NDR 4 Forum Pisa zum Zweiten

Reinhard Kahl

Pisa zum zweiten

Oder warum deutsche Schulen nur mittelmäßig sind

Eine Sendung von Reinhard Kahl

Autor

Sprecher eher informativ

Zitator männlich
Zitatorin
Zitator / jugendlich, männlich:

 

 

Autor

Ein Grundschullehrer in Ahrensburg bei Hamburg fällt über einen seiner Schüler das Urteil:

Zitator

Andreas ist nicht für das Gymnasium geeignet.

„Das ist kein Gym-Kind!“

Autor

Darin war sich der Lehrer ganz sicher. Kein Gym Kind. Und diese Geschichte wäre schon zu Ende, beziehungsweise eine von Hunderttausenden ähnlicher Schulgeschichten, die vom frühen Versagen, von Beschämung und Entmutigung erzählen, hätte der Schüler Andreas nicht einen Professor zum Vater. Professorenkinder kommen in Deutschland immer zum Gymnasium, fast immer – oder zur Waldorfschule. So auch Andreas. In der Waldorfschule lernte er die Geige zu lieben, begeisterte sich für Musik, spielte im Ahrensburger Jugendorchester. Die Musik entzündete ihn. Der Funke sprang vom Leiter des Orchesters auf ihn über. Aus dem schüchternen, zurückhaltenden Jungen wurde ein neugieriger. Er nahm am Wettbewerb „Jugend forscht“ teil und wurde Bundessieger. Dann machte er Abitur. Mit 1,0.

Er studierte Mathematik und Physik in Hamburg und setzte das Studium in Australien fort. Dort spezialisierte er sich auf ausgeklügelte Verfahren der Statistik. Er kam mit Forschern in Kontakt, die an einer internationalen Studie über Schülerleistungen in Mathematik und Naturwissenschaften arbeiteten, der sogenannten TIMS-Studie und erwarb sich dabei erste Meriten.

Die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der Zusammenschluss der 30 stärksten Industrieländer, wurde auf ihn aufmerksam und engagierte ihn für ihre Abteilung, die Bildungsindikatoren errechnet. 1995, nach einer internationalen Bildungskonferenz, fuhr der neue junge Mann für Statistik im Fahrstuhl der Pariser OECD Zentrale zusammen mit Tom Alexander, damals Direktor des Education Department der Organisation.

Zitator

„Diese Experten reden viel, aber was passiert in Schulen eigentlich wirklich?“

Autor

fragte der Direktor.

Zitator

„Kriegt man das denn irgendwie raus?“

Sprecher

Am Wochenende darauf setzte sich der neue Mitarbeiter an den Computer und entwarf die Grundzüge des „Programme for International Student Assessment“, kurz: Pisa.

Autor

Andreas heißt mit Nachnamen Schleicher. Mann nennt ihn auch Mister Pisa. Heute ist er der internationale Koordinator dieses größten Schülertests aller Zeiten.

Sprecher

Bei der ersten Pisa Studie hatte Schleicher im Jahr 2001 die deutschen Ergebnisse noch einmal nachrechnen lassen. Ihn erstaunte nicht, dass in Deutschland die schwächeren Schüler so schlecht abschneiden. Das, so vermutete er, sei unvermeidlich in einem gegliederten Schulsystem, das die besseren von den schlechteren Schülern trennt. Aber er konnte zunächst nicht glauben, dass auch die Leistungsspitze, so schlecht abschneidet, denn die hat in Deutschland ja anders als anderswo ihre eigene Schule. Das Gymnasium. Jetzt bei der zweiten Pisa Studie…

Autor

… die Studie kommt nun alle drei Jahre…

Sprecher

… jetzt also, beim zweiten Durchgang, wundert sich Schleicher nicht mehr. Im Gegenteil. Je feiner die erhobenen Daten sind und je genauer sie untersucht werden, desto deutlicher tritt für ihn das deutsche Bildungsproblem hervor

Cut 1 Andreas Schleicher:

Wenn sie sich die Leistungen im Bereich Naturwissenschaften ansehen, da könnte man sagen: na ja, gut, mit dem Bereich können wir leben. Aber was ist, wenn die Schüler am Ende ihrer Schulzeit sagen: ich habe jetzt Naturwissenschaften gemacht und damit will ich nie wieder etwas zu tun haben in meinem Leben? Ein großer Teil dieser Schüler ist total demotiviert, da haben wir zwar das Wissen noch vermittelt, aber die Fähigkeit, die Motivation dieser Menschen, weiter zu lernen, im Leben ihre Kompetenzen auszubauen, die haben wir unzureichend gefördert.

Autor

Die von Andreas Schleicher konzipierte und geleitetet Studie erschöpft sich ja keineswegs im Aufstellen einer Weltliga der Schulen, in der Deutschland der Anschluss an die Spitze trotz leichter Verbesserungen nicht gelingt. Die Pisa Studie gibt Einblicke in das, was Bildung ausmacht. Getestet werden die 15jährigen. Sind sie vom Lernen begeistert oder werden sie ausgerechnet durch die Schule gleichgültig gemacht? Können sie Probleme lösen und mit ihrem Wissen etwas anfangen, oder bedienen sie nur mehr oder weniger widerwillig den Schulbetrieb?

Cut 2 Andreas Schleicher: 0´27

Wie gut können junge Menschen, wenn sie in den Beruf kommen, Wissen anwenden, / kreativ neues Wissen schaffen, / inwieweit können sie Probleme lösen. /Inwieweit können wir miteinander arbeiten./ Heute kommen sie alleine nicht weiter, heute kommt es sehr darauf an, wie gut wir miteinander lernen, miteinander arbeiten können, also auf interpersonelle Kompetenzen, die wirklich viel weiter gehen als einfache Kommunikation. / Es reicht heute nicht mehr, die Leute mit Lernen zu füttern, wenn sie dann nicht weiter motiviert sind.

Sprecher

Deshalb untersucht Pisa auch kein Schulwissen. Die Studie ist nicht wie ein Wissenstest oder wie eine Klassenarbeit konzipiert. Sie fragt nach den Kompetenzen, nach dem Umgang mit Wissen, was können Schüler damit anfangen.

 

Autor

Nun bestätigt auch die zweite internationale Pisa Studie für Deutschland das enttäuschende Bild. Diesmal nahmen 41 Nationen teil. Im internationalen Vergleich sind allerdings nur 31 Industriestaaten.

 

Sprecher

Deutschland erreicht im Vergleich zu den Ergebnissen von vor drei Jahren geringe Verbesserungen. Sie gehen offenbar auf das Konto erhöhter Anstrengungen bei den Kindern aus den Mittelschichten. Deren Eltern wurden vom Pisa-Schock besonders irritiert. In Deutschland investieren sie inzwischen mehr als zwei Milliarden Euro jährlich in Nachhilfe.

 

Cut 3a Prenzel 0´22

Dieser große Abstand, der zu anderen OECD-Staaten 2000 bestand hat sich ein Stück verringert, Deutschland liegt irgendwo in diesem Mittelbereich auf dem internationalen Durchschnitt, wäre vielleicht für sich genommen auch nicht das Ergebnis wo man mit großer Begeisterung drauf reagiert aber in Relation eben zu dem Vergleich drei Jahre vorher, denke ich wo man sehen muss, da hat sich irgendetwas getan

 

 

Autor

Manfred Prenzel ist Koordinator der Pisa Studie in Deutschland, sozusagen der Pisa Chef. Außerdem ist er Direktor des Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften in Kiel.

Cut 3b 0´24

In einem Teilbereich der Mathematik gab es einen wirklich signifikanten Kompetenzzuwachs.

Beim Lesen sind es sieben Punkte, das reicht nicht um signifikant zu werden. Die Tests, die haben einfach für sich selbst ein Zuverlässigkeitsproblem. Wenn man eine Person sozusagen zweimal hintereinander testen würde sind die Tests nicht unbedingt so, dass sie 100% genau das gleiche Ergebnis produzieren, das ist ähnlich wie beim Blutdruck messen.

 

Autor

Aber die deutschen Schulen bleiben zweitklassig. Ein Maßstab ist, wie gut Schulen die schwächeren Kinder fördern und wie sehr sie die leistungsstarken dazu anspornen, so gut wie möglich zu werden. In beidem sind die deutschen Schulen schwach. Vor allem ein Versagen ist skandalös:

Sprecher

Die deutschen Schulen entlassen fast ein Viertel der Schüler in eine neue Unterschicht von Bildungsarmen. Das sind 15jährige Schüler, die allenfalls das Niveau von Grundschülern erreichen. Sie haben Schwierigkeiten beim Lesen einfacher Texte und mit den Grundrechenarten. Die Studie nennt sie eine „Risikogruppe.“ Der Übergang zur Arbeitswelt ist bei diesen Schülern gefährdet. Diese Gruppe, wie gesagt, fast ein Viertel der Jugendlichen, ist im internationalen Vergleich besonders groß.

Auch die Schere zwischen Schulen mit besseren und mit schlechteren Ergebnissen geht in Deutschland besonders weit auseinander, ohne dass die besseren deutschen Schulen, also die Gymnasien, im internationalen Vergleich hervorstechen würden.

 

Autor

Das vor drei Jahren schockierende Ergebnis der erst Pisa Studie wiederholt sich nun:

In keinem vergleichbaren Land hängt der Schulerfolg der Kinder so sehr von Einkommen und Bildung der Eltern ab, wie in Deutschland. Bei gleichen Testwerten hat in Deutschland ein Kinde von Akademikern eine drei Mal größere Chance das Abitur zu machen, als ein Kind von Facharbeitern.

Es bestätigt sich, die geringe Wirksamkeit deutscher Schulen. Dieses Ergebnis wird von einem weiteren Befund der Studie bestätigt. Denn erstmals wurde auch die sogenannte Problemlösekompetenz der Schüler untersucht. Und siehe da, darin sind die deutschen Schüler besser als in den Fächern…

Cut 4 a Prenzel

… das ist ein Punktwert von 513, in dem Deutschland tatsächlich im Verhältnis zu anderen Ländern doch eine gewissen Stärke erkennen lässt.

 

Autor

Die größeren Fähigkeiten deutscher Schüler Probleme zu lösen, als die von Mathe Aufgaben gibt zu denken. Denn die Problemlöseaufgaben haben eine mathematische Struktur. Wie kommt es also, dass das explizit mathematische Wissen, also das, was doch in der Schule geübt worden ist und tief verstanden sein sollte, den Schüler eher fremd ist?

Das stellt bei Pisa Chef Manfred Prenzel Fragen an die Schule:

 

Cut 4b

…dass sie also an dieser Stelle möglicherweise ihre Kompetenzen gar nicht so recht wahrnimmt, sondern eigentlich, dass es Gebiete gibt, die für Schüler und Schülerinnen als tot erscheinen also man reproduziert das Wissen, das vor geraumer Zeit irgendwo von irgendwem gewonnen wurde und das muss man eben in der Schule sich Stück um Stück aneignen, reproduzieren und dann hat man was gelernt.

Autor

Bewirken unsere Schule eher Gleichgültig an ihren Themen als Interesse?

Gehen Schüler in die Schule und stellen dort nur ihre Körper ab, während ihre Phantasie spazieren geht.

Was fügt die Schule zum Lernen hinzu? Denn dieses lehrt ja die moderne Hirnforschung:

Man kann nicht Nicht-Lernen.
Halten wir fest:

Sprecher

Die Wirksamkeit der deutschen Schulen ist gering. Das System ist sozial ungerecht. Und die Schulen sind offenbar auch nicht sehr anspruchsvoll.

Autor

Die Ergebnisse andere Untersuchungen weisen in die gleiche Richtung. So fanden Forscher im Max-Planck-Institut für Bildungsforschung heraus, dass die Intelligenz der Schüler in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen ist, dass aber in der gleichen Zeit die Schulleistungen gesunken sind.

Wie kommt das?

Es muss ja wohl am Unterricht, ja an der ganzen Schulkultur liegen.

Warum gehen in Deutschland viele Kinder zur Schule wie zum Zahnarzt?

Warum erinnert ihr Lernen zuweilen an Bulimie: Informationen sammeln, Prüfungen bedienen und sich wieder entlasten?

Was also ist los mit unseren Schulen?

 

Atmo 1 Pausenhallengemurmel

Sprecher

Ein deutsches Gymnasium. Der Tag beginnt wenig einladend. Die Schüler warten im Foyer, sitzen auf dem Boden, spielen Karten, stehen herum.

Die Klassenräume werden erst kurz vor Acht geöffnet

 

Atmo 2 Chemie Unterricht – Kreidegeräusche / Sprechertext in einen wechselnden Rhythmus mit dieser Atmo bringen

Autor

Und dann wird der Stoff vermittelt. Schüler sollen aufnehmen, was Lehrer mit ihnen durchnehmen. Was drankommt, steht im Lehrerplan. Und der verlangt zumeist mehr, als zu schaffen ist.

Alle haben wenig Zeit, manche haben nie Zeit, und dennoch herrscht viel Langeweile.

Im Mittelpunkt der deutschen Tradition steht der sogenannte „fragend-entwickelnde Unterricht“. Lehrer haben dabei ihr Ergebnis fest im Blick. Nach Vortrag und Tafelbild führen Lehrer mit ihren Fragen die Schüler Schritt für Schritt ans Ziel. So das Konzept. Jeder soll im gleichen Tempo den gleichen Weg in den gleichen kleinen Schritten zurücklegen.

Die Lernenden werden als ideale Durchschnittsschüler auf durchaus hohem Niveau angesprochen. Aber werden sie auch erreicht?

Cut 5a Elsbeth Stern:

Dieser fragend-entwickelnden Unterricht nennt man übrigens auch „Osterhasenpädagogik“, wollen sie wissen warum?

 

Sprecher 1

Fragt Elsbeth Stern vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.

 

Cut 5b Elsbeth Stern:

Der Lehrer versteckt das Wissen und die Schüler sollen es finden. So wird Wissen ja häufig in der Schule erworben. Wenn der Lehrer mir die Aufgaben vorgegeben hat und wenn dann genügend geübt wurde, dann kann man es. Aber sobald die Aufgaben von dem üblichen Format in der Schule abweichen, können viele deutsche Schüler die Aufgabe nicht mehr lösen, weil das Wissen träge und unflexibel ist, es war immer nur auf eine bestimmte Anforderung zugeschnitten.

 

Autor

Deutsche Lehrpläne sehen respektheischend aus. Dicke Bände. Man staunt, wenn man sie mit Lehrplänen aus Norwegen oder Schweden vergleicht, das sind Broschüren, oder das knapp 100 Seiten umfassende Heft aus Finnland, in dem alles steht, was der Staat an Ergebnissen von allen Schulstufen erwartet. Die deutschen Wälzer dokumentieren hohe und allerhöchste Ansprüche.

Sprecher

Anderswo hängt die Latte niedriger als bei uns. Aber fast alle bemühen sich, drüber zu springen. In Deutschland wird die Latte häufig so hoch gehängt, dass es viele vorziehen, lieber unter ihr durch zu kriechen. Und wenn man sich die deutschen Debatten um Pisa ansieht, geht es immer noch mehr um die Position der Latte, als ums Springen der Schüler.

Cut 6a: Baumert

Für mich ist diese Unterrichtsführung einer der Gründe, weshalb alle Lehrer/innen – und zwar aller Schulformen – immer die falschen Schüler haben.

Sprecher

.Jürgen Baumert, Direktor am Max Planck Institut für Bildungsforschung, sieht darin eine der Erbsünden deutscher Schulen

Cut 6b: Baumert

Also wenn sie das hören, ja woran liegt es, „ja ich habe zu viele unbegabte Schüler“, das sagen Hauptschullehrer genauso: „ wir müssten viel mehr auf die Sonderschule überweisen“. Im Gymnasium: „Ja es kommen zu viele ungeeignete Schüler aufs Gymnasium“. Und dieses ist im internationalen Vergleich wirklich verblüffend. Wir haben in der Sekundarstufe, in der Mittelstufe die homogensten Lerngruppen der Welt. Wir haben eine Dreigliedrigkeit. Die (Schüler) sind leistungshomogenisiert, und trotzdem ist die Klage über zu große Heterogenität bei uns so groß wie in keinem anderen Land.

Autor:

Deutsche Lehrer wurden für die erste Pisa Studie gefragt, welche Schüler in ihrer Klasse wohl zu der sogenannten Risikogruppe gehörten, also zu denen, die nur die niedrigste Kompetenzstufe erreichten – oder nicht mal die. Das erschütternde Ergebnis:

Zitator:

Neun von 10 Schülern mit diesen eklatanten Lücken wurden von ihren Lehrern nicht als solche erkannt.

Autor:

Man muss sich fragen: kennen die Lehrer ihre Schüler nicht? Sind Lehrer so sehr von ihren Bildern überzeugt, die sie sich von ihrem Unterricht machen, dass die vor ihnen sitzenden Schüler übersehen?

Sprecher

Jürgen Baumert und seine Kollegen haben Lehrer gefragt – und zwar die vermeintliche Elite, Lehrer die an Lehrplänen mitarbeiten oder Schulbücher schreiben, ob und in welchem Alter Schüler schwierige Aufgaben lösen können oder schwierige Texte verstehen:

Cut 7 Baumert

Das Verblüffende war, alle Lehrerplanexperten sind der Meinung, dass die schwierigsten Aufgaben in der Hauptschule von etwa 60% gelöst werden, in der Realschule von 75 % und im Gymnasium von etwa 80 % gelöst werden und wenn man jetzt fragt, wie hoch sind denn die Lösungswahrscheinlichkeiten wirklich, dann sieht man, dass sie die leichtesten Aufgaben etwas zu schwer einschätzen, aber die schwierigsten Aufgaben grotesk unterschätzen, also von den 60 % Hauptschülern, die die schwierigen Aufgaben lösen sollen, ist die Lösungswahrscheinlichkeit 0.3 %, d.h. es gibt gar keinen Hauptschüler, der diese Aufgaben lösen kann. Und ähnlich grotesk ist die Verschätzung für die Realschüler, und von den Gymnasiasten sollen etwa 80 % die Aufgaben lösen, also sie sollen wirklich Expertenleser sein, 29 % sind es, d.h. also auch im Gymnasium gibt es eine groteske Unterschätzung der Schwierigkeiten von anspruchsvollen Leseaufgaben und unsere Frage ist: wie kommt denn das eigentlich?

Autor

Man wundert sich. Wir würden wohl auf die Barrikaden gehen, wenn das Gesundheitssystem Patienten, die gesund sind, für krank hält und Kranke für gesund.

Jedenfalls haben deutsche Lehrer ein generalisiertes Bild von Schülern, das mit ihrer Wirklichkeit nicht übereinstimmt.

Der einzelne Schüler, der dem Bild nicht entspricht, wird als Abweichender oder gar als Versager gesehen und – das weiß man aus der Psychologie: so wie man gesehen wird, so wird man dann auch. Dieser systematische Verkennungsvorgang an den deutschen Schulen lässt sich auch in nüchternen Zahlen ausdrücken.

Sprecher

12 % der Schüler werden am Anfang der Schulzeit zurück gestellt, weil sie nicht zu Schule passen. 24 % bleiben wenigstens einmal sitzen. In keinem anderen Land, außer in Portugal ist diese Quote so hoch.

Autor:

Die Hauptschwäche unseres dreigliedrigen Schulsystems ist nicht so sehr die Unfähigkeit, Begabungen zu erkennen und zu fördern. Die Hauptschwäche ist auch nicht, die Kinder stärker nach ihrer sozialen Herkunft zu sortieren als nach Talenten. Die Hauptschwäche des deutschen Schulsystems ist , dass es die Schulen aus der Verantwortung entlässt, sich um schwierige Schüler zu kümmern. Kinder mit Schwierigkeiten beim Lernen – und Lernen macht immer auch Schwierigkeiten – werden zu schwierigen, störenden und schließlich gestörten Kinder, werden zu Schulversagern gemacht. Das ist in dem Ausmaß beispiellos im Vergleich zu allen anderen von PISA untersuchten Ländern.

In diesem deutschen System wird die Chance vertan, Kinder und Jugendliche in ihrer Individualität zu erkennen und anzuerkennen, und ihnen die Möglichkeit zu geben, dabei etwas über ihr eigenes Lernen herauszufinden – so dass gewissermaßen die Intelligenz der Schule selbst steigt. Die frühe Einteilung der Schüler in höhere und nicht so hohe, macht die Schule für viele zu einer Überlebensfrage, eine angstbelastet Veranstaltung. Diese Selektion, einwirklich belastetes Wort, aber man benutzt in der schule, diese Selektion vergiftet die Atmosphäre an deutschen Schulen, auch an den Gesamtschulen.

So klingt es wie Hohn, wenn Schulforscher herausfinden, dass die Gesamtschulen mit ihrer internen Differenzierung in verschiedene Leistungsniveaus schärfer sortieren als das dreigliederige System.

Sprecher

Daraus folgt, dass ein bloßer Umbau unseres dreigliedrigen Schulsystems zu Gesamtschulen allein nichts verbessern würde, wenn nicht zugleich diese deutsche Neigung zum Herabstufen und Herabsetzen anderer endlich aufgegeben würde. Die PISA- Spitzenreiter Japan und Finnland kennen diesen deutschen Sortierwahn nicht. In Japan wie in Finnland werden alle Schüler bis zum 9. Jahrgang gemeinsam unterrichtet. In Schweden ist jede Differenzierung bis Klasse neun vom Gesetz ausdrücklich verboten. Auch die USA und Kanada kennen nur Schulen, in die bis zur 10. Klasse alle Kinder und Jugendliche gehen. Die deutsche Schulneurose…

Zitator

… bin ich denn hier richtig?

Gehöre ich Dazu?

Bin ich nicht vielleicht doch auf der falschen Schule?

Und was muss ich tun, damit niemand merkt, was ich nicht kann…

Autor

Diese deutsche Schulneurose ist in anderen Ländern weniger oder gar nicht ausgeprägt.

2 Zitator / jugendlich, männlich:

Ich erzähle dem Lehrer, was er erwartet, auch wenn ich es nicht verstehe. Mein Lehrer ist fest davon überzeugt, dass ich Mathematik verstehe und nur etwas faul bin. Jedenfalls gebe ich mir von Tag zu Tag Mühe, ihm diesen Eindruck zu vermitteln. Ich melde mich in der Stunde ein- bis zweimal, um etwas zu sagen.

Sprecher

Johann Kegler, inzwischen Student, hat als Schüler eines Berliner Gymnasiums unter der Bank seinen Alltag protokolliert. Eine ganz normale Mathematik Stunde zum Beispiel.

2. Zitator / jugendlich, männlich:

Was ich dann sage, habe ich mir vorher aus meinem Ordner raus geholt. Ansonsten verhalte ich mich still, höre ein bisschen Musik, lese in meinem Buch und schaue meinem Lehrer zustimmend in die Augen, wenn er mich beim Erklären seiner Aufgaben ansieht. Es ist die reine Strategiefähigkeit, mit der ich durch den Matheunterricht komme. Diesen Instinkt, zwei- bis dreimal in der Stunde fit zu sein, eignet man sich im Laufe der Jahre an.

Sprecher

Und die gleiche Art Unterricht sieht aus der Gegenperspektive so aus:

Zitatorin

Viele Jugendliche wollen überhaupt nichts lernen. Das hat mich jeden Tag neu entsetzt. Sie wollen verwertbare Abschlüsse, um „einen guten Beruf“ zu bekommen, sie wollen das Abitur als zentralen Endzweck von Schule.

Sprecher

Das schreibt die Lehrerin Anne Fliegenhenn aus Münster:

Zitatorin

Dementsprechend lernen sie, was sie müssen. Neugier und Offenheit für die Anstrengung des eigenen Denkens sind ganz und gar nicht vorauszusetzen, noch nicht einmal Respekt vor Bildung überhaupt. Viele Eltern interessieren sich für die Schule nur und ausschließlich nur dann, wenn es um schlechte Noten ihrer Kinder geht. Wie soll man als junger Mensch allen Ernstes 13 Jahre Schule aushalten, wenn darin nichts Beglückendes, Befreiendes, Kräftigendes zu erwarten ist, sondern nur Mühsal auf dem Weg zum einzig erhofften und ersehnten Zertifikat, nach dem das Leben erst anfangen soll?“

Autor

Vermutlich werden viele Schüler der Diagnose der Lehrerin zustimmen, so wie vermutlich viele Lehrer der Beschreibung von Johann Kegler, als er noch Schüler eines Berliner Gymnasiums war, zustimmen

Aber warum finden in unseren Schulen darüber kaum Gespräche zwischen Schülern und Lehrern statt?

Woher kommen der Kleinkrieg, das Misstrauen, diese latente Feindlseeligkeit in unseren Schulen?

Cut 8a: (Wolfgang Edelstein

Ich bin immer wieder entsetzt, wirklich grundlegend entsetzt, über diese pausenlose Demütigungen, denen die Kinder ausgesetzt werden.

Sprecher

…sagt ein Vater, leidgeprüft..

Cut 8b: Edelstein

Meine Tochter kommt aus der Schule gestern, sie ist in der zwölften Klasse. Sie kriegt ihre Geschichtsklausur zurück. Und was sagt ihr der Lehrer: Du kannst nur labern. Sie hat Stunden gesessen und diese Aufsätze geschrieben, viel Mühe und sie kriegt Vieren und er sagt: Du kannst halt nur labern. Und ich sage: soll ich ihm mal einen Brief schreiben? Und sie sagt: mach das bitte nicht, vielleicht hat er ja sogar recht. Aber ich meine, die braucht Tage um sich zu erholen

Autor:

Der Vater ist vom Fach: Wolfgang Edelstein, inzwischen emeritierter Direktor am Max Planck – Institut für Bildungsforschung in Berlin.

Er hat die Dramen der Schule, hinter denen sich immer individuelle Tragödien verbergen, untersucht. Sie reimen sich immer wieder auf den gleichen misanthropischen Ton.

1. Zitator und Zitatorin (2):

Du gehörst nicht hierher.

Du kannst nichts.

Du störst.

Autor:

Viele Schüler und Eltern halten diesen vergifteten Urteilen nicht Stand. Schüler übernehmen sie in ihr Selbstbild. Eltern tragen es an ihre Kinder mit Strafpredigten weiter. Sie drohen und ermahnen:

1 Zitator und Zitatorin (2) im Wechsel

Streng dich endlich mehr an!

Mach bloß nicht so viele Fehler.

Stell dich nicht so an!

Aus dir wird nie was!

Dann musst du eben vom Gymnasium abgehen.

Autor:

Wolfgang Edelstein, geht gegen den Rat seiner Tochter in die Schule und spricht mit den Lehrern.

Cut 9 Edelstein

Ich rede mit der Mathematiklehrerin von Anna letztes Jahr. Also eine Studienrätin mit den Fächern Mathematik und Physik. Anna hat bei dieser Studienrätin konsistent immer Sechsen. Und ich meine, Sechs ist eine Unverschämtheit, weil es jede Entwicklungschance raubt, d.h. es ist intentional so gesetzt und ich rede mit ihr und frage sie, ob sie wirklich auf der Sechs beharrt. Und sie sagt: es ist meine Aufgabe unfähige Schüler auszulesen. Ich sage, wie bitte? Ich dachte, es ist ihre Aufgabe den Kindern etwas beizubringen. Darauf hat sie nicht reagiert. Ich sagte, haben sie die Ergebnisse von Timms, …

Sprecher:

….TIMMS, eine internationale Studie über die Kenntnisse der Schüler in Mathematik- und Naturwissenschaften…

Cut 10 Edelstein

darauf sagte sie: ist alles Nonsens. In Timss steht nämlich, dass die Mathematikleistungen schlechter sind, gerade bei den guten Mathematiklehrern, diesen hochprofessionellen, als bei den anderen. Ist alles Nonsens sagt sie. Und jetzt hat sie, die nicht mehr, jetzt ist sie ja in der Klasse zu einem anderen Lehrer gekommen und da hat sie eine Vier. Sie lebt seit letztem Jahr in dem Terror, dass sie diese Lehrerin in der dreizehnten Klasse noch mal kriegt.

Sprecher:

Wolfgang Edelstein fragt in seinen Studien danach, unter welchen Bedingungen sich das Wissen und das Erlernen von Wissen mit der eigenen Wahrnehmung verknüpft und schließlich zu einer Erfahrung sinnerfüllten Lernens führt?

Cut 11 Edelstein

Das heißt, ganz primitiv gesprochen, was macht mir Sinn? Und wenn sie Kinder fragen, ob das Lernen interessant ist, kriegen sie in der Regel bei ganz kleinen Kindern ganz klare Indikatoren dafür, dass sie das interessant finden, dass sie mehr lernen wollen. Und je mehr Erfahrung sie mit der Schule haben, desto mehr nimmt das ab. Ich habe mal eine Untersuchung gemacht über Lernfreude. Die Kleinen, also Erstklässler und Zweitklässler sind extrem hoch auf dieser Variable und schon in der dritten Klasse nimmt es ab, und von da an nimmt es kontinuierlich ab und es nimmt immer sprunghaft zu, wenn ein neues Fach kommt und im Laufe des ersten Jahres, in dem das Fach erfahren wird, nimmt es wieder ab.

Autor

 

Um die deutschen Schulprobleme zu verstehen, lohnt es sich den Unterricht nochgenauer anzusehen. Nicht wie ein Pädagoge, eher wie ein Ethnologe.

Jürgen Baumert, der die Federführung der ersten Pisa-Studie hatte, ging ein Licht auf, als er Unterrichtsvideos aus der schon mehrfach zitierten Timms-Studie, die sich vor allem mit Mathematik befasste, aus Deutschland und Japan verglich. In Japan, das Europäer häufig für so gleichförmig halten, heißt in Mathematik die Maxime:

Cut 12 Baumert

Findet so viele Lösungen wie möglich. Nicht eine Lösung, sondern das Problem hat viele Lösungen, die unterschiedlich sind, jede Lösung hat Vorteile, hat Nachteile, wir wollen versuchen so viele Lösungen wie möglich zu finden. [In dieser Zeit geht dann der Lehrer durch die Reihen und guckt den Schülern über die Schulter. Also viele Lösungen, die üblicherweise kommen, hat er in seiner Unterrichtsvorbereitung stehen. Und er spricht dann mit Schülern, gibt nie Lösungen oder Ergebnisse vor, sondern regt Denken an; wenn einer nicht weiter kommt, stellt er `ne Frage, die zu der einen oder anderen Lösung führen kann, aber er formuliert das Problem eher neu, als dass er das Ergebnis mitteilt.]

Autor

Auch Wege, die nicht zum Ziel führen, gelten in Japans Klassen als interessant, manchmal sogar als interessanter als der routinierte, erfolgreiche Weg.

Mathematikunterricht ist keine neutrale, rein kognitive Übung. Mathe-Unterricht ist eine Einführung in Denkweisen. Mathematik ist ein geistiges Initiationsritual.

Wichtiger als der Stoff, wichtiger als Lehrpläne ist wie unterrichtet wird. Das zeigt der japanisch deutsche Vergleich

[Cut 13 Jürgen Baumert

Der deutsche Unterricht beginnt: die ersten fünf Minuten werden die Hausaufgaben kurz vorgestellt, noch mal kurz wiederholt, und dann wird ein neues Thema eingeführt, in einem sehr kurzschrittig, fragend entwickelnden Unterricht. Der Lehrer hat ein Ziel vor Augen. Und in einem sehr geschickten Verfahren bringt er die Schüler dazu, dass sie dem Beweis folgen und nach 20 Minuten beim Ergebnis sind. Das ist so wie ein Trichterverfahren, von einer sehr weiten Frage führt man es immer enger, konvergent, bis die Lösung, die Routine an der Tafel steht oder in den Heften der Schüler. Und dann folgt eine kurze Phase, wo noch eine Übungsaufgabe gemeinsam durchgerechnet wird und dann gibt’s die Stillarbeit, wo sehr ähnliche, häufig nicht abgestufte Aufgaben gelöst werden, das ist eine typische deutsche Stunde.

Sprecher:

Dieser Unterricht stimuliert Schüler nicht zum Denken. Er ermuntert sie schon gar nicht, sich auf das unsichere Feld von Problemlösungen zu wagen.] Im typischen deutschen Unterricht, stören immer zwei Dinge.

Zitator (1)

Die intelligente Frage und der Fehler.

Autor:

Beide sind ja so verwand. Man kann nicht denken, ohne sich zu irren. Man kann nichts Neues heraus finden, ohne Fehler zu machen. Fehlerverbote laufen auf Denkverbot hinaus. Aber Fehlervermeidung ist das Charakteristische der deutschen Schulkultur.

Die Pisa-Studie macht den Verdacht zum Befund:

Sprecher

Deutschen Schüler schneiden bei Aufgaben, die eigenständiges Denken verlangen schlecht ab.

Cut 14: Baumert

Wenn ein Individuum Fehler macht, da ist immer noch was Richtiges dran, und der versucht, seinen besten Beitrag zu geben. Das ist die eine Seite, sozusagen die Seite der Akzeptanz., was sind denn die Folgen, wenn wir dich mal ernst nehmen, kann das richtig sein und dann gibts ’nen neuen Ansatz. Bei uns geht’s eher: schnelle Korrektur durch den Lehrer oder, was noch schlimmer ist, der nächste Schüler wird gefragt, dann kommt die richtige Lösung.

Cut 15a Stern

Unsere Schule ist sehr leistungsorientiert, aber nicht lernorientiert;

1. Sprecher:

Elsbeth Stern, Forschungsgruppenleiterin am Max Planck Institut für Bildungsforschung.

Cut 15b Stern

Man unterscheidet in der Lehr- Lernforschung zwischen einer Leistungsorientierung, das ist: krieg ich meinen Abschluss mit guten Noten, damit ich damit Zugang zu weiteren Ausbildungsgängen habe. Lernorientiert heißt: habe ich die Mathematik wirklich verstanden. Habe ich verstanden, wie Phänomene zu erklären sind.
Die Leistungsorientierung ist enorm bei uns, jeder Schüler tut gut daran, möglichst früh zu überlegen, wie er mit dem geringst möglichen Aufwand bestimmte Abschlüsse und Noten bekommt. Aber es interessiert überhaupt nicht, bis zum Pisa Schock, was können die Schüler, nur stimmen die Noten.

Autor

Das ist das große und wohl verheerende Missverständnis der deutschen Schule.

 

Man spricht von Leistung, ja man beschwört sie, und verhindert durch eine verengte Leistungsvorstellung das Lernen. Denn Leistungen zu erbringen, heißt ja effektiv sein, fertig werden, auf das Produkt fixiert sein …

Sprecher:

… die Zeit der Leistung beginnt, wenn das Lernen und Forschen vorbei ist. Wird die Leistung zu früh verlangt, geht das auf Kosten der Zeit zum Lernen …

Autor:

…dann verführt man die Schüler so zu tun als ob sie schon verstanden hätten, was ihnen noch unklar ist. Das Dümmste und Schädlichste, was beim Lernen passieren kann.