Volksstimme Magdeburg über Treibhäuser

Druckversion 20.12.2004 Welt, Meinung und Debatte: Ein Dokumentarfilm stellt Schulen vor, die sich als Lebensorte sehenMit neuen Lernmethoden Abschied von der „Osterhasen-Pädagogik“ nehmen Es gibt das Leben, und es gibt die Schule. Zu ersterem gehört alles, was Spaß macht. Zum zweiten nur das, was anstrengend und lästig ist. Dass Kinder und Jugendliche Schule so empfinden, muss nicht sein, meint der Journalist Reinhard Kahl. Deshalb sah er sich an Schulen in Deutschland um, die nicht mehr nur Lernorte, sondern Lebensorte sind. Heraus kam der vom Bundesbildungsministerium finanzierte Dokumentarfilm „Treibhäuser der Zukunft – Wie in Deutschland Schulen gelingen“. Die liberale Friedrich-Naumann-Stiftung zeigte ihn jüngst bei einem Forum an der Magdeburger Universität. Der Film blickt in Schulen, die Abschied von der „Osterhasen-Pädagogik“ nehmen. Damit ist ein Unterricht gemeint, bei dem der Lehrer das Ziel fest im Blick hat: Er versteckt ein „Ei“, die Schüler müssen es suchen. Dieser „fragend entwickelte Unterricht“ ist anstrengend – für Schüler wie für Lehrer -, weil er immer nur zu genau einem Ergebnis führen kann. Raum für eigene Lösungsansätze bleibt den Schülern nicht. Wer nicht mitkommt, fällt zurück. Dieser „Belehrungsschule“ setzen Modellschulen in ganz Deutschland – auch in Sachsen-Anhalt – Lernmethoden entgegen, die die Selbständigkeit und Persönlichkeitsentwicklung von Kindern stärken. Zum Beispiel jahrgangsübergreifende Gruppen: Schüler der Klassen 1 bis 4 lernen teilweise gemeinsam, aber nicht alle das Gleiche zur gleichen Zeit. Die Schüler gehen nach individuellen Wochenarbeitsplänen vor: Wer keine Lust auf Mathe-Aufgaben hat oder sie nicht schafft, macht eben Deutsch und an einem anderen Tag Mathe. Manche Schulen gehen noch weiter. An der katholischen Bodensee-Schule St. Martin in Friedrichshafen läutet nie eine Pausenglocke – die Schulstunden wurden abgeschafft. Die Schüler schreiben keine Klassenarbeiten und bekommen keine Noten. Es gibt nicht einmal mehr Fächer. Themen werden vernetzt vermittelt: Zu jeder Theorie-Einheit gehört Praxis. So zeigt der Film Schüler, die zu einem Referat über das Mittelalter Speisen nach historischen Rezepten kochten. Im Konzept der Schule heißt es: „Junge, selbstbewusste, mit dem notwendigen Handwerkszeug und Schlüsselqualifikationen ausgestattete Persönlichkeiten sollen auf ein nicht leichtes Leben nach der Schule vorbereitet und entsprechend gestärkt entlassen werden.“ Die Schule gehört nicht nur zu den ältesten Ganztagsschulen in Deutschland, sondern auch zu den beliebtesten – und erfolgreichsten. Die in Baden-Württemberg zentral gestellten Aufgaben in der 9. und 10. Klasse würden die Schüler „mit einer Hand“ schaffen, betont Schulleiter Alfred Hinz. Anderswo in Deutschland wird ähnlich gedacht wie am Bodensee. In der Freien Schule Potsdam gehört zur Freude am Lernen das Begreifen der Umwelt. „Die Kinder wollen wissen, wie das Leben funktioniert“, heißt es dort. Am Willibald-Gymnasium in Eichstätt sagt ein Lehrer: „Der Unterricht muss Unklarheiten schaffen, damit der Schüler angeregt wird, daraus Klarheiten zu machen.“ An der Jena-Plan-Schule ist zu hören, Wissen müsse mit Fantasie gekoppelt werden, um die Vorstellungskraft zu fördern. Schüler, die Themen selbständig erarbeiten, wüssten teilweise mehr als ihre Lehrer. In der „Osterhasen-Pädagogik“ ist all das undenkbar. Das wird auch in Sachsen-Anhalts Kultusministerium so gesehen. Lothar Flade, der im Ministerium für Schulentwicklung zuständig ist und an dem Forum in Magdeburg teilnahm, hält einen Wechsel in Unterrichtsmethoden für notwendig. „Wir schleppen die Osterhasen-Pädagogik als Kulturgut mit“, sagte er. Das Lernen von Wissen müsse aber mit der Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenzen einhergehen. Flade verwies darauf, dass in Sachsen-Anhalts Grundschulen bereits vielfach alternative Lernmethoden angewendet würden. Langfristig seien auch für Sekundarschulen flexiblere Stundentafeln geplant, damit Schüler „Zeit haben, um Zeit zu haben“. Ingrid Osten vom Institut für Erziehungswissenschaft der Magdeburger Universität hält eine Balance zwischen Leistung und Wohlbefinden für wichtig: „Schüler wollen Leistung erbringen, aber auch einen Sinn darin sehen und Anerkennung finden.“ Die GEW-Bildungssekretärin Annegret Windelband betonte: „Wenn es Kindern gut geht, können sie auch gut lernen.“ Schüler dürften vor allem nicht beschämt werden. Dies hatte im Film auch eine Schulleiterin herausgestellt und Lehrer aufgefordert, mit ihrer Macht verantwortungsbewusst umzugehen. Auf dem Weg zu guten Schulen sieht Kurt Neumann die Eltern in einer Schlüsselposition. Sie müssten sich viel mehr einmischen, sagte der Vorsitzende des Landeselternrates. Zugleich wies er aber auch auf die Gefahr hin, dass viele falsche Maßstäbe an Schule legen – weil sie das Wissen darüber aus der eigenen Schulzeit beziehen. Nach den Wünschen für die Zukunft befragt, schloss Osten: „Ich wünsche mir, dass so ein Film irgendwann auch einmal über die Schulen in Sachsen-Anhalt gemacht werden kann.“Von Philipp Hoffmann (MRSA) URL: www.volksstimme.de/artikelanzeige.asp?Artikel=624773Copyright © 2000/2001/2002, Volksstimme