DRadio Berlin Kommentar zur OECD Studie

DeutschlandRadio Berlin – 16. September 2004 • 09:52
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14.9.2004
Die Zukunft gehört dem Humankapital
Überlegungen zur OECD-Studie
Ein Kommentar von Reinhard Kahl
Schultafel mit alter und neuer Rechstschreibung (Foto: AP)
Schultafel mit alter und neuer Rechstschreibung (Foto: AP)
Die jährlich vorgestellte Studie „Bildung auf einen Blick“ stellt Deutschland in diesem Jahr ein schlechtes Zeugnis aus: Im Vergleich zu anderen Industrienationen seien die Ausgaben für Bildung hier zu niedrig, das Schulsystem veraltet, die vorschulische Betreuung auf niedrigem Niveau. Dies ist nur ein Vorgeschmack auf die im Dezember erscheinende zweite PISA-Studie.

Heute hat in Deutschland der zweite Count Down Pisa begonnen. Wieso schon wieder Pisa und weshalb ein zweiter Count Down? Am 7. Dezember werden die Ergebnisse der zweiten Runde im internationalen Schülervergleich veröffentlicht.

Zumindest einer kennt bereits die Ergebnisse, das ist Andreas Schleicher, der bei der OECD in Paris die Abteilung für Bildungsindikatoren leitet. Heute stellte er nur die jährliche OECD Studie „Bildung auf einen Blick“ vor. Die wird jedes Jahr im September veröffentlicht. Die aufgeregten Reaktionen in der Öffentlichkeit zeigen, wie fiebrig der deutsche Bildungskörper reagiert.

Beginnen wir zur Abkühlung mit Zahlen, allerdings solchen, bei denen sich die Deutschen die Augen reiben. In Finnland beginnen 71 Prozent der jungen Leute ein mindestens vierjähriges Studium. In Schweden sind es sogar 75 Prozent.

Wo führt das hin, wenn jeder studiert, fragen sich viele Deutsche. Die OECD kann solche Fragen mit ihrer neuesten Bildungsanalyse beantworten. Länder, in denen der Anteil von Menschen mit Abschlüssen in Hoch- und Fachschulen seit 1995 um mehr als 5 Prozent gestiegen ist, haben sinkende Arbeitslosenquoten und steigende Einkommen. Jedes zusätzliche Jahr Bildung, das eine Bevölkerung im Durchschnitt genießt, steigert das Bruttoinlandsprodukt um drei bis sechs Prozent.

Nicht nur bei den Finnen und Schweden studieren die meisten jungen Leute. Australien ist Spitzenreiter: da sind es sage und schreibe 77 Prozent, auch in den USA sind es 64 Prozent der Schulabsolventen. Und in Deutschland? 35 Prozent nehmen ein Studium auf. Aber viele brechen es ab. Nur 19 Prozent verlassen eine Uni oder Fachhochschule mit Examen. Bei den Studienabbrechern sind wir Spitzenreiter.

Es ist kein Zufall, dass hierzulande entgegen aller Rhetorik das Misstrauen gegen zu viel Bildung so groß ist. Man sieht in ihr häufig noch den schweren Rucksack voll von trägem Wissen. Eine Last, die viele Menschen im Grunde verabscheuen und nur widerwillig auf sich nehmen. Dabei wird in Ländern, die die OECD „erfolgreiche Bildungsnationen“ nennt, Bildung mehr und mehr als ein Auftrieb erlebt, der viele Menschen begeistert und tatsächlich höher bringt.

Blicken wir eben noch mal auf die Zahlenseite, die Bilanz. Der Anteil an Investitionen für Bildung liegt in Deutschland mit 5,3 Prozent knapp unter dem OECD Durchschnitt, 5,6 Prozent, aber weit entfernt von Ländern, mit denen sich dieses Land vergleichen müsste, etwa den USA mit 7,3 Prozent oder Aufsteigern wie Korea mit 8,2 Prozent. „Mit Bildung können arme Länder reich werden“, sagt heute die OECD mit Blick auf den fernen Osten und in den hohen Norden. Der Satz gilt auch umkehrt: Reiche Länder, die ihr Humankapital verwahrlosen lassen, werden verarmen.

Wirksame Bildung wird immer weniger zur Erfüllung des Bedarfs für bestehende Berufe konzipiert. Darin sieht die OECD einen Paradigmenwechsel. Bildung gilt als Investition ins Humankapital. Hätten die Finnen vor 25 Jahren, als bei Nokia noch Stiefel und andere Gummiwaren hergestellt wurden, überlegt für welchen Bedarf sie ausbilden sollen, wer würde heute diese Firma kennen? „Kommunikationsgesellschaft“ steht inzwischen als Staatsziel in der finnischen Verfassung. Definiert wurde es unter anderem damit, dass zumindest 70 Prozent künftiger Generationen studieren.

Die Vorstellung der OECD Studie „Bildung auf einen Blick“ ist inzwischen so etwas wie die Bilanzpressekonferenz des globalisierten Bildungssystems. Deutschland investiert zu wenig Geld, vor allem aber zu wenig Vertrauen in die nächste Generation.

Mehr Geld muss sein, aber mehr Geld allein bringt keine Besserung. In erfolgreichen Ländern wird das System der Bildungsabschlüsse durch eines der Anschlüsse an Berufe oder weitere Bildungsstufen ersetzt. Wer seine Ausbildung als Krankenpfleger in Australien gut beendet, kann als Mediziner weiter machen. Wer als Programmierer glänzt, schließt daran Informatik oder vielleicht Physik an, häufig nach einem Zwischenspiel im Beruf. Lehrer und Professoren sehen ihre Arbeit bestätigt, wenn möglichst vielen ihrer Eleven gute Anschlüsse gelingen. Sie wollen ihre Qualitätsansprüche nicht dadurch beweisen, dass eine hoch gelegte Latte nur von wenigen jungen Leuten genommen wird.

Am meisten besorgen muss uns, dass das deutsche Schulsystem regelrecht eine neue Unterschicht produziert. 23 Prozent der 15-Jährigen gehören wegen ihrer schwachen Leistungen zur sogenannten Risikogruppe – Jugendliche, bei denen es fraglich ist, ob sie je in einen Beruf kommen.

Möglicherweise wird die Zahl 23 Prozent sogar bald überholt sein. Denn die Angabe stammt noch aus der ersten Pisa-Studie aus dem Jahr 2000. Inzwischen ist die Auswertung der zweiten internationalen Pisa Studie fast abgeschlossen. Sie wird am 7. Dezember veröffentlicht. Als heute die OECD Bildungsbilanz vorgestellt wurden, sprach man in Berlin nur noch über den 7. Dezember. Der Count Down Pisa hat begonnen. Manche fürchten allerdings, er könne ein Count Down Deutschland werden.



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