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„Politik nach der Politik„
13.8.
Schon bei den vergangenen Wahlen wurde nicht gewählt, sondern abgewählt. Aber die Sache ist noch steigerungsfähig. Es sieht so aus, als würde Frau Merkel bereits schon wieder abgewählt, bevor sie gewählt worden ist. Da das ja auch kein Grund zum Weiterschrödern ist, wird sie dann dennoch gewählt werden, allerdings schon mit dem Vorzeichen der Abgewählten.
Heute ein ganz gutes Interview mit dem Parteiendemoskopen Manfred Güllner in der taz: „Wenn die Wähler dann so enttäuscht von Schwarz-Gelb wie von Rot-Grün sind, dann entsteht ein politisches Vakuum.“
14. 8.
Alles orange. So könnten sie doch alle rumlaufen. Nicht nur Frau Angela und ihre Paladine. War das nicht auch die Farbe von Sekten? Und sind die Politikprofis vielleicht auch bald eine Sekte? Ich finde allerdings, es gibt gar keinen Grund der alten Farbenlehre von schwarz, rot, grün nachzutrauern. Auch dass die alten Feindschaften nicht mehr blühen, ist kein Verlust, nur einer an Unterhaltungswert. Vielleicht reicht unsere Beobachtungs- und Analysekraft nicht aus, zu erkennen, wohin die Politik, die aus der Politikerpolitik auswandert, treibt. Gibt es erkennbare Orte, wo sie sich wieder einnistet? Erst keimhaft vielleicht? Jedenfalls will ich bis Donnerstag meinen Blick auf dieses Verschwinden schärfen und dem eventuell erneuten Auftauchen von Politik nachspüren. Wir müssen viel mehr Trüffelschweine sein.
In den Medien läuft der große katholische Jugendauflauf in Köln schon jetzt dem Wahlkrampf den Rang ab. Merkwürdig. Der emphatische Ort der Politik seit der französischen Revolution war doch die Straße, ab und zu eine mit Barrikade. Die Straße, die Jugend, die auf die Straße geht und die Emphase, das alles gehört in diesen Tagen den katholischen Jugendlichen und dem alten Mann aus Rom.
Politik hatte die großen Figuren des christlichen Glaubens säkularisiert: Den Erlösungswunsch und die Fixierung auf Zukunft, die Selbstbeschreibung im Jammertal und das anstehende letzte Gefecht oder eben die Apokalypse. Alles säkularisierte Religionsmuster. Aber das ist nicht mehr die mentale Grammatik der Jugendlichen, die nach Köln fahren. Sie treten die Nachfolge der letzen großen Bewegung an, die auf die Straße ging: die Loveparade. Aber ihr Narzissmus trug nicht weit. Mehr als ausziehen, kann man sich ja nicht. Auch der Multikulti-Karneval ist viel zu selbstreferenziell, um wirksam werden zu können. In der Kölner Wallfahrt allerdings könnte vielleicht doch noch etwas anderes liegen. Es gibt neben der Erwartung des „Events“ und dem Tanz um den Poppapst eine Dimension des Glaubens. Ich meine nicht diesen Kinder- und Katechismusglauben. Ich denke an einen Glauben im Sinne des „Möglichkeitssinns“, wie ihn Robert Musil im „Mann ohne Eigenschaften“ skizzierte. Ein Glaube, der mit Politik im emphatischen Sinne sehr verwandt ist. Der Glaube als ein Medium für die Frage, wie wollen wir leben? Ein Glaube jenseits des kruden Pragmatismus, der keine Alternativen mehr zulässt. (Wie sagte doch Schröder, es gibt keine rechte oder linke Wirtschaftspolitik, sondern nur richtige und falsche. Das heißt im Klartext, es gibt gar keine Politik.)
Wo dieser Glaube ist, wohlgemerkt nicht der Glaube an den Landgerichtspräsidenten mit Bart, der hinter der Wolke sitzt und Sündenkonten für uns Erdenwürmer führt, sondern ein Glaube, der einen schwer bestimmbaren Raum aktiviert, da kann Politik entstehen – muss nicht entstehen. Ich bezeichne diesen Raum, um es kurz zu machen mit einem meiner Lieblingszitate von Hannah Arendt: „Die Welt liegt zwischen den Menschen, und dies Zwischen – viel mehr als, wie man häufig meint, die Menschen oder gar der Mensch – ist heute Gegenstand der größten Sorge und der offenbarsten Erschütterungen in nahezu allen Ländern der Erde. Selbst wo die Welt noch halbwegs in Ordnung ist oder halbwegs in Ordnung gehalten wird, hat die Öffentlichkeit doch die Leuchtkraft verloren, die ursprünglich zu ihrem eigensten Wesen gehört. Mehr und mehr Menschen in den Ländern der westlichen Welt, die seit der Antike die Freiheit von Politik als eine der Grundfreiheiten begreift, machen von dieser Freiheit Gebrauch und haben sich von der Welt und ihren Verpflichtungen in ihr zurückgezogen.“
Dieses „Zwischen“ wieder zu aktivieren, das wäre eine Bedingung für Politik. Dieses Zwischen bildet Atmosphären, in denen Wirklichkeit auskristallisiert wird.
15. 8.
Wieder mal ferngesehen. Auf N24 Schily und Beckstein so einvernehmlich, als sollte diese Inszenierung dem letzten Glotzer klar machen, dass es bei der Wahl nichts zu wählen gibt. Die beiden duzen sich und erzählen bei welchem Rotwein es dazu kam. Warum werden solche Rotweinszenen nicht direkt gesendet? Nun erzählen sie, dass man sich bei Schily zu Hause Hausschuhe anzieht und dass man bei Becksteins auf Socken oder barfuss wandelt. Da zieht es einem nun wirklich die Schuhe aus. Und damit ist jetzt das Niveau des politischen Diskurses dieser Wahl endgültig definiert. Es reicht.
Nicht ganz.
Klar wird jedenfalls, dass das ganze Stoiber-Spektakel sein muss. Dieses Spektakel oder ein anderes. Weil ja es ja kaum Referenzpunkte gibt: Programme, Ziele, beschreibbare Lösungsvorschläge für konkrete Probleme. Deshalb muss sich der Wahlkampf selbst zum Wahlkampfthema machen. Das Selbstreferenzielle auf dem Höhepunkt. Wie die akustische Pfeiftonrückkopplung, die entsteht, wenn das Mikrofon zu nahe am Lautsprecher steht.
16. 8.
Dieser Gedanke beschäftigt mich jetzt dauernd: Woran glauben wir, was halten wir für möglich, was wollen wir? Man könnte auch am Nullpunkt der alten Politik, die aus Forderungen, Kritik & Co. bestand, fragen: Wann werden wir endlich konstruktiv? Ja! Wo bleibt das Positive? Das war lange die Spur der Naiven, der Opportunisten und der Phantasielosen, der frisch Geduschten und angezogen auf die Welt Gekommenen: das Positive. Es wird Zeit, dass wir, die aus der Tradition der Kritik und des Protestes kommen, also die mit der Welt nicht einverstanden sind, in unserem Nichteinverständnis allein keine Auszeichnung mehr sehen. Wie wäre es mit einem subversiven Konstruktivismus?
Im politischen Atheismus haben inzwischen die Alt-68er und ihre Kinder einen gemeinsamen Nenner. Der wäre zu überwinden. Sich vorstellen, was gelingen könnte!
17. 8.
Ein Beispiel für neue Politik. Ich würde sie lieber Polytik nennen. Wegen der Vielfalt, die gegen die Einfalt mobilisiert werden muss. Ein Beispiel für Polytik aus dem Bereich, in dem ich als Journalist vor allem arbeite, der Bildung.
In Wiesbaden plant meine Freundin Enja Riegel, die inzwischen pensionierte Leiterin der famosen Helene-Lange-Schule auf dem traumhaften Grundstück der ehemaligen Gartenbauversuchsanstalt des Landes Hessen eine freie Schule von der Vorschule bis zum Abitur – und dazu ein Gästehaus zur Lehrerbildung. Für das Grundstück bürgt die Stadt Wiesbaden mit 1,5 Millionen. Alle Fraktionen von CDU bis Grün haben zugestimmt. Die „rote Enja“ galt einst den Bürgern der Stadt als Bürgerschreck. Nun unterstützt die CDU-Schulreferentin dieses Projekt. Zugleich betreiben diese schwarze Referentin und die rote Schulgründerin, die schon mal für die SPD Kultusministerin werden sollte, die Umgründung staatlicher Schulen.
So wünsche ich mir eine große Koalition: Ermöglichung ungewöhnlicher Bündnisse. Das wäre die Realpolitik, auf die es ebenso ankommt, wie auf die Konstruktion des Glaubens als Möglichkeitssinn. Das ist doch der Kern von Politik: Zusammen handeln. Noch mal Hannah Arendt. Sie schreibt in Vita Aktiva, „Macht kommt von Mögen.“
Vielleicht könnte die Bildungsszene ein Modellfall für Politik werden. Hier wird es am deutlichsten, dass die Zentralen gar nicht darüber hinweg täuschen können, dass sie nichts mehr zu melden haben. Und man sollte auch damit aufhören ihnen das vorzuwerfen. Die Gesellschaft ist jetzt dran. Aber ob die Gesellschaft souveräner wird ob sie oder verwahrlost, ist ganz und gar kein Selbstgänger. Das Abdanken der Politik, ohne eine Repolitisierung der Gesellschaft könnte böse enden.
In der Nacht vom 17. zum 18.
Herr Kirchhoff als Finanzminister im orangenen Team? Vielleicht könnte die Steuerpolitik ein Medium der Politisierung werden. Dann hätte eine CDU Regierung ihr Recht. Am Image von Steuern wird deutlich, wie infantil und feudalistisch in Deutschland noch Politik konstruiert ist.
Ein Beispiel. Kürzlich in der Schlange vor der Kasse im Buchladen. Ein Mensch, der sich seine Bücher als Geschenke einwickeln lässt, verlangt eine Quittung fürs Finanzamt. Niemand räuspert sich. Von Protest ganz abgesehen. Es gilt nicht als unschicklich sich mit seinen Tricks beim Steuerhinterziehen zu brüsten. In der linken Kneipe und bei den feinen Gelagen vieler Arrivierter klingt es, als ginge es bei der Steuerhinterziehung um einen Partisanenkampf gegen die Obrigkeit. Es ist als wolle man laut sagen, die gemeinsamen Dinge sind gar nicht unsere Sache. Solange es viele Deutsche vorziehen, Opfer zu sein, statt sich zum Handeln zu verabreden und ihre Differenz zu respektieren, haben wir eine Normalität von Demokratie noch gar nicht errungen. Zu einer neuen Politik gehört ein Wort, das in Deutschland immer noch Tabu ist: Wir. Das Ganze ist tatsächlich unsere Sache. Der Staat ist ein Organ der Gesellschaft und nicht die leibhaftige Obrigkeit, gegen die man zu kämpfen hat.
Vielleicht könnte eine große Koalition den Effekt haben, Politik nicht mehr nach oben, also an die Politiker zu delegieren, sondern nach unten, in den Alltag und den zu politisieren? – Oder?