Nun ist zu all den anderen Krisen auch noch die demografische Verfinsterung gekommen. Deutschland vermisst seine Kinder. Lauter letzte Menschen in einem Land ohne Zukunft? So spricht die katastrophenverliebte, die panische Stimme.
Ein Ton, der den Deutschen liegt, der aber vielen hierzulande langsam über ist.
Zuerst fehlten die Kinder in den Statistiken der Demografen. Heute ziehen 1000 Frauen in Deutschland 670 Töchter groß. Denen folgen 450 Enkelinnen. Und die bringen noch 300 Urenkelinnen zur Welt.
Der Diagnose der Bevölkerungswissenschaftler folgte der Alarm der Rentenpolitiker.
Der Dritte im Bund ist die Wirtschaft: „Die Verfügbarkeit von Humankapital wird sich zusehends verschlechtern und zur Wachstumsbremse“, warnte Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft.
So oder so ähnlich klingen die Vermisstenanzeigen für den ausbleibenden Nachwuchs. Fehlen da neben den unterzeichnenden Fachleuten für Demografie, Renten und Wirtschaftswachstum nicht andere Stimmen? Noch bleiben die Personalchefs, Bürgermeister und Statistiker unter sich. Sie drohen, wenn das so weiterginge, müssten bald Schulen, Schwimmbäder, Fabriken und, wer weiß, vielleicht irgendwann auch die Konten der Rentner geschlossen werden. Aber es geht so weiter. Zuletzt verringerten sich die Geburten um weitere 4,2 Prozent, stärker noch als in den Vorjahren.
Nun nutzen die schon länger arbeitslos gewordenen Apokalyptiker ihre Stunde. „Ab in die Wälder – Wölfe treten an die Stelle der Menschen“, schrieb der „Spiegel“ über die demnächst entvölkerten Regionen. Tatsächlich gelten Teile von Mecklenburg-Vorpommern nach den Normen der EU-Statistik bereits als unbewohnt. Das gleiche Magazin benannte eine Titelgeschichte über Einzelkinder in Restfamilien „Unter Wölfen“. Tatsächlich werden Kinder überall zur Minderheit. In allen Regionen. In den meisten Familien. In der Öffentlichkeit.
Aber etwas kommt in diesem Sorgendiskurs einfach nicht vor. Das Interesse an Kindern. Vor allem an den bereits geborenen.
Es ist schon merkwürdig, neben dem gestochen scharfen Katastrophenbild gibt es einen riesigen blinden Fleck. Um ihn zu orten, stelle man sich vor, all die demografischen, renten- und arbeitsmarktpolitischen Probleme wären durch einen politischen Zauber gelöst. Wir bekämen Zuwanderung von tatendurstigen Eliten aus der Dritten Welt, dazu eine wunderbare Geldvermehrung in den Rentenkassen und auch noch intelligente Roboter. Mangel an späteren Arbeitskräften, an Steuer- und Rentenzahlern wäre also nicht mehr zu beklagen. Nur der an Kindern. Aber wem würden sie dann noch fehlen? Wir nähern uns dem Problem.
Den meisten fehlen gar nicht die Kinder, ihnen fehlt einfach die Lust auf sie. Übrigens müssten es ja nicht unbedingt die eigenen sein.
Aber in einer Welt, in der Kinder selten und seltener werden, fühlen sich auch kinderwunschresistente Erwachsene langsam verloren. Ihre Lebenswelt wird alt. Der menschlichen Sterblichkeit fehlt das Gegengewicht, das Hannah Arendt „Natalität“ oder auch „Gebürtlichkeit“ nannte. Kinder sind eben nicht nur der Nachwuchs für die Subsysteme der Gesellschaft. Um diese am Laufen zu halten, bekommt niemand ein Kind, selbst wenn hohe Gebärprämien ausgesetzt würden. Nochmals: Warum werden die Kinder selbst so wenig vermisst? So wie sie sind. Ohne weitere Gründe, außer dem einen, dass wir sie mögen, ja sogar lieben? Wer singt das schöne Lied: „Wie schön, dass Du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst“?
Ohne Kinderwunsch bleibt das Alarmieren und Drohen unfruchtbar, ja es erweist sich als ein Teil des beklagten Problems.
Gäbe es also nur das demografische Unglück, es sähe wirklich finster aus. Aber da ist auch noch eine andere Seite. Immer mehr Menschen erschrecken darüber, dass sie gar keine Kinder mehr kennen. Manch edle Wohnstraße ist kinderfrei. Viele Menschen wollen lieber von der ungestümen Energie und dem unersättlichen Fragen der nervenden Kleinen verschont bleiben. Gerade sie aber bräuchten Kinder, von denen sie ins Leben hineingezogen werden. Gewiss, Kinder stören. Sie unterbrechen Routinen. Ja, sie sind die genialen Unterbrecher und Neuanfänger. Und genau dieses Unterbrechen und Neuanfangen fehlt der Gesellschaft insgesamt. Wo ist die Unruhe im Uhrwerk? Unterbrechen und Neuanfangen ist ebenso wichtig wie das Weitermachen, dessen Gefährdung so häufig beschrieben wird. Neuanfänge und Kontinuität kann man natürlich so wenig gegeneinander ausspielen wie den Plus- gegen den Minuspol oder wie die Vergangenheit gegen die Zukunft.
Kinder sind die Zukunft in einem doppelten Sinne. Sie sind nicht nur eine Zukunft, die brav in die Fußstapfen der Vergangenheit tritt, eine, über die man genaue Aussagen machen kann, Prognosen exakt bis hinter das Komma, als wäre sie bereits eingetreten.
Kinder sind noch eine ganz andere Zukunft. Eine, die wir nicht kennen. Dieser Möglichkeitssinn für eine offene Zukunft ist in Deutschland schwach. So schwach wie der freundliche, neugierige und erwartungsvolle Blick auf Kinder.
Wenn das Verhältnis zu Kindern so eng mit dem Verhältnis zur Zukunft verflochten ist, dann stellt eine neue Aufmerksamkeit für Kinder, auch wenn sie mit dem Schock über den Kindermangel beginnt, eine enorme Chance dar. Zur demographischen Erregung kommt nun etwas anders: Die Entdeckung der frühen Jahre als Bildungszeit. Es geht dabei nicht nur darum, dass alle gut qualifiziert sein sollen. Das wäre der Mindesteinsatz, der allerdings in Deutschland einem Viertel der nachwachsenden Generation vorenthalten wird, wie die Pisa-Studien zeigen. Bildung ist das Versprechen, dass all die verschiedenen Individuen ihr Eigenes ins Spiel bringen und mit ihren Talenten wuchern können.
Wie also bekommt das Neue, das Noch-nie-da-gewesene, eine Chance? Die japanische Tradition könnte uns auf die Sprünge helfen. Sie hat gar keinen Begriff, der unserer Konstruktion von Zukunft entspricht. Zukunft ist dort etwas, das sich in Lücken, die man in der Gegenwart für das Unerwartete lässt, einnistet. Das Neue ist ein scheues Geschöpf. Es kommt auf Umwegen. Mit fester Absicht und klarem Ziel kann ja nur etwas hervorgebracht werden, das man bereits kennt, wovon zumindest ein Bild existiert. Auf geraden und eingefahrenen Wegen spaziert nur die Vergangenheit weiter. Die Zukunft ist ein Kind des Hungers und der Vorfreude auf etwas, das sein könnte. In wacher Gegenwart kommt ein Sog auf, der Zukunft schafft. Sie bleibt aus, wenn sie nicht eingeladen wird. Sie braucht Entwicklungsräume, Inkubatoren, gut klimatisierte Treibhäuser.
Was in der japanischen Tradition die Lücke ist, ist in der abendländischen Tradition die Idee der Unvollkommenheit. Da wird es brenzlig. Sieht man sie als die Erbsünde, also als eine angedrohte Verdammnis, der man dadurch entkommt, dass man versucht, möglichst ein ganz anderer zu werden oder zumindest als ein anderer zu erscheinen? Sucht man also sein Heil in Perfektion und Fehlerverleugnung? Oder wird die Unvollkommenheit als unverzichtbare Bedingung für die Möglichkeit entwicklungsfähiger Wesen gesehen? Weil Menschen unfertig sind, haben sie etwas nicht Festgelegtes vor sich. Und weil alle Menschen auf verschiedene Weise unvollkommen sind, mussten sie sich in ihrer Evolution etwas Gemeinsames schaffen: die Sprache, die Kultur, die Kooperation und die Traditionen. Sie alle sind kein Teil der Naturgeschichte mehr.
Das alles verdankt sich dem besonderen Handicap der menschlichen Gattung. „Neotenie“ heißt dafür der Schlüsselbegriff. Der Mensch wird zu früh geboren. Eigentlich bräuchte er 21 Monate intrauteriner Reifungszeit. Zeitlebens behält dieses merkwürdige, zudem mit Instinkten schlecht ausgestattete, wenig festgelegte Tier etwas von seiner Jugend. Der Mensch ist eine Paradoxie, ein geschlechtsreif gewordener Affenfötus. Dazu gehören auch die andauernde Fähigkeit zu lernen und die schier endlose Lust am Spiel.
Dass diese Unreife eine durchaus ambivalente Angelegenheit ist, muss man ja nicht extra betonen. Kein Wesen kann so misslingen wie die von unserer Art.
Es sieht nun so aus, als würden der biologischen Neotenie, die Kultur überhaupt erst ermöglicht hat, Schübe einer Neotenie in der Kultur folgen. Zu beobachten ist ein regelrechter Verjüngungsschub bei den Erwachsenen. Wenn man sich zum Beispiel Bilder von der Fußballweltmeisterschaft 1954 ansieht, dann sahen die Spieler damals zumindest eine Generation älter aus als heutige. Da ist etwas in Gang gekommen. Offenbar leistet sich die Kultur den Luxus, die Reifezeit noch weiter zu dehnen. Spätestens hier kommt die Frage auf, ob die Tatsache, dass heute überwiegend „Wunschkinder“ zur Welt kommen, nicht zu dieser neuen Konstellation verlängerter Reifezeit gehört? Eine Bedingung, aus der unweigerlich folgt, dass die Geburtenrate sinkt. Dass sie nicht notweniger Weise so stark sinken muss, wie derzeit in Deutschland, beweisen ja die skandinavischen Länder. Jedenfalls verliert auch das Kinderkriegen seine alte Naturwüchsigkeit. Geburten sind nun auch eine Antwort darauf, ob potentielle Eltern glauben, den erhöhten Anspruch auf Reifung bzw. Bildung erfüllen zu können. Das ist im Kern doch verantwortlich!
Der amerikanische Kulturwissenschaftler Robert P. Harrison sieht bereits den Ursprung Europas in einer „neotenischen Revolution“ vor zweieinhalb tausend Jahren. Mit Sokrates lehnte sich der Lernende, der fragt und der nur weiß, dass er nichts weiß, gegen die Weisheitstradition auf. Diese Position von Frage und Kritik nennt Harrison „Intelligenz“. Platon, so Harrison, hätte diese Intelligenz des Nichtwissens wieder mit den Antworten der Weisheit versöhnt. Auch Christus sei ein neotenischer Rebell. „Werdet wie die Kinder!“ Das Christentum habe dann in das Neue Testament wieder das alte eingemeindet. Stehen heute die ursprünglichen Impulse von Sokrates und Christus erneut auf der Tagesordnung? Befinden wir uns in einer zweiten neotenischen Revolution?
Das Selbstbild der Menschen verändert sich. „Das Alter ist die radikalste Form der Unfertigkeit,“ schrieb der kürzlich verstorbene Altersforscher Paul Baltes. Ist es ein Zufall, dass die Neuentdeckung des Alters und der Kinder unter diesem neuen Vorzeichen des Unfertigen steht?
Nun dämmert es uns in vielen Zusammenhängen, was der englische Schriftsteller T. S. Eliot schon wusste: „Perfektion bekommt keine Kinder.“ Sie ist steril.
Blicken wir genauer auf die besondere Unfertigkeit der Kinder, aus der sich ihre ganz besondere Lern- und Entwicklungsfähigkeit ergibt. Unmittelbar nach der Geburt beginnen Säuglinge, die Mimik der Erwachsenen zu imitieren. Sie können bereits verschiedene Sprachen unterscheiden. Sie sind klug. Nicht nur das Rausstrecken der Zunge, das sie bald nachahmen, verbindet sie mit Albert Einstein. Noch vor einer Generation wären Wissenschaftler ausgelacht worden, wenn sie Babys als kleine Wissenschaftler, als „Forscher in Windeln“ oder als „kompetente Säuglinge“ beschrieben hätten, die durch Ausprobieren, Verwerfen und Imitieren ihre ganz besonderen Forschungsprogramme durchführen.
Die Bobachtungen und Theorien der wissenschaftlichen „Babywatcher“ wälzen manche Theorie um und sie vervollständigen unser Wissen. Das wichtigste aber ist wohl, dass sie mit ihrem veränderten Blick auf die Kinder eine andere Ethik in die Gesellschaft hineintragen: Respekt vor den Leistungen und vor dem Eigensinn der Kinder. Bewunderung für das Geniale dieses Lernens, das bisher gar nicht als Lernen, sondern eher als ein Aspekt des natürlichen Wachstums angesehen wurde. Die Kleinsten galten bloß als „lebendiges Gemüse“ ohne nennenswerte kognitive Fähigkeiten.
Während die Bevölkerungswissenschaftler dem Land seine demographische Implosion vorrechnen und diese Botschaft auf der empfangsbereiten Frequenz für gefühlte Katastrophen senden – nebenbei, auf diesem Sender liefen noch vor wenigen Jahren Programme über die Bevölkerungsexplosion, die den Planeten zu ruinieren drohte – während also die Nachrichten für Untergangserregungen überboten werden, hat die Gesellschaft vielleicht die entscheidende Lektion noch vor sich: Die Wiederentdeckung der Kinder und damit das Widergewinnen einer Passion für den Anfang, für die Neugierde, für das Spiel und überhaupt für eine aktivere und optimistischere Position.
Vielleicht steckt in den Bildern, die eine Kultur von Kindern hat, viel mehr von ihrem Selbstbild, als ein Angehöriger dieser Kultur selbst wissen kann. Die Chancen stehen jedenfalls nicht schlecht, dass uns die Kinder, wenn wir sie denn neu entdecken, auch eines Besseren über uns selbst belehren und die Gesellschaft enorm bereichern werden. Albert Einstein antwortete auf die Frage, wie er sich seine Entdeckungen erkläre, „weil ich immer das ewige Kind geblieben bin.“