DIE WELT Lern-Bulimie

Wenn Sie den vollen Text lesen wollen, klicken Sie bitte hier:
Beitrag als PDF Dokument

DIE WELT 16. Februar 2008 Zur Debatte über die Gymnasialzeit

Lern-Bulimie
Von Reinhard Kahl

Wiederholt sich im Streit um das auf acht Jahre verkürzte Gymnasium bloß der alte Kampf zwischen Schmusekurs und Realismus in Sachen Bildung? Nein. Es geht auch nicht nur darum, ob Schüler, die zum Gymnasium gehen, insgesamt zwölf oder 13 Jahren Zeit zum Lernen haben sollen oder wie früh sie zum Weltmarkt der Arbeitskräfte starten. Das Thema hinter dem Thema der jüngsten öffentlichen Erregung ist, wie gelernt werden soll. Und dieses Wie kommt nun mal vor jedem Was und erst recht vor dem Maß wie viel in Lehrplänen steht. Das Problem, das im G 8 Gymnasium nun einen Namen bekommen hat, ist die grassierende Lern-Bulimie in den Schulen. Dieses Memorieren und Vergessen. Der Mangel an Nachhaltigkeit. Unerträglich ist das häufig bloß taktische Lernen, das gar nicht in das Langzeitgedächtnis eindringt, also die Person nicht prägt. Dieses Wisch und Weg ist ohnehin eine Erbsünde unserer Schulen und wird jetzt unter der Kompression des Stoffes von 9 Jahren Gymnasium auf acht Jahre weiter gesteigert. Aber Kinder sind ,,keine Fässer, die gefüllt, sondern Fackeln, die entzündet werden wollen.“ Diese Unterscheidung wird bereits dem antiken Philosophen Heraklid zugeschrieben. Verbürgt ist der Satz beim Dichter Francoise Rabelais, ein Renaissancemensch, der auch Arzt und Priester war. Derzeit wird das schöne Zitat in Schulen und Kindergärten in Baden-Württemberg plakatiert. Es ist die Parole einer interessanten pädagogischen Innovation. Dort beginnt nämlich im Schatten solcher Aufregungen wie G 8 ein ganz erstaunliches Modell, das Bildungshaus für Kinder von 3 bis 10. Kindergärten und Grundschulen sollen mit gemeinsamen Veranstaltungen kooperieren und dabei langsam zusammen wachsen. Es geht um dieses alte, neue Bild des Lernens, bei dem unterstellt wird, dass es für Kinder und Jugendliche eine Vorfreude auf sie selbst ist. Es gilt Lernen als das große Projekt des eigenen Lebens zu kultivieren. Es ist ein Skandal, wenn heute Legionen von Abiturienten die Schulen verlassen, wie Landsknechte eine aufgelöste Armee. Der Überdruss vieler Eltern und Lehrer, vor allem die Gleichgültigkeit der meisten Schüler am recht wirkungslosen Stopfen und die neuen Ideen für das Bildungshaus, das Spielen und Lernen, Forschen und Handeln zusammen bringt, sollten eine Schnittfläche finden! Erst mal in den Debatten und dann auch in der Wirklichkeit. Es geht um den Übergang von einer Industriegesellschaft, in der die meisten Mensch bloß Gelerntes reproduzierten sollten, zu einer Wissensgesellschaft, in der Ideen zu haben und etwas zu wollen einfach ein Sachzwang wird.