Frontalunterricht so beliebt wie Zahnarztbesuch

WESTDEUTSCHER ZEITUNG 14. 12. 2004

 

KREFELD

 

 

Frontalunterricht so beliebt wie Zahnarztbesuch

 

Krefelder Lehrer sind begeistert von dem Film „Treibhäuser der Zukunft wie in Deutschland Schulen gelingen“, der am Sonntag im Cinemaxx lief.


Krefeld. Das deutsche Bildungssystem, darüber ist man sich hierzulande spätestens seit den zwei Pisa-Studien weitgehend einig, steckt in einer tiefen Krise. Frustrierte Lehrer und lustlose Schüler bestimmen vielerorts das Bild in den Klassenräumen. Die „Belehrungsschule“, so nennt der Journalist Reinhard Kahl den klassischen Frontalunterricht im 45-Minuten-Rhythmus, sei beim Nachwuchs ähnlich beliebt wie ein Zahnarztbesuch. „Hitzefrei ist die beste Nachricht.“ In seinem Film „Treibhäuser der Zukunft wie in Deutschland Schulen gelingen“ zeigt Kahl, dass und wie es auch anders gehen kann. In der rund zweistündigen Dokumentation, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde, stellt der Autor eine Auswahl vorbildlicher Ganztagsschulen aus ganz Deutschland vor, lässt Schüler und Lehrer, Eltern und Bildungsexperten zu Wort kommen.

Am Sonntag lief der Film bundesweit in 31 Kinos, darunter auch im Krefelder Cinemaxx. Beim Publikum kam die Vorführung gut an: „Ausgezeichnet“, kommentierte die ehemalige Lehrerin Sigrid Bohlmann den Film, „er müsste zur Pflichtlektüre für alle Lehrer werden“.

Ganz gleich ob in Bremen oder Bayern in den Schulen, die Kahl vorstellt, gibt es keine Spuren von „Osterhasenpädagogik“, wie Elsbeth Stern vom Max-Planck-Institut den in Deutschland üblichen „fragend entwickelten Unterricht“ tauft. Die Lehrer versuchen nicht, das Wissen zu verstecken und die Schüler zum Suchen zu animieren. Denn in den „gelungenen“ Schulen geht es nicht darum, dass „jeder Schüler im gleichen Tempo, in den gleichen kleinen Schritten, den gleichen Weg zurücklegt“.

An Schulen wie der Jena-Plan-Schule wird die Tatsache, dass jeder Schüler unterschiedliche Interessen hat und unterschiedlich begabt ist, nicht nur als selbstverständlich angesehen, sondern auch ganz bewusst zum Wohl der Kinder genutzt. „Schüler mit unterschiedlichen Stärken regen sich an“, hat Schulleiterin Gisela John festgestellt.Und auch der Rektor der Bodensee Schule in Friedrichshafen, Alfred Hinz, betont: „Wir haben kapiert, dass jedes Kind einmalig ist. Da kann man doch keinen Einheitsbrei drüber gießen.“ Die Bodensee Schule ist seit 1971 Ganztagsschule. Sie hat die klassischen Fächer abgeschafft. Schüler der Klassen eins bis drei werden gemeinsam in Familienklassen unterrichtet, und in den ersten Jahren gibt es keine Noten. Das Ergebnis: Selbst in der siebten Klasse der Hauptschule arbeiten die Schüler in Ruhe, sind konzentriert und sagen: „Es macht Spaß, dass wir aussuchen können, was wir lernen wollen.“

Laut Ulrike Kegler, Schulleiterin der Montessori-Gesamtschule Potsdam, sei auch eine respektvolle Lernumgebung essenziell wichtig: „Die Schüler können nicht lernen, wenn sie das Gefühl haben, jederzeit ausgelacht werden zu können.“

Damit die Deutschen Schulen von Orten der Belehrung zu Orten des Verstehens und des Aufwachsens werden, zu Plätzen, an denen Freizeit und Lernen fließend ineinander übergehen dafür müssen laut Kahls Dokumentation auch heilige Kühe geschlachtet werden. Sei es die 45-minütige Schulstunde, oder das Privileg der Lehrer, nur einen Teil ihrer Arbeitszeit in der Schule zu verbringen.

Bernhard Bueb, Leiter des Internats Salem, befürchtet daher: „Die Hauptfeinde der Ganztagsschule sind die Lehrer.“ Und ein weiteres Problem hat Jürgen Kluge von McKinsey erkannt: „Bildung braucht 20 Jahre Vorlauf und dieser Zeithorizont ist größer, als der, in dem die meisten Politiker denken und wiedergewählt werden.“

Weitere Informationen finden Sie zum Thema im Internet.

·  www.ganztagsschulen.org

14.12.04
Von Carsten Icks

 Krefeld