Schüler brauchen Sicherheit

Schüler brauchen Sicherheit

 

 

Was macht die Haut so empfindlich, dass ein Mückenstich zu riesigen Schwellungen führt? Der Mückenstich war in diesem Fall der Hilferuf aus der Rütli-Schule in Berlin. Es ist ja nicht neu, dass Lehrer in Hauptschulen am Rande des Kollaps agieren. Wieso dann tagelang die Schlagzeilen? Die übliche Skandalisierungsgier der Medien reicht nicht als Erklärung. Schließlich mieden sie jahrelang das Thema Schule als sei es eine Androhung zum Nachsitzen für Erwachsene. Seit Pisa schnellt die Aufmerksamkeit für Bildung nach oben. Da wird, um im Bild zu bleiben, eine Hautschicht um den Gesellschaftskörper hoch sensitiv. Nicht nur in Deutschland.

 

In Frankreich ging eine ganze Generation auf die Straße. Auch dort war es im Grunde ein kleiner Stich, der diese völlig unerwartete Erregung auslöste. Ein Gesetzentwurf definierte die ersten zwei Berufsjahre zur Probezeit. Jederzeit kündbar. Das wurde als Zeichen verstanden.

 

Offenbar versucht in beiden Ländern die Öffentlichkeit mit diesen großen Erregungen Themenfelder neu zu vermessen. Was ist das für ein Leben, fragt man in Frankreich, wenn ein Teil, vielleicht sogar ein Großteil der jungen Generation abgehängt wird? In Deutschland dringt ins Bewusstsein, auf was für eine Katastrophe es hinaus läuft, wenn das Schulsys-tem fast ein Viertel des Jugendlichen zu „Risikokandidaten“ stempelt, wie es die Pisa-Studie formuliert. Fünfzehnjährige, die nur die Kompetenzen von Viertklässlern erreichen, und oft nicht mal die. Da kommt auch die Angst davor auf, dass sich die Deklassierten Parallelwelten schaffen werden. So sprang die Aufmerksamkeit für die Rütli-Schule hin und her zwischen der Schulmisere und der befürchteten Gewalttätigkeit zumal von Jugendlichen aus Zuwandererfamilien.

 

Die französische Gesellschaft wurde schon Monate zuvor von Gewaltexzessen in den Vorstädten verstört. Nun meldeten sich die vergleichsweise privilegierten Jugendlichen aus den Hochschulen und Gymnasien zu Wort. Auch sie sind sich offenbar nicht mehr sicher, in der Gesellschaft heil anzukommen. Das zumindest ist die gefühlte Wirklichkeit vieler jungen Franzosen. Das Gesetz wurde verhindert, aber die Ratlosigkeit blieb.

Ratlosigkeit auch in Deutschland. Der Maßnahmen-Aktionismus, mit dem auf den Rütli-Skandal reagiert wurde, konnte ein paar Tage die Medien füttern. Erst schickte man Polizisten vor die Schule, dann sollen Sozialpädagogen hinein und etwas mehr Geld für Brennpunktschulen wurde halbherzig in Aussicht gestellt. Wird das helfen? Gewiss, für die Rütli-Schulen unseres Landes ist erste Hilfe nötig. Aber steht nicht so etwas wie die Formulierung eines zeitgemäßen Rütli-Schwurs an? Die meisten kennen diesen Gründungsmythos der Schweiz aus Schillers Wilhelm Tell: „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern…“  Ziehen wir das Pathos ab. Wird es nicht darauf ankommen, der nächsten Generation ein prinzipielles Versprechen von Zugehörigkeit zu geben?

 

Die Politik kann Arbeitsplätze zwar fördern, sie aber nicht beschließen. Die Welt der Maßnahmen ist eng. Die hoch Qualifizierten stehen in scharfer internationaler Konkurrenz. Auch wer reüssiert, weiß, wie schell er draußen sein kann. Gering Qualifizierte sind bald außer Konkurrenz. Muss die Gesellschaft nicht schon deshalb alle Kraft und Phantasie für ihre Bildungseinrichtungen mobilisieren, um hier Orte zu kultivieren, die qualifizieren, von denen aber auch Sicherheit und Zugehörigkeit ausgeht? Das ist nicht die deutsche Tradition. Wir denken nur an Räume für Unterricht und Betreuung, aus denen sich mittags Lehrer wie Schüler schnell davon machen. Nein, wir müssten uns in Kitas, Schulen und Hochschulen tatsächliche die Kathedralen der Gesellschaft vorstellen. Jede besser als die schönste Sparkasse der Stadt. Das Wort Schule hieß bei den alten Griechen „frei sein von Geschäften“.

 

Gute Schulen und Kitas in Deutschland zeigen schon wie es geht. Ihre Botschaft heißt, jeder gehört dazu, keiner wird beschämt, ihr könnt alle viel mehr als ihr glaubt. Je mehr Theater gespielt wird desto besser die Pisa-Ergebnisse. Das glauben viele nicht. Bildungseinrichtungen müssen das Gedächtnis der Gesellschaft sein. Heute kommt es darauf an, dass sie auch unsere Zukunftswerkstätten werden. Dazu gehört natürlich, dass das zerklüftete deutsche Sytem aus Haupt-,

Real- und Sonderschule mit dem über allem schwebenden heiligen Gymnasium überwunden wird. Denn die Botschaft dieses Systems, auch an viele, die es schaffen, ist eine vergiftete: Es ist fraglich, ob Du überhaupt dazu gehörst.