DIE ZEIT
Eine Klasse für sich
Der Deutsche Schulpreis zeichnet fünf Schulen aus, in denen sich die Lehrer nach den Kindern richten
Ein trüber Dezembermorgen in Dortmund-Nord, einem so genannten Brennpunktviertel. Aber in den Fluren der Grundschule Kleine Kielstraße geht es munter zu. Kinder lassen Luftballons steigen; die herausströmende Luft treibt kleine Propeller an. Die Lehrerin hilft bei der Montage. Andere Kinder lesen oder spielen. Dabei ist es noch nicht einmal acht Uhr.
Der erste und der zweite Jahrgang werden gemeinsam in einer Klasse unterrichtet. Gute Schulen sehen in der Verschiedenheit der Kinder keinen Nachteil. Im Gegenteil: Mit altersgemischten Gruppen versuchen sie diese noch zu verstärken. Die Lehrerinnen und Lehrer erwarten die Kinder bereits im Klassenzimmer. Sie sind wie Gastgeber. Sie haben sich und den Raum vorbereitet, heißen die Kinder willkommen, und die legen sofort los. Fünf nach acht müssen alle da sein. Lehrerin Julia Herdramm stellt jetzt den Kassettenrecorder an. Die Kinder versammeln sich zum Morgenkreis auf Hockern vor der Tafel, die vollständig von Plakaten verdeckt ist. Unter der Überschrift Luft und Wind stehen Fragen wie »Was kann Luft?«.
Auch der Morgenkreis ist ein Merkmal der fünf Schulen, die am 11. Dezember aus der Hand von Bundespräsident Horst Köhler den Deutschen Schulpreis erhielten. Die Dortmunder Grundschule Kleine Kielstraße bekam den mit 50000 Euro dotierten ersten Preis.
Aber davon weiß an diesem Morgen noch niemand etwas. 480 Schulen haben sich beworben. 18 wurden nominiert. Und an fast jeder der 18 nominierten und vielen anderen ließe sich zeigen, wie Schule in Deutschland gelingen kann – trotz der Bildungspolitik, wie man in der Bosch-Stiftung hinter vorgehaltener Hand sagt. Die Stiftung hat den Preis in diesem Jahr zum ersten Mal ausgelobt. Er soll eine Institution werden.
Im Morgenkreis in der Grundschule Kleine Kielstraße wird der Tagesablauf besprochen. Ein Schüler stellt auf dem Wandkalender das Datum und den Wochentag ein. Eines der vielen Rituale in der Kleinen Kielstraße, die den Tag gliedern – und zugleich eine Übung, denn viele müssen Lesen und Zählen noch lernen.
Von der Problemschule zur Magnetschule
Schon beginnt das Brainstorming um Luft und Wind. Es wird gepustet, gepfiffen und berichtet, dass einen so ein Wind sogar umhauen kann. Was ist Luft? Die Lehrerin zündet ein Teelicht an und stürzt ein Wasserglas darüber. Bald geht die Kerze aus. Nimmt sie einen Glaskrug, dauert es länger. Warum? Staunende Gesichter. Den Schülern fallen viele Erklärungen ein, denn die Lehrerin macht sie nicht mit ihren Antworten satt. Ihr Unterricht produziert erst mal Aufmerksamkeit. Gelangweilt guckt niemand. In kleinen Gruppen geht es weiter. Jedes Kind hat seinen Wochenplan, einen individuellen Lehrplan mit besonderen Aufgaben. Einheit schafft das große Thema »Luft und Wind«. An ihm arbeiten alle acht Eingangsklassen der Schule. Das Lehrerteam hat es ausgearbeitet. Jeder Lehrer hat andere Aufgaben oder Experimente vorbereitet. Zum Beispiel wird ein Luftballon unter ein Buch gelegt. Ein Kind bläst ihn auf. Das Buch hebt sich. Ja, Luft ist nicht nichts. Wer von diesen Erst- und Zweitklässlern wollte daran noch zweifeln?
Zur gleichen Zeit lernen zwei Räume weiter Mütter Deutsch. Damit sie sich konzentrieren können, werden in einem weiteren Raum ihre Kleinkinder betreut. Vier von fünf Kindern der Schule haben Migranten als Eltern. Die Schule hat sich darauf eingestellt. Schulleiterin Gisela Schultebrauks konnte von einer Wohnungsbaugesellschaft 9000 Euro im Jahr für diese Kurse organisieren. Jede zehnte Mutter nimmt das Angebot wahr. Die Eltern werden mit den Kindern schon ein Jahr vor der Einschulung zu einem Test eingeladen. Dann bekommen alle einen Brief mit Angeboten. »Im Grunde ist die Schule eine Antwort auf die Kinder, ein ständiger Dialog«, sagt die Schulleiterin.
In der ebenfalls prämierten Offenen Schule Kassel-Waldau werden die üblichen sechs Stunden des Schulvormittags auf die Zeit von 8.45 Uhr bis 14.45 Uhr gestreckt. Es gibt viele Pausen. Bereits um 7.30 Uhr kommen die ersten Schüler. Dann sind auch schon einige Lehrer da und können Dinge, die der eine oder andere Schüler nicht verstanden hat, noch einmal genau erklären.
In Kassel-Waldau wurde die Schule schon Mitte der achtziger Jahre neu erfunden. Damals, erinnert sich die Schulleiterin Bärbel Buchfeld, war diese Gesamtschule ungefähr dort angekommen, wo im Frühjahr 2006 die Berliner Rütli-Schule stand – ganz am Boden. Es war eine dieser an Massentierhaltung erinnernden Gründungen aus den siebziger Jahren. Die hessische FDPLandtagsabgeordnete Ruth Wagner schrieb das Konzept für eine offene Schule. Es sollte die Idee einer Schule für alle gegen die anonymen und häufig verwahrlosten deutschen Gesamtschulfabriken verteidigen. Die Kasseler Schule wurde daraufhin umgebaut und in lauter kleine Schulen aufgeteilt. Jeder Jahrgang eine kleine Schule mit einem Lehrerteam, das sich die Zeit und die Arbeit selbst einteilt. Die Klassenräume wurden um einen atriumähnlichen Innenraum gebaut, von dem auch das Lehrerzimmer abgeht. Die Schule ein Ort, an dem sich die Kinder und Jugendlichen zu Hause fühlen, an dem die Lehrer die Kinder und nicht die Fächer unterrichten. Es gelang.
Kassel-Waldau besteht vor allem aus Plattenbauten. Jeder Vierte der 6000 Einwohner ist arbeitslos. Diese Schule aber schafft es, dass 60 Prozent der Schüler nach der zehnten Klasse zur Fachoberschule oder in die Oberstufe des Gymnasiums gehen. Bei den ausländischen Kindern – nahezu jeder Zweite an der Schule – ist der Anteil nicht geringer. Etwa die Hälfte der Plätze an der Schule sind Kindern aus dem Stadtteil vorbehalten. Die anderen kommen aus der ganzen Stadt. Zuletzt gab es 700 Bewerber für 70 freie Plätze in den fünften Klassen. Aus der Problemschule wurde die Magnetschule der Stadt.
Ähnlich sieht es an der ebenfalls preisgekrönten Braunschweiger Gesamtschule Franzsches Feld aus. Auch hier machen nach der zehnten Klasse fast zwei Drittel weiter in Richtung Hochschulreife. Obwohl nur ein Drittel aus der Grundschule die so genannte Gymnasialempfehlung mitbrachte.
Bis auf die Dortmunder Grundschule, die den ersten Preis gewann, wurden nur Gesamtschulen ausgezeichnet: neben den Schulen aus Kassel und Braunschweig die Jenaplan-Schule Jena und die Max-Brauer-Schule aus Hamburg-Altona. Die Jury, so war zu hören, hat sich sehr bemüht, dass ein Gymnasium dabei ist, aber sie konnte kein hervorragendes finden. Zu den Mitgliedern gehören Pisa-Leiter Manfred Prenzel und der Generalsekretär der Kultusministerkonferenz Erich Thies, der Chef der niederländischen Schulinspektion und Bildungsforscher aus der Schweiz und Österreich. Kein parteiliches Gremium. Haben sie mit den fünf eigenwilligen Preisträgern nicht die Vision einer Schule der Zukunft zusammengestellt? Vieles an diesen Schulen ist ähnlich, doch jede hat ihre Biografie, jede ist eine lernende Organisation. Die Schule in Jena beginnt mit der Vorschule und geht bis zum Abitur, das mehr als die Hälfte der Schüler ablegt. Im Thüringer Zentralabitur bringt sie es auf den Schnitt von 1,5. Im Landesschnitt ist es eine 2,3. Wie macht die Schule das? Die Schüler lernen überwiegend in jahrgangsgemischten Gruppen, den so genannten Stammgruppen, zu denen jeweils drei Altersjahrgänge gehören. Diese Altersmischung hat den Vorteil, dass die Schüler viel voneinander lernen und dass bei Lehrern gar nicht erst die Illusion aufkommen kann, sie könnten im Gleichschritt den Stoff durchziehen. Auch hier gibt es den Wochenplan, den die Schüler mit ihren Lehrern aufstellen. Individualisierung und Gemeinschaft sind das pädagogische Yin und Yang. Jeder Schüler kann nach seinem Tempo arbeiten. Diese Eigenzeit der Kinder ist für die Schulleiterin Gisela John »die wirkliche Demokratisierung der Schule«. Sie findet im Unterricht statt. Oder wenn jeder Schüler zweimal im Jahr seine Leistungen in einem Brief an den Lehrer selbst einschätzt. Dieser antwortet darauf wiederum mit einem Brief. Erst dann schreibt er Noten. Es folgt ein Gespräch mit allen, auch den Eltern. Gisela John schwärmt von der Ehrlichkeit der Schüler sich selbst gegenüber. Die Jungen und Mädchen dürfen Fehler machen, aber möglichst nicht immer die gleichen.
Im Lernbüro arbeiten die Schüler selbstständig
Für den Pädagogikprofessor Peter Fauser, Vorsitzender der Jury, ist dies das Betriebsgeheimnis der guten Schulen: »Sie lernen von den Problemen ihrer Schüler.« In der Max-Brauer-Schule in Hamburg-Altona sollen schon in der Grundschule die Kinder Chef ihres Lernens werden. Zum Beispiel stehen in einer zweiten Klasse mit 23 Kindern 23 Körbe mit verschiedenen Aufgaben bereit, in jedem Korb 23 Aufgabenzettel. Für jeden Aufgabenkorb ist ein Kind der Chef, und nur die Chefs besprechen ihre Fragen mit der Lehrerin. Die anderen Kinder gehen erst mal zu den Chefs. Viele Jahre blieben solche Lernformen auf die Grundschule beschränkt. Nun wird die ganze Schule von der Vorschule bis zum Abitur Schritt für Schritt zur Neuen Max-Brauer-Schule umgestaltet.
Eine Lehrergruppe hat über Jahre ihre »Traumschule« konzipiert. Jetzt wurden für die Schüler der fünften und sechsten Klassen Lernbüros eingerichtet, in denen jeder morgens an etwas anderem arbeitet: Mathe, Schreiben, Lesen. Im Lernbüro arbeiten Elfjährige nun am Vormittag zwei Stunden selbstständig. Dann machen sie sich an Projekte, beschäftigen sich über Wochen mit einem Thema. Am Anfang fürchteten auch die reformfreudigsten unter den Pädagogen, ihre Schüler würden so lange Zeitintervalle gar nicht durchhalten. Aber nach kurzer Zeit kam die Überraschung. Die Stunden reichen nicht. Die Schüler wollen mehr. Und auch die Lehrer verbringen nun mehr Zeit in der Schule. Sie gehen später nach Hause – aber zufriedener.
DIE ZEIT, 14.12.2006 Nr. 51
51/2006