© Westdeutscher Rundfunk Köln 2004 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden. Ein Feature von Reinhard Kahl MACHT BLOSS KEINE FEHLER ! Warum deutsche Schulen nur mittelmäßig sind Eine Feature von Reinhard Kahl 1. Sprecherin Ein Grundschullehrer in Ahrensburg bei Hamburg fällt über einen seiner Schüler das Urteil: 1. Zitator Andreas ist nicht für das Gymnasium geeignet. 2. Zitatorin „Das ist kein Gym-Kind!“ 1. Sprecherin sagt man in Hamburg. 2. Sprecher Darin war sich der Lehrer ganz sicher. Kein Gym Kind. Und diese Geschichte wäre schon zu Ende, beziehungsweise eine von Hunderttausenden ähnlicher Schulgeschichten, die vom frühen Versagen, von Beschämung und Entmutigung erzählen, hätte der Schüler Andreas nicht einen Professor zum Vater gehabt. Professorenkinder kommen in Deutschland immer zum Gymnasium, fast immer – oder zur Waldorfschule. So auch Andreas. In der Waldorfschule lernte er die Geige zu lieben, begeisterte sich für Musik, spielte im Ahrensburger Jugendorchester. Die Musik entzündete ihn. Der Funke sprang vom Leiter des Orchesters auf ihn über. Aus dem schüchternen, zurückhaltenden Jungen wurde ein 1 WDR 3 DISKURS, 07.12.2004 Macht bloß keine Fehler! © Westdeutscher Rundfunk Köln 2004 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden. Ein Feature von Reinhard Kahl neugieriger. Er nahm am Wettbewerb „Jugend forscht“ teil und wurde Bundessieger. Dann machte er Abitur. Mit 1,0. Er studierte Mathematik und Physik in Hamburg und setze das Studium in Australien fort. Dort spezialisierte er sich auf ausgeklügelte Verfahren der Statistik. Er kam mit Forschern in Kontakt, die an einer internationalen Studie über Schülerleistungen in Mathematik und Naturwissenschaften arbeiteten, der so genannten TIMS-Studie und erwarb sich dabei erste Meriten. Die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, ein Zusammenschluss der 30 stärksten Industrieländer, wurde auf ihn aufmerksam und engagierte ihn für ihre Abteilung, die Bildungsindikatoren errechnet. 1995, nach einer internationalen Bildungskonferenz, traf der neue junge Mann für Statistik im Fahrstuhl der Pariser OECD Zentrale auf Tom Alexander, damals Direktor des Education Department der Organisation. 1. Zitator „Die reden viel, aber was passiert in Schulen eigentlich wirklich?“ 1. Sprecherin fragte der Direktor. 1. Zitator „Kriegt man das denn irgendwie raus?“ 2. Sprecher Am Wochenende darauf setzte sich der neue Mitarbeiter an den Computer und entwarf Grundzüge des „Programme for International Student Assessment“, kurz: Pisa. 1. Sprecherin 2 WDR 3 DISKURS, 07.12.2004 Macht bloß keine Fehler! © Westdeutscher Rundfunk Köln 2004 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden. Ein Feature von Reinhard Kahl Andreas heißt mit Nachnamen Schleicher. Mann nennt ihn auch Mister Pisa. Heute ist er der internationale Koordinator dieses größten Schülertests aller Zeiten. 2. Sprecher Bei der ersten Pisa Studie hatte Schleicher im Jahr 2001 die deutschen Ergebnisse noch einmal nachrechnen lassen. Ihn erstaunte nicht, dass in Deutschland die schwächeren Schüler schlecht abschneiden. Das, so vermutete er, sei unvermeidlich in einem gegliederten Schulsystem, das die besseren von den schlechteren Schülern trennt. Aber er konnte zunächst nicht glauben, dass auch die Leistungsspitze, so schlecht abschneidet, denn die hat in Deutschland ja anders als anderswo ihre eigene Schule. Das Gymnasium. Jetzt bei der zweiten Pisa Studie… 3. Sprecher … die Studie kommt nun alle drei Jahre… 2. Sprecher … jetzt also, beim zweiten Durchgang, wundert sich Schleicher nicht mehr. Im Gegenteil. Je feiner die erhobenen Daten sind und je genauer sie untersucht werden, desto deutlicher tritt für ihn das deutsche Bildungsproblem hervor Cut 1 Andreas Schleicher: Wenn sie sich die Leistungen im Bereich Naturwissenschaften ansehen, da könnte man sagen: na ja, gut, mit dem Bereich können wir leben. Aber was ist, wenn die Schüler am Ende ihrer Schulzeit sagen: ich habe jetzt Naturwissenschaften gemacht und damit will ich nie wieder etwas zu tun haben in meinem Leben? Ein großer Teil dieser Schüler ist total demotiviert, da haben wir zwar das Wissen noch vermittelt, aber die Fähigkeit, die Motivation dieser Menschen, weiter zu lernen, im Leben ihre Kompetenzen auszubauen, die haben wir unzureichend gefördert
2. Sprecher
3
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Ein Feature von Reinhard Kahl
Die von Andreas Schleicher konzipierte und geleitetet Studie erschöpft sich ja
keineswegs im Aufstellen einer Weltliga der Schulen, in der Deutschland der
Anschluss an die Spitze nicht gelingt. Die Pisa Studie gibt Einblicke in das, was
Bildung ausmacht. Getestet werden die 15jährigen. Sind sie vom Lernen
begeistert oder werden sie ausgerechnet durch die Schule gleichgültig gemacht?
Können sie Probleme lösen und mit ihrem Wissen etwas anfangen, oder bedienen
sie nur mehr oder weniger widerwillig den Schulbetrieb?
Cut 2 Andreas Schleicher:
Entscheidend ist, wie gut können junge Menschen, wenn sie in den Beruf kommen,
Wissen anwenden, / kreativ neues Wissen schaffen, / inwieweit können sie Probleme
lösen. /Inwieweit können wir miteinander arbeiten./ Heute kommen sie alleine nicht
weiter, heute kommt es sehr darauf an, wie gut wir miteinander lernen, miteinander
arbeiten können, also auf interpersonelle Kompetenzen, die wirklich viel weiter gehen
als einfache Kommunikation. / Es reicht heute nicht mehr, die Leute mit Lernen zu
füttern, wenn sie dann nicht weiter motiviert sind
.2. Sprecher
Deshalb untersucht Pisa nicht das Schulwissen. Die Studie ist nicht wie ein
Wissenstest oder wie eine Klassenarbeit konzipiert. Sie fragt nach den
Kompetenzen, nach dem Umgang mit Wissen.
1. Sprecherin
Nun bestätigt auch die zweite internationale Pisa Studie für Deutschland das
enttäuschende Bild. Diesmal nahmen 41 Nationen teil. Im internationalen Ranking
sind es allerdings nur 31 Industriestaaten.
3. Sprecher
Deutschland erreicht im Vergleich zu den Ergebnissen von vor drei Jahren geringe
Verbesserungen. Sie gehen offenbar auf das Konto erhöhter Anstrengungen bei
den Kindern aus den Mittelschichten. Deren Eltern wurden vom Pisa-Schock
besonders irritiert. In Deutschland investieren sie inzwischen mehr als zwei
Milliarden Euro jedes Jahr in Nachhilfe.
2. Sprecher
Aber die deutschen Schulen bleiben zweitklassig. Ein Maßstab ist, wie gut sie die
schwächeren Kinder fördern und wie sehr sie die leistungsstarken dazu
anspornen, so gut wie möglich zu werden. In beidem sind sie schwach. Vor allem
ein Versagen ist skandalös:
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1. Sprecherin
Die deutschen Schulen entlassen fast ein Viertel der Schüler in eine neue
Unterschicht von Bildungsarmen. Das sind 15jährige Schüler, die allenfalls das
Niveau von Grundschülern erreichen. Sie haben Schwierigkeiten beim Lesen
einfacher Texte und mit den Grundrechenarten. Die Studie nennt sie eine
„Risikogruppe.“ Der Übergang zur Arbeitswelt ist bei diesen Schülern gefährdet.
Diese Gruppe, wie gesagt, fast ein Viertel der Jugendlichen, ist im internationalen
Vergleich besonders groß.
3. Sprecher
Auch die Schere zwischen Schulen mit besseren und mit schlechteren
Ergebnissen geht in Deutschland besonders weit auseinander, ohne dass die
besseren deutschen Schulen, also die Gymnasien, im internationalen Vergleich
hervorstechen würden.
1. Sprecherin
Die geringe Wirksamkeit deutscher Schulen zeigt sich auch in einem weiteren
Befund der Studie:
3. Sprecher
In keinem vergleichbaren Land hängt der Schulerfolg der Kinder so sehr von
Einkommen und Bildung der Eltern ab, wie in Deutschland. Bei gleichen
Testwerten hat in Deutschland ein Kind von Akademikern eine drei Mal größere
Chance das Abitur zu machen, als ein Kind von Facharbeitern.
2. Sprecher
Die Wirksamkeit der deutschen Schulen ist gering. Das System ist sozial
ungerecht. Und die Schulen sind offenbar auch nicht sehr anspruchsvoll.
1. Sprecherin
In Mathematik sind die Leistungen deutscher Schüler bei Routineaufgaben
noch über dem internationalen Durchschnitt. Sie fallen allerdings ab, sobald die
Aufgaben anspruchsvoller werden.
3. Sprecher
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Ein Feature von Reinhard Kahl
Den deutschen Schüler mangelt es an Selbständigkeit, Zusammenarbeit und
Freude am Lernen.
2. Sprecher
Andere Untersuchungen, etwa aus dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung,
zeigen allerdings, dass die Intelligenz der Schüler steigt. Aber auch dort wird in
Tests über längere Zeiträume festgestellt, dass ihre Schulleistungen sinken.
Wie kommt das?
Warum gehen in Deutschland viele Kinder zur Schule wie zum Zahnarzt?
Warum erinnert ihr Lernen zuweilen an Bulimie: Informationen sammeln,
Prüfungen bedienen und sich wieder entlasten?
Was ist mit unseren Schulen los?
Atmo 1 Pausenhallengemurmel
1. Sprecherin
Ein deutsches Gymnasium. Der Tag beginnt wenig einladend. Die
Schüler warten im Foyer, sitzen auf dem Boden, spielen Karten,
stehen herum.
Die Klassenräume werden erst kurz vor Acht geöffnet
Atmo 2 Chemie Unterricht – Kreidegeräusche / Sprechertext in einen wechselnden Rhythmus mit
dieser Atmo bringen
2. Sprecher
Und dann wird der Stoff vermittelt. Schüler sollen aufnehmen, was
Lehrer mit ihnen durchnehmen. Was drankommt, steht im Lehrplan.
Und der verlangt zumeist mehr, als zu schaffen ist.
Alle haben wenig Zeit, manche haben nie Zeit, und dennoch herrscht
viel Langeweile.
Im Mittelpunkt der deutschen Tradition steht der sogenannte „fragendentwickelnde
Unterricht“. Lehrer haben dabei ihr Ergebnis fest im
Blick. Nach Vortrag und Tafelbild führen Lehrer mit ihren Fragen die
Schüler Schritt für Schritt ans Ziel. So das Konzept. Jeder soll im
gleichen Tempo den gleichen Weg in den gleichen kleinen Schritten
zurücklegen.
Die Lernenden werden als ideale Durchschnittsschüler auf durchaus
hohem Niveau angesprochen. Aber werden sie auch erreicht?
Cut 3a Elsbeth Stern:
Diesen fragend-entwickelnden Unterricht nennt man übrigens auch
„Osterhasenpädagogik“, wollen sie wissen warum?
1. Sprecherin
Fragt Elsbeth Stern vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.
Cut 3b Elsbeth Stern:
Der Lehrer versteckt das Wissen und die Schüler sollen es finden. So wird
Wissen ja häufig in der Schule erworben. Wenn der Lehrer mir die Aufgaben
vorgegeben hat und wenn dann genügend geübt wurde, dann kann man es.
Aber sobald die Aufgaben – das haben ja Pisa und Timms zutage gebracht –
von dem üblichen Format in der Schule abweichen, können viele deutsche
Schüler die Aufgabe nicht mehr lösen, weil das Wissen träge abgespeichert und
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WDR 3 DISKURS, 07.12.2004
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Ein Feature von Reinhard Kahl
unflexibel ist, denn es war immer nur auf eine bestimmte Anforderung
zugeschnitten.
2. Sprecher
Deutsche Lehrpläne sehen respektheischend aus. Dicke Bände. Man staunt,
wenn man sie mit Lehrplänen aus Norwegen oder Schweden vergleicht, das
sind Broschüren, oder das knapp 100 Seiten umfassende Heft aus Finnland, in
dem alles steht, was der Staat an Ergebnissen von allen Schulstufen erwartet.
Die deutschen Wälzer dokumentieren hohe und allerhöchste Ansprüche.
3. Sprecher
Tatsächlich ist es so, dass die detaillierten Lehrpläne hier zu Lande von Lehrern
kaum gelesen werden. Die Pläne machen vor allem ein schlechtes Gewissen.
Hingegen werden die verständlichen und knapp gefassten Schriften, in denen
die erfolgreichen PISA-Staaten ihre Erwartungen an Schulen formulieren, sogar
von den Eltern gelesen.
2. Sprecher
Anderswo hängt die Latte niedriger als bei uns. Aber fast alle bemühen sich,
drüber zu springen. In Deutschland wird die Latte häufig so hoch gehängt, dass
es viele vorziehen, lieber unter ihr durch zu kriechen. Und wenn man sich die
deutschen Debatten um Pisa ansieht, geht es immer noch mehr um die Position
der Latte, als um Springen der Schüler.
Das deutsche, dreigliedrige Schulsystem rühmt sich ja seiner Differenziertheit.
Zitatorin
Keine Einheitsschule!
2. Sprecher
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Ein Feature von Reinhard Kahl
Aber bei genauerem Hinsehen erweist es sich als starr in seinen Leitbildern.
Individuen haben in ihrer jeweiligen Einmaligkeit von Talenten und Fehlern in
deutschen Schulen schlechte Karten.
Denn die Lehrer fragen hier: passt der Schüler in die Schule? Sie fragen nicht:
passt der Unterricht zu den Schülern? Häufig unterrichten sie einfach ihre
Fächer, nicht aber die Schüler.
Jürgen Baumert, Direktor am Max Planck Institut für Bildungsforschung, sieht
darin eine der Erbsünden deutscher Schulen
Cut 4: Baumert
Für mich ist diese Unterrichtsführung einer der Gründe, weshalb alle
Lehrer/innen – und zwar aller Schulformen – immer die falschen Schüler
haben. Also wenn sie das hören, ja woran liegt es, „ja ich habe zu viele
unbegabte Schüler“, das sagen Hauptschullehrer genauso: „ wir müssten viel
mehr auf die Sonderschule überweisen“. Im Gymnasium: „Ja es kommen zu
viele ungeeignete Schüler aufs Gymnasium“. Und dieses ist im internationalen
Vergleich wirklich verblüffend. Wir haben in der Sekundarstufe, in der
Mittelstufe die homogensten Lerngruppen der Welt. Wir haben eine
Dreigliedrigkeit. Die (Schüler) sind leistungshomogenisiert, und trotzdem ist
die Klage über zu große Heterogenität bei uns so groß wie in keinem anderen
Land.
2. Sprecher:
Deutsche Lehrer wurden für die erste Pisa Studie gefragt, welche Schüler in
ihrer Klasse wohl zu der sogenannten Risikogruppe gehörten, also zu denen,
die nur die niedrigste Kompetenzstufe erreichten – oder nicht mal die. Das
erschütternde Ergebnis:
1. Zitator:
Neun von 10 Schülern mit diesen eklatanten Lücken wurden von ihren Lehrern
nicht als solche erkannt.
2. Sprecher:
Man muss sich fragen: kennen die Lehrer ihre Schüler nicht? Sind Lehrer so sehr
von ihren Bildern überzeugt, die sie sich von ihrem Unterricht machen, dass sie die
vor ihnen sitzenden Schüler übersehen?
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WDR 3 DISKURS, 07.12.2004
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3. Sprecher
Jürgen Baumert und seine Kollegen haben Lehrer gefragt – und zwar die
vermeintliche Elite, Lehrer die an Lehrplänen mitarbeiten oder Schulbücher
schreiben, ob und in welchem Alter Schüler schwierige Aufgaben lösen können
oder schwierige Texte verstehen:
Cut 5: Baumert
Das verblüffende war: alle Lehrplanexperten bis auf eine ganz kleine Minderheit
sind der Meinung, dass die wesentlichen Anforderungen unabhängig von der
Schwierigkeit bis zum Ende der achten Jahrgangsstufe erledigt sind. Sie sind
der Meinung, dass die schwierigsten Aufgaben in der Hauptschule von etwa
60% gelöst werden, in der Realschule von 75 % und im Gymnasium von etwa
80 % gelöst werden und wenn man jetzt fragt, wie hoch sind denn die
Lösungswahrscheinlichkeiten wirklich, dann sieht man, dass sie die leichtesten
Aufgaben etwas zu schwer einschätzen, aber die schwierigsten Aufgaben
grotesk unterschätzen, also von den 60 % Hauptschülern, die die schwierigen
Aufgaben lösen sollen, ist die Lösungswahrscheinlichkeit 0.3 %, d.h. es gibt gar
keinen Hauptschüler, der diese Aufgaben lösen kann. Und ähnlich grotesk ist
die Verschätzung für die Realschüler, und von den Gymnasiasten sollen etwa
80 % die Aufgaben lösen, also sie sollen wirklich Expertenleser sein, 29 % sind
es, d.h. also auch im Gymnasium gibt es eine groteske Unterschätzung der
Schwierigkeiten von anspruchsvollen Leseaufgaben und unsere Frage ist: wie
kommt denn das eigentlich
?2. Sprecher:
Man wundert sich. Wir würden wohl auf die Barrikaden gehen, wenn das
Gesundheitssystem Patienten, die gesund sind, für krank hält und Kranke für
gesund.
3. Sprecher:
Jedenfalls haben deutsche Lehrer ein generalisiertes Bild von Schülern, das mit
ihrer Wirklichkeit nicht übereinstimmt.
Der einzelne Schüler, der dem Bild nicht entspricht, wird als Abweichender oder
gar als Versager gesehen und – das weiß man aus der Psychologie: so wie
man gesehen wird, so wird man dann auch. Dieser systematische
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Verkennungsvorgang an den deutschen Schulen lässt sich auch in nüchternen
Zahlen ausdrücken.
1. Zitator
12 Prozent der Schüler werden am Anfang der Schulzeit zurück gestellt, weil
sie nicht zur Schule passen. 24 Prozent bleiben wenigstens einmal sitzen. In
keinem anderen Land, außer in Portugal ist diese Quote so hoch.
2. Sprecher:
Die Hauptschwäche unseres dreigliedrigen Schulsystems ist nicht so sehr die
Unfähigkeit, Begabungen zu erkennen und zu fördern. Die Hauptschwäche ist
auch nicht, die Kinder stärker nach ihrer sozialen Herkunft zu sortieren als nach
Talenten. Die Hauptschwäche des deutschen Schulsystems ist , dass es die
Schulen aus der Verantwortung entlässt, sich um schwierige Schüler zu
kümmern. Kinder mit Schwierigkeiten beim Lernen – und Lernen macht immer
auch Schwierigkeiten – werden zu schwierigen, störenden und schließlich
gestörten Kinder, werden zu Schulversagern gemacht. Das ist in dem Ausmaß
beispiellos im Vergleich zu allen anderen von PISA untersuchten Ländern.
In diesem deutschen System wird die Chance vertan, Kinder und Jugendliche in
ihrer Individualität zu erkennen und anzuerkennen, und ihnen die Möglichkeit zu
geben, dabei etwas über ihr eigenes Lernen herauszufinden – so dass
gewissermaßen die Intelligenz der Schule selbst steigt. Selektion vergiftet die
Atmosphäre in Deutschland, auch an den Gesamtschulen.
So klingt es wie Hohn, wenn Schulforscher herausfinden, dass die
Gesamtschulen mit ihrer internen Differenzierung in verschiedene
Leistungsniveaus schärfer sortieren als das dreigliederige System.
3. Sprecher
Daraus folgt, dass ein bloßer Umbau unseres dreigliedrigen Schulsystems zu
Gesamtschulen allein nichts verbessern würde, wenn nicht zugleich diese
deutsche Neigung zum Herabstufen und Herabsetzen anderer zum Thema
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gemacht und tatsächlich zivilisiert würde. Die PISA- Spitzenreiter Japan und
Finnland kennen diesen deutschen Sortier- und Selektionswahn nicht. In Japan
wie in Finnland werden alle Schüler bis zum 9. Jahrgang gemeinsam
unterrichtet. In Schweden ist jede Differenzierung bis Klasse neun vom Gesetz
ausdrücklich verboten. Auch die USA und Kanada kennen nur Schulen, in die
bis zur 10. Klasse alle Kinder und Jugendliche gehen. Die deutsche
Schulneurose…
Zitatorin
… bin ich denn hier richtig?
Gehöre ich Dazu?
Bin ich nicht vielleicht doch auf der falschen Schule?
Und was muss ich tun, damit niemand merkt, was ich nicht kann…
2. Sprecher
Diese deutsche Schulneurose ist in anderen Ländern weniger oder gar nicht
ausgeprägt.
Aber bevor wir uns in Ländern, die bei Pisa gut abschneiden umsehen,
untersuchen wir diese deutsche Schulneurose noch etwas genauer.
3. Zitator / jugendlich, männlich:
Ich erzähle dem Lehrer, was er erwartet, auch wenn ich es nicht verstehe. Mein
Lehrer ist fest davon überzeugt, dass ich Mathematik verstehe und nur etwas
faul bin. Jedenfalls gebe ich mir von Tag zu Tag Mühe, ihm diesen Eindruck zu
vermitteln. Ich melde mich in der Stunde ein- bis zweimal, um etwas zu sagen.
1. Sprecherin
Johann Kegler, inzwischen Student, hat als Schüler eines Berliner
Gymnasiums unter der Bank seinen Alltag protokolliert. Eine ganz normale
Mathematik Stunde zum Beispiel.
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3. Zitator / jugendlich, männlich:
Was ich dann sage, habe ich mir vorher aus meinem Ordner raus geholt.
Ansonsten verhalte ich mich still, höre ein bisschen Musik, lese in meinem Buch
und schaue meinem Lehrer zustimmend in die Augen, wenn er mich beim
Erklären seiner Aufgaben ansieht. Es ist die reine Strategiefähigkeit, mit der ich
durch den Matheunterricht komme. Diesen Instinkt, zwei- bis dreimal in der
Stunde fit zu sein, eignet man sich im Laufe der Jahre an.
1. Sprecherin
Und die gleiche Art Unterricht sieht aus der Gegenperspektive so aus:
Zitatorin
Viele Jugendliche wollen überhaupt nichts lernen. Das hat mich jeden Tag neu
entsetzt. Sie wollen verwertbare Abschlüsse, um „einen guten Beruf“ zu
bekommen, sie wollen das Abitur als zentralen Endzweck von Schule.
1. Sprecherin
Das schreibt die Lehrerin Anne Fliegenhenn aus Münster:
Zitatorin
Dementsprechend lernen sie, was sie müssen. Neugier und Offenheit für die
Anstrengung des eigenen Denkens sind ganz und gar nicht vorauszusetzen, noch
nicht einmal Respekt vor Bildung überhaupt. Viele Eltern interessieren sich für
die Schule nur und ausschließlich nur dann, wenn es um schlechte Noten ihrer
Kinder geht. Wie soll man als junger Mensch allen Ernstes 13 Jahre Schule
aushalten, wenn darin nichts Beglückendes, Befreiendes, Kräftigendes zu
erwarten ist, sondern nur Mühsal auf dem Weg zum einzig erhofften und
ersehnten Zertifikat, nach dem das Leben erst anfangen soll?“
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1. Sprecherin
Vermutlich werden viele Schüler der Diagnose der Lehrerin zustimmen, so wie
sie vermutlich der Beschreibung von Johann Kegler, als er noch Schüler eines
Berliner Gymnasiums war, zustimmt.
Aber warum finden in unseren Schulen darüber kaum Gespräche zwischen
Schülern und Lehrern statt?
Der Schüler Johann Kegler, hatte ohne Pisa und erziehungswissenschaftliche
Forschung den Kern des Problems verstanden.
3. Zitator / jugendlich, männlich:
„Die beiden großen Fehler der Schule sind folgende: Erstens die Zeiteinteilung:
Niemand kann sich in einer Dreiviertelstunde wirklich effektiv mit einer Sache
auseinandersetzen. Wenn man sich gerade eingearbeitet hat und zu verstehen
beginnt, klingelt es schon. Während diese erste Sache eigentlich einfach zu ändern
wäre, ist der zweite Fehler weitaus schwerer zu beheben. Die Art und Weise, wie
einem der Stoff vermittelt wird. Auf schmutzigen Tafeln, in kahlen Räumen mit
kreischender Kreide. In Räumen, die schlecht belüftet sind und in denen man in Reih
und Glied sitzt. Von Lehrern, die verkrampft oder schlaff sind und sich hinter ihren
Notenbüchern verstecken.
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WDR 3 DISKURS, 07.12.2004
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2. Sprecher
Mitsommernacht in Berlin. Am kleinen Wannsee feiern Jugendliche aus fast
allen Kontinenten. Für die internationalen Gäste ist es Abschied und für einige
Deutsche schon wieder die Rückkehr. Ein Jahr Schüleraustausch ist vorbei.
„Stellt Euch vor,“ schwärmt eine Schülerin, „am ersten Tag nach den Ferien
haben die Lehrer ihre Handynummern an uns verteilt!“ Seit wenigen Tagen ist
sie aus Stockholm zurück. Dort ging sie ein Jahr zur Schule. Auf dem Rasen
um sie herum stehen ihre staunenden Berliner Mitschüler und etwas
gelangweilt dreinschauende Amerikaner, Kanadier und Neuseeländer. „Was ist
denn daran so aufregend?“ fragt eine Stimme mit englischem Akzent. „Na, die
Lehrer waren jederzeit für uns da,“ antwortet die Rückkehrerin, „auch
nachmittags und sie waren irgendwie…“ „Freunde,“ ergänzt eine amerikanische
oder kanadische Stimme. „Ja, man konnte mit ihnen über alles reden.“
Der Himmel wird schon türkis, da fragt ein junger Amerikaner die Deutschen:
„Warum sind die Lehrer eigentlich eure Feinde?“ Jetzt wird es still. Die Berliner,
eben noch so eloquent, suchen nach Worten. Diese Frage haben sie sich noch
nie gestellt. Den Kleinkrieg in der Schule fanden sie bisher ganz normal. Nun
aber bricht es aus ihnen heraus, wie bei einem Tribunal: „Ihr seid wie der Rotz
an meinem Ärmel, hat unser Deutschlehrer mindestens einmal die Woche
gesagt,“ erzürnt sich ein Abiturient von einem der vornehmsten Gymnasien der
Stadt. „So ein arroganter Scheißkerl,“ kommentiert angewidert das Mädchen,
das in Schweden war. „Uhr seid eben die blödesten Schüler auf der ganzen
Welt, habe ich es euch nicht schon immer gesagt?“ zitiert jemand seine nach
Pisa derart auftrumpfende Mathelehrerin.
2. Sprecher
Woher kommen der Kleinkrieg, das Misstrauten, diese latente Feindlichkeit in
unseren Schulen?
Cut 5: (Wolfgang Edelstein
Ich bin immer wieder entsetzt, wirklich grundlegend entsetzt, über diese
pausenlose Demütigung, der die Kinder ausgesetzt werden.
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WDR 3 DISKURS, 07.12.2004
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1. Sprecherin
…sagt ein Vater, leidgeprüft..
Cut 6: Edelstein
Meine Tochter kommt aus der Schule gestern, sie ist in der zwölften Klasse.
Sie kriegt ihre Geschichtsklausur zurück. Und was sagt ihr der Lehrer: Du
kannst nur labern. Sie hat Stunden gesessen und diese Aufsätze
geschrieben, viel Mühe und sie kriegt Vieren und er sagt: Du kannst halt nur
labern. Und ich sage: soll ich ihm mal einen Brief schreiben? Und sie sagt:
mach das bitte nicht, vielleicht hat er ja sogar recht. Aber ich meine, die
braucht Tage um sich zu erholen
1. Sprecherin
Der Vater ist vom Fach: Wolfgang Edelstein, inzwischen emeritierter Direktor
am Max Planck – Institut für Bildungsforschung in Berlin.
Er hat die Dramen der Schule, hinter denen sich immer individuelle Tragödien
verbergen, untersucht. Sie reimen sich immer wieder auf den gleichen
misanthropischen Ton.
1. Zitator und Zitatorin (2)
:Du gehörst nicht hierher.
Du kannst nichts.
Du störst.
2. Sprecher:
Viele Schüler und Eltern halten diesen vergifteten Urteilen nicht Stand.
Schüler übernehmen sie in ihr Selbstbild. Eltern tragen es an ihre Kinder mit
Strafpredigten weiter. Sie drohen und ermahnen:
1 Zitator und Zitatorin (2) im Wechsel
Streng dich endlich mehr an!
Mach bloß nicht so viele Fehler.
Stell dich nicht so an!
Aus dir wird nie was!
Dann musst du eben vom Gymnasium abgehen.
15
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Wolfgang Edelstein, geht gegen den Wunsch seiner Tochter in die Schule und
spricht mit den Lehrern.
Cut 7 Edelstein
Ich rede mit der Mathematiklehrerin von Anna letztes Jahr. Also eine Studienrätin
mit den Fächern Mathematik und Physik. Anna hat bei dieser Studienrätin
konsistent immer Sechsen. Und ich meine, Sechs ist eine Unverschämtheit, weil
es jede Entwicklungschance raubt, es ist nicht kompensierbar, d.h. es ist
intentional so gesetzt und ich rede mit ihr und frage sie, ob sie wirklich auf der
Sechs beharrt. Und sie sagt: es ist meine Aufgabe unfähige Schüler auszulesen.
Ich sage, wie bitte? Ich dachte, es ist ihre Aufgabe den Kindern etwas
beizubringen. Darauf hat sie nicht reagiert. Ich sagte, haben sie die Ergebnisse
von Timms, …
3. Sprecher:
….TIMMS, eine internationale Studie über die Kenntnisse der Schüler in
Mathematik- und Naturwissenschaften…
Cut 8 Edelstein
…darauf sagte sie: ist alles Nonsens. In Timss steht nämlich, dass die
Mathematikleistungen schlechter sind, gerade bei den guten
Mathematiklehrern, diesen hochprofessionellen, als bei den anderen. Ist alles
Nonsens sagt sie. Und jetzt hat sie, die nicht mehr, jetzt ist sie ja in der Klasse
zu einem anderen Lehrer gekommen und da hat sie eine Vier. Sie lebt seit
letztem Jahr in dem Terror, dass sie diese Lehrerin in der dreizehnten Klasse
noch mal kriegt.
1. Sprecherin
:Wolfgang Edelstein fragt in seinen Studien danach, unter welchen Bedingungen
sich das Wissen und das Erlernen von Wissen mit der eigenen Wahrnehmung
verknüpft und schließlich zu einer Erfahrung sinnerfüllten Lernens führt?
Cut 9 Edelstein
Das heißt, ganz primitiv gesprochen, was macht mir Sinn? Und wenn sie Kinder fragen, ob das Lernen interessant
ist, kriegen sie in der Regel bei ganz kleinen Kindern ganz klare Indikatoren dafür, dass sie das interessant finden,
dass sie mehr lernen wollen. Und je mehr Erfahrung sie mit der Schule haben, desto mehr nimmt das ab. Ich habe
mal eine Untersuchung gemacht über Lernfreude. Die Kleinen, also Erstklässler und Zweitklässler sind extrem
hoch auf dieser Variable und schon in der dritten Klasse nimmt es ab, und von da an nimmt es kontinuierlich ab
und es nimmt immer sprunghaft zu, wenn ein neues Fach kommt und im Laufe des ersten Jahres, in dem das Fach
erfahren wird, nimmt es wieder ab.
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Macht bloß keine Fehler!
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Ein Feature von Reinhard Kahl
2. Sprecher
Um die deutschen Schulprobleme zu verstehen, lohnt es sich den Unterricht
genauer anzusehen. Nicht wie ein Pädagoge, eher wie ein Ethnologe.
Jürgen Baumert, der die Federführung der ersten Pisa-Studie hatte, ging ein
Licht auf, als er Unterrichtsvideos aus Deutschland und Japan aus der schon
mehrfach zitierten Timms-Studie verglich, die sich vor allem mit Mathematik
befasste. In Japan, das Europäer häufig für so gleichförmig halten, heißt in
Mathematik die Maxime:
Cut 10 Baumert
Findet so viele Lösungen wie möglich. Nicht eine Lösung, sondern das
Problem hat viele Lösungen, die unterschiedlich sind, jede Lösung hat
Vorteile, hat Nachteile, wir wollen versuchen so viele Lösungen wie möglich
zu finden. In dieser Zeit geht dann der Lehrer durch die Reihen und guckt den
Schülern über die Schulter. Also viele Lösungen, die üblicherweise kommen,
hat er in seiner Unterrichtsvorbereitung stehen. Und er spricht dann mit
Schülern, gibt nie Lösungen oder Ergebnisse vor, sondern regt Denken an;
wenn einer nicht weiter kommt, stellt er `ne Frage, die zu der einen oder
anderen Lösung führen kann, aber er formuliert das Problem eher neu, als
dass er das Ergebnis mitteilt.
3. Sprecher
Auch Wege, die nicht zum Ziel führen, gelten in Japans Klassen als interessant,
manchmal sogar als interessanter als der routinierte, erfolgreiche Weg.
2. Sprecher
Mathematikunterricht ist keine neutrale, rein kognitive Übung. Mathe-Unterricht
ist eine Einführung in Denkweisen. Mathematik ist ein geistiges Initiationsritual.
Wichtiger als der Stoff, wichtiger als Lehrpläne ist wie unterrichtet wird.
Cut 11 Jürgen Baumert
Der deutsche Unterricht beginnt: die ersten fünf Minuten werden die Hausaufgaben
kurz vorgestellt, noch mal kurz wiederholt, und dann wird ein neues Thema
eingeführt, in einem sehr kurzschrittig, fragend entwickelnden Unterricht. Der
Lehrer hat ein Ziel vor Augen. Und in einem sehr geschickten Verfahren bringt er
die Schüler dazu, dass sie dem Beweis folgen und nach 20 Minuten beim Ergebnis
sind. Das ist so wie ein Trichterverfahren, von einer sehr weiten Frage führt man
es immer enger, konvergent, bis die Lösung, die Routine an der Tafel steht oder in
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Ein Feature von Reinhard Kahl
den Heften der Schüler. Und dann folgt eine kurze Phase, wo noch eine
Übungsaufgabe gemeinsam durchgerechnet wird und dann gibt’s die Stillarbeit, wo
sehr ähnliche, häufig nicht abgestufte Aufgaben gelöst werden, das ist eine
typische deutsche Stunde.
2. Sprecher:
Dieser Unterricht stimuliert Schüler nicht zum Denken. Er ermuntert sie schon gar
nicht, sich auf das unsichere Feld von Problemlösungen zu wagen. Im typischen
deutschen Unterricht, stören immer zwei Dinge.
1. Zitator
Die intelligente Frage und der Fehler.
2. Sprecher:
Dabei sind beide so verwand. Man kann nicht denken, ohne sich zu irren. Man
kann nichts Neues heraus finden, ohne Fehler zu machen. Fehlerverbote laufen
auf Denkverbot hinaus. Aber Fehlervermeidung ist das Charakteristische der
deutschen Schulkultur.
Die Pisa-Studie macht den Verdacht zum Befund:
3. Sprecher
Deutsche Schüler schneiden bei Aufgaben, die eigenständiges Denken verlangen
schlecht ab.
Cut 12: Baumert
Wenn ein Individuum Fehler macht, da ist immer noch was Richtiges dran, und der
versucht, seinen besten Beitrag zu geben. Das ist die eine Seite, sozusagen die
Seite der Akzeptanz. Sie nutzen Fehler teilweise, um sie bis zum Ende
durchzuspielen, um dann zu gucken, was sind denn die Folgen, wenn wir dich mal
ernst nehmen, kann das richtig sein und dann gibts ’nen neuen Ansatz. Bei uns
geht’s eher: schnelle Korrektur durch den Lehrer oder, was noch schlimmer ist,
der nächste Schüler wird gefragt, dann kommt die richtige Lösung, sieht man in
Japan seltener.
Cut 13a Stern
Unsere Schule ist sehr leistungsorientiert, aber nicht lernorientiert;
1. Sprecherin:
Elsbeth Stern, Forschungsgruppenleiterin am Max Planck Institut für
Bildungsforschung.
Cut 13b Stern
Man unterscheidet in der Lehr- Lernforschung zwischen einer
Leistungsorientierung, das ist: krieg ich meinen Abschluss mit guten Noten, damit
ich damit Zugang zu weiteren Ausbildungsgängen habe. Lernorientiert heißt: habe
ich die Mathematik wirklich verstanden. Habe ich verstanden, wie Phänomene zu
erklären sind.
Die Leistungsorientierung ist enorm bei uns, jeder Schüler tut gut daran, möglichst
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Ein Feature von Reinhard Kahl
früh zu überlegen, wie er mit wenig Aufwand bestimmte Abschlüsse und Noten
bekommt. Aber es interessiert nicht, bis zum Pisa Schock, was können die
Schüler, nur stimmen die Noten.
3. Sprecher:
Das ist das große und wohl verheerende Missverständnis der deutschen Schule.
2. Sprecher:
Man spricht von Leistung, ja man beschwört sie, und verhindert durch eine
verengte Leistungsvorstellung das Lernen. Denn Leistungen zu erbringen, heißt ja
effektiv sein, fertig werden, auf das Produkt fixiert sein …
3. Sprecher:
… die Zeit der Leistung beginnt, wenn das Lernen und Forschen vorbei ist. Wird
die Leistung zu früh verlangt, geht das auf Kosten der Zeit zum Lernen …
2. Sprecher:
…dann verführt man die Schüler so zu tun als ob sie schon verstanden hätten,
was ihnen noch unklar ist. Das Dümmste und Schädlichste, was beim Lernen
passieren kann. Wenn der Faden reißt, weil man aufgehört hat Fragen zu stellen
und stattdessen intelligent klingende Antworten gibt oder lieber schweigt, was
dann?
3. Sprecher:
Dann müsste man eigentlich das Tempo verlangsamen. Tatsächlich wird dann der
Druck erhöht und man verlangt von den Schülern:
1. Zitator
Lernt schneller. Nutzt die Zeit.
2. Sprecher:
Ganz falsch sagt Deutschlands renommierteste Lernforscherin Elsbeth Stern:
Cut 14 Stern
Zeit haben ist ein wichtiger Faktor. Und zwar stressfreie Zeit, wo ich mich mit
einem Problem auseinandersetzen muss. Diese Zeit sollte nicht im
Klassenkontext sein, sondern unter kontrollierten Bedingungen nachmittags, in
einer Ganztagsschule, wo man selber bestimmen kann, wo man noch etwas
nachzuholen hat.
2. Sprecher
Und noch ein anderer Zeitfaktor ist wichtig. Man nennt ihn neuerdings