Nach Pisa – Zukunft der Schule (3)

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Südwestrundfunk

SWR2 Wissen

Titel: Auf den Anfang kommt es an!

Auswege aus der deutschen Sackgasse

Aus der Reihe: Nach PISA – Die Zukunft der Schule (3)

Autor: Reinhard Kahl

Redaktion: Bildung

Sendung: 2.11.2002

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MANUSKRIPT

 

 

 

Zitator:

Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.

Sprecher:

Etwas übertrieben, diese Spruchweisheit. Auch Hans kann noch lernen. Er kann sogar umlernen und verlernen – und das, was sich allzu sehr verfestigt hat, auch wieder lockern und sozusagen „ent-lernen“.

Das zeigt die moderne kognitive Psychologie. Ihre Quintessenz klingt paradox:

Zitator:

Man kann nicht Nicht-Lernen.

 

Sprecher:

Dennoch ist der Hänschen-Satz ist klug – klüger zumindest als die deutschen Bildungseinrichtungen.

Denn bei uns wird der Anfang des Lernens vernachlässigt. Später wird dann repariert.

Sprecherin:

Bei den Bildungsausgaben ist Deutschland in der Sekundarstufe 2, also der Oberstufe des Gymnasiums, international führend. Schlusslicht hingegen sind wir in der Vorschule und in der Grundschule.

Sprecher:

Die Kleinen und die Benachteiligten werden – so muss man es wohl sagen – vernachlässigt. Wir investieren in die Privilegierten, die Oberstufenschüler. Aber nach 10 Jahren Schule haben viele, die in die Oberstufe eintreten, innerlich schon abgeschaltet. Sie sind nur noch auf ihren Abschluss aus, der für sie eher einer Appretur gegen die Unbill des Lebens gleichkommt als einem Abitur, einer Reifeprüfung. So verpufft diese späte Investition.

Zu den verheerenden Ergebnissen der PISA-Studie gehört auch dieses:

Zitator:

Die deutsche Leistungsspitze ist im internationalen Vergleich schwach.

Sprecherin:

Schon die Kleinen müssen sich im harten Wettbewerb um individuelle Karrieren bewähren. Nach der vierten Klasse, mit 10, 11 Jahren, werden die Weichen für die Schullaufbahn gestellt. Und da die Eltern wissen, dass es eine Entscheidung fürs Leben ist, drängen sie auf Erfolg und nehmen es hin, dass über ihr Kind schon endgültige Urteile gefällt werden.

Das verkürzt die Entwicklungszeit der Kinder.

Und weil man bei uns bislang die Zeit vor der Einschulung nicht wirklich als „Bildungszeit“ schätzt, wird auch in die frühen Schuljahre – die beste Lernzeit – nur schwach investiert.

Sprecher:

Erst wenn das Kind dann in den Brunnen gefallen ist, wenn Jugendliche in der Schule gescheitert sind, wenn 10% eines Jahrgangs ohne Abschluss in die Zukunft entlassen werden…

Sprecherin:

Zum Vergleich: In Finnland blieben in den letzten Jahren im ganzen Land jeweils nur 50 Jugendliche ohne Schulabschluss!

Sprecher:

…. dann erst wird in Deutschland für die Problemkinder Geld ausgegeben – für fragwürdige Maßnahmen zur Eingliederung, Umschulung, letztlich zur Unterbringung.

Und oft geht es dabei bloß um die Kosmetik von Arbeitslosenstatistiken.

Kein vergleichbares Industrieland produziert so viel Scheitern wie Deutschland mit seinem dreigliedrigen, in Wahrheit jedoch fünfgliedrigen Schulsystem. Denn neben der Haupt- und Realschule sowie dem Gymnasium besuchen 5% der Schüler eine Sonderschule. Eine so große Gruppe ist international einmalig.

Sprecherin:

Als fünfte eigene Schulform hat sich in den meisten deutschen Bundesländern die Gesamtschule heraus gebildet. Schulen, die intern sogar noch schärfer auslesen als unserer gegliedertes System im Ganzen. Auch die deutschen Gesamtschulen sind im internationalen Vergleich kein Ruhmesblatt unseres Bildungssystems.

Sprecher:

Alles in allem bleibt ein gemeinsamer Nenner: Dem „Anfang“ gegenüber haben wir hier zu Lande einen Vorbehalt.

Das betrifft nicht nur die frühen Jahre und die Grundschulzeit. Auch der Neuanfang, der eine Seele des Lernens und des Lebens ist, wirkt eher verdächtig. Vielleicht, weil man ihm unterstellt, mit Scheitern, Fehlversuchen und Umwegen im Bunde zu stehen – und nicht mit Mut, Offenheit und Begeisterung?

Zitator:

„Der Anfang ist auch ein Gott, wo er waltet, rettet er alles.“

Sprecher:

So schön hat Platon vor fast 2.500 Jahren den Anfang beschrieben. Und was haben wir aus ihm gemacht? Wir Deutschen, Weltmeister des Industriezeitalters, verliebt in die fertige Welt?

Zwar hat sich der deutsche Generalverdacht gegenüber dem Anfang und den Anfängern in den letzten Jahren etwas gelockert.

Doch im Zweifelsfall erwarten wir von anderen und von uns selbst noch immer Perfektion. Schon die Kinder sollen möglichst früh „fertig“ sein und spätestens nach der vierten Klasse in Zügen Platz genommen haben, die mit unterschiedlicher Spurbreite ins spätere Leben fahren.

Sprecherin:

Der Glaube daran, dass Kinder schon früh im Wesentlichen fertig sind, ist lern- und entwicklungsfeindlich. Die kostspieligen Folgen dieser Haltung wurden uns noch nie so deutlich vor Augen geführt wie von der PISA-Studie:

Cut 1a: (Baumert)

Ich glaube, dass man durch die Bank durch und zwar in allen Schulformen Lesekompetenz als erworben voraussetzt – mit dem Abschuss des Schriftspracherwerbs am Ende der Klasse vier.

Sprecherin:

Jürgen Baumert, der wissenschaftliche Leiter des deutschen PISA- Konsortiums.

 

Cut 1b: (Baumert)

Dort erwarten im Grunde die Lehrkräfte, dass das erledigt ist. Sozusagen ein stufentheoretischer Schematismus, man hat es gelernt und man kann es dann, und was Hänschen nicht gelernt hat lernt Hans nimmer mehr, man guckt hinterher überhaupt nie mehr hin, wie gut die Lesekompetenz ist und ich bin sicher, dass an Hauptschulen die Standardtexte von Schimmelreiter und Pole Poppenspäler allein von der Art der Literatur und von der Sprache her für viele Schüler überhaupt nicht nachvollziehbar sind, und das Aufregende ist eigentlich, dass das nicht auffällt. Dass man klug über Texte reden kann, ohne die Texte verstanden zu haben. D.h. man kann durch die Sekundarstufe eins, durch die Mittelstufe marschieren, ohne dass ein Mangel in der Kompetenz in Basisqualifikationen auffällt.

Sprecher:

Dieser Befund war natürlich schon vor der Veröffentlichung der PISA- Daten bekannt. Dass in unseren Schulen viel geblufft und damit viel Energie verschwendet wird, wusste im Grunde jeder. Und viele ahnten: Die Täuschungen und Selbsttäuschungen von Lehrern und Schülern entspringen dem Verdruss von Betrügern, die selbst betrogen wurden.

Nur dachte man in Deutschland bisher oft: So ist eben die Schule, und so sind die Menschen.

Sprecherin:

Nein. Sie können auch anders.

Cut 2:

Atmo & O-ton Finnland / Schüler singen und Atmo Vorschule / total 0´39

(nach 0´23 Übergang vom Singen in den O-Ton der Vorschullehrerinnen – die ersten 8 bis 10 Sek. bitte offen lassen)

Sprecher:

Eine finnische Vorschule. Als erstes fällt die Atmosphäre zwischen den Erwachsenen und den Kindern auf: eine

des gegenseitigen Respekts. Kinder niemals zu beschämen, das ist die Grundidee von Bildung in Finnland.

Sprecherin: (als voice-over über dem O-Ton der Vorschullehrerinnen)

Wichtig ist das positive Prinzip. Jedes Kind kann schon etwas, sagt die Vorschullehrerin Päivi Innilä aus Jyväskylä. Daran müsse man anknüpfen. Und ihre Kollegin, Joana Suni, fügt hinzu: man muss Kinder anspornen und so das Selbstbewusstsein stärken.

Cut 3

(den O-Ton verblenden mit Atmo Vorschule 0´25)

Sprecher:

In dieser Vorschulklasse in Jyväskylä treffen 15 Kinder auf 2 Vorschullehrerinnen und eine Assistentin. Auch Vorschullehrer haben in Finnland – wie alle anderen Lehrer – studiert. Aber nichts erinnert hier an unser Bild von Schule. Die sogenannte „Vorschulklasse“ ist nur eine der Gruppen in der Vorschule.

Sprecherin:

In die Vorschule kommen schon wenige Monate alte Krippenkinder, die kaum laufen können. Sie finden hier ebenso wie die Sechsjährigen aus der Vorschulklasse viele Gelegenheiten, sich zu betätigen: zu spielen und sich zu bewegen. Die Vorschule ist hier die vielfältigste und aufwendigste aller Schulformen: Ihr Angebot reicht von Krabbelecken mit Kissen über Tobe-Bassins aus Tausenden kleiner Plastikkugeln bis hin zur „Science Corner“, in der Reagenzgläser, Erlenmeierkolben und eine Sanduhr stehen.

Besucher fühlen sich eine Kinderrepublik versetzt.

Sprecher:

Natürlich wird hier auch gesungen und gebastelt.

Aber häufig sieht man die Vorschullehrer – zumeist sind es Lehrerinnen – mit vier- oder fünfjährigen Kindern in Gespräche versunken. Sie reden ernsthaft über Vogelflug, den Ursprung der Welt oder darüber, wie aus Wasser Dampf werden kann.

Selten wird die Verwandtschaft von Ernst und Spiel so deutlich wie in dieser finnischen Vorschule, in der Kinder fröhliche Forscher, grübelnde Philosophen und dann wieder alberne Knirpse oder muntere Musikanten sind.

Cut 4: (Atmo Zither und Singen, steht kurz offen)

Sprecherin:

Bis zum letzten Jahr, der „Vorschulklasse“, kommen fast 100 % der jungen Finnen in die freiwillige Vorschule. Die Stadt Jyväskylä zum Beispiel hat sich verpflichtet, Eltern, die für ihr Kind eine Vorschule suchen, innerhalb von zwei Wochen einen Platz anzubieten.

Cut 5: (Kinder zählen)

Sprecher:

Die Kinder spielen, lernen zu zählen, beginnen auch schon zu schreiben. Da man Kinder hier für geborene Lerner hält, will die Vorschule die Fragen der Kinder herausfordern, sie hungrig machen aufs Lernen und ihnen Gelegenheit bieten, ihrem Forscher- und Tätigkeitsdrang nachzugehen.

Hier beginnt eine neue Pädagogik:

Cut 6: (Atmo / O-Ton, die unten beschriebene Übung)

Sprecherin (referiert O-Ton):

Eine Lehrerin übt mit einem Jungen Selbsteinschätzung.

Schon jetzt lernt der Junge, sich selbst zu prüfen. Die Lehrerin ermuntert ihn, sich zu fragen: „Kann ich meine Gefühle zeigen? Kann ich mit anderen spielen? Kann ich warten, bis ich dran bin?“

 

Sprecher:

Noten werden dem Jungen in den nächsten Jahren in der Schule nicht begegnen.

Schon nach den ersten Schritten in eine finnische Schule oder Vorschule ist der Besucher von der Atmosphäre fasziniert:

Abwesenheit aller Verwahrlosung, nicht nur an den Wänden, sondern auch „in den Wänden“, wie man in Finnland sagt, wenn man vom Geist des Hauses spricht.

Fast 5.000 Dollar ist den Finnen im Jahr ein Grundschüler wert, den Deutschen nur 3.531 Dollar. Später, in der Oberstufe kehrt sich das Verhältnis um – dann werden die finnischen Schulen billiger als die deutschen.

Auf den Anfang zu setzen zahlt sich aus. Und der Anfang muss Erfolge ermöglichen. Dann kann man später manche Niederlage ertragen.

Cut 8: (Atmo Vorschule Storskogen in Stockholm)

Sprecher:

Auch Schweden hat das Thema Vorschule mittlerweile ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt.

Jedem Kind wird vom ersten Lebensjahr an ein Platz garantiert.

In der Öffentlichkeit steigt das Ansehen der Vorschule, in der wie in Finnland akademisch ausgebildete Lehrer arbeiten.

Sprecherin:

Von den Vorschulen gehen in Schweden seit einiger Zeit neue Bildungsideen aus, die bis in die Hochschulen hinein wirken. Vorschulpädagogen haben als erste die neuen Erkenntnisse der Neurobiologie, also der Hinforschung, aufgenommen. Ihre Maxime heißt:

Zitator:

Selbstregulierung und Dialog.

Sprecher:

Der deutsche Hirnforscher Wolf Singer sagt:

Zitator:

Das Gehirn hat keinen Vorstandvorsitzenden.

Sprecher:

Es kann nur selbst lernen. Dazu aber braucht es den Dialog. Den Dialog mit anderen und den Dialog mit sich selbst.

Zitator:

„Denken ist das Gespräch zwischen mir und mir selbst.“

Sprecher:

Sagte Platon. Was die Philosophen wussten, kann die Hornforschung nun beweisen.

Dazu gehört auch, dass der Dialog nicht bloß als eine Wechselwirkung zwischen Empfänger und Sender betrachtet wird, sondern als ein Wechselspiel gegenseitiger Anerkennung.

Als Konsequenz aus den Erkenntnissen der Neurobiologie sagen Pädagogen nun – und in den Vorschulen Skandinavien sagten sie es zuerst:

Zitator:

Kinder sind für andere Kinder der „erste Pädagoge“. Der Lehrer ist der zweite. Und der Raum mit dem Interieur, das ist der dritte Pädagoge.

Cut 9: (Eva Svedin, Vorschul-Lehrerin 0´16 – schon unterlegt und verblendet mit Atmo; brutto 0´47)

We look upon the child…

Sprecherin (referiert O-Ton):

Die Vorschullehrerin Eva Svedin an der Vorschule Storskogen in Stockholm besteht darauf: das Kind ist ein kompetenter und einzigartiger Mensch. Nicht jemand, der mit einem leeren Rucksack kommt und mit einem vollen wieder geht.

Regie: Atmo kurz offen

Sprecher:

Jedes Kind ist anders und jedes kann etwas anderes. Das sollen sie bereits in der Vorschule als ihren Vorteil entdecken – und nicht als Abweichung, die man korrigieren will.

Kinder sprechen 100 Sprachen, heißt es in der Vorschule Storskogen, und Erziehung ist der Versuch, diese Sprachen zu verstehen und mit ihnen den Dialog aufzunehmen.

Schon die Kleinsten präsentieren stolz ihre Produkte:

Sie malen, fotografieren und diktieren den Lehrern kurze Texte. Das alles sammeln sie in ihren Mappen, den sogenannten „Portfolios“. Und wenn sie diese später durchblättern, meint Eva Svedin, werden sie sich erinnern:

Cut 10: (Eva Sevdin incl. Atmo)

I did that, when I was …..

Sprecherin (voice over):

Das habe ich mit drei gemacht, damit habe ich mit drei angefangen. Damals konnte ich noch nicht mehr, und nun bin ich weiter.

Sprecher:

Dokumentieren, erinnern, reflektieren und vor allem: tätig sein – das sind die Prinzipien dieser Vorschule, in der Spiel und erste Anstrengungen nicht als Widerspruch gelten.

Cut 11: (Kinder summen – kurz offen)

 

Sprecher:

Bei diesen Vier- und Fünfjährigen in der Stockholmer Vorschule Storskogen ist gerade Vincent van Gogh „Künstler des Monats“. Bildbände von ihm liegen auf einem Tisch, Drucke hängen an den Wänden. Die Kinder versuchen, seine Bilder nachzumalen. In dieser neuen Vorschule werden Spiel und Lernen auf neue Weise kombiniert; sie ist poetisch und experimentell.

Die schwedische und die finnische Vorschule sind Orte einer

Kinder – Öffentlichkeit. Sie unterscheiden sich von der Intimität der Familie, stehen aber nicht in Konkurrenz zu ihr. Die Vorschule übernimmt die Rolle, die früher einmal der Dorfplatz, die Straßenecke oder die Brücke am Bach für Kinder hatten.

Cut 12: (Gunilla Dahlberg)

I think children are from the start rich children….

Sprecherin (voice over):

Ich bin davon überzeugt: Kinder sind von Anfang an reich…

Sprecher:

…. meint Gunilla Dahlberg, Professorin für Pädagogik an der Universität von Stockholm.

Cut 12 weiter:

Sprecherin (voice over):

Und wenn wir nicht an reiche und kompetente Kinder glauben, werden wir arme Pädagogen. Wenn wir glauben, dass wir immerzu „Problemkinder“ vor uns haben – und das ist üblich auf der ganzen Welt – dann machen wir sie auch zu armen Eltern. Dabei brauchen wir reiche Eltern.

Sprecher:

Das „Defizitmodell“ in der Pädagogik hat viele Gesichter. Eines ist, dass die noch ganz kleinen, vermeintlich „defizitären“ Menschen auch die am wenigsten wertgeschätzten und geringst ausgebildeten Pädagogen brauchen.

Das sei grundfalsch, sagt Eskil Frank, Vize Rektor der Pädagogischen Hochschule Stockholm:

Cut 13: (Franz)

Die besten Pädagogen und die besten Lehrer sollen in der Vorschule arbeiten. Da können sie so viel zerstören. Das ganze Leben eines Kindes können sie zerstören. Aber wenn man zum Gymnasium kommt, da kann man nicht mehr so viel zerstören. Darum die besten Pädagogen in die Vorschule.

Cut 14: (Kinder singen und Atmo / Kanada)

Zunächst „Oh Canada … zum Schluss Beifall“.

Sprecher:

Kanada. Die South Simcoe School – eine Primary School für Schüler von Klasse eins bis zehn – liegt im Bezirk Durham, einem der sozialen Brennpunkte in der Nähe von Toronto.

Vor 20 Jahren waren die Schulen hier noch das Schlusslicht des Landes. Inzwischen ist das „Durham Board of Education“ Spitzenreiter. Weltweit gilt es als eines der interessantesten Bildungsbiotope. Hier hat man einen erfolgreichen Neuanfang gemacht und eine Wende von der Lehranstalt zur „learning organization“, zur lernenden Schule, vollzogen.

Sprecherin:

An diesem Morgen sind nicht nur die Kinder, sondern auch ihre Eltern in die Schule gekommen. Auch die Eltern reden über Teamwork und Zusammenarbeit. Denn was ihre Kinder hier lernen sollen, das macht auch vielen von ihnen Schwierigkeiten – und ebenso den Lehrern.

Mitte der 80er Jahre haben die Lehrer in Durham selbst mit dem begonnen, was sie ihren Schülern vermitteln wollen:

Zitator:

Cooperative group learning: Zusammenarbeit, Lernen in Gruppen.

Sprecher:

So lautete das Schlagwort. Und tatsächlich: Da treffen sich am Samstag Lehrer zu Fortbildungskursen und erarbeiten Programme für den Unterricht. Dass sie zusammen daran arbeiten ist mindestens ebenso wichtig wie das Ergebnis. Natürlich mussten sich dazu viele erst überwinden, waren sie doch auch in Kanada bisher eher Einzelkämpfer. Einer der Mentoren dieser Veränderung ist der Lehrer Norm Green.

Cut 15:

Now we find …. next century.

Zitator (voice over):

Wir sehen, dass sich Kultur und Gesellschaft ändern,

wir brauchen Schüler, die in Teams arbeiten.

Früher wurden unsere Schüler für Fabriken ausgebildet.

(O-Ton zwischendrin frei)

Und die Schulen waren selbst ein Spiegel der Industrie.

Heute fordert die Industrie bewegliche Mitarbeiter,
die im Team arbeiten.

Sie brauchen für alle Berufe neue Fähigkeiten: diskutieren, argumentieren, nach Lösungen suchen und sie finden.

Nun müssen wir uns auf diese Wirklichkeit einstellen. Die Schüler brauchen diese Fähigkeiten für das neue Jahrhundert.

Sprecherin:

In den Schulen Durhams sieht man die Kinder und Jugendlichen häufig mit den sogenannten „Mindmaps“ arbeiten:

Mehrere Schüler zeichnen Gedankenkarten zu einem Thema, notieren ihre Ideen und Assoziationen, verbinden sie miteinander und ziehen gemeinsam Schlüsse. Zu den verblüffenden Erfahrungen dabei gehört:

Jeder denkt anders und jeder stellt sich die Welt anders vor. Eben deshalb müssen wir uns verständigen – und können es auch.

Sprecher:

Individualität und Zusammenarbeit, das ist das Prinzip der modernen kanadischen Schule.

Das Modell ist – wie die Pisa Ergebnisse zeigen – erfolgreich. Voraussetzung des Erfolgs ist, dass die Lehrer diese Kooperation den Schülern nicht nur predigen, sondern selbst damit anfangen.

Deutsche Lehrer, die im Rahmen von INIS, dem „Internationalen Netzwerk innovativer Schulen“ nach Kanada fuhren und Schulen in Durham besuchten, kamen aus dem Staunen nicht heraus:

Cut 17: ( Montage, mehre Stimmen / Transkript nur in Stichworten)

Wie leicht Lernen vonstatten geht, die Leichtigkeit von Gruppenprozessen / bei uns immerzu schwierige Disziplinprobleme / mich hat am meisten fasziniert die Offenheit, Räume ständig offen, ein und ausgehen – für jeden transparent. / eine Kultur von Selbstverständlichkeiten, nicht so zwanghaft, „du musst lernen,“ Kultur: „ich will lernen“, was ruhiges, selbstverständliches, zeigt sich nicht nur in Klassenräumen, auch im Umfeld – Eltern kommen und helfen

Sprecher:

Beim Treffen des „Internationalen Netzwerkes innovativer Schulen“ in Kanada war eines der wichtigsten Themen, dass Lehrer heute Anfänger auf höchstem Niveau werden müssen.

Sie müssen nicht nur das Gedächtnis der Gesellschaft weiter geben, sie müssen auch Agenten der Veränderung werden und Neues ermöglichen, also nicht nur das gesicherte Wissen weitergeben, sondern auch an ungeklärten Probleme arbeiten, so wie ihre Schüler später im Beruf.

Aber – darauf wies der Pädagoge Steve Benson aus dem Ministerium für Schule und Bildung in Neuseeland hin:

Cut 18: (Steve Benson)

Too many of our teachers have done nothing but teaching…

they came of out of school – school – …, teachers can go out – update their own knowledge – not teaching a lifelong carreer, but learning has become a lifelong carreer … most important how to learn by themselves, how to manage their own learning and not to relay on others, to teach them.

if we can make that change, the one change, it would be the most significant.

Zitator (overvoice):

Zu viele unserer Lehrer haben nie etwas anderes gemacht als zu unterrichten oder unterrichtet zu werden. Wir müssen aber künftig andere Erfahrungen mit dem Lehren und vor allem mit dem eigenen Lernen machen.

Lehren kann kein lebenslanger Beruf mehr sein, aber Lernen muss ein solch lebenslanger Weg werden. Am wichtigsten wird für alle Menschen, das eigene Lernen hin zu kriegen und sich nicht darauf zu verlassen, von anderen unterrichtet zu werden. Wenn uns dieser Wandel gelingt, dann haben wir viel geschafft.

Sprecherin:

Im Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft werden neue Tugenden wichtig. Nicht mehr möglichst früh mit dem Lernen fertig sein, sondern möglichst lange lernen können und wollen. Sicht nicht mehr träges Schulwissen aneignen, sondern selbst Wissen entwickeln.

Cut 19:

So somehow we have to …

Zitator:

Es muss eine Balance gefunden werden: auf der einen Seite die grundlegenden Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen und auf der anderen Seite die neuen, postmodernen Fähigkeiten der Selbstorganisation. Der Lehrer ist der Filter. Auf ihn kommt es an. Er muss einen mittleren Kurs finden.

Sprecherin:

Ob uns dieser große Neuanfang und die Kunst der Balance in Deutschland wohl gelingt?

Es gibt mutmachende Beispiele für solche Anfänge.

Cut 20: (Jürgen Kluge / McKinsey)

Wir müssen früh investieren statt spät Qualitätsfehler und Folgen heraus zu operieren, das heißt wir müssen in frühkindlichen Bereich, in den Krippen, Kindergärten und im ersten Teil der Schule schwer investieren. Das wird sich volkswirtschaftlich auszahlen. Es gibt Untersuchungen, die einen Verzinsungsfaktor drei bis vier in der Schweiz und den USA dafür voraussagen.

Sprecher:

Jürgen Kluge, der Boss der Unternehmensberatungsgesellschaft McKinsey in Deutschland plädiert dafür den Anfang zu stärken. „McKinsey bildet“, heißt eine Initiative der Unternehmensberater. Sie ist ein Beispiel für neue, ungewöhnliche Bündnisse in der Bildung. Im September 2002 riefen sie zu einem Kongress nach Berlin. Zu jedem Podium war auch ein Künstler geladen – denn Künstler seien die Spezialisten in Fragen, für die es keine schnellen und manchmal gar keine sicheren Antworten gibt.

Der Regisseur Robert Wilson erinnerte dort an ein paar vernachlässigte Selbstverständlichkeiten wie „Laufen lernt man beim Laufen“. Er berichtete davon, wie er mit angeblich „nicht erziehbaren Kindern“ seine Art Theater zu machen erfand.

Er selbst könne überhaupt nur an den Fragen arbeiten, auf die er keine Antworten habe – und erinnerte sich daran, wie grässlich es war, in der Schule dauernd Antworten auf Fragen geben zu müssen, die kein Schüler gestellt hat.

Zur Schule der Zukunft, darauf konnten sich Manager von McKinsey, Künstler und die eingeladenen Bildungsexperten einigen, wird mehr gehören als unterrichten. Zur Schule der Zukunft gehört auch „aufrichten“.

Cut 2: (Jürgen Kluge)

Ich zitiere da ein schwedisches Modell, wo die kleinen Kinder Orientierungsläufe machen müssen und so von dem zweidimensionalen, das immer mehr überhand nimmt, in ein dreidimensionales Erleben geführt werden. Eine ganz einfache Sache. Ich glaube wir müssen den Kindern, in den Krippen und Kindergärten, wenn das Gehirn sehr prägsam ist, eine breite Palette geben. Dazu muss die Erzieherinnenausbildung gefördert werden, wir müssen den Durchdringungsgrad mit Krippen auf 25% steigern, bei den Tagesplätzen in Kindergärten auf 50% , damit wir Anschluss finden, und dann müssen wir Qualität bieten.

Sprecher:

Jürgen Kluge von McKinsey.

Die Globalisierung ruft nun auch in Sachen Bildung die Wirtschaft auf den Plan. Ausgerechnet sie erklärt, dass man mit Effizienzsteigerung allein nicht weit kommen wird. Wertschöpfungsketten, also die Wirtschaft, verlangen nach Wertschätzungsketten, nach Bildung, nicht nur nach Ausbildung. Zum guten Ausführen müssen auch Ideen kommen, was denn gemacht werden soll. Die alte Form der Arbeit schrumpft und wird von Maschinen übernommen. Wo die Perfektion der Maschinen aufhört, da fangen Menschen an. Phantasie und Schöpferkraft sind ihre Stärke. Eine Stärke, die ohne unsere Schwäche, die spezifisch menschliche Unvollkommenheit, gar nicht möglich wäre. Bildung wird immer mehr darin bestehen, diese Anfängertugend zu pflegen. Am Ende von Schule und Hochschule sollte man nicht „fertig“ sein, sondern Anfänger auf immer höherem Niveau. Dafür müssen Orte geschaffen werden. Auch Globalisierung beinhaltet Lokalisierung: Orte schaffen, lokale Räume kultivieren, Treibhäuser der Zukunft bauen. Und: Abschied von der Lernfabrik.

Sprecherin:

Vor fast 200 Jahren erfanden die Dänen eine Strategie, von der wir jetzt lernen könnten:

Zitator:

Als Dänemark im 19. Jahrhundert nach verlorenem Krieg gegen England danieder lag, beschloss der König, den Haushalt für Kunst und Bildung zu erhöhen. Der Finanzminister protestierte. Der König aber – und das ist kein Märchen – antwortete: „Arm und elend sind wir sowieso, wenn wir jetzt auch noch dumm werden, können wir aufhören ein Staat zu sein.“