taz Wir können auch anders (zu Rütli & Co.)

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Wir können auch anders

Siehe Bodensee-Schule. Kein Lehrer hier verteidigt das deutsche System. Trotzdem machten sie aus ihrer Schule das Beste

VON REINHARD KAHL

Zunächst muss man wohl immer wieder klarstellen, dass die Lehrer der Rütli-Schule weder Polizeischutz angefordert noch ihre Schließung verlangt haben. Sie klagen „eine neue Schulform“ ein. Vielleicht sollte man das Wort Form endlich ernst nehmen. Zum Beispiel so: Es ist noch keine acht Uhr. Der Lehrer ist morgens als Erster in der Klasse. Wie ein Gastgeber bereitet er den Raum vor. Die meisten Schüler kommen ebenfalls vor Unterrichtsbeginn. Sie holen ihr Material aus den üppig bestückten Regalen und legen los. Einfach so, ohne Klingelzeichen, als wäre das Lernen ihre ureigene Sache.

Jeder Schüler macht etwas anderes. Der eine Geometrie, die andere schreibt, dort wird irgendetwas besprochen. Man traut seinen Augen nicht. Eine Idylle? Nein, wir sind in einer Schule. Nicht in Finnland, sondern in der Bodensee-Schule in Friedrichshafen. Eine katholische Grund- und Hauptschule, an der die Hälfte der Schüler in einer eigens oben aufgesetzten 10. Klasse, der „Werkrealschule,“ den Realschulabschluss schafft.

Gehen wir wieder in den Unterricht. Es ist eine siebte Klasse. Die Schüler in der Pubertät. Das sei eigentlich der Tiefpunkt, hört man überall, 7. Klasse Hauptschule, oh je. Aber vom pädagogischen Lazarett ist hier nichts zu spüren. Woran liegt das? Die Fächer wurden abgeschafft. An ihre Stelle treten Freiarbeit, vernetzter Unterricht und Projekte. Jeden Morgen drei Stunden Freie Arbeit in dieser schier unglaublichen Atmosphäre.

Die Grundschule beginnt hier „jahrgangsübergreifend“. In einer Klasse sind Kinder aus dem ersten, zweiten und dritten Schuljahr. Diese Mischung soll gar nicht erst die Illusion aufkommen lassen, die Kinder ließen sich alle auf den gleichen Stand bringen, um dann im Gleichschritt voranzumarschieren. Und das alles mündet dann in einer Hauptschule? Es gibt an der Bodensee-Schule wohl keinen Lehrer, der das zergliederte deutsche Schulsystem verteidigt. Aber das hat sie nicht dran gehindert, ihre Schule so gut wie möglich zu machen. Viele Eltern schicken ihre Kinder nach der vierten Klasse dennoch ins Gymnasium. Darunter leidet die Schule. Aber es ist ihr gelungen, eine Kultur zu entwickeln, in der das Stigma, Hauptschüler zu sein, gering ist.

Gewiss, die Bodensee-Schule hat als vom Staat finanzierte katholische Schule seit 30 Jahren einen größeren Spielraum, ihre eigene Pädagogik zu erfinden. Sie hat bereits viele Schulen, gerade im Südwesten angesteckt. Aber das Entscheidende ist, dass sie diesen Spielraum nutzt.

Am Wochenende sprachen bei einem Pädagogenworkshop in Wiesbaden auch die beiden so mutigen wie erfolgreichen Schulleiterinnen Enja Riegel und Ulrike Kegler. Enja Riegel hat die dortige Helene-Lange-Schule zu einer Schule gemacht, die mit viel Projektarbeit und wochenlangen Theaterspielen dennoch oder gerade deshalb beste Pisa-Ergebnisse einfuhr. Ulrike Kegler ist im Potsdamer Plattenbau ein ähnliches Kunststück gelungen. Beide konnten berichten, dass sie beim Umbau der Schule zum Lebensort für Schüler und Lehrer nie ernsthaft von Behörden gehindert wurden, was viele LehrerInnen viel lieber gehört hätten. Die Neigung lieber Opfergemeinschaften zu bilden, als sich endlich auf zu machen, ist bei deutschen Pädagogen noch verbreitet. Aber wer wollte jetzt nach der Rütli-Eruption ein Lehrerkollegium ernstlich daran hindern, erwachsen zu werden?

Das wäre der Rütlischwur der Pädagogen: Sich das Recht zu nehmen, für ihre Schule den richtigen Weg zu finden. Solche erwachsen gewordenen Schulen fragen nicht mehr, was dürfen wir, sie finden heraus, was sie wollen. Natürlich gehört zu dieser Selbstständigkeit, dass sie ihre Arbeit öffentlich verantworten. Der Staat hätte die Pflicht zur Evaluation. Über Maßstäbe für gelungene Schulen wäre zu streiten, und die Politik hätte diese dann zu definieren. Aber diejenigen, die Schule machen, müssen souverän werden – von innen und von außen!

Immer mehr Lehrer und Eltern bauen das Schulsystem längst um. Nehmen wir Hamburg. Hier geht ein halbes Duzend freier, privater Bürgerschulen an den Start, und mindestens ebenso viele staatliche Schulen tun mit. Sie fangen alle mit jahrgangsübergreifenden Klassen an und kommen nicht auf die Idee Schüler nach der vierten oder sechsten Klasse in Hauptschüler oder Gymnasiasten einzuteilen. Ihr Programm in einem Satz: nicht mehr Fächer, sondern Schüler unterrichten.

In der Max-Brauer-Schule im Stadtteil Altona, wo viele Migrantenfamilien leben, hat eine Lehrergruppe über Jahre ihre „Traumschule“ konzipiert. Nach den vergangenen Sommerferien wurden für die Schüler der fünften Klassen Lernbüros eingerichtet, in denen jeder morgens an etwas anderem arbeitet: Mathe, Schreiben, Lesen. Die Lehrpläne wurden in „Kompetenzraster“ umformuliert. Darüber sprechen die Lehrer – teaching by walking around – mit ihren Schülern und sagen stolz: Nie mehr Dompteur sein! Neben Lernbüros gibt es Projekte zum Beispiel in Naturwissenschaften. Eine dritte Säule neu entworfenen Schule sind Werkstätten für musische Fächer.

Am Anfang fürchteten auch die reformfreudigsten unter den Pädagogen, ihre Schüler würden so lange Zeitintervalle vielleicht gar nicht durchhalten. Im Lernbüro arbeiten Elfjährige nun morgens zwei Stunden selbstständig. Dann machen sie sich an Projekte, mit einem Thema, das über Wochen läuft. Aber schon nach kurzer Zeit kam die Überraschung. Die Stunden reichen ihnen nicht. Die Schüler wollen mehr. Und auch die Lehrer gehen später und zufriedener, wenn auch manchmal erschöpft nach Hause. Aber sie sind nicht mehr so genervt und kaum noch, wie sonst so häufig, leer mangels Resonanz.

Ein anderes Beispiel für eine Schule, die sich ihre Biografie selbst erfunden hat, ist in Berlin Kreuzberg die Freiligrath-Schule. Bereits Ende der 80er-Jahre lag sie so erschöpft am Boden, wie heute die Rütli-Schule und viele andere. Nichts schien mehr zu gehen. Verweigerung und Zerstörungen, mehr Waffen als Bücher wurden damals an der Schule gezählt. Heute gehört sie zu den interessantesten in Deutschland. Künstler, Handwerker, Artisten, auch Schriftsteller und Computerfachleute wurden an diese Schule geholt. Man nennt sie die „Dritten“. Sie verbreiten Lust am Handeln, Vertrauen, sich etwas zutrauen und die Bereitschaft, sich zu exponieren.

Auch der Spreewaldschule, einer Grundschule im Schöneberger Kietz, ist eine ähnliche Verwandlung gelungen. Zusammen mit Schauspielern haben die Lehrer hier eine „Kulturschule“ aufgebaut und dadurch auch wieder eine Schülermischung zurückgewonnen. Waren in den ersten Klassen über Jahre ausschließlich Migrantenkinder, so ist die Schule jetzt wieder so attraktiv für deutsche Familien, dass diese die Hälfte bei Schulanfängern stellen.

taz Nr. 7938 vom 3.4.2006, Seite 3, 185 TAZ-Bericht REINHARD KAHL

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