BR alpha Fernsehinterview mit Reinhard Kahl

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Sendetag: 21.03.2006, 20.15 Uhr
Reinhard Kahl
Journalist
im Gespräch mit Klaus Kastan
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Veröffentlichungen
Kastan:
Herzlich willkommen zu alpha-forum. Über unseren heutigen Gast habe ich folgendes Zitat gefunden: „Im Zentrum seiner Arbeit stehen die Lust am Denken und Lernen, die Zumutung belehrt zu werden und die endlosen Dramen des Erwachsenwerdens.“ Ich begrüße sehr herzlich bei uns Reinhard Kahl. Sie sind von Beruf Journalist: Das ist wohl das Umfassendste, Sie sind aber auch Autor, Regisseur und Produzent von vielen, vielen Fernsehfilmen. All die Produkte, die Sie gemacht haben, haben vor allem immer mit einem Thema zu tun, nämlich mit Pädagogik.
Kahl:
Oder mit Bildung. Denn das sind ja alles so Wörter, die quasi wie Kieselsteine im Bauch rasseln. Aber ich finde wirklich, dass in diesem Thema, im Lernen, im Erwachsenwerden sehr viel Spannendes liegt: wegen der Menschen, die man dabei beobachten kann, die man dabei kennen lernt. Das ist aber auch so ein bisschen die ganze Welt bzw. Gesellschaft in einer Nussschale. Das ist die Stelle, an der die Gesellschaft sozusagen ihren kulturellen Code weitergibt und offenbart und an dem man ihn beobachten kann.
Kastan:
Sie sind Bildungsexperte. Das ist auch so ein Wort, so ein Etikett, das Sie nicht so gerne mögen.
Kahl:
Ich mag das Wort „Experte“ wirklich nicht so gerne, weil nämlich in vielen Dingen die Laien klüger sind als die Experten. Gut, Expertenwissen ist schon gut, aber es gibt ja leider auch eine Expertendummheit, wie man weiß.
Kastan:
Gehen wir doch mal das Zitat, das ich am Anfang gebracht habe, der Reihe nach durch. Das steht also: „Im Zentrum seiner Arbeit stehen die Lust am Denken und Lernen.“ Ist das so?
Kahl:
Ja, das ist so. Ja, denken…
Kastan:
… manchmal auch anstrengend.
Kahl:
Ja, schon, aber es gibt dieses wunderbare Zitat von Plato über das Denken. Er hat einst gesagt: „Denken ist das Gespräch zwischen mir und mir selbst.“ Und dieses Denken geht eben nur, wenn Unterschiede da sind, wenn man also in sich selbst Unterschiede hat und diese Unterschiede dann ins Gespräch miteinander bringt. Und vielleicht steckt darin auch als ein gemeinsamer Nenner von all dem, was Sie vorhin angedeutet haben, so ein gewisser Widerspruch gegen den herrschenden konformistischen Sog bzw. gegen den Perfektionssog oder gegen die Fehlervermeidung oder…
Kastan:
… oder dagegen, dass es immer nur eine Antwort gibt.
Kahl:
Ja, das ist auch so etwas Furchtbares.
Kastan:
Es gibt also oft mehrere Antworten.
Kahl:
Ja, es gibt immer mehrere Antworten. Und es gibt manchmal sogar mehrere richtige Antworten oder mehrere mögliche Antworten.
Kastan:
Der andere Teil des Zitates handelte von den „Zumutungen, belehrt zu werden“. Jeder von uns ist schon einmal belehrt worden, auch schon mal mit dem berühmten Zeigefinger.
Kahl:
Lernen ist etwas extrem Dialogisches. Das kann man bereits bei den kleinsten Kindern beobachten. In der so genannten Säuglingsforschung gibt es z. B. ein sehr schönes Experiment. Da wird die Mutter aufgefordert, wenn ihr Kind guckt, ein starres, steifes Gesicht zu machen. Und dann kann man beobachten, was passiert: Das Kind fängt an, mit seinem Blick um die Mutter zu werben. Und wenn die Mutter darauf nicht eingeht, dann wird es eklig. Das ist der Anfang eines dialogischen Spiels. Lernen heißt also nicht, darauf zu verzichten, dass einem jemand anderes etwas Interessantes erzählen kann. Selbstverständlich heißt es das nicht. Aber dieses Belehren ist schlimm, wenn es heißt: „Du weißt erst einmal gar nichts! Du bist ein weißes Blatt Papier und ich beschreibe dich jetzt!“ Das kennt jeder von sich: Das ist etwas, das so eine Art von geistiger Immunabwehr hervorruft. Das ist ein Teil des Problems unserer Schulen, an denen zu viel belehrt und zu wenig gelernt wird.
Kastan:
Das letzte Stichwort dieser Aufreihung im Zitat handelte von den „endlosen Dramen des Erwachsenwerdens“.
Kahl:
Ja, die hören nie auf.
Kastan:
Man wird wohl auch als Erwachsener noch erwachsen.
Kahl:
Man hat jedenfalls die Chance, immer wieder ein Anfänger werden zu können, vielleicht sogar auf einem jeweils etwas höheren Niveau. Es wäre furchtbar, wenn man das Erwachsenwerden zu vermeiden versuchte, z. B. durch so einen ewigen Jugendlichkeitsgestus, der irgendwann nur noch peinlich ist. Aber das Übernehmen von Verantwortung, das Konsolidieren des Erwachsenwerdens steht immer auch in einer Spannung dazu, ein Anfänger und auch ein bisschen ein Kind zu bleiben. Das sind jedenfalls ganz normale und alltägliche menschliche Geschichten.
Kastan:
Sie sind Jahrgang 1948, sind also in den fünfziger Jahren in die Schule gekommen. Denken Sie gerne an Ihre Schulzeit zurück?
Kahl:
Ich denke mit gemischten Gefühlen daran. Es gab vor allem einen Lehrer, der für mich sehr prägend gewesen ist: Er war wirklich ein Vorbild für mich, dieser Deutsch- und Gemeinschaftskundelehrer. Er hat mich für vieles von dem, was mich heute immer noch interessiert und beschäftigt, begeistern können. Aber es gab auch viele, die einen etwas vor den Kopf gestoßen oder sogar abgestoßen haben.
Kastan:
Was hat dieser Lehrer gemacht, dass er Sie für bestimmte Dinge begeistern konnte?
Kahl:
Er war selbst hungrig! Er war einer, der uns viel erzählt, der uns aber nicht in dem Sinne belehrt hat. Ich bin in Göttingen aufgewachsen: Er hat abends Kurse an der Volkshochschule gegeben. Zusammen mit anderen Schülern sind wir da abends noch zu Volkshochschulkursen von ihm gegangen, weil uns das interessiert hat.
Kastan:
Weil er selbst immer noch weiter nach neuen Antworten gesucht hat?
Kahl:
Ja, weil er einfach nicht so ein fertiger Mensch gewesen und stattdessen hungrig geblieben ist. Es ist ja immer so: Wenn jemand forscht und an etwas arbeitet, dann findet er mit jeder Antwort drei neue interessante Fragen!
Kastan:
Sie haben ja die klassische Schulausbildung gemacht…
Kahl:
Tja, das geht ja nicht anders.
Kastan:
Grundschule, Gymnasium, Abitur, Studium. Sie haben Erziehungswissenschaften, Soziologie und Philosophie studiert. Mit Mathematik konnten Sie offensichtlich nicht viel anfangen.
Kahl:
Ja, leider, mit Mathematik konnte ich nur wenig anfangen.
Kastan:
Warum?
Kahl:
Das weiß ich auch nicht. Ich glaube, viele aus meiner Generation – aber das wird bei späteren Generationen wohl noch genauso sein – haben die Mathematik lediglich als eine dauernde Prüfung kennen gelernt. Sie haben sie auch als etwas Buchhalterisches kennen gelernt. Ich kann mich noch recht gut daran erinnern, als wir in der Schule das Pascalsche Dreieck durchnahmen. Das fand ich enorm interessant: Das war so eine ästhetische Figur, da gab es etwas zu entdecken, da konnte man lange daran herumrechnen. Aber all die anderen Dinge, die an der Mathematik so interessant sind, die Relationen, die Formen usw., standen einfach nicht so im Zentrum unseres Mathematikunterrichts. Für uns war die Mathematik damals meistens nur ein Fach, in das sehr stark diese krude „Richtig-Falsch-Welt“ eingeschrieben war. Wenn ich heute jedoch mit irgendwelchen tollen Mathematikern spreche, dann erzählen sie mir, dass auf 2000 Fehler von ihnen eine Entdeckung kommt. Diese Fehler muss man also machen dürfen, damit man eine Entdeckung macht! Ich glaube daher, die Mathematik ist vor allem an der Schule häufig noch so eine Art Initiationsritual in das Keine-Fehler-machen-Dürfen. Wenn man jedoch keine Fehler machen darf, dann wird das mit dem Lernen schwierig.
Kastan:
Sie haben vorhin gesagt, es gibt nicht immer nur eine Antwort. In der Mathematik ist das jedoch sehr wohl so. War das vielleicht auch Ihr Problem mit der Mathematik?
Kahl:
Nein, das stimmt ja gar nicht: In der Mathematik gibt es häufig sehr viele richtige Antworten.
Kastan:
Ja, schon, aber eins und eins ist zwei.
Kahl:
Ja, aber nur dann, wenn eins und eins identisch sind. Nehmen Sie nur einmal zwei Wellen, die aufeinanderstoßen: Es hängt dann vom Winkel dieser Wellen ab, ob sie sich entweder ganz sauber zu zwei addieren oder ob sie sich zu null auslöschen oder ob sie sich vielleicht potenzieren. Wenn einem das jemand erzählt, wenn einem erklärt wird, dass „1 + 1 = 2“ lediglich ein Sonderfall von identischen Elementen oder Kräften ist, dann wird es interessant. Wenn man all das, was um diesen Sonderfall herum möglich ist, mit im Auge hat, dann ist das eine enorme Entdeckung.
Kastan:
Die Naturwissenschaften waren jedenfalls damals nicht so interessant für Sie, dass Sie gesagt hätten: „Das will ich studieren!“ Stattdessen haben Sie sich für die Geisteswissenschaften entschieden.
Kahl:
Ja, für diese 68-er-Diskussionswissenschaft.
Kastan:
Waren Sie denn ein richtiger 68er?
Kahl:
Ja.
Kastan:
Voll dabei?
Kahl:
Ja, schon als Schüler. Ich hatte noch als Schüler in Göttingen das große Glück – das war wirklich prägend für mein späteres Leben, denn er wurde ein wirklicher Lehrer für mich – einen jungen Professor der Erziehungswissenschaften kennen zu lernen. Dieser Mann war Hartmut von Hentig, der uns rebellischen Schülern freundlich und kritisch zugehört und mit uns gesprochen hat. Das war etwas, das mich dann später vor so manchen absolut rechthaberisch-dummen, dogmatisierenden Verirrungen dieser Bewegung bewahrt hat.
Kastan:
Mit Hartmut von Hentig haben Sie bis heute Kontakt.
Kahl:
Ja, ich war vor zwei Monaten bei seinem 80. Geburtstag eingeladen.
Kastan:
Sie haben ihm auch das hier gewidmet: „Treibhäuser der Zukunft. Wie in Deutschland Schulen gelingen.“ Ich zeige das mal kurz in die Kamera: Das ist eigentlich gar kein richtiges Buch, sondern…
Kahl:
Das ist auch ein Buch.
Kastan:
Ja, es ist auch ein Buch, aber es sind vor allem DVDs drinnen. Einen Ausschnitt aus einer der DVDs, wie sich Schule verändern kann, schauen wir uns jetzt an. (Filmeinblendung)
Kastan:
Das war ein Ausschnitt aus „Treibhäuser der Zukunft. Wie in Deutschland Schulen gelingen“. Der Titel hört sich ja doch etwas verquer an.
Kahl:
Finden Sie? Vielleicht kann ich da an das anknüpfen, was wir vor diesem Filmausschnitt besprochen haben: Mit der 68er-Generation verbinden sich ja solche Begriffe wie Kritik, kritische Haltung usw. Für mich ist es jedoch im Laufe meines Lebens mehr und mehr wichtig geworden, mich für das zu interessieren, was gelingt. Was alles nicht gelingt, kann man ja sehr genau beschreiben, und darauf soll und darf man auch nicht verzichten. Aber ich glaube, ein Teil des deutschen Problems besteht in mancherlei Hinsicht und nicht nur im Hinblick auf die Bildung wirklich darin, dass wir zu wenig Bilder – und damit meine ich jetzt keine Fernsehbilder oder Photos, sondern mentale Muster – von dem haben, was gelingt. Und „gelingen“ bedeutet für mich auch einen wesentlichen Unterschied zu dieser ganzen Welt des „Richtig-Machens“, des „Richtig-Ausführens“. Ich bin überzeugt davon, dass nur das wirklich gelingen kann, was auch schief gehen darf – nicht schief gehen soll, sondern schief gehen darf. Ich finde, das ist ganz analog zur Biographie eines Menschen.
Kastan:
Aber die Bezeichnung der Schulen als Treibhäuser? Wie ist das zu verstehen?
Kahl:
Mit „Treibhäuser“ sind natürlich nicht diese Glasgebäude gemeint, in denen die holländischen Tomaten gezogen werden. Nein, damit meine ich einen atmosphärisch gut temperierten Raum.
Kastan:
In dem etwas gedeiht.
Kahl:
Ja, in dem etwas gedeiht und in dem man weiß, dass diese, wenn man so will, atmosphärischen Bedingungen die entscheidenden Bedingungen sind, weil alles weitere davon abhängt. Man kann also eine noch so gute Schule machen, wenn die Menschen sich jedoch nicht mögen und anerkennen, dann wird es auch mit den Ergebnissen, Ergebnisse, die z. B. mit der PISA-Studie messbar sind, nicht gut aussehen.
Kastan:
Eine Ihrer Grundthesen gleich am Anfang dieser DVDs lautet, dass unsere Schulen im Umbau sind und der in vollem Gange ist. Das Fundament müsse aber neu gesetzt werden, behaupten Sie. Meine Frage daraufhin lautet: Ist die Schule, so wie wir sie kennen und erlebt haben, tot? Oder sollte sie tot sein?
Kahl:
Nun, sie hat schon etwas Tödliches an sich und sie lebt dennoch. Das ist wie mit den Zombies: Das sind ja auch die Untoten, die in meist schlechten Hollywood-Filmen immer irgendwo durch die Gegend laufen. Nein, die Schulen in Deutschland sind nicht tot, sie sind in vielerlei Hinsicht nicht tot. Sie sind ohnehin nicht mausetot, sondern…
Kastan:
Ich hatte ja auch ein „sollte“ nachgeschoben.
Kahl:
Sie sind schon sehr widerspenstig. Unsere Schulen haben in der Tat sehr vieles an sich, das aus einer wirklich vergangenen Zeit stammt. Sie haben sehr viel Starres, sie haben sehr wenig Bewegung. Wenn man in eine normale Schule kommt, dann nimmt man mit seinem aus der Evolution stammenden Reptilhirn häufig genug wahr, dass das etwas sehr, sehr Enges ist. Jedes Architekturbüro, jeder kleine Palast, in dem heutzutage Autos verkauft werden, hat mehr Licht, mehr Bewegungsfreiheit, lädt einen eher dazu ein, dass man den Kopf aufrichtet und tief einatmet, während man beim Betreten der Schule den Kopf einzieht und nur noch ganz flach atmet. Es stimmt, das gilt nicht für alle Schulen, das gilt nicht generell, aber das ist noch ein ganz, ganz starker Zug unserer Schulen. Ich glaube, die meisten Schulen sind immer noch nicht der Ort, an dem man sozusagen Menschen einlädt, ins Leben zu kommen. Das sind leider im Gegenteil immer noch Orte, an denen man mit dem späteren Leben droht. Ich finde, das kann man an der bloßen Betonung eines Satzes sehr gut erkennen. Man kann an einer Schule sagen: „Wir haben auf euch gewartet!“ Man kann das mit der Betonung sagen: „In euch steckt viel mehr drin, als ihr vielleicht glaubt. Kommt her, wir haben auf euch gewartet!“ Oder man sagt: „Auf dich habe ich gerade noch gewartet!“ Und mit der Betonung drückt man aus: „Hier wirst du dein blaues Wunder erleben!“ Damit meine ich dieses Misstrauisch-Misanthropische an unseren Schulen. Von diesem Gift steckt wirklich noch viel in den Schulen. Aber ich glaube, es wird mehr und mehr als solches wahrgenommen und abgebaut.
Kastan:
Einen Begriff habe ich wirklich neu gelernt, als ich mir diese DVDs angesehen habe: Das ist der Begriff „Fragen entwickelnder Unterricht“. Für Pädagogen ist das vermutlich ein feststehender Begriff.
Kahl:
Ja, allerdings heißt dieser Begriff „fragend-entwickelnder Unterricht“. Das sollte ursprünglich eigentlich mal so etwas Sokratisches sein.
Kastan:
Das heißt, man führt dabei mit Fragen die Schüler an ein bestimmtes Ziel.
Kahl:
Ja, und das ist, wenn es gelingt, auch wunderbar. Meistens läuft das aber so ab, dass andere Pädagogen diesen Unterrichtsstil „Osterhasen-Pädagogik“ nennen: Der Lehrer hat das Wissen irgendwo versteckt und die Schüler sollen es jetzt suchen! Das ist also eigentlich ein abgekartetes Spiel, bei dem gerade keine Neugier aufkommt. Jürgen Baumert, der Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und bei der ersten PISA-Studie in Deutschland sozusagen der Chef, sagte einmal: „In diesem fragend-entwickelnden Unterricht stören immer zwei Typen von Schülern, die intelligenten und die abweichenden.“ Das sind also diejenigen Schüler, die Fehler machen oder die eine ungewöhnliche Frage stellen. Diese Osterhasen-Pädagogik ist etwas, das man in deutschen Schulen in der Tat etwas häufiger findet als z. B. in amerikanischen oder skandinavischen Schulen.
Kastan:
Machen Sie es sich damit nicht vielleicht doch zu leicht? Ich versetze mich mal in die Position eines Lehrers: „Ja, Sie können leicht reden. Ich habe meinen Lehrplan durchzubringen, ich muss Rechenschaft ablegen, was meine Schüler im Laufe eines Jahres gelernt haben. Da bin ich dann eben u. U. sogar angewiesen auf diese so genannte Osterhasen-Pädagogik.“
Kahl:
Nein, das ist er nicht, denn so ein Lehrer könnte leicht wissen, dass ein anderer Unterricht viel wirksamer ist.
Kastan:
Aber der Lehrplan gibt doch sehr viel vor.
Kahl:
Inzwischen sind die meisten Lehrpläne liberaler als die meisten Lehrer unterstellen.
Kastan:
Das heißt, Sie meinen, dass sich viele Lehrer oft auch nur hinter dem Lehrplan verstecken.
Kahl:
Ja. Das hat ja auch etwas mit der Berufsausbildung zu tun. In Deutschland studieren Lehrer ein Fach, zumal gymnasiale Lehrer. Während des Studiums lernen sie dann noch ein bisschen pädagogische Theorie. Sie lernen gewöhnlich weder die Kinder, die Schüler, die Jugendlichen kennen, noch lernen sie sich selbst als Lehrer kennen, was z. B. in Finnland ein zentrales Element ist. Und dann kommen sie in die Schule und sind sozusagen Novizen im Schule-Machen und hängen immer noch an den Bildern von Schule, die sie als Schüler in ihrer eigenen Schulzeit mitbekommen haben. Das andere, das neu Gelernte ist meistens sehr verstandesmäßig angeeignet: In einer kritischen Situation fallen sie dann meistens sofort in die alten Muster zurück. In diesen Bildern, in diesen Vorstellungen ist einfach nur sehr wenig Raum für die Abenteuer und Umwege des Lernens. Das Ganze ist sehr viel Stoffvermittlung. Aber jeder weiß doch, dass das nicht gut funktioniert.
Kastan:
Aber die Stoffvermittlung muss doch sein, denn der Lehrplan muss eingehalten werden. Und letztendlich muss der Lehrer ja auch Noten geben.
Kahl:
Muss er das? Wie ist das mit dem Einhalten von Lehrplänen? Ich erzähle Ihnen eine wahre Geschichte. Wir haben ja vorhin in dem Filmausschnitt den Manfred Spitzer gesehen: Hirnforscher, Psychiater, Lernforscher. Er wendet in seinen Vorträgen immer einen kleinen Trick an und zu seinen Vorträgen kommen Tausende von Leuten. Er sagt nämlich mitten im Vortrag: „So, jetzt unterbrechen wir eine Viertelstunde und verteilen an jeden ein weißes Din-A-4-Blatt. In dieser Viertelstunde schreiben Sie bitte all das auf, was Sie von der Mathematik Ihrer Schulzeit vor allem aus den letzten Schuljahren noch wissen!“ Das sagt er so ernst, dass die Leute wirklich erschrecken. Erst nach einer Weile fängt er dann an zu grinsen – und im Vortragssaal entsteht ein befreiendes Lachen, weil doch alle wissen, dass sie dazu keine Viertelstunde und auch kein Din-A-4-Blatt gebraucht hätten. Da hätten quasi eine Streichholzschachtel und eine Minute auch schon gereicht. Das heißt, jeder weiß doch eigentlich, dass von diesem „Lehrplanstoff-Rüberschieben“ häufig so gut wie nichts übrig bleibt. Das ist etwas, das mich immer so ein wenig an die Pubertätskrankheit Bulimie erinnert. Spitzer macht einen Vorschlag, den ich wirklich hervorragend finde. Er sagt: „Man kann in der Schule alles prüfen, nur nicht den Stoff der letzten zwei Monate!“ Auf diese Weise würde man sich – durchaus in einem wohlverstandenen Sinne von Lehrplanerfüllung – mit dem beschäftigen, was von den Schülerinnen und Schülern wirklich verinnerlicht worden ist, was hängen geblieben ist, was sie anwenden können, was sie in ihr Denksystem eingebaut haben, nicht aber mit dem, mit dem die „Festplatte“ schnell vollgeschrieben worden ist, um sie anschließend noch schneller wieder zu löschen. Dass so schnell Gespeichertes ebenso schnell wieder gelöscht wird, wissen eigentlich alle. Aber man zieht daraus so gut wie keine Konsequenzen, und genau das finde ich skandalös.
Kastan:
Sie zeigen in diesem Film auch eine schwedische Lehrerin. Diese schwedische Lehrerin ist einmal gefragt worden: „Hast du denn früher in der Schule auch geschummelt? Hast du auch abgeschrieben?“ Wir in Bayern nennen das ja „Unterschleif“. Sie wurde also gefragt, ob sie sich als Schülerin auch mal eine gute Note quasi hintenherum besorgt hat. Die Lehrerin erzählt dann in Ihrem Film, dass sie diese Frage damals gar nicht so richtig verstanden habe, denn so etwas hat es bei ihr in Schweden in ihrer Schulzeit gar nicht gegeben.
Kahl:
Ja, das stimmt. Sie lebt aber jetzt mittlerweile in Deutschland…
Kastan:
… und ist Lehrerin.
Kahl:
Ja, inzwischen ist sie sogar Schulleiterin. Bei ihren Kindern ist aber genau das eines der wichtigsten Themen! Was geht da bei Schülern an Energie verloren mit diesem Bluffen, mit diesem Unterschleif, mit diesem So-tun-als-Ob!
Kastan:
Ich selbst habe früher immer gelernt durch das Spickzettelschreiben.
Kahl:
Sehen Sie.
Kastan:
Meistens habe ich dann den Spickzettel gar nicht gebraucht. Manchmal allerdings doch. Was müsste sich denn an den Schulen ändern, um diesen Idealzustand herstellen zu können? Bräuchten wir dafür nicht vor allem auch andere Lehrer?
Kahl:
Nun, ich würde erst einmal der Forderung nach einem Idealzustand widersprechen. Denn da denkt man ja meistens: „Na, das sind halt diese hohen Ideale, über die kann man gut reden…
Kastan:
… aber man muss nichts machen!“
Kahl:
Ja, weil die meisten Menschen dann denken, das ginge ja doch nicht. Ich finde, dass es an den Schulen zuerst einmal darum gehen müsste, das normale Zivilisationsniveau eines guten Büros herzustellen, eines Büros, in dem man mit einer gewissen Grundfreude arbeitet, in dem man seine Sachen macht und in dem es nicht so ist, wie das häufig an den Schulen der Fall ist, dass mittags die Lehrer schneller in ihrem Golf sind als die Schüler auf ihrem Fahrrad. Gut, das stimmt natürlich auch nicht immer. Es ginge mir jedenfalls darum, dass die Schule zu einem Ort wird, an dem man freiwillig und gerne einen interessanten Teil des eigenen Lebens verbringt. Das ist meiner Meinung nach kein Ideal, sondern das ist das Mindeste, was man verlangen darf. Und in guten Schulen gelingt das ja auch, in manchen Ländern gelingt das sogar häufiger als in Deutschland. Das alles gehört eben auch zu den so genannten PISA-Irritationen. Eine weitere Irritation bei der PISA-Studie war ja für manche, dass Bayern so viel besser dasteht als Bremen. Das hat – wie auch immer das hergestellt wird in Bayern — etwas zu tun mit einem geringeren Verwahrlosungslevel hier in Bayern.
Kastan:
Auf der anderen Seite sind aber die bayerischen Schulen schon tendenziell eher Schulen, wie es sie früher gegeben hat. Bayern ist nicht gerade die Heimstätte moderner Pädagogik.
Kahl:
Nein, wirklich nicht, in manchen Schulen aber schon.
Kastan:
In Bayern muss jedenfalls sehr viel gelernt und gebüffelt werden und es gibt regelmäßig sehr strenge Leistungskontrollen. Ich glaube, es gibt auch kein anderes Bundesland, in dem es prozentual weniger Abiturienten gibt als in Bayern.
Kahl:
Das birgt natürlich verschiedene Aspekte. Es ist ja so, dass wir überall in Deutschland dieses drei- bzw. viergliedrige Schulsystem haben – gegen das ich doch einiges Kritische einwenden würde. In den Ländern aber, um das mal beim Namen zu nennen, in den sozialdemokratisch regierten Ländern, die früher mal die Gesamtschule wollten und sie dann später meistens wieder abgeschafft haben, in denen der Zug ganz stark in Richtung Gymnasium geht, herrscht eine Struktur, in der diejenigen, die dann nicht ins Gymnasium gehen, sich bereits während ihrer Schulzeit als Verlierer fühlen: Wer dort zur Hauptschule geht, ist bereits ein Outcast. Und diejenigen, die aufs Gymnasium gehen, bekommen z. T. – auch aufgrund der Struktur ihrer Schule – immer wieder das Gefühl vermittelt: „Na, ob du wirklich hierher gehörst, ist ja doch fraglich!“ Das heißt, sehr viele Schüler sind in ihrer Schule nicht selbstverständlich da. In Bayern ist zumal auf dem Land die ständische Tradition – die übrigens nicht unsere Zukunft ist! – noch intakter. Es ist in Bayern nicht unbedingt eine Schande – in manchen Gegenden Münchens schon, aber sonst nicht – Hauptschüler zu sein. Man könnte daher auch sagen, dass in Bayern vielen Schülern das Gymnasium als eine Schule erspart bleibt, in der sehr stark Fächer unterrichtet werden und nicht unbedingt die Schüler. So könnte man das in der Tat nämlich auch sehen.

Kastan:
Würden Sie sagen, Bayern sei ein Modell?
Kahl:
Nein, aber man kann viel von Bayern lernen.
Kastan:
Wo läuft es denn nicht gut in Bayern? Wo sehen Sie Defizite, wenn Sie sich die bayerischen Schulen anschauen?
Kahl:
Zum Beispiel ist es ein Drama, von dem alle Leute erzählen können, wenn sich nach der vierten Klasse die Frage stellt, wie es nun weitergeht: Das zerstört bereits viel Lernen in der Grundschule. Und es bleibt ja auch Bayern diese Entwicklung nicht erspart, dass niemand mehr zur Hauptschule will. Bis jetzt gab es ja diese Tradition, dass man auch zuerst zur Hauptschule gehen und dann durchstarten kann. Bis jetzt kommen ja auch in Bayern – und in Baden-Württemberg ist das ähnlich – 30 Prozent von denjenigen, die letztlich die Studienberechtigung erlangen, über die Haupt- und Realschule. Das muss man einfach so sehen.
Kastan:
Das geht dann über die Fachoberschule, das Fachabitur usw.
Kahl:
Ja, natürlich. Das könnte ja auch ein Weg sein: Warum eigentlich nicht? Nur ist es eben auch in Bayern so, dass es für die meisten Leute eine Art von Schande darstellt, den Schritt zum Gymnasium nach der vierten Klasse nicht zu schaffen.
Kastan:
Die Hauptschule wird dann, wie Sie vorhin sinngemäß gesagt haben, oft zur Schule der Verlierer.
Kahl:
Ja, und wenn man sich selbst als Verlierer fühlt, dann wird es sehr schwierig, mit sich selbst zufrieden zu sein und etwas Gutes zu leisten.
Kastan:
Die Schulkontrolle, die über die einzelnen Schulen vom Kultusministerium ausgeübt wird, ist etwas, das Ihnen, wenn ich Sie bei meinen Recherchen richtig verstanden habe, auch nicht gerade gut gefällt.
Kahl:
Das stimmt, das müsste nämlich nicht so sein. In Holland gibt es keine Schulaufsicht, aber eine Schulinspektion. Viele Leute sagen bei uns: „Wenn es dort eine Schulinspektion gibt, dann hat die doch auch so etwas wie eine Aufsichtsfunktion.“ Nein, so ist es nicht: Die Inspektion schaut sozusagen wohlwollend-kritisch von der Seite rein – und eben nicht von oben. Sie versucht nicht, das Schulsystem quasi an seine Marionettenschnürchen zu nehmen. Finnland hat die Schulaufsicht komplett abgeschafft, aber die Schulen tragen dort auch Verantwortung und Verantwortung heißt, dass man antworten muss: Das ist also kein Laissez-faire.
Kastan:
Es gibt ja auch bei uns Schulen, die Sie in dieser Reihe, die Sie soeben herausgegeben haben, vorstellen und in denen das alles wirklich anders abläuft. Da sind die Schüler beteiligt…
Kahl:
Ja, das gibt es auch in Bayern, das sind diese Modus 21 Schulen usw.
Kastan:
Das gibt es eben inzwischen alles. Dabei haben die einzelnen Schulen mehr Freiräume und können Modelle ausprobieren: natürlich immer auch in Rücksprache mit dem Kultusministerium, aber immerhin haben sie diese Möglichkeiten. Sind das Entwicklungen in die richtige Richtung?
Kahl:
Ja! Das ist etwas, das in der ganzen Gesellschaft läuft. Der Begriff der „lernenden Organisation“ hat ja seinen Siegeszug zuerst durch die Unternehmen gemacht und kommt nun erst so langsam bei den Schulen und Universitäten und öffentlich-rechtlichen Anstalten an. Das ist also eine Entwicklung, die letztlich unvermeidlich ist.
Kastan:
Sie wollen, dass die Schulen und die Klassenzimmer Lernwerkstätten werden. Was ist darunter zu verstehen?
Kahl:
Dass nicht alle zur gleichen Zeit dasselbe machen! Die Individualität der Schülerinnen und Schüler, die Tatsache, dass wir unterschiedlich sind, ist sozusagen das Potential unseres Landes. Ein einfaches Beispiel: Unter den Kindern, die in die erste Klasse kommen, gibt es welche, die können bereits Lesen und Schreiben, während andere wiederum dafür erst noch zwei Jahre brauchen. Dem muss man Rechnung tragen. Wenn nun aber alle im Gleichschritt das Gleiche machen sollen, dann wird das für die einen zu viel und für die anderen zu wenig sein.
Kastan:
Lassen Sie uns noch einen Ausschnitt aus Ihrem Film „Treibhäuser der Zukunft“ anschauen.
Kahl:
Nein, dieser Ausschnitt stammt jetzt nicht daraus. Das ist der Beginn eines neuen Projekts, in dem es um die Seite der Kinder geht.
Kastan:
Das zeigt dieser Ausschnitt auch: Man muss Kinder gerne haben, man muss sie als Pädagogin und Pädagoge annehmen können.
Kahl:
Ja, das ist das Wichtigste. (Filmeinblendung)
Kastan:
Ein schöner Ausschnitt aus Ihrem nächsten Film, der den Arbeitstitel „Kinder“ trägt. Kinder muss man annehmen können, Kinder muss man gern haben können. Man müsste doch eigentlich von jedem Pädagogen erwarten können, dass er Kinder mag. Aber das ist wohl nicht immer so.
Kahl:
Eben, und es geht auch gar nicht nur um die Pädagogen. Wenn man mal die Situation ein wenig weitet, dann kann man doch Folgendes feststellen: Unsere Situation heute ist eine des Übergangs. Das sind zunächst einmal nur Klischeewörter, ich meine damit aber, wir sind im Übergang zwischen einer Produktions- oder Industriegesellschaft und einer Wissens- oder Ideengesellschaft. Wenn man das zur Kenntnis nimmt, dann erkennt man eben auch, dass das eine Gesellschaft ist, in der die Kreativität – wieder so ein Wort! – nur dann möglich ist, wenn Menschen stärker akzeptieren, dass sie unvollkommen sind, dass sie auch geistigen Hunger haben, dass sie nicht fix und fertig angezogen auf die Welt gekommen sind. Einstein wurde einmal gefragt, welchem Umstand er verdanke, was er leisten konnte. Er sagte daraufhin: „Dass ich das ewige Kind geblieben bin!“ Diese Dimension – und nicht nur die wirklichen Kinder von einem bis meinetwegen acht Jahren – von Zartheit, von Schwäche, die dem Menschen eigen ist und aus der ganz besondere Stärken entstehen können, ist etwas, das meiner Meinung nach wiederentdeckt werden muss. Diese Entdeckung liegt meiner Ansicht nach auch tatsächlich in der Luft.
Kastan:
Lassen Sie uns mal eine Schule aufbauen, wie Sie sich eine Schule vorstellen, auch anhand der Modelle, die Sie bei uns hier im Inland, die Sie aber auch im Ausland wie z. B. in Finnland kennen gelernt haben. Meine erste Frage dazu: Wäre diese Schule eine Ganztagsschule?
Kahl:
Ja, wobei „Ganztag“ sich ja auch schon wieder wie so eine Drohung anhört: als müsste man da bis abends um neun Uhr bleiben. Nein, eine Ganztagsschule in den skandinavischen Ländern ist eine Schule, die bis 15.00 Uhr oder 15.30 Uhr geht. Häufig gibt es dort allerdings auch die Möglichkeit, dass die Kinder länger bleiben können.
Kastan:
Und z. B. noch freiwillig irgendwelche Gruppen besuchen.
Kahl:
Ja, und dass es auch für die kleineren Kinder anschließend noch eine Betreuung gibt, die teilweise eben auch Geld kostet. Die Schule ist dort jedenfalls zunächst einmal ein verlässlicher, interessanter Ort, an dem einem beim Betreten andere Sachen ins Auge springen als in Schulen bei uns. In Finnland oder Schweden ist das ganz auffällig: Da sind neben den Klassenräumen so kleine Räume, die wie Teeküchen eingerichtet sind. Dort wird zwischendurch Milch warm gemacht oder das Knäckebrot geholt usw. Als Deutscher denkt man da zuerst einmal: „Was ist denn hier los? Die essen ja alle andauernd!“ Aber dann merkt man, dass das vor allem für die kleineren Kinder ein Ausdruck dieser dauernden Care ist, also dieser dauernden Sorge bzw. Umsorgung. Ich habe vor einiger Zeit mal Mats Ekholm gesprochen, lange Zeit Generaldirektor der schwedischen Bildungsagentur Skolverket: Das ist sozusagen die schwedische Evaluationsaufsichtsorganisation. Als er durch Deutschland gefahren ist, habe ich ihn einmal gefragt: „Was ist für Sie der größte Unterschied bei den Schulen zwischen Deutschland und Schweden?“ Er sagte mir: „Dass die Schüler in Deutschland nichts zu essen bekommen!“ Ich hatte mir zuerst einmal eigentlich eine andere Antwort erwartet. Aber das war bei mir wie so ein Witz, der erst nach zwei Tagen zündet. Denn das ist in der Tat ein Ausdruck für das Gefühl, das man dort den Kindern vermittelt, nämlich das Gefühl: „Ihr seid willkommen! Eure grundlegenden Bedürfnisse gelten hier etwas und dann schauen wir weiter.“ Dort in den Schulen herrscht wirklich eine fast wohnliche Atmosphäre: Auch die Erwachsenen ziehen sich dort zuerst einmal die Schuhe aus und zwischendrin steht hier mal ein Sofa und dort mal ein Schrank usw. Man ist wirklich gerne in diesen Gebäuden. Das ist schon mal das Erste.
Kastan:
Welche Funktion haben denn die Lehrer an einer solchen Schule?
Kahl:
Das sind die Erwachsenen. Und das sind Erwachsene, die möglichst nicht sagen: „Ich muss das jetzt durchnehmen, weil es im Lehrplan steht, denn eigentlich würde ich gerne etwas anderes machen.“ Stattdessen sind das Erwachsene, die sagen: „Das ist jetzt wichtig, das ist interessant!“ Natürlich sagen sie den Kindern auch mal, dass sie bestimmte Sachen jetzt lernen müssen, aber sie stehen mit ihrer ganzen Person viel stärker dafür ein. Ich glaube, das ist ganz wichtig, denn es ist wohl wirklich nur eine gezinkte Karte, die Lehrer den Schülern geben, wenn sie sagen, „Wir müssen das jetzt machen!“, und das an sich gar nicht vertreten und auch nicht dafür einstehen. Viele Deutsche sind ja erstaunt, wenn sie hören, dass in Finnland auf einen Studienplatz für Lehrer je nach Universität zwischen sieben und zehn Bewerber kommen.
Kastan:
Obwohl die Gehälter noch nicht einmal besonders gut sind.
Kahl:
Nein, sie sind sogar deutlich geringer als bei uns. Wenn deren Gehälter höher wären, dann wüssten wir natürlich alle gleich, woran das liegt, oder? Nein, sie sind sogar deutlich geringer als bei uns. Aber der Lehrerberuf ist dort aufgrund seiner Tradition nun einmal sehr angesehen. Dieser Beruf ist auch durch und durch ein Lehrerberuf in dem Sinne, dass der Lehrer oder die Lehrerin eine Person ist, die mit den Kindern und Jugendlichen etwas macht, lernt, arrangiert und ermöglicht. Ein Mensch in diesem Beruf ist nicht jemand, der sagt: „Ich als Historiker muss Ihnen dazu Folgendes sagen…“ Das ist einfach eine andere Einstellung dort.
Kastan:
Der eine oder andere unserer Zuschauer wird jetzt vielleicht denken: „Ja, aber wie ist das dort denn mit der Leistungskontrolle? Irgendwie müssen die Kinder doch auch mal zeigen können, was sie gelernt haben.“
Kahl:
Ja, und das wollen die Kinder doch auch von sich aus.
Kastan:
Wie steht es also mit der Bewertung und der Benotung in Ihrer Schule der Zukunft?
Kahl:
Wir werden doch am Ende unseres Gespräches wissen, ob es ganz gut oder doch nicht so ganz gut gelaufen ist. Und vielleicht wissen wir auch, warum. Wir müssen uns aber nachher keine Noten geben. Ich muss Ihnen nicht sagen: „Sie bekommen von mir als Moderator eine Eins minus oder eine Zwei plus usw.“ Stattdessen könnte ich Ihnen meine Einschätzung mit ganz verschiedenen Worten und Ausdrücken mitteilen. Bei den Zuschauern wird das ähnlich sein. Das heißt, wir brauchen keine Noten, um anschließend bewerten zu können, was wir gemacht haben. Wir machen das im Übrigen ohnehin andauernd: Bereits jetzt, während wir sprechen, überlegen wir uns doch ständig, ob das, was man gesagt hat, auch klar geworden ist, oder ob man unverständlich geblieben ist usw. Dies ist doch eigentlich eine absolute Selbstverständlichkeit.
Kastan:
Sie plädieren also für eine andere Art der Bewertung.
Kahl:
Ja, natürlich.
Kastan:
Also keine von eins bis sechs.
Kahl:
Ich bin für eine Art der Bewertungen, die unvermeidlich ist, die man auch selbst so haben möchte. Vor allem geschieht bei der klassischen Benotung ja oft Folgendes: Wenn man auf die Note spekuliert, dann kommt es leicht vor, dass man das, worum es eigentlich geht, nämlich die Sache selbst, aus den Augen verliert. Wenn uns also jemand nach diesem Gespräch hier eine Note geben würde, dann überlegen wir natürlich schon vor und während des Gesprächs andauernd, wie wir eine gute Note bekommen könnten – und nicht, wie wir ein gutes Gespräch führen. Aber es reicht doch eigentlich, ein gutes Gespräch zu führen.
Kastan:
Inzwischen sollen ja auch Studenten ihre Professoren bewerten und an den Schulen sollen die Schüler ihre Lehrer bewerten.
Kahl:
Sie sollen eine Rückmeldung geben.
Kastan:
Sie würden jedenfalls sagen, dass diese reine Notengebung von eins bis sechs das falsche Kriterium ist.
Kahl:
Ach, man kann das ruhig auch mal in dieser Weise machen – wenn die Note nicht so wichtig ist, wenn sich die Note also nicht verselbständigt. Man kann also durchaus auch mal eine Bewertung in der Weise abgeben, da muss man ja nicht puristisch sein. Aber wenn das Ganze dazu führt, dass man in der Tat für diese „Notenwährung“ lernt und quasi alles in diese „Währung“ ummünzt und die Dinge selbst dadurch entwertet werden, dann hat man sich damit keinen großen Dienst erwiesen. Häufig genug wird das ja tatsächlich immer noch so gemacht, das hat eben auch etwas mit einem bestimmten Menschenbild zu tun, nämlich mit der Vorstellung, dass man glaubt, die Kinder und Jugendlichen würden das freiwillig ja nie lernen, sie würden freiwillig gar nicht gut sein wollen.
Kastan:
Aber ist nicht genau das der Punkt, dass wir alle schon so stark programmiert sind auf Noten? Ich kenne z. B. die These, dass wir bei PISA nicht so gut abgeschnitten haben, weil sich unsere Schüler einfach nicht wirklich anstrengen, wenn es dafür keine Noten gibt. Das hat man jetzt ja auch partiell verändert, aber vor allem beim ersten PISA-Test, der dann so viele Schlagzeilen verursacht hat, kann ich mir vorstellen, dass das so gewesen ist. Ich kann mich daran erinnern, dass auch wir selbst damals solche Prüfungen hatten, bei denen es hieß, es gäbe darauf keine Noten. Und wie haben wir reagiert? Wir sagten uns: „Na, da müssen wir uns nicht groß anstrengen.“
Kahl:
Sehen Sie, das ist doch bereits ein Teil der Verwahrlosung.
Kastan:
Na klar.
Kahl:
Dass man das in so einem Augenblick nicht mehr für wichtig erachtet. Aber ganz konkret dazu eine Anmerkung. Das Max-Planck-Institut hat während der PISA-Studie Folgendes gemacht: Sie haben einem Teil der Schüler gesagt, der Test würde benotet werden, einem anderen Teil, er würde nicht benotet werden. Sie haben einigen gesagt: „Wenn ihr gut seid, dann bekommt ihr zehn Euro!“ Anderen haben sie das jedoch nicht versprochen. Es gab keinerlei Unterschiede in den Ergebnissen.
Kastan:
Das kann also nicht der Grund gewesen sein für das schlechte Abschneiden bei PISA.
Kahl:
Zumindest nicht in dieser Studie. Natürlich sind wir auch manchmal etwas zu schnell Studien-gläubig, aber das sind ja nun wirklich seriöse Leute, die diese Studien gemacht haben.
Kastan:
Wie machen denn die Finnen das mit der Benotung?
Kahl:
In Finnland ist es so, dass es bis zum vierten Schuljahr generell keine Noten gibt. Ab der siebten Klasse muss es Noten geben. In der fünften und sechsten Klasse können die Schulen selbst entscheiden, ob sie Noten geben oder nicht. Dadurch ist jedenfalls schon mal ein wichtiger Grund dafür gelegt, dass die Noten einfach nicht so wichtig sind.
Kastan:
Es gibt also auch dort Noten, aber deren Bedeutung ist eine andere.
Kahl:
Ja, die Bedeutung ist eine andere und diese Bedeutung wird immer noch weiter reduziert.
Kastan:
Aber irgendwann muss doch jemand die Entscheidung fällen: „Du darfst aufs Gymnasium bzw. du darfst auf die Universität nach der Schule!“ Das muss man doch irgendwie an Noten festmachen können.
Kahl:
Ja, schon, aber das ist dort nicht so restriktiv. Sehen Sie, jedes Jahr im September bringt ja die OECD eine neue internationale Bildungsstatistik heraus. In jedem September beginnen in Finnland, und nicht nur in Finnland, denn in Neuseeland, in Kanada, in Schweden sind diese Zahlen ähnlich, 73 Prozent der jungen Leute ein Studium. Da denkt man hier bei uns zuerst einmal, man hätte sich verhört oder das sein Druckfehler. Dort herrscht aber ganz einfach sehr stark im Bildungssystem die Vorstellung: „Wir versuchen so viele wie möglich hochzubringen! Und diejenigen, die das nicht schaffen, sind unsere Sorgenkinder.“ Wir in Deutschland hingegen fragen sehr schnell – so, wie Sie das jetzt auch gefragt haben und wie ich bis vor einiger Zeit möglicherweise auch noch gefragt hätte –, ob wir denn so viele junge Leute an der Universität wirklich brauchen: „Man muss doch darauf achten, wer wirklich ins Gymnasium gehört, wer wirklich studieren soll.“ Wenn die jungen Leute dann bei uns an die Hochschule kommen, dann hören sie in den „härteren“ Fächern zuerst einmal: „50 Prozent von Ihnen gehören nicht hierher! Und spätestens bei der Zwischenprüfung werden Sie das merken!“
Kastan:
Das hat man auch schon zu meiner Zeit immer gesagt.
Kahl:
Und was sind wir? Wir sind Weltmeister bei den Studienabbrechern! Und nun schauen wir auf Länder, in denen das anders ist. Gut, ich gebe zu, in diesen Ländern ist manches ohnehin ganz anders organisiert und deswegen lässt sich das nur schwer vergleichen. In den USA muss z. B. auch eine Krankenschwester studieren. Aber deswegen ist sie dann auch in der Hierarchie im Krankenhaus gegenüber dem Arzt etwas anders positioniert als eine Krankenschwester bei uns. In Australien ist das Ganze sogar modularisiert worden: Wer dort – ich vergröbere das etwas – als Krankenpfleger seinen Bachelor gemacht hat, der kann später weitermachen und Arzt werden. Das System versucht dort also stärker Anschlüsse zu schaffen.
Kastan:
Es will möglichst vielen die Möglichkeit eröffnen, nach oben zu kommen, wenn sie wollen.
Kahl:
Ja, genau so ist es.
Kastan:
Hier in Deutschland gibt es aber teilweise genau die gegenteilige Diskussion: Bei uns wird gesagt, wir müssten stärker auf die Elite setzen.
Kahl:
Ach ja. Wenn Sie hier jemand vom Deutschen Sportbund als Gast sitzen hätten, dann würde der Ihnen doch Folgendes sagen: „Um Spitzensport zu bekommen, müssen wir Breitensport machen! Das ist die beste Investition in den Spitzensport, denn wie soll man denn sonst die Talente finden. Dass außerdem alle ein bisschen sportlich sind und daher gesund bleiben, ist uns auch wichtig.“ Ich idealisiere das jetzt natürlich, aber so ähnlich würde doch jemand aus dem Sportbereich argumentieren. Warum argumentieren wir in der Bildung nicht auch so? Ich glaube, wir haben immer noch sehr viel Misstrauen gegenüber den Menschen, ob sie wirklich gut sind, ob sie nicht vielleicht doch allesamt nur Schummler sind. Das betrifft aber nicht nur den Bildungsbereich, sondern viele andere Bereiche auch. Bei uns herrscht jedenfalls im Bildungsbereich immer noch das Misstrauen, ob an unseren Schulen nicht möglicherweise 50 Prozent blinde Passagiere mitreisen, die wir finden und rauswerfen müssen. Eine bestimmte Zahl macht das sehr deutlich. Das amerikanische Meinungsforschungsinstitut Gallup hat in, wenn ich mich nicht täusche, 40 Ländern Menschen eine Liste von 19 Institutionen vorgelegt und zu ihnen gesagt, sie sollten doch bitte ankreuzen, welche Institution diejenige ihres größten Vertrauens ist. International wird dabei immer an erster Stelle die jeweilige Bildungsinstitution genannt. In Deutschland liegen die Bildungsinstitutionen jedoch auf dem 13. Platz.