PS 7/8 Große Koalitionen für die Bildung

 

PÄDAGOGIK – P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

Große Koalitionen für die Bildung?

Das beste Ergebnis der Bundestagswahl wäre eine große Koalition. Sie könnte wieder mehr Politik ermöglichen. »Wie bitte«, höre ich, »eine große Koalition wäre doch eher das Ende von Politik.« Das gilt nur, wenn man Politik mit Politikerpolitik gleichsetzt. Aber letztere ist ausgelaugt. Wo sind die Ideen, wo die Selbstdenker? Nach jeder Wahl fällt es schwerer, Ministerposten mit halbwegs vorzeigbaren Leuten zu besetzen. Der Politikerverdruss beginnt bei ihnen selbst. Und wenn wir unsere Innenbeleuchtung einschalten, sehen wir, dass unsere politischen Präferenzen von Erinnerungen zehren, häufig sind es bloß Ressentiments. Bildet diese Politik noch die Sphäre, in der wir herausfinden können, was wir wollen?

Gründer und Umgründer

Wo wird derzeit Bildungspolitik gemacht? Es gibt zwei Szenen. In der einen laufen abstrakte Debatten um Schulformen, inklusive vieler Versuche, diese Debatte zum Tabu zu erklären. Ein Lichtblick sind die Versuche, Spielräume für selbständige Schulen zu schaffen. Ansonsten wird gespart. Eine Welle von Schließungen steht bevor. »Sachzwänge« zu exekutieren, ist das Politik? Auf der anderen Seite füllen Eltern und Lehrer Säle, wenn es um Gründungen und Umgründungen von Schulen geht. Selbst Nena (99 Luftballons) will eine Schule gründen. In Wiesbaden plant Enja Riegel, die inzwischen pensionierte Leiterin der Helene-Lange-Schule auf dem traumhaften Grundstück der ehemaligen Gartenbauversuchsanstalt des Landes Hessen eine freie Schule von der Vorschule bis zum Abitur – und dazu ein Gästehaus zur Lehrerbildung. Für das Grundstück bürgt die Stadt Wiesbaden mit 1,5 Millionen. Die rote Enja galt einst den Bürgern der Stadt als rotes Tuch. Nun unterstützt die Schulreferentin (CDU) dieses Projekt. Zugleich betreiben die schwarze Referentin und die rote Schulgründerin, die schon mal für die SPD Kultusministerin werden sollte, die Umgründung einer Hauptschule nach dem Modell der Helene-Lange-Schule. Auch das ist eine große Koalition. Lehrer werden in Teams arbeiten. Für Schüler gibt es Reviere, Regeln und Rituale. Wir brauchen viel mehr solch ungewöhnlicher Bündnisse. Im sächsischen Grimma, wo man Schulen schließt, reden Eltern, Lehrer und ein Pastor über eine ganz neue. In Hamburg sind mindestens vier Initiativen im Gang. Alle nach einem ähnlichen Muster: altersgemischte Gruppen; die Schule als Lern- und Projektbüro; Raum und Zeit schaffen, damit jeder auf seine Weise lernen kann und damit alle ihre Zusammenarbeit kultivieren. Bei Gründern wie bei Umgründern steht am Anfang der Wunsch nach einer anderen Atmosphäre. Sie »bilden«, was der deutschen Bildungspolitik am meisten fehlt: Konsens und die Lust dran, zusammen zu handeln. Das ist doch der Kern von Politik: Zusammen handeln.

Neue Politik?

Natürlich steht so etwas nicht explizit im Programm einer großen Koalition. Aber schon ihre Existenz würde das Abdanken einer Formation von Politik besiegeln, die auf alles eine Antwort hatte, für jedes zuständig sein wollte, aber zum Schluss nur noch in der gefallsüchtigen Runde bei Christiansen Politik in Pop verwandelt hat. Gewiss, die große Koalition wäre nur ein Rahmen für das, was ohnehin an der Zeit ist und was Rotgrün (leider) nicht gelungen ist. Es wird sich seinen Weg bahnen: Die Zentralen müssen nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass sie in vielen Fragen gar nichts mehr zu melden haben. Und man könnte auch damit aufhören, ihnen das vorzuwerfen. Die Gesellschaft ist jetzt dran. Aber ob die Gesellschaft souveräner wird oder verwahrlost, ist ganz und gar kein Selbstgänger. Das Abdanken der Politik ohne eine Repolitisierung der Gesellschaft könnte böse enden.
Politik ist in Deutschland vielfach noch infantil konstruiert. Wieso zum Beispiel protestiert in der Schlange vor der Kasse im Buchladen niemand, wenn ein Kunde, der sich seine Bücher als Geschenk einwickeln lässt, eine Quittung fürs Finanzamt verlangt? Wo bleibt zwischen Staat und Ego der Raum für die Gesellschaft? Wie verödet er ist, wird daran deutlich, dass es nicht als unschicklich gilt, sich mit seinen Tricks beim Steuerhinterziehen zu brüsten. Als ginge es dabei um einen Partisanenkampf gegen die Obrigkeit. Als wolle man laut sagen, die gemeinsamen Dinge sind gar nicht meine Sache. Solange es viele Deutsche vorziehen, Opfer zu sein, statt sich zum Handeln zu verabreden und ihre Differenz zu respektieren, haben wir eine Normalität von Demokratie noch gar nicht errungen.
Die klassische Definition für Revolution heißt: wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen. Jetzt geht es nicht mehr um die eine große Revolution, sondern um viele kleine, ums Selber-Anfangen, was allerdings die größte Revolution für politische Untermieter ist.

P. S.

Aber was wird mit der Außenpolitik, mit den Umweltfragen und den Renten, also mit der großen Politik? Dort wird es viel mehr auf Personen als auf Parteien ankommen. Personen, die sich nicht mehr durch die Ortsvereine quälen, sondern sich in politischen Handlungen profilieren, wo die Polis neu lernt, was Politik ist. Zum Beispiel beim großen Projekt, aus Schulen die Kathedralen der Zukunft zu machen – Kathedralen im Mittelalter waren auch Markthallen und Treffpunkte – das wäre wirklich was. Dafür brauchen wir nun eine ganz große Koalition. Wenigstens in diesem Punkt.

P.P.S.

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de