4. JUNI 2004 Labor der MöglichkeitenSeinen Film über „Schulen, die gelingen“, hat Reinhard Kahl „Treibhäuser der Zukunft“ genannt. Wie weit sind Schulen und Ganztagsschulen von dieser Vision entfernt, und was muss getan werden, um ihr nahe zu kommen? Auf der Tagung „Zukunftswerkstatt Ganztagsschule“ des Hessischen Landesinstituts für Pädagogik am 27. und 28. Mai in Fuldatal versuchten Lehrerinnen und Lehrer, Antworten darauf zu finden.Noch heute erreichen Helga Artelt beim Hessischen Landesinstitut für Pädagogik fünf bis zehn Anfragen nach dem Film „Treibhäuser der Zukunft“, der auf der Startkonferenz zum Investitiomsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ am 8. September 2003 in Berlin aufgeführt wurde und eigentlich nur eine vorläufige Fassung darstellte. Mit den 30 Minuten erreichte der Filmautor Reinhard Kahl vermutlich mehr, als es Hunderte Seiten Gedrucktes gekonnt hätten. Die Bilder von in Deutschland bereits gelingenden Ganztagsschulen beeindruckten die Zuschauer sehr. Inzwischen liegt der Film in der vollständigen Fassung vor und soll am 1. Juli der Öffentlichkeit in Berlin vorgestellt werden. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der zweitägigen Tagung „Zukunftswerkstatt Ganztagsschule“ in der Reinhardswaldschule im hessischen Fuldatal konnten das nun knapp zweistündige Werk bereits jetzt zu Beginn der Veranstaltung ansehen. Die Aula der Tagungsstätte verwandelte sich für 120 Minuten in einen Kinosaal. Die Aula der Reinhardswaldschule Die internationalen Beispiele aus der Kurzfassung hat Kahl entfernt; in der neuen Fassung sind die Beispielschulen aus Deutschland ausführlich dargestellt. Denn darauf kommt es dem Bildungsjournalisten an: Zu zeigen, dass es bereits hier zu Lande Schulen gibt, die gelingen, und man danach nicht lange im Ausland suchen muss. Mit seinen Bildern erhofft sich Kahl eine „Subversion der Schullandschaft“ und einen „Sog, Dinge anders zu machen“, denn: „Analysiert und kritisiert ist inzwischen alles“, wie er vor Vorstellungsbeginn erklärt. Sprachlosigkeit nach der Filmvorführung Die rund 70 Anwesenden bedenken den Film mit Applaus und überschütten ihn mit Lob. Trotz der Länge hat „Treibhäuser der Zukunft“ nichts von seiner Überzeugungskraft eingebüßt, wie sich zeigt. Aber: „Der Film macht einen erst mal sprachlos“, meint Bernhard Schmidt, Lehrer an einer Integrierten Gesamtschule. „Man sieht, wie weit man von denen im Film gezeigten Beispielen noch entfernt ist.“ Aus dem Plenum kommt die sarkastische Frage, ob sich denn auch Politiker schon mal „Treibhäuser der Zukunft“ angesehen haben. Reinhard Kahl nimmt das zum Anlass, die Anwesenden zu ermahnen, nicht immer „anderen die Schuld zu geben“: „Entscheidender ist es, was Sie als Lehrer in den Schulen machen, dass Sie entdecken, was Sie tun sollen und was auch für Sie wichtig ist.“ Ganz widerspruchslos bleibt das nicht: „Wenn Sie wüssten, mit welchen Widerständen wir zu kämpfen haben“, klagt eine Teilnehmerin über die Mühlen der Bildungsbürokratie. Dass der Film „Lust auf Veränderung“ macht, ist aber Konsens. Allerdings wird der Wunsch laut, nicht nur die gelungenen Endprodukte eines Werdensprozesses zu sehen, sondern den Weg dahin und möglichst noch die Anfänge, denn viele der Schulvertreterinnen und Schulvertreter stehen noch an diesem Punkt. Um diesen Pädagogen praktische Anregungen und Hilfestellungen zu geben, sind neben Reinhard Kahl auch Vertreterinnen und Vertreter der im Film vorgestellten Schulen nach Fuldatal eingeladen worden: Karin Bossaller von der Bremer Grundschule Borchshöhe, Dagmar Gottschall und Juliane Stutz von der Jenaplan-Schule in Jena sowie Albert Hinz von der Bodensee-Schule in Friedrichshafen. Prozess muss in den Schulen beginnen Einsichten, die sich aus der Vorstellung ergeben, werden in einer ersten Diskussionsrunde mit diesen fünf Referentinnen und Referenten erläutert: Mit lediglich freiwilligen Angeboten am Nachmittag kann der Tag nicht rhythmisiert werden, wie es für eine „richtige“ Ganztagsschule notwendig wäre. Der im 45 Minuten-Takt am Vormittag absolvierte „Osterhasen-Unterricht“, wie die Kognitionspsychologin Elsbeth Stern vom Max Planck-Institut für Bildungsforschung das schematische Herantasten der Schüler an das vom Lehrer „versteckte“ Wissen nennt, wird so nicht aufgebrochen. Dennoch können auch solche kleinen Schritte Befriedigung bringen, wie eine Teilnehmerin meint. Es reicht schon, statt 45 Minuten 90 Minuten-Blöcke zu bilden, wie Ralph Meist nach einem Besuch an der Europa-Schule in Kerpen berichtet. Einen Anstoß aus dem Film, den alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer als „entscheidenden Schritt“ ansehen, ist das jahrgangsübergreifende Lernen. Viele wollen versuchen es zu initiieren, wenn sie in ihre Schulen zurückgekehrt sind. „Der Prozess muss in den Schulen beginnen“, mahnt Reinhard Kahl, „und er gelingt nur mit einer Selbstbespiegelung.“ Doch ohne Hilfestellung von außen fühlen sich viele Schulleitungen und Lehrkörper überfordert. Ganztagsschulen und Schulen zu unterstützen, die ganztägige Angebote erst noch planen, ist das Ziel des Hessischen Landesinstituts für Pädagogik, dem Veranstalter. „Wir haben dafür allerdings nur 1,37 Stellen bewilligt bekommen“, schränkt Tagungsleiter Horst Kuhley ein, „und bitten daher um Verständnis, wenn das Beantworten von Fragen etwas länger dauert.“ Insofern ist die „Zukunftswerkstatt Ganztagsschule“ ein großer Schritt nach vorn, denn hier können gleich die Anwesende alle ihre Fragen loswerden und Probleme diskutieren. Warnung vor dem Einzelkämpfertum Die dringlichste Frage ist die nach den ersten Schritten auf dem Ganztagsweg. Referentin Karin Bossaller, an deren Grundschule Borchshöhe das Ganztagsangebot seit Beginn des Schuljahrs besteht, kann aus eigener Erfahrung berichten: „Sie müssen die Eltern auf ihre Seite bekommen. Gehen Sie dabei auch offensiv vor und machen deutlich, um wie viel besser das Angebot für die Kinder wird. Dazu brauchen Sie natürlich ein engagiertes Kollegium.“ Dagmar Gottschall von der Jenaplan-Schule ergänzt: „Die Kollegen müssen erkennen, dass eine Ganztagsschule ihnen Möglichkeiten eröffnet, das zu machen, was sie schon immer tun wollten, und etwas auszuprobieren.“ Es sind die Menschen, welche die Atmosphäre einer Ganztagsschule bestimmen, stellt Reinhard Kahl fest. Das wird nirgends so offensichtlich wie bei Alfred Hinz, dem Leiter der Bodensee-Schule. Mit seiner bodenständigen Art und den lockeren Sprüchen begeistert der Ruhrpöttler, den es vor 30 Jahren nach Friedrichshafen verschlagen hat, das Plenum bereits von der Leinwand aus und ermuntert auch in den darauffolgenden Stunden mit seinen Beiträgen immer wieder die Anwesenden. „Eine Ganztagsschule bietet einen riesigen Freiraum auch für Lehrer“, wirbt er. Aber er mahnt auch: „Holen Sie die Eltern sofort ins Boot und versuchen Sie auf keinen Fall als Einzelkämpfer die Ganztagsschule in ihrer Schule durchzudrücken. Sie machen sich dabei kaputt.“ In der Grundschule Borchshöhe ist man schon einen Schritt weiter und das Einzelkämpfertum gehört der Vergangenheit an. In einer der Arbeitsgruppen am Nachmittag erläutert Karin Bossaller, dass die Gruppen an ihrer Schule – Klassen sind abgeschafft worden – immer von zwei Pädagoginnen betreut werden. Die gebürtige Schwedin, die sich viele pädagogische Anregungen aus ihrer alten Heimat holt, meint: „Im Team können Lehrer flexibler reagieren und gemeinsame Handlungskonzepte entwickeln.“ Daher treffen sich auch alle so genannten Mentoren – also Lehrerinnen und Erzieherinnen – im Pausenraum und können sich so immer wieder besprechen. „Ein gemeinsames Konzept und Verhalten entlastet den Einzelnen“, so Bossaller. Ausbildung zu Problemlösern und Ideenfindern Den zweiten Tag eröffnet wiederum Reinhard Kahl, diesmal mit einem Referat, das wie der Film als Impuls für Diskussionen genutzt werden soll. In den Schulen müsse ein Grundrhythmus des „Ihr seid gut, ihr seid begehrt“ geschaffen werden statt der manchmal vorhandenen Misanthropie, die der Hamburger am Beispiel eines Lehrers in seiner Stadt beklagt: „Der darf ungehindert zu seinen Schülern sagen: Ihr seid der Rotz an meinem Ärmel.“ Dazu ständig das Gefühl, die falschen Schüler zu haben und „blinde Passagiere“ aussortieren zu müssen. „Das ist ein deutscher Wahn“, klagt Kahl und provoziert: „Wir sind Weltmeister im Müll- und Schülersortieren.“ Kein Wunder, dass heutzutage Schülerinnen und Schüler nach 13 Jahren aus den Schulen kämen wie „Landsknechte aus einer aufgelösten Armee“. Und in diesen 13 Jahren hätten sie lediglich das „Bulimie-Lernen“ im sechswöchigen Testrhythmus verinnerlicht – aber nicht wirklich etwas gelernt oder ihre Persönlichkeit gebildet. Reinhard Kahl bei seinem Impulsreferat Statt dessen müssten Schulen zu „gut klimatisierten Treibhäusern“ werden, zu einem „enormen Labor der Möglichkeiten“, das nicht nach einmaligem Scheitern sofort aufgegeben werden dürfe: „Wer noch keinen Fehler gemacht hat, hat auch nichts gewagt.“ In diesen Laboren müssten die Menschen als Problemlöser und Ideenfinder ausgebildet werden, ohne die eine Wissensgesellschaft nicht bestehen könne. Neben den Lehrerinnen und Lehrern seien dabei auch Raum und Zeit entscheidende Pädagogen. Das Fehlen der Pädagogik in der Ausbildung beklagt nicht nur der Journalist in seinem Vortrag – „Die Lehrer werden um ihre Ausbildung betrogen“. Auch Christoph Peuser von der Westerwaldschule fordert in der anschließenden Diskussionsrunde, die „Kompetenzen und Ressourcen von Jugendhilfe an den Schulen zu bündeln und den Horizont der Lehrer auf das Sozialpädagogische“ zu erweitern. Positive Sogwirkung des Ganztags Doch vor dem zweiten Schritt muss erst einmal der erste gemacht werden – und da drückt der Schuh ganz gewaltig, wie sich in einer mittäglichen Arbeitsgruppe zeigt, in denen die Vertreterinnen einzelner Schulformen ihre speziellen Probleme diskutieren. Denn viele, die in Projektgruppen die Einführung der ganztägigen Angebote organisieren sollen, fühlen sich eben doch oft als Einzelkämpferinnen und -kämpfer: „Ständig hört man aus dem Kollegium: Das wird sowieso nichts. Und ausgerechnet die meist älteren Kollegen, die keinen Deut mehr machen, als sie müssen, verwahren sich gegen vermeintliche Mehrarbeit.“ Der Tipp einer Lehrerin, an deren Schule man bereits einen Schritt weiter ist: „Rechnen Sie offen vor, dass sich die Arbeitszeit für diese Kollegen nicht verlängert. Machen Sie das ganz deutlich!“ Gut sei es auch, zunächst nur mit den fünften und sechsten Klassen zu starten und den Ganztag dann langsam „hochwachsen“ zu lassen. „In fünf Jahren sind die meisten Ganztagsgegner in Pension, und bis dahin sind wir von der positiven Sogwirkung des Ganztages überzeugt.“ Die abschließende Diskussionsrunde In Sachen Betreuung kommt der Hinweis, dass Eltern sich gerne im Unterricht engagieren, wenn man sie darum bittet. Hier hat ein Teilnehmer bereits positive Erfahrungen gesammelt. Bei der Hausaufgabenbetreuung empfehle sich ein Rotationssystem unter der Lehrerschaft. Durch das Bilden von Jahrgangsteams innerhalb des Kollegiums spare man zudem viel unnötige Mehrarbeit. Die Schlussdiskussion in großer Runde steht unter einer einfachen Frage: „Was nehme ich von dieser Tagung mit?“ Neben dem jahrgangsübergreifenden Lernen möchten sich die Lehrerinnen und Lehrer an der Freiarbeit versuchen, die an der Bodensee-Schule so überzeugend funktioniert. „Ich werde am Dienstag gelassener in die Schule gehen“, meint ein Lehrer. Bernard Schmidt, der nach dem Film zunächst „sprachlos“ war, verkündet nun: „Ich freue mich richtig, am Dienstag wieder in die Schule zu kommen und meinen Kollegen von dem zu erzählen, was ich hier erfahren habe.“ Alfred Hinz schließlich fasst die Dynamik und den Impuls der Veranstaltung für die zukünftige Arbeit an den Schulen zusammen: „Ich habe ein gutes Gefühl.“ Ende des Inhalts | Beginn der MarginalspalteLINKSHessisches Landesinstitut für Pädagogik Bildungsserver Hessen Reinhardswaldschule Ein Gespräch mit Reinhard Kahl Reinhard Kahls Kurzfilm „Treibhäuser der Zukunft“ Gute Beispiele | |
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