Nach Pisa – Ende des 30jährigen Bildungskrieges

Radio 3 von NDR & ORB / WDR 3

Gedanken zur Zeit 3. August 2002

Reinhard Kahl

Nach Pisa – Ende des 30jährigen Bildungskrieges ?

Ausländische Beobachter können nicht verstehen, warum sich die Deutschen nun bald schon ein dreiviertel Jahr

lang über Pisa so aufregen. Aber sie ahnen etwas. Schon im Dezember vergangenen Jahres, als der internationale

Vergleich der Kompetenzen von 15jährigen veröffentlicht wurde, war die Meldung vom schlechten deutschen

Abschneiden der englischen und schwedischen Presse fast so viele Zeilen wert, wie die Nachricht vom guten

Ergebnis im eigenen Land. Engländer äußerten über das deutsche Desaster kaum verhohlene Genugtuung. Ihnen

sind die Weltmeister des Industriezeitalters unheimlich.

Schweden waren eher irritiert. Im Gesamtschulland glaubte manch einer, die früh auslesenden deutschen Schulen

seien in ihrer Härte wohl nicht wünschenswert, aber sind sie in der Leistung nicht vielleicht doch überlegen?

Und wir, die Deutschen? Irgendwie haben wir bisher einen Beweis von Tiefe und Qualität darin gesehen, dass

Schulen bei uns weniger freundlich sind als die in Kanada, Schweden oder fernab bei irgendwelchen Finnen.

Deutsche sagen häufig, geschadet hat es uns nicht, wenn sie sich an manche Demütigung in der Klasse und an

die Angst erinnern, vielleicht nicht gut genug für die höhere Schule zu sein.

Kürzlich in eine Fernsehdiskussion überraschte der Moderator seine Gäste: „Jetzt nennen sie bitte mal ganz

schnell einen Satz, der ihnen zu ihrer Schulzeit einfällt.“ Vier von fünf Antworten waren Variationen von: „Aus

dir wird nie was.“ Und da saß eine Kultusministerin neben vier Mitstreitern, die es alle weit gebracht haben.

Trotz dieser Prophezeiung. Das Trotzen mobilisiert auch Gegenkräfte, aber es ist aufwendig und die Narbe, die

der Wunde folgt, bleibt eine gefühlstaube Zone.

Und natürlich, einer zumindest ist immer dabei, dem die Schule nichts anhaben konnte.

Aber viele wurden in der Schule von einem vergifteten Gedanken infiziert: Du bist ein Niemand. Zugleich bot

sie einen Ausweg an: wenn du dich am Riemen reißt und wenn du versuchst ein ganz anderer zu werden, als der,

der du jetzt bist, dann kommst du in die Gnade von Anerkennung. Wer in diesen Pakt einwilligte, dem musste

das spätere Leben, auf das die Schule doch immer drohend verwies, wie eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe

vorkommen. Vielen blieben davon Alpträume.

Diese Schule passte alles in allem in die klassische Industriegesellschaft, die einige einsame Erfinder, wenige

Autoritäten und viele Ausführende brauchte. Wer seines Eigensinns beraubt und in seinem Stolz gekränkt war,

der verlangte nach Prothesen, zum Beispiel nach viel Arbeit oder nach Zauberdingen wie Autos mit 150 PS,

oben liegender Nockenwelle und Schiebedach.

Aus der Sicht des mit Prothesen Vervollständigten, haben die vorangegangenen Operation nicht geschadet,

sondern einen von einem selbst entlastet. Am Ende glaubte man daran, dass nur bittere Medizin wirkt, oder man

ist davon überzeugt, dass Schüler, wenn man das Sitzenbleiben abschaffen würde, mit dem Lernen aufhören

würden, wie es kürzlich in einer aufgeregten Mediendebatte, nach dem Vorschlag das Sitzenbleiben abzuschaffen,

im vergangenen Frühjahr in vielen Kommentaren, zumal der Provinzpresse befürchtet wurde.

Hätten mehr von denen, die über Pisa reden, die Studie gelesen, wüssten sie, dass es dass exzessive

Sitzenbleibenlassen sonst nur in Portugal gibt. Etwa ein Drittel der deutschen Schüler haben, so heißt es in der

Statistik, verzögerte Schullaufbahnen. Schule als Strafe, das ist ein im internationalen Vergleich ein deutscher

Sonderweg in der Bildung. Er ist Ausdruck eines Glaubens, dem Lust und Leistung als unvereinbar gelten.

Aber nun hat dieses kollektive Imaginäre, dieses unbewusste Gewebe von Selbstverständlichkeiten bei den

Deutschen eine Riss bekommen und dieser Riss heißt Pisa. Auch wenn wir das Wort langsam schon nicht mehr

hören können, die Sache für die Pisa steht, begleitet uns, und wir werden sie nicht mehr los, denn Pisa markiert

einen Übergang. Es ist der von der klassischen Industriegesellschaft, aus der unsere Art Schule zu machen

stammt, zu einer nachindustriellen Gesellschaft, in der man nicht mehr ein Leben lang fragen kann, „Mutti

welches Bild soll ich jetzt malen,“ und in der man nicht länger Verantwortung für sich selbst nach oben

delegieren darf, gemäß dem alten Motto der Infantilgesellschaft: „Das hat meine Mutter nun davon, wenn ich

friere“. Dieses „das war ich nicht! Das bin nicht ich“ ist eine in den Alltag unserer Schule tief eingeschriebene,

fatale Mentalität. Der Lehrer sagt, „Das steht im Lehrplan, das müssen wir machen.“ Er demonstriert den

Schülern ein Leben in fremdem Auftrag, wenn er mit seiner Person nicht für das, was er tut, einsteht, ja wenn er

davon überzeugt ist, im Zweifelsfall gar nicht Einfluss nehmen zu können, und das immer wieder bekundet. So

muffelt es in unseren Schulen nach Larmoyanz und Überdruss.

Glücklicher sind die Skandinavier, Kanadier und selbst die USA und Japan, die ihre Schulen eher als

Gemeinschaftsfeld der Gesellschaft eingerichtet haben. Bis zum Altern von 16 Jahren gehen alle Schüler zur

bürgerlichen Einheitsschule, der Gesamtschule. In Schweden gibt es bis 8. Klasse, in Finnland bis zur 4. keine

Noten. Auch Japan hat bis ans Ende dieser Stufe keinerlei Differenzierung, auch nicht in A oder B Kurse. In

Schweden wird diese Aufteilung vom Gesetz explizit untersagt. In Finnland heißt der wichtigste Grundsatz:

Respekt. Man darf Kinder nicht beschämen. Anerkennung geben und Zugehörigkeit vermitteln, das ist der Kern

einer überlegenen Kultur. Sie bringt kognitiven Gewinn, Zusammenhalt und verspricht der Gesellschaft

wirtschaftlichen Erfolg. In Finnland kennt man auch keine staatliche Schulaufsicht. Schulleiter stellen Lehrer ein

und Kollegien einigen sich über das, was unterrichtet wird. Das Gesetz und ein verständlich formulierter,

knapper Lehrplan, der sich auch an Schüler und Eltern wendet, geben den Rahmen vor.

Diese Modernisierungsleistung hat Deutschland noch vor sich. Zur Eigenart dieser Modernisierung gehört, dass

man sie nicht kopieren kann, aber der Blick auf andere erweitert unseren Möglichkeitssinn. Vielleicht infizieren

wir uns sogar mit einer ansteckenden Gesundheit?

Zum Beispiel im Tensta Gymnasium in Stockholm. Gymnasium heißt in Schweden die Oberstufe für die 16

bis 19jährigen. Tensta ist eines der angesehensten Gymnasien, obwohl 80% der Schüler Migrantenkinder sind.

Warum sagen sie Obwohl, fragen die Schweden zurück. Mit den Migranten kämen Probleme, ja, aber es entstehe

viel Neues. In Schweden übrigens nennt man sie Neuschweden. Die Schule kooperiert in naturwissenschaftlichen

Fächern mit der Universität. Da treffen die Neuschweden ständig international zusammengesetzte Teams. Wie in

der Nussschale wird am Umgang mit den ausländischen Kindern das Gesamtproblem deutlich: Wir haben ja

schon Schwierigkeiten mit den Wörtern. Sagen wir Ausländer, dann klingt es nicht so, als wollten wir

Mitbürger ansprechen. Sagen wir Migranten, dann hört man, wie sich jemand politisch korrekt aus der Affäre

zieht, sich aus der Umfangssprache stiehlt.

Diese Misere beleuchtet eine weitere Studie über Schüler im internationalen Vergleich. In der kürzlich

abgeschlossen, demnächst auf Deutsch veröffentlichten internationalen CIVIC Studie über politische Bildung

sind unsere Schüler Weltmeister in Xenophobie, in der Angst vor Fremden und in der Ablehnung von Fremdem.

Mit Pisa hat die Globalisierung in der Bildung begonnen. Nicht nur dass wir uns international vergleichen

müssen, wir müssen uns entscheiden, ob wir die Fremden und das Fremde begrüßen, oder in ihnen immer nur

ein im Grunde störendes Problem sehen wollen. Nutzen wir die Unterschiede zwischen den Menschen zur

Steigerung von Individualität und Intelligenz oder wollen wir möglichst homogene Gruppen? Die Schule nimmt

die Kinder nicht wie sie sind. Sie fragt hier zu Lande, sind die Schüler für die Schule geeignet und nicht, wie

würde die geeignete Schule für die Kinder aussehen. Deutsche Lehrer unterrichten ja gewöhnlich ihre Fächer und

nicht die Kinder oder die Jugendlichen.

Und wenn heute Politiker endlich das Selbstverständliche entdecken, Deutschunterricht für die fremdsprachigen

Kinder, und das möglichst früh, schon im Kindergarten, dann klingt das zuweilen, als müssten sie erst in den

Sprachwaschgang einer chemischen Reinigung. Die Botschaft ist wiederum, ihr gehört nicht dazu. Und es ist die

gleiche Botschaft, die auch ein großer Teil der Deutschen in der Schule erhält. Jürgen Baumert, Direktor am Max

– Planck – Institut für Bildungsforschung und Chef der Pisa Studie sieht darin geradezu eine Obsession unserer

Schulen. Er sagt: „Man muss immer, um den Klassenerhalt bangen und kämpfen, vor allem wenn man nicht zur

Topgruppe gehört. Die Gefahr, dass man abgeschoben wird, ist einfach zu groß.“

Deutschland hat mit seinen Schulen nach Pisa zwei große Probleme. Auf der einen Seite die Kränkung bei den

Kompetenzen der 15jährigen im internationalen Vergleich abgeschlagen in der Nähe anderer Fußballnationen wie

Mexiko und Brasilien zu rangieren. Man muss noch mal daran erinnern: fast jeder vierte 15jährige bringt es bei

uns im Lesen nur auf Grundschuleniveau. In Mathematik und Naturwissenschaften sind die Leistungen noch

schlechter. Auf der einen Seite also diese Schwäche. Auf der anderen Seite die Verstörung, dass unsere Bittere-

Medizin-Schule gar nicht überlegen ist, dass die These „geschadet hat es uns nicht“ vielleicht eine Lüge ist, dass

wir uns um etwas betrügen und wir ahnen, dass wir betrogen worden sind, wenn wir in Stockholm, Helsinki

oder Toronto sehen, dass die Schule tatsächlich eine Verabredung zum Leben sein kann.

Eine moderne Schule vertaut den Schülern, dass sie lernen und auch etwas leisten wollen. Sie kann auf die

Strippen der Außensteuerung, wie Noten verzichten, weil es ihr gelingt die viel nachhaltigere Innensteuerung

aufzubauen und sie mit Kooperation zu stützen. Man könnte natürlich mit Recht sagen, dass ist nichts als die

Entdeckung des Selbstverständlichen. Vieles davon hat die Reformpädagogik seit Anfang des vergangenen

Jahrhundert vorgemacht. Aber anders als früher, wo die Reformpädagogik vielleicht im Recht war, aber sich

nicht durchsetzen konnte, hat sie heute eine historische Chance, weil sie die bessere Vorbereitung auf eine

Wissensgesellschaft ist. Auch die Wertschöpfungsketten in der Wirtschaft verlangen inzwischen

Wertschätzungsketten in der Bildung. Wenn es auch schwer fällt, der Übergang von einer Kultur des Misstrauens

zu einer des Vertrauens steht an, auch und gerade in den Unternehmen, selbst wenn jetzt die Geschichten von

absahnenden und Bilanzen fälschenden Vorständen auf den ersten Blick Gegenbeweise sind.

Ein Blick zum Wendekreis der Pädagogik, zu Schulen in Finnland und Schweden sowie nach Kanada zeigt, wie

das geht und dass es der Gesellschaft nützt.

Während diese Länder in den vergangenen Jahrzehnten begonnen haben ihre Schulen umzubauen, haben sich die

Deutschen, genauer die Westdeutschen, einen 30jährigen Bildungskrieg der Rechthaberei geliefert. Er ist

erschöpft und überholt – wenn auch eine alte Politik jetzt im Wahlkampf auf der Suche nach den verlorenen

Schlachtordnungen noch einmal Anleihen bei ihm nimmt.

Aber – und dafür sind die Pisa Ergebnisse wohl die Quittung, am Ende dieses Glaubenskrieges sind manches

Bildungslandschaften verwahrlost. Der philosophische Aphoristiker Peter Sloterdijk bringt es auf den Punkt:

„Deutsche Schüler verlassen nach 13 Jahren die Schule, wie Landsknechte eine aufgelöste Armee.“ Und so

definiert er, was Lernen tatsächlich ist: „Vorfreude auf sich selbst“.

Aber geht das denn, Lernen als Vorfreude auf sich selbst, fragen immer noch mit tiefem Zweifel die Deutschen

und zwar nicht nur die Freunde des Sitzenbleibenlassens und der Selektion.

Wie tief diese Erbsünde in unserem Bewusstsein sitzt, zeigte sich im Herbst vergangenen Jahres, beim Besuch

einer Delegation von Schulräten und Bildungsplanern, aus der Reformfraktion in Schweden. Die Pisa Ergebnisse

waren noch nicht veröffentlicht. Der Besuch sollte klären, warum die schwedischen Oberstufenschüler in einem

anderen internationalen Vergleich, der Mathematik und Naturwissenschaftsstudie TIMS, an der Weltspitze

stehen. Immer wieder wurden die Schweden von den Deutschen gefragt, wie kommen sie zu diesen

Spitzenleistungen, obwohl sie keine Leistungsdifferenzierung in der gemeinsamen neunjährigen Folkeskole

machen? Was, so gute Leistungen, wurde ungläubig gefragt, obgleich es bis zur 8. Klasse keine Noten gibt? Erst

recht Kopfschütteln beim Oberstufenvergleich selbst, wo doch schwedische Schulen alles daran setzen, nach der

9. Klasse möglichst alle aufs Gymnasium zu bringen. Tatsächlich schaffen das mehr als 90% eines Jahrgangs.

Mehr als 70% des Geburtsjahrgangs erwirbt die Hochschulreife. 60% studiert. Irritationsresistent liefen die

Fragen immer wieder auf dieses Obwohl hinaus. Kein Versuch mit dem Wörtchen weil.

Die Deutschen scheinen sich im Zweifelsfall einig zu sein: es kann doch gar nicht sein, dass freiere und auf

Gemeinschaft setzende Schulen auch noch die erfolgreicheren sind, dass gute Leistungen eher eine Echo auf

Vertrauen als auf Misstrauen sind. Aber genau das ist die starke Lektion aus Skandinavien, Kanada und vielen

anderen Ländern. „Du gehörst dazu“, ist dort die Grundbotschaft. „Du kannst mehr als du glaubst! Du bist ganz

gut!“

Eine noch nicht veröffentlichte Auswertung der internationalen PISA Ergebnisse, von der kürzlich Pirjo

Linnakylä, die führende finnische PISA-Forscherin berichtete, zeigt erstaunliche kognitive Überlegenheit in den

angelsäsischen und skandinavischen Kulturen. Das Geheimnis dieser Kultur nennt sie: ”Argumentation und

gegenseitige Anerkennung”.