DIE ZEIT Fehler machen lohnt sich doch

DIE ZEIT  Nr. 15  2006   /  6. April 2006

 

 

Fehler machen lohnt sich doch

 

Nach einem Bericht des »Spiegels« steht das freie Schreiben in Grundschulen unter Generalverdacht – zu Unrecht, sagen Experten   Von Reinhard Kahl

 

Freies Schreiben in der Grundschule soll verboten werden!« – »Was, verboten?« – »Ja, steht im Spiegel.« Das Gerücht verbreitete sich in Windeseile in Lehrerzimmern und bei besorgten Eltern. Machen die Kinder nun alles falsch, wenn sie freie Texte schreiben? »Das ist eine Ente«, sagt Renate Valtin, die das Verbot verlangt haben soll. Die Professorin, die an der Humboldt-Universität die Abteilung für Grundschulpädagogik leitet, gehört zu den Leseforschern von internationalem Rang. Ihr Wort hat Gewicht, so führte der Spiegel-Artikel zu großer Verwirrung.

 

Dabei hatte sich der alte Streit über die richtige Methode beim Lesen- und Schreibenlernen gelegt. Ob Ganzheitsfibeln, »Lesen durch Schreiben« oder Lautieren, der Lesekrieg ist in den vergangenen Jahren der Einsicht gewichen, dass es die eine perfekte Methode gar nicht gibt. Wieso wieder dieser Schlachtenlärm?

 

Angefangen hatte es vor Wochen mit dem Lehrerhasserbuch, das so differenziert ist wie sein Titel. Da wird die Schulwelt monochrom auf den einen Effekt hin frisiert, dass sie eine Vorhölle ist mit den Lehrern als arroganten Teufeln. In einem Kapitel wird die Lehrerin zur naiven Priesterin von schwarzen Messen des Fehlerkults stilisiert. »Mus ma fela machen döfen?« Dass beim freien Schreiben die Kinder am Ende der Grundschule angeblich nicht rechtschreiben können, wurde in der Presse weidlich ausgeschlachtet. Das »freie Schreiben« in Gänze wurde unter Generalverdacht gestellt. Nach dieser Methode dürfen Kinder in der Tat erst einmal ebenso Fehler machen, wie sie es beim Sprechen- und Laufenlernen getan haben. Es gibt allerdings Varianten beim Erfinden eigener Texte, die Valtin kritisiert. Sie findet es falsch, wenn das Lesen gegenüber dem Schreiben zu kurz kommt oder im ersten Jahr ganz vermieden wird. Aber im Spiegel (12/06, Seite 154) wurde sie mit einem Satz zitiert, der, wie sie sagt, frei erfunden ist: »Renate Valtin hat den Bildungssenator der Hauptstadt aufgefordert, das freie Schreiben in seinem Machtbereich zu unterbinden.« Quatsch, sagt die Professorin, sie habe bereits 1986 in dem Buch Schreiben ist wichtig die Vorteile des freien Schreibens herausgearbeitet. Auf Nachfrage räumt der Spiegel ein, Renate Valtins Kritik übermäßig verallgemeinert zu haben.

Doch nun ist die Aufregung bei Eltern und Lehrern groß. Viele sind nach Pisa & Co. verunsichert. Vergleichsarbeiten und Schul-TÜV werden zum Teil enger interpretiert, als sie gemeint sind: Bitte keine Fehler machen. Im Zweifel lieber bluffen. Dabei herrscht bei der Mehrheit der Wissenschaftler Konsens: »Freies Schreiben« ist ein Vorteil. Differenzen gibt es über das Maß. Fehler sind das Salz des Lernens. Versalzte Gerichte sind natürlich auch nicht bekömmlich.

Manche Studien ergaben, dass Kinder, die nicht bereits zu Hause angeregt worden sind, beim freien Schreiben ins Schwimmen geraten, wenn kein Leselehrgang Ausgleich schafft. Das ist auch Valtins Kritik. Ihr Kollege Hans Brügelmann von der Uni Siegen hingegen verweist auf Erfolge bei einem großen Anteil »freien Schreibens« in Südtirol. Die Provinz war bei einer Lesestudie Anfang der neunziger Jahre noch Mittelmaß. Bei der letzten Pisa-Studie toppte sie sogar Finnland.