliederung zu stellen. Es geht um das Systemische, das Nervensystem der Institution. Und viele ihrer Nerven liegen bloß.

P. S.

Worauf setzen? Auf die Eigenständigkeit der Schulen! Gelingt es, die Angstintegration durch ein Lernen zu ersetzen, das Schülern Vorfreude auf sie selbst macht, steigen auch die Leistungen. Also den Schulen ihre eigenen Biographien zugestehen, damit auch Schüler dort an ihren Biographien arbeiten! Den Druck durch Abschlüsse reduzieren und den Sog zu Anschlüssen stärken! Das könnte eine Abkehr vom deutschen Sonderweg in der Bildung weisen, der dazu führt, dass dort niemand richtig zu Hause ist.

P.P.S.

 

ein Leserbrief (E-Mail)

Lieber Herr Kahl!

Einige wenige Minuten sind vergangen, seitdem ich Ihren Beitrag „Ge-pisa-ckt?“ in der Zeitschrift „Pädagogik“ – wie immer mit großer Freude – gelesen habe, und ich kann nur sagen: „Wie recht Sie doch haben!!!“

Ich bin eine 23-jährige Lehramtsstudentin an der RWTH Aachen, und ich schäme mich dafür, daß ich gerne lerne! Wissensdurst und Neugierde sind in Deutschland eine Charakterbürde, die mit sozialem Abstieg bzw. sozialer Isolation sanktioniert wird! Freunde, Kommilitonen, Eltern, Lehrer und Unbekannte schauen mich mit großen Augen an, wenn ich verkünde: „Ich lerne gerne! Das Lernen ist mein Leben! Ich lerne den ganzen Tag – freiwillig“ und dies immer schon viel mehr, als jemals von mir erwartet wurde. Niemals werde ich meine ersten Schulhausaufgaben vergessen! Mit 3 Jahren wollte ich unbedingt in die Schule, und meine Mutter beschloß daraufhin, mir die chinesische Sprache und Schrift beizubringen; ich wurde nach strenger asiatischer Lern- und Leistungstradition erzogen – zugegeben, es war nicht immer einfach, denn den deutschen Schülern ist es erlaubt, Wissensaufnahme mit allen Mitteln zu boykottieren, der Haß auf die Schule, die Lehrer und alles, was mit Lernen verbunden ist, wird gefördert; und wenn man da nicht mitmacht, ist man eine einsame Streberin und wird deswegen erniedrigt und gemobbt! Ja, es gab tatsächlich Zeiten, da habe ich mir richtig Mühe geben müssen, um Fünfen und Sechsen zu schreiben, damit mich meine Mitschüler akzeptieren, denn dadurch, daß ich gute Noten hatte – gute Noten, weil ich einfach gerne gelernt habe, aber mit dieser Rechtfertigung braucht man in deutschen Schulen ja gar nicht erst zu kommen! – stand ich ja auf der Seite der Lehrer, der verhaßten Lehrer und der verhaßten Schule! Was soll das, frage ich mich?!?

Mittlerweile habe ich wieder zu mir selbst gefunden, und ich bin froh, daß ich mich, mein Wissen und meine Neugierde habe; dies sind die Antriebsräder meines Lebens und solange ich lebe, werden sie nie aufhören zu rattern und zu rollen!

Unendlich dankbar bin ich für Ihren Beitrag, das kann man wohl sagen!!! Vielen, vielen Dank!!!

Hochachtungsvoll,

Ihre Wissensverbündete, Shangning Postel

………….

Lieber Herr Kahl,

ich freue mich sehr, daß Ihnen mein Brainstormig zu Ihrem Artikel

gefallen hat! Tatsächlich, Zustimmung tut gut 😉

Zu Ihrer Frage: ja, Sie dürfen meine Mail veröffentlichen! Persönliche

Erfahrungsberichte tragen – meiner Meinung nach – immer auch ein Stück

zur „Wirklichkeit“ bei; ich bin Teil dieser Wirklichkeit, verstecke

mich nicht vor ihr und trage zu ihrer Konstituierung bei, gerne!