PS 3 2004 Panisch – depressiv

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PÄDAGOGIK – P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

Panisch-depressiv

Nach dem Jahr der Einsparungen und Zuzahlungen soll das nun schon in die Wochen gekommene Jahr eines der Innovation und der weltmeisterlichen Spitzenleistung werden. Potz Blitz! Aber was ist das eigentlich, Innovation? Das autistische Wort soll funkeln. Ein Zauberstab in der Hand des Kapitäns auf dem Dampfer Germania, der orientierungslos vor sich hin schrödert. Und da tönt es von der Brücke: »Brain up! Deutschland sucht seine Spitzenuniversitäten.« Hört sich nach Appell an und so ist es wohl auch gemeint. Eine Mischung aus Kasernenhof und Casting, aus Planwirtschaft und New Economy.

Manisch?

Die Kampagne hat etwas manisch-depressives. Deutsche Hochschulen überbieten unsere Schulen bei weitem auf der Verwahrlosungsskala. Nun gesteht man die Misere ein, versteigt sich gleich zum Bekenntnis zur Elite, ohne zu klären, was damit gemeint ist, und schiebt flugs die an Realsatire erinnernde Kampagne nach. »Brain up!« Mit diesem Trick gibt es sie plötzlich, die eben noch zu Recht vermissten Spitzenunis. Man muss sie nur noch aussuchen, exakt: Sie müssen Anträge stellen. Das erinnert an einen Staatsratbeschluss der untergegangenen DDR, die auch mit Fünfjahresplänen zum Erreichen des Weltniveaus nicht geizte. Sollte man also diese neueste Münchhausiade nicht lieber panisch-depressiv nennen?

Und schon beginnt das Schaulaufen der Unis. Sie werden sich schminken, PR-Agenturen engagieren und in Hochglanzbroschüren investieren. Der Hamburger Uni-Präsident schlägt vor, sein Haus solle mit der Technischen Universität Hamburg Harburg und vielleicht mit der Kunsthochschule fusionieren, um sich so für die ausgeschriebene Elite zu stärken. Genau das Gegenteil ist richtig. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem Physiker Günther Danielmeyer Mitte der 80er Jahre. Er war Gründungspräsident jener Technischen Universität Harburg. Seine Grundidee war, die TU solle übersichtlich sein. Wenn der Bedarf an Studienplätzen steige, dann lieber eine zweite TU daneben setzen. Wenigstens 15 Prozent ihrer Zeit sollte den Wissenschaftlern für Informelles bleiben. Es müsste sich einfach ergeben, dass ein Maschinenbauer zufällig einen Biochemiker trifft. So bekommen nicht planbare Kreuzungen der Ideen und Probleme des einen mit den Nöten und Überschüssen des anderen eine Chance. Die Hochschule also ein Treibhaus für geistige Mutationen und ein Kloster für deren Prüfung. Danielmeyers wesentliche Lektion nach Aufenthalten in Universitäten der USA war, sie dürfen nicht riesig sein. Mehr noch als mit Geld werden sie üppig mit Raum und Zeit ausgestattet. Damit sind nicht nur Räume gemeint, die in Quadratmetern zu messen sind. Man hat sie sich eher wie Biotope vorzustellen. Geschützte Nischen gewähren Zeit für Entwicklungen, bis sie irgendwann, nicht zu früh, das unerbittliche Licht der Öffentlichkeit erreicht. Vorher gibt es allerdings den freundlichen Blick von Nachbarn. In solchen Klimaräumen muss so verschwenderisch mit Möglichkeiten gespielt werden können, wie es die Natur in der Evolution vorgemacht hat.

Aufmerksam!

Hans-Jörg Rheinberger, Direktor am Max-Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, zoomt an das Thema Innovation ganz nah heran. Wie ein Archäologe durchforscht er die Disziplinen daraufhin, wie Neues entstanden ist und fand, dass die entscheidenden Entdeckungen gewöhnlich nicht gesucht worden waren. Man stieß auf sie, während man etwas anderes ergründen wollte. Allerdings garantiert absichtloses Forschen den Königsweg so wenig wie die Trimmung auf ein Ziel. Der Blick muss auf Ziele fokussiert sein und zugleich der frei schwebenden Aufmerksamkeit die Kapazität lassen, damit sie anderes als das Gesuchte wahrnehmen kann. In seinem Buch über die Entdeckung der Proteinsynthese* zeigt Rheinberger, wie in einem Labor am Massachusetts General Hospital in Boston nicht zuletzt Abweichungen, die an künstlerische Verfahren erinnern, zum Erfolg beigetragen haben.

Missverständnis

Das Neue kommt als Unvorhergesehenes zur Welt, das sich weder im Rahmen eines theoretischen Systems noch als experimentelle Notwendigkeit prognostizieren lässt. Rheinberger seziert heraus, dass die Mutter aller Innovation das Missverständnis ist: »Wir gehen nie weiter, als wenn wir uns missverstehen. Das Differential des Missens ist dasjenige, was bewirkt, dass es sozusagen haarscharf daneben gehen kann. In diesem haarscharfen Spalt tut sich ab und zu etwas Neues auf. Darauf beruht ja auch das wissenschaftliche Probehandeln, die Mächtigkeit des Modells: Es ist nicht mächtig, weil es passt, sondern dadurch, dass es etwas zu wünschen übrig lässt.« Der Biologe und Nobelpreisträger Francoise Jacob nannte Labore, denen das gelingt, »Maschinen zur Herstellung von Zukunft«.

P. S.

Was ist Zukunft? Hilfreich ist die japanische Tradition, die dafür gar kein Wort hatte. Zukunft war vielmehr die Lücke, die man in der Gegenwart lässt. Dort nistet sich gewissermaßen Zukunft ein. Eine, die man plant, oder schon zu kennen meint, ist keine. Unter dieser falschen Flagge wird Zukunft vielmehr vernichtet. Man möchte deshalb den Fetischisten von Innovation und Zukunft einen Satz von Schopenhauer hinterher rufen: »Alle arbeiten sie für die Zukunft, dieser opfern sie ihr Daseyn; und die Zukunft macht Bankrott.«

P.P.S.

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: Kahl-Lob.des.Fehlers@gmx.de

 

* Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Wallstein-Verlag, Göttingen