FAZ Son. Inseln der Glückseligkeit

Inseln der Glückseligkeit

VON REGINA MÖNCH



Reinhard Kahl ist durch Deutschland gereist, um zu finden, was nach zwei Pisa-Studien und düsteren Prognosen kaum jemand zu suchen wagt: die erfolgreichen Lehrinstitute mit glücklichen Kindern und zufriedenen Lehrern. Es gibt sie, und um es vorwegzunehmen: Keine dieser Schulen verdankt ihren Aufbruchsgeist, ihre phantasievollen wie pragmatischen Programme und vor allem ihre beeindruckenden Erfolge der Bildungsministerin Bulmahn. Der Tatsache, daß deren Ministerium den Film mitgefördert hat, dürfte geschuldet sein, daß wir nicht erfahren, woran es vielerorts scheitert, wenn sich Lehrer aus der Fesselung durch die Schulbürokratie zu befreien versuchen. So sind dem Zuschauer fast zwei Stunden reines Glück garantiert.
Es sind allesamt Ganztagsschulen, eigenwillig voneinander verschieden. Egal, ob wir eine katholische Hauptschule am Bodensee erleben oder die Grundschule in einem jener Hamburger Viertel, die nicht auf der Sonnenseite der schönen Stadt errichtet wurden, ob wir in Salem sind oder im Ruhrpott – allen ist gemeinsam, daß sich Lehrerkollegien zusammenfanden, die etwas wagen wollen, deren Begeisterung für ihren Beruf nicht nur ihre Schüler ansteckt, sondern auch die Eltern. Denn ohne die geht es eben nicht. Doch die schon zum Klischee verkommene Klage so vieler Pädagogen, sie würden ja anders agieren, wenn die Familien endlich wieder erzögen, wird konterkariert. Die Schulen rennen gewissermaßen offene Tore ein mit ihren Angeboten. Es sind nicht selten einfache Weisheiten, die sie nutzen, wie etwa das von der Verschiedenheit eines jeden Kindes.
Weil sie so verschieden sind, lernt man an diesen Schulen unterschiedlich schnell, unterschiedlich intensiv betreut und vor allem über den ganzen Tag. Der unselige 45-Minuten-Takt der deutschen Schulstunde ist aufgehoben, es hat den Anschein, als sei überhaupt die Zeit verlangsamt und die Hast überfrachteter Lehrpläne außer Kraft gesetzt. In Wirklichkeit wird die Zeit nur anders genutzt. Das setzt eine Gelassenheit voraus, die viele Lehrer, wie man hört, längst verloren haben. Daß sie seltsamerweise durch den immensen Zeitaufwand miterzeugt wird, den der Schulalltag an diesen Schulen nicht nur den Schülern, sondern mehr noch den Lehrern abverlangt, gehört zu den Geheimnissen, denen Reinhard Kahls Geschichten nachspüren.
Kein Lehrer, der hier am Mittag das Haus verläßt, und man kann nur ahnen, was es heißt, sich all diese verschlungenen Wege auszudenken, auf denen sich Welt entdecken und begreifen läßt. Nicht jede der vorgestellten Schulen hat die wunderbaren Bedingungen, die die katholische Kirche ihrer Bodensee-Schule geschaffen hat. Doch zeigt unter anderem eine Hauptschule in Gelsenkirchen, wie man aus eigener Kraft einen Ausweg findet, der zudem verunsicherte Schüler selbstbewußter macht: Unter der Anleitung eines pensionierten Poliers bauten die kräftigen Jungen ihr Schulhaus um.  
Reinhard Kahls „Treibhäuser der Zukunft“, der heute um 12.30 Uhr in vielen deutschen CinemaxX-Kinos bei freiem Eintritt gezeigt wird, bekommt man als Video/DVD auch bei der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung oder beim Beltz Verlag Frankfurt.


Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12.12.2004, Nr. 50 / Seite 76