Die Schulleiterin – Eine Außenansicht (Über Enja Riegel)

Kapitel in dem Buch:

Enja Riegel, Schule kann gelingen

S. Fischer Verlag

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Die Schulleiterin

Eine Außensicht 

Von Reinhard Kahl

„Wer führen will, darf denen, die er führt, nicht im Weg stehen.“

Laotse

 

Zum Schluss des Buches sollte ein Kapitel über die Schulleitung stehen. Darum ging es auch bisher immer wieder, aber eher zwischen den Zeilen. Sobald dieses Thema allerdings ins Zentrum rückt, tritt die Person der Schulleiterin hervor. Welche Rolle spielt sie beim Gelingen der Schule? Die Antwort machte Enja Riegel – man kann es sich denken – Schwierigkeiten. Statt dieses Schlusskapitels nun also ein Blick  von außen.

Ich kenne Enja Riegel seit Mitte der 80iger Jahre. Auf einem Pädagogenkongress in Hannover begeisterte sie mit ihren Ideen das Publikum. Mehr noch überzeugte ihr Elan, diese auch zu verwirklichen. Seitdem habe ich die Helene-Lange-Schule beobachtet. Die Schulleiterin faszinierte mich sofort, aber ihr starker Einfluss behagte mir zunächst nicht. Sollte sich denn aus der angestrebten Selbständigkeit der Lehrer und Schüler nicht eher eine geringere Bedeutung der Leitung ergeben?

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An ihrem ersten Tag als Direktorin der Helene-Lange-Schule sah Enja Riegel schwarz. Das Kollegium kam in Trauerkleidung. Ausnahmslos. Die Riegel sollte es nicht werden! Solchen Protest hatte es in einer Schule noch nicht gegeben.

Fast  20 Jahre später bedankte sich das Kollegium zur Pensionierung ihrer Schulleiterin mit einem Fest, das eine deutsche Schule wohl noch nicht erlebt hat. Tage und Abende hatten Lehrer das Programm vorbereitet und eigens einen Zirkus errichtet. Bei den Bauten in der abgeschirmten Turnhalle halfen Schüler und Profis, die sonst Bühnen für Popstars montieren. Enja Riegel durfte von all dem nichts mitkriegen. Aber die für diese Schule typische Vorfreude blieb niemandem verborgen. Als dann die Sägespäne in der Manege verteilt, der Baldachin darüber aufgezogen und die Scheinwerfer in allen Spektralfarben eingeschaltet waren, begann ein fast vollendeter Abend. Die Gäste saßen festlich gekleidet an Tischen, die von Schülern wie in einem feinen Restaurant eingedeckt worden waren. Mancher Besucher traute seinen Augen nicht, zumal als Lehrer und ehemalige Schüler bühnenreife Stücke aufführten. „So etwas habe ich noch nie in einer Schule gesehen,“ sagte Bernhard Bueb, der Leiter der Internatsschule Salem, und staunte über die Professionalität der Musiker, Schauspieler und auch der Technik: „Das kann doch nicht sein, dass das Lehrer sind?“ Es waren Lehrer. Und einige von ihnen hatten 20 Jahre zuvor ganz in Schwarz protestiert.

Das Abschiedsfest vergegenwärtigte, was sich hier über Jahre getan hatte. Keine Spur mehr von der Luschigkeit und Normalverwahrlosung vieler, wenn nicht der meisten Lehranstalten Diese Schule hat einen starken Eigensinn. Sie hat ihre Formen gefunden und Rituale kultiviert. Jeder investiert viel. Die Schule erntet beste Ergebnisse. Und zum Schluss wird genossen. Das macht eine Atmosphäre, die jeder Besucher sofort spürt, bevor er sie sich erklären kann. Man fühlt sich zu Hause und frei. So war es auch an diesem großen Abschiedsfest im Februar 2003.

Ein Schatten allerdings lag über dem Zirkuszelt. Von ihm wussten an diesem Abend nur zwei Personen, die Schulleiterin und ihre Tochter, eine junge Ärztin. Am Vormittag, als eine Rede nach der anderen gehalten wurde, als Hartmut von Hentig und Andreas Flitner, mit dem ehemaligen Kultusminister Hartmut Holzapfel in der ersten Reihe saßen, erlitt Enja Riegel bei ihrer Rede einen leichten Herzinfarkt, den sie zunächst nicht wahrhaben wollte. War das zum Schluss die Quittung? War der Einsatz nicht doch zu hoch? Kann diese Schulleiterin wirklich ein Vorbild sein? Und ist die Helene-Lange-Schule vielleicht doch nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt, und eben nicht das richtige Modell?  Oder muss man sich nicht endlich von dem Gedanken lösen, dass es das eine richtige Modell für die gute Schule gibt?

Die Helene-Lange-Schule ist das beste Bespiel für die Befreiung von dem Glauben an das eine richtige Schulmodell. Gleich einem Individuum hat sich diese Schule zu ihrer Biografie durchgerungen. Sie macht ihre eigene Geschichte, ausgehend von Bedingungen, die sie sich nicht hat aussuchen können. Das ist ein Modell anderer Art. Unvollkommenheit muss nicht verborgen werden. Fehler erweisen sich als ergiebiges Rohmaterial fürs Lernen.

Den Anstoß gab die Schulleiterin. Sie hat die Abkehr vom Leben im fremden Auftrag vorgelebt und davon ging eine ansteckende Gesundheit aus. Mit ihrem Selbstversuch war nicht alles, aber sehr viel gewonnen.

 

 Auf nach Panama

Für Enja Riegel war die Bewerbung auf die Schulleiterstelle an der Helene Lange Schule im Jahr 1982 so etwas wie die entscheidende Schlusspassage ihrer Reise nach Panama. Man kennt ja die Geschichte von Janosch. Der Bär und der Tiger suchen ihr gelobtes Land. Auf dem Brett einer Bananenkiste identifizieren sie es: Panama. Die Reise einmal um die Welt führt sie zurück zu ihrer Hütte. Nun machen sie diese zu dem, was sie immer gesucht haben.

Enja Riegel war schon Schülerin der Helene-Lange-Schule. Dort wurde sie nach ihrem Studium Referendarin und an ihrer alten Schule unterrichtete die fertige Lehrerin dann auch die ersten Jahre. Als Pädagogin war sie zunächst von ihrer Helene-Lange-Schule enttäuscht, die sie in so guter Erinnerung hatte, wie zuvor auch die Grundschulzeit. Enja war begabt. Die zweite Klasse hat sie übersprungen. Dazu musste sie zu Hause nachlernen. Ihre Mutter prügelte fehlendes Wissen regelrecht in die Tochter hinein. Es muss furchtbar gewesen sein. Die vornehme Dame rächte sich an dem Kind, das ihren Lebensstil beeinträchtigte. Aber so unglücklich es zu Hause zuging, so sehr sonnte sich Enja Glücklich, das ist ihr Mädchenname, neben ihrem Großvater, einem erfolgreichen Geschäftsmann, wenn sie neben ihm auf der Wilhelmstraße in Wiesbaden flanierte. Dann gehörte ihr beinahe die Welt. Der Großvater gab ihr Freundlichkeit, ja Liebe, und das Versprechen auf eine andere Welt, als die zu Hause erlebte. Von ihm erbte Enja Glücklich wohl auch die Zuversicht, dass gelungenes Leben das bedrohte retten kann. Die Schule gehörte ebenfalls zu dieser besseren Welt, ein Gegenstück zum zu Hause erlebten Unglück, von dem die bösesten Erlebnisse hier unerwähnt bleiben müssen.

Zwischen diesen Polen hatte das Wiesbadener Mädchen jedenfalls mitbekommen, was im Leben alles möglich ist. Vor allem hatte sie erfahren, dass Menschen einen Ort brauchen, an dem sie willkommen sind und wo man an sie glaubt, so wie der Großvater an seine Enja. 

Nach dem Studium der Germanistik und Anglistik gab es für die Referendarin an ihrer alten Schule ein Erwachen. Ein Ort für Kinder und Jugendliche war ihre schöne Hela, wie die Schule schon damals genannt wurde, eigentlich nicht. Gar nicht. Der Blick ins Lehrerzimmer war desillusionierend. Die routinierte Schulmaschine drehte sich um die Fächer und den Stundenplan. Die wurden unterrichtet, weniger die Schüler. Der Schultag wurde im 45 Minuten Takt zerhackt. Aus der neuen Perspektive wirkte die Schule muffig und gar nicht mehr vielversprechend. Aber die Vision blieb, dass eine Schule so sein müsse, wie Enja, die inzwischen Riegel hieß, sie in Erinnerung hatte.

Das Referendariat begann sie 1969. In dieser Zeit stand alles zur Disposition. Auch Enja Riegel wollte wissen, was die Eltern- und Großelterngeneration tatsächlich getan hatte, fragte sich,  ob wir von denen wirklich abstammen wollen, oder ob wir uns nicht besser komplett neu erfinden. Sie wollte  den deutschen Nullpunkt,vor der das Land seit 1945 in das Immer-höher und das Immer-mehr von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder geflohen war, nun eine Generation später durchschreiten. Natürlich war das eine riskante und heute für die Jüngeren nur noch schwer nachvollziehbare Aktion, zumal die Jüngeren die 68er häufig als Lehrer kennen gelernt haben, die ihren Aufbruchsgeist verloren haben und nur als graue Vollstrecker des deutschen Konkurses auftraten. Eine zeitlang standen auch für Enja Riegel alle bürgerlichen Tugenden unter Faschismusverdacht. Schon die Forderung nach Sauberkeit erinnerte sie ans KZ und wurde als „anal“ abqualifiziert. Alles hing unbesehen mit allem zusammen. Kräftig wurde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Und doch war diese Rebellion für sie wichtig, zumal sie nicht an diesem Nullpunkt stehen bleiben wollte.      

 

Lehr- und Wanderjahre

Inzwischen war Enja Riegel Mutter und bald stadtbekannt. Mit ihrem antiautoritären Kinderladen hatte sie einen alten, längst entwidmeten Friedhof besetzt und zum Abenteuerspielplatz umfunktioniert, so nannte man das damals. Auch eine Straße wurde öffentlichkeitswirksam zur Spielstraße für Kinder erklärt. Immerhin, aus dem alten Friedhof wurde ein Spielpark und das ist er heute noch. Aber Anfang der 70er Jahre wurden Schauergeschichten erzählt. Die rote Enja zünde mit Kindern auf dem Friedhof Bäume an und schände Gräber. Stimmte nicht, aber passte ins Bild. Tatsächlich hielt der Kinderladen für sie eine ganz andere Lektion bereit. Sie erlebte, dass der antiautoritäre Aufbruch nicht unbedingt zu mehr Freiheit führt. Gewiss, auch sie fand, dass gut geputzte Ruinen, als die sie vieles in ihrer Schule, auch in den Erziehungsritualen der Familie erlebte, eingerissen gehören. Aber wenn nichts Neues aufgebaut würde, hätte nur die Verwahrlosung gewonnen. Im Kinderladen drängte sich eigentlich jedem die Entdeckung auf, dass Kinder verlässliche Beziehungen zu Erwachsenen brauchen, sie hungerten geradezu nach Regeln und Ritualen. Das Thema war aber sofort umstritten. Schließlich sollte ja alles ganz anders werden und zwar sofort. Die Rebellin wurde nachdenklich. Eine Dogmatikerin, die sich in Ideen verliebt, war sie nie. Sahen in ihr die einen noch jahrlang die rote Enja, erschien sie anderen schon als Pragmatikern, die nicht mit an den radikalen Rand, etwa zu Anarchos oder K-Gruppen wollte. Seit ihrem Referendariat war sie also wieder an ihrem alten Gymnasium. Anfang der 70er Jahre wurde eine neue Schulleiterin bestellt. Sie kam von einer Frankfurter Gesamtschule, hatte Elan und wollte alles anders machen. In ihrer Antrittsrede machte sie an der Schule den Staub von Jahrhunderten aus und kündigte an, den ganzen gymnasialen, pädagogische Müll und Schutt zu entsorgen. Diese Revolution von oben empörte einen Teil des Kollegiums und auch Eltern, bei denen das Misstrauen an Reformen wuchs, wollten sie vertreiben. Bei der nächsten Konferenz, ließ der mit einer Lehrerfraktion und dem stellvertretenden Schulleiter verbündete Elternrat einen Müllcontainer auf dem Hof vor den Fenstern des Lehrerzimmers abladen. Die Presse war bestellt. Es dauerte nicht lange, da gab die neue Leiterin auf. 

Wie in den meisten Schulen hatten auch an der Helene-Lange-Schule große Worte über die Reform von Gesellschaft und Schule Konjunktur. Nur den Unterricht und den Alltag der Schüler erreichten diese Ideen nicht. In dieser Zeit wurden Lehrerzimmer überall zu Schlachtfeldern zwischen den Anhängern konservativer Bildung und den Emanzipationsideen der häufig in sich zerstrittenen neuen Linken. Die meisten Gräben, die Anfang der 70er Jahre ausgehoben wurden, blieben einen 30jährigen deutschen Bildungskrieg lang offen und häufig hinterließ der Kampf Wüsten.

Entspannung versprach an der Hela ein neuer Schulleiter, Hubert Ivo. Er schrieb an einer neuen Didaktik für den Deutschunterricht und wirkte an den umstrittenen Hessischen Rahmenrichtlinien mit. Er hatte Ideen, konnte begeistern, war aber häufig zu Vorträgen unterwegs. Schon nach 2 Jahren erhielt er den Ruf an eine Universität. Später kam ein neuer, der bald sehr beliebt war. Aber als ihm die Leitung des renommierten altsprachlichen Gymnasiums mit einer großen Oberstufe angeboten wurde, ging auch er. Das Kollegium fühlte sich von beiden, mit denen es sich voller Elan auf die Veränderung der Schule eingelassen hatte, versetzt und verletzt.   Aber wer kümmert sich eigentlich um die Schüler und das ganze Wurzelwerk des Alltags? Dafür interessierte sich Enja Riegel immer mehr. Noch schien ihre Einsicht unzeitgemäß, dass es auf eine neue Kombination ankommt: vorsichtig kleine und mutige Schritte wagen, aber dabei den Blick nicht auf die Füße, sondern auf den Horizont richten.

Ihr Referendariat hatte sie abgeschlossen, vier Jahre war sie Lehrerin an der Hela, da verkrachte sie sich mit dem stellvertretenden Schulleiter über Ordnung und Unordnung im Klassenzimmer. Jetzt wollte sie an die pädagogische Basis, am liebsten zu einer Hauptschule. Das ging nicht, schließlich war sie Studienrätin. Aber der Wechsel zur Gesamtschule war möglich. Dort lernte sie noch einmal von Grund auf das Lehrerhandwerk  und zwar von den Schülern, zumal von denen mit Schwierigkeiten, zumeist  aus  Arbeiter- und  Migrantenfamilien die zur Wilhelm-Leuschner-Schule gingen. Bald war ihr und einigen Kollegen klar, was sie schon im Kinderladen beobachtet hatte: Schüler brauchen Erwachsene auf die Verlass ist, keine spezialisierten Fachlehrer, die jede Stunde kommen und gehen. Die Schüler, die aus keiner heilen Welt kommen, und das sind die meisten, brauchen ihren Raum, etwas Heimat. An der Gesamtschule wechselten Schüler dauernd ihre Kurse, Leistungsniveaus und Räume. Ein Verschiebebahnhof. Lehrer machten Polaroidfotos von ihren Schülern, um sie beim Zensieren nicht zu verwechseln. Enja Riegel machte den Vorschlag, dass Klassenlehrer auch fachfremd unterrichten, aber kam damit noch nicht durch. Schließlich setzten der Personalrat und die Gewerkschaften auf die höhere Reputation, die Fachlehrer genießen. Außerdem ließen sich mit dieser angeblichen Professionalisierung höhere Einstufungen in der Besoldung durchsetzen.  

Enja Riegel versuchte näher an die Kinder zu kommen und bewarb sich an eine Grundschule. Das war scheinbar ein Abstieg. Sie gehörte zu einer höheren Besoldungsgruppe als ihr neuer Schulleiter. Aber in der Grundschule konnte sie endlich reformerische Ideen verwirklichen, etwa die Schüler Lesen und Schreiben mittels einer kleinen Druckerei lernen lassen, wie in der französischen Freinet-Pädagogik. Damit hatte sie Erfolge. Aber sonst? Der Schulleiter kam jeden Morgen als erster in die Schule. Er hatte die merkwürdige Angewohnheit seine Mülltüten von zu Hause mit zu bringen und im Container der Schule zu verstauen, das sollte niemand sehen Um 7.45 Uhr schüttelte er jedem Lehrer die Hand und verschwand in seinem Zimmer. Den Rest des Tages war er nicht mehr anzutreffen. Unsichtbar, hinter seinem Schreibtisch abwartend, leitete er seine Schule. Was dort passierte, ließ er sich von den Putzfrauen berichten. Wo war es besonders schmutzig? Wer ist laut geworden? Was wird so auf den Gängen geredet? Hörte der Chef etwas, das ihm nicht gefiel, verbot er es. Folglich wurden die Putzfrauen zu den heimlichen Machthabern der Schule. Von den Lehrern wurden sie umworben und auch bestochen. So machten die Pädagogen ihren kleinen Frieden mit dem anscheinend Unveränderbaren. Das konnte doch nicht wahr sein, empörte sich Enja Riegel. Das ist doch nicht die Schule, in der ich arbeiten wollte! Das kann doch nicht das Leben sein!

Wie manch unzufriedener Lehrer suchte sie im Apparat der Schuladministration nach Nischen, von denen es ja nicht wenige gibt. Sie fand mit einem  Teil ihres Stundendeputats Platz im HeLP, dem Hessischen Landesinstitut für Pädagogik. Aber wie sollte sie andere Lehrer für einen Alltag fortbilden, dem sie selbst entkommen wollte? Große Reden über Mut, von Feiglingen gehalten, das lag ihr nicht. Langsam kristallisierte sich aus dem alten Traum der Schülerin Enja Glücklich und aus neuen Wünschen und Einsichten der Lehrerin Enja Riegel ein Ziel: Schulleiterin werden. Die Arbeit im HeLP nutze sie zur Erkundung des Feldes. Und sie beobachtete, wie sich neben dem Typus des überkommenen, langsam aussterbenden autoritären Schulleiters, der wie ein Landgerichtspräsident darüber wachte, dass nichts schief geht, ein neuer, eher softer Typ durchsetzte. Wie der alte Ordnungshüter will auch der neue Moderator selbst eigentlich  nichts, außer eben moderieren. Beide Typen wollen unangreifbar sein und riskantes Handeln meiden, bei dem sie sich selbst als Person mit ins Spiel bringen müssten. Der Typ Landgerichtspräsident  machte den staatlichen Überbau von Erlassen und Lehrplänen zu seiner Generalprothese. Der neue Typ versucht sich unsichtbar zu machen. Die Lehrer sollen das Gefühl haben, an allen Entscheidungen irgendwie mitzuwirken. Aber eben nur irgendwie. Konferenzen leitet er selten selbst, sondern überlässt das Kollegen. Er fragt nach Meinungen und bittet um Papiere. Er teilt die moderne Neigung zum Paralleluniversum von Debatten und endlosem Palaver. Aber seine Entscheidungsbefugnisse will er nicht abgeben. Tatsächlich zieht er seine Fäden im Hintergrund und bald ahmt das Kollegium diese Strategie nach. An solchen Schulen gedeihen Intrigen. Dort regieren schwer durchschaubare Seilschaften. Politisch oder anders gefärbte Grüppchen treiben ihre Spiele mit dem Ressentiment. Wenn ein Kollegium auf der Stelle tritt, werden innere und äußere Feinde unbedingt gebraucht. Das beschäftigt alle, zehrt aber an den Kräften und ermüdet. Nur um das Lernen, geschweige denn um die Schüler, geht es wieder mal nicht. Über Schüler, das beobachtete Enja Riegel während ihrer Wanderjahre, wird im Lehrerzimmer vor allem geklagt. Häufig werden sie verachtet. Manchmal werden sie gehasst. Woher diese Feindschaft?

 

Gesellenjahre

1982 ist Enja Riegel 42 Jahre alt. Sie hat 13 Jahre als Lehrerin in fast allen Schulformen und mit Schülern aller Altersgruppen gearbeitet. Inzwischen hat sie interessante Schulen in Deutschland und Frankreich besucht. Da ergibt es sich, was man in einem Roman als kitschig empfinden und als viel zu grob gestrickt zurück weisen müsste, dass sie im Amtsblatt von der Ausschreibung der Schulleiterstelle an der Helene-Lange-Schule liest. Enja Riegel kann nicht anders, als diese Anzeige als eine an sie gerichtete Aufforderung zu verstehen. Damit steht sie ziemlich allein. Der Schulrat versucht sie von der Bewerbung abzuhalten. In Gremien der Stadt Wiesbaden erinnert man sich an die rote Enja vom Friedhof und spricht sich für den Konkurrenten aus, einen etwas älteren Lehrer aus dieser Schule und setzt Frau Riegel an die 2. Stelle. Minister Krollmann hört Gutes über die Bewerberin und lädt sie  und ihren Mitbewerber zum Gespräch. Enja Riegel kauft sich gediegene Damenoberbekleidung, die der Jeansträgerin bisher fehlte, und lässt sich sagen, sie müsse sich unbedingt vom Minister aus dem Mantel helfen lassen. Nach dem Gespräch entscheidet er sich  und ruft seinen Freund, den Wiesbadener Schuldezernenten an. „Franz, nimmst Du sie?“ Der willigt widerwillig ein. Bis die hartnäckigen Einsprüche diverser Instanzen des Personalrats überwunden sind, vergeht mehr als ein Jahr. Dann wird diese von vielen weder als bürokratietauglich noch als führungsgeeignet angesehene Frau zur Schulleiterin ernannt.

 

In einem schmucklosen Raum, keine Blume, keine Musik, nichts, sitzt das Kollegium, alle in Schwarz und erwartet die neue Direktorin. Die einen lehnen sie ab, weil der Minister sie durchgesetzt hat. Manche haben sie als Rebellin in Erinnerung. Für andere passten die gegensätzlichen Vorbehalte ins Bild, dass die Frau wohl etwas verrückt sei.

 

Inzwischen unterrichten viele 68er und Nach-68er an der Schule.

Die Oberstufe war 1974 abgetrennt worden. Das damalige Kollegium wechselte zum größten Teil an das neue Oberstufenzentrum. Zur Hela kamen lauter junge Lehrer. Sie wollten viel ändern, wussten aber nicht wie man das macht. Das Kollegium  war einerseits von dem vorherigen Schulleiterwechsel gekränkt, andererseits waren viele der Meinung, sie brauchten keinen Schulleiter und schon gar nicht eine solche Frau, die ja doch nur ihre Karriere im Sinn habe. Diese Konstellation passt in die bleierne Zeit der frühen 80er Jahre, ja es war geradezu eine soziale Plastik, wie sie Joseph Beuys nicht besser hätte inszenieren können. Wenn man so will, der absolute Tiefpunkt für eine Schule. Wenn man es anders sehen will, war die Talsohle eine geniale Situation, das zu tun, was an der Zeit ist. Und Enja Riegel wollte es anders sehen. Sie wollte handeln, unbedingt. Sie wollte nicht nur moderieren und schon gar nicht eine Obrigkeit vertreten oder Erlasse durchsetzen. Denn sie war und ist eine pragmatische Visionärin, während bei uns doch häufig der Kampf zwischen pragmatischen Pragmatikern und utopischen Utopisten geführt wird.

Zunächst allerdings bestand sie auf einer ganz normalen Arbeitsordnung. Also morgens pünktlich anfangen, wenn ein Lehrer krank war, Vertretungsunterricht halten, Konferenzen nicht während der Unterrichtszeit und bei Geburtstagen kein Alkohol am Vormittag.

Der vom Kollegium favorisierte Gegenkandidat als Schulleiter war ihr Stellvertreter geworden. Das Kollegium verbündete sich mit seinem Favoriten und alle leisteten zähen Widerstand gegen die neue Schulleiterin als wäre sie ein Atomkraftwerk. Fast ein Jahr wurde mehr oder weniger geschwiegen. Schließlich gab der Stellvertreter auf und ging  in den Auslandsschuldienst.

Dann begannen die Osterferien. „Als die Schule wieder losging“, erinnert sich Enja Riegel, „war das Kollegium wie ausgewechselt“. Es war so, als ob es mit dem Weggang des Stellvertreters verstanden habe, dass die neue Schulleiterin an dieser Schule ihren Führungsanspruch auch gegen Schwierigkeiten behaupten würde. Ein Lehrer begrüßte die Direktorin mit einem Blumenstrauß: „Es wird Zeit, dass wir an die Arbeit gehen.“ 

Bei allen Verwerfungen in diesem Kollegium, war es auch eine Erleichterung  sich daran zu erinnern, dass doch fast alle Lehrer ihren Beruf gewählt hatten, um guten Unterricht zu machen und die Schule so gestalten, dass Schüler und Lehrer gern hin gehen.

Ganz so als wäre die Anspannung der ersten Monate die eines Pfeils gewesen, ging es nun plötzlich los: Abschied vom Trott der nachgeordneten Behörde, damit anfangen, an der eigenen Schulbiographie zu arbeiten. Eine Schule machen speziell für die schwierigen 10-16jährigen, ohne gleich immer auf das Abitur zu schielen. Die Lehrer und die Leitung verabredeten, den Unterricht, die Schüler und die eigene Arbeit genau zu beobachten und sich selbst auch beobachten zu lassen. Letzteres geht aber nur, wenn nach und nach das Klima der Schule neu temperiert wird. Weniger Misstrauen und mehr Vertrauen. Nicht nach den Schwächen und den verborgenen Verletzbarkeiten der anderen suchen, sondern nach deren Stärken und die Schwächen respektieren. Für diese neue Politik des Schullalltags gab es kein Rezept, aber eine unumstößliche Regel, die die Schulleiterin beachten musste. Vertrauen schafft man nicht dadurch, dass man es von anderen verlangt, sondern nur dadurch, dass man Vertrauen gibt. Möglichst verschwenderisch. Auch wer diese Regel nicht kennt, spürt sofort, wenn sie verletzt wird. Zumal Lehrer sind da empfindlich.

Enja Riegel begriff die Leitung der Schule mehr und mehr als „Management by wandering around“:  Beobachten, nachfragen, auch widersprechen. Immer selbst Person sein, kein durchsichtiger, modischer Moderator. Denn „Leben entzündet sich nur an Leben.“ Das Jean Paul Zitat kannte sie von ihrer Wahlverwandten  Hildburg Kagerer, einer Psychologin und Lehrerin in Berlin.

Nach dem Trauerjahr hatte die Schulleiterin die Prüfung durch das Kollegium bestanden. Es wollte wissen, was ist das für eine? Meint sie es erst? Ist es eine Person oder doch nur eine Funktionärin mit Protestfolklore und Hallodri?

Und dann kam ganz unerwartete Hilfe von außen.       

 

Enja Riegels Meisterjahre

Das Hessische Parlament verabschiedete 1985 ein Gesetz, wonach die fünften und sechsten Klassen in eine Förderstufe kommen sollten, damit die Kinder wie in der Grundschule zwei Jahre länger gemeinsam lernen. Diese Stufe sollte entweder Grundschulen oder  Gesamtschulen zugeschlagen werden. Die Helene-Lange-Schule musste sich entscheiden entweder Gymnasium zu bleiben, aber ohne die Klassen fünf und sechs (und ohne die eigene Oberstufe) oder sich entschließen  eine Gesamtschule zu werden. Was tun? Plötzlich waren nicht nur Ideen für besseren Unterricht gefragt, sondern eine Vision für die Zukunft der ganzen, nun gefährdeten Schule. Sie brauchte eine Strategie, um ihre Ziele zu erreichen. Führung wurde nötig. Ein in Deutschland kontaminiertes Wort. Führung wird häufig mit Bemächtigung und feindlichem Übergriff gleichgesetzt, gar mit Diktatur assoziiert.

Könnte Führung nicht etwas anderes bedeuten?  Die Bedrohung begrenzte grundsätzliche Debatten. Es musste gehandelt werden. Es ging nun auch darum, eine Schule zu entwerfen, die ihre Schüler nicht einfach so vom Sprengel geliefert bekommt. Die Helene-Lange-Schule würde sich auf dem Markt der Wünsche und Interessen von Eltern und Kinder behaupten müssen. Welche Schule ist gefragt? Eine ungewöhnliche und belebende Herausforderung für ein Lehrerkollegium. Man könnte auch sagen, nun war genau jemand wie Enja Riegel nötig.

Sie wusste nach ihren Lehr- und Wanderjahren, was sie wollte. Eine Gesamtschule, damit kein Kind oder Jugendlicher  um seine Zugehörigkeit bangen muß. Die neurotisierende Frage, gehöre ich dazu, sollte endlich zur Vergangenheit gehören. Aber es sollte keine dieser Gesamtschulen werden, auf der sich Schüler wie Findelkinder auf dem Bahnhof fühlen. Die Lernfabrik hatte sie ja erlebt. Sie wollte durchaus an Traditionen aus dem Gymnasium  anknüpfen, diese aber mit reformpädagogischen Traditionen kreuzen, die zum Teil vergessenen waren. Also selbst etwas wollen und nicht immerzu fragen, was soll ich denn jetzt machen. Die Schule musste sich die eigentlich selbstverständliche Freiheit nehmen, wie jeder lernende Mensch, aus den Erfahrungen mit dem Gelingen und Scheitern, seine Konsequenzen für nächste Schritte zu ziehen. Die Gefahr für die Schule war so gesehen ein Glücksfall. Die Not zwang dazu konstruktiv zu werden. Not-Wendigkeit. Gefragt war also genau das, was Enja Riegels Antrieb ausmachte: dass man wollen darf,  ja wollen muss. Dieser Antrieb befähigte sie zur Führung. Und daran wird auch deutlich, was Führung im Gegensatz zu der für viele Deutsche traumatisierten Perversion  des Vorangehens ist.

 

Was hieß das für den Alltag? Nachdem sich das Kollegium entschlossen hatte, eine echte Gesamtschule zu werden, und auch die Eltern in der Schulkonferenz dafür waren, galt es nun dieses etwas andere der Schule wirklich in Gang zu bringen. Als erstes begab sich das Kollegium gruppenweise (jeweils ein Auto voll) auf Reisen zu Schulen, die anders arbeiteten. Etwa die Bielefelder Laborschule, die wie ein großes Lerndorf gebaut war. Auch die Gesamtschule Kassel-Waldau hatte sich in kleine übersichtlich Schulen in der großen Schule gegliedert. In der Odenwaldschule können die Schüler neben dem normalen Schulabschluss eine Handwerksausbildung mit Gesellenprüfung absolvieren. Es musste nicht alles neu erfunden werden. Es hätte wenig auch genützt, wenn Enja Riegel das Kollegium mit den Einsichten ihrer Lehr- und Wanderjahre belehrt hätte. Die Lehrer mussten und wollten Alternativen selbst entdecken und mussten das neue in ihre Möglichkeiten einpassen. Aber es war für sie ein Vorteil, jemanden zu haben, der die Karten der Bildungslandschaft kennt. Jetzt war Innovationsmanagement gefragt, zumal  die Lehrer  ja anders und besser als bisher unterrichten sollten. Und das Neue machte Angst. Also musste die Schulleiterin ihnen erst mal den Rücken frei halten. Ein Beispiel: Lehrpläne verbuchen den Schulstoff in Fächern. Viel besser lässt sich aber häufig in Projektarbeit lernen. Also wurde die Trennung nach Fächern etwa Biologie, Chemie, Deutsch, Gesellschaftskunde und Kunst für die Projekte aufgehoben.

Durfte die Schule das? Wenn Eltern und Lehrer der Schulleiterin diese Frage stellten, bekamen sie immer zur Antwort: „Ja, selbstverständlich,“ denn Lehrpläne seien richtungsweisend, nicht als kleinliche Vorschriften zu verstehen. Und die Schulleitung übernehme die Verantwortung, dass die Anforderungen alles in allem eingehalten werden. Das war nicht nur so ein Wort. Nachfrage nach den Ergebnissen eines Projektes mussten sich Lehrer von nun an gefallen lassen. Nach außen übernimmt die Schulleitung den Schutz, und nach innen repräsentiert sie selbst ein Außen, eine Instanz die nachfragt und Rechenschaft verlangt. Die Schulbehörden sahen das zunächst wohl anders. Ein Bespiel wie tief das Misstrauen steckt. Aber sie wurden Jahr für Jahr mehr von den Erfolgen, dieser selbständigen Schule überzeugt, in der nicht, wie manch einer fürchtete,  jeder macht, was er will, im Sinne von Laissez-faire, sondern in der immer mehr Schüler und Lehrer  so gut wie möglich sein und sich nicht beschummeln wollen.

 Die neuen Arbeitsweisen der Schule wurden den Behörden, den Eltern oder auch der Öffentlichkeit gegenüber nie verheimlicht. Allerdings, so ein inzwischen häufig zitiertes Bonmot von Enja Riegel: „Wir fragen Schulrat Moos bei vielen Dingen, die wir anders machen wollen. Aber es gibt Dinge, da schonen wir ihn, denn die müsste er verbieten.“ Allerdings wurde dieser Satz 1993 von Enja Riegel im Fernsehen gesagt. Heimlichkeiten wären etwas anderes.

In den Anfangsjahren des Umbaus schickte die Schulleiterin den zuständigen Behörden noch nach Fächern getrennte Unterrichtspläne, während die Lehrerteams längst dazu übergegangen waren fächerübergreifende Jahresarbeitspläne zu erstellen.  Hätte der Schulrat diese Absicht vorher gekannt, was hätte er machen sollen? Und hätten die Lehrer gewusst, dass einiges von dem, was sie ausprobieren, von den Behörden nicht abgesegnet worden ist, hätten sie es vielleicht nicht angefangen. Erst die Erfolge der heimlichen Versuche erlaubten es der Schulbehörde, die Abweichung von der Normalität zu akzeptieren und schließlich auch zu feiern. Wer, wenn nicht die Schulleitung, hätte diesen Teufelskreis durchbrechen können?

Erlasse schreiben Gesamtschulen vor zu differenzieren, also die Schüler nach verschiedenen Leistungsniveaus zu unterrichten. Alle Schulen folgten und teilten ihre Schüler in entsprechende Gruppen ein. Enja Riegel und ihre Kollegen lasen den Erlass ganz genau. Da stand nur, dass Differenzierung erfolgen müsse, nicht dass Schüler in unterschiedliche Gruppen zu separieren seien, die Klasse oder den Lehrer wechseln müssten Also wurde der Erlass anders ausgelegt: Differenzierung im Klassenverband.  Später konnte das Ministerium bestätigen, jawohl Frau Riegel, Sie befinden sich im Interpretationsbereich. Eine Schulleitung muss also auch listig sein.

Um sich so weit vor zu wagen, wie die Helene-Lange-Schule, bedarf es natürlich der Sicherheit auf dem richtigen Weg zu sein und Fehler nicht als Sünden anzusehen, sondern aus ihnen eine Kunst zur Verbesserung der Ortskenntnisse zu machen. Die Leitung muss der Schule so viel Sicherheit geben, dass sie sich ruhig in Unsicherheiten begeben kann. Das hat nichts mit Führung als Unterdrückung zu tun oder mit Macht als Herrschaft, eher mit Macht, wie man sie auf englisch buchstabiert: Power. Macht kommt von Mögen, meinte die Philosophin Hannah Arendt, ja Macht entstünde, wenn sich Menschen zum Leben und zur Gestaltung ihrer Verhältnisse verabredeten. Genau das geschah. An die Lehrerteams wurde in der Helene-Lange-Schule viel Macht abgegeben. Aber was heißt abgegeben? Die Zusammenarbeit der Lehrer in  Teams verschaffte ihnen eine häufig völlig neue Erfahrung, vor allem die, wie beglückend Resonanz ist und wie kräftezehrend die Vereinzelung. Die Teams erwiesen sich als regelrechte Labore Macht für alle zu vermehren und um Macht und Einfluss nicht wie um ein knappes Gut zu kämpfen. Traditionelle Herrschaft läuft darauf hinaus Macht zu verbrauchen, sie denen, die sie geschaffen haben, zu entreißen. Das hat Macht in Verruf gebracht. Nun müssen wir wieder lernen, wie Macht geschaffen wird. Der Helene-Lange-Schule gelingt die Machtproduktion. Allein das beweist, dass sie die Art von Schule ist, die an der Zeit ist. Enja Riegel hat Lehrer dazu ermuntert zu zeigen, was sie können, auch und gerade dann, wenn sie Fähigkeiten haben, die in keinem Lehrplan beschrieben sind. Sie hat  Bewerber für eine Stelle gefragt: „Was können sie noch? Spielen Sie Querflöte? Können Sie auf einem Hochseil balancieren?“ Sie stellte diese Fragen bei jedem Einstellungsgespräch. Enja Riegel leitete die Schule wie eine Menschensammlerin. Sie begann bald damit eine Talentkartei anzulegen. Wer sie mit seiner Arbeit überzeugte oder begeisterte, fragte sie, ob er Interesse daran hätte, das irgendwann an der Helene-Lange-Schule zu machen. Es müssen ja nicht immer Lehrer sein. Wenn sich Referendare oder Praktikanten über das Normalmaß hinaus eingebracht hatten oder ihr ein Regisseur aufgefallen war, dann kamen sie in die Talentkartei. So arbeiten Unternehmer und in diesem Sinne war Enja Riegel Unternehmerin. Ein Schulleiter wartet normalerweise darauf, dass ihm ein Lehrer zugeteilt wird. Ein Unternehmer kann jemanden, der seine Arbeit unzureichend erledigt, entlassen, ein Schulleiter nicht.  Eine Talentkartei macht deshalb nur Sinn, wenn die Schulleitung einen langen Atem hat. Es dauerte manchmal Jahre bis sie einen Bedarf anmelden konnte, auf den jemand aus der Talentkartei passte.

Ein anderes Beispiel für die Qualitäten der  Menschensammlerein und für die Vorteile des Unternehmergeistes ist folgendes: Die Gesamtschule verfügte über eine Holz- Textil- und Fahrradwerkstatt, eine Schulküche, eine Druckerei und ein Theater. Nur wenige Lehrer verfügten über die Kenntnisse und Fertigkeiten, dort mit Schülern  zu arbeiten. Die Räume wurden zu selten genutzt. Küchenpersonal, das aus der Schulküche mehr hätte machen können, war nicht vorgesehen. Enja Riegel machte wie so häufig das, was in der Unternehmenstheorie heute das Modell von best practice ablöst, next practice, den richtigen, mutigen, nächsten Schritt. Sie stellte ABM-Kräfte ein. Das Arbeitsamt hat sich gefreut, als sie sich nach ABM-Stellen erkundigte. Über das Sozialamt, das anerkannte Asylbewerber zu vermitteln versuchte, konnte die Schule sogar Stellen einrichten, die ihr als Arbeitgeber keinen Cent kosteten. Innerhalb kürzester Zeit arbeiteten an der Schule Schneider, Köche, Maler und Schreiner und natürlich Regisseure Es gab Schuljahre, in denen die Schule sieben zusätzliche Angestellte in den Werkstätten beschäftigte. Keiner von ihnen hatte irgendeine pädagogische Ausbildung. Aber diese Botschafter aus der tätigen Welt und aus fernen Ländern waren für die Schüler jedes Mal eine große Bereicherung.

Vielleicht hört sich manche Geschichte über die Schulleiterin so an, als sei sie selbstherrlich. Das stimmt, aber nur zu ungefähr 30%. Und dieser Anteil ist nützlich. Die anderen 70%? Sie ließ sich kritisieren. Sie verlangte für sich jenes Außen im Innen,  das sie selbst für die Lehrer und übrigens auch für viele Schüler war. Die hatten mächtig Respekt. Enja Riegel ließ sich jahrelang von Gerold Becker  beraten, kritisieren und korrigieren. Bald beriet Gerold Becker auch Lehrteams und dann über 10 Jahre die ganze Schule. Diese Korrekturinstanz hat viele Entscheidungen und Verhaltensweisen verbessert und über manchen blinden Fleck hinweg geholfen. Ohne sie wäre die Schule nicht geworden, was sie ist. Das gilt auch für die Kooperation der Schulleiterin mit ihrem Stellvertreter Klaus Schwalbenbach, der in vielem das ganze Gegenteil von ihr und deshalb eine ideale Ergänzung war. Schwalbenbach fragte Enja Riegel bei jeder ihrer neuen Ideen erst einmal genau und skeptisch nach. Manche Idee stellte sich als verfrüht oder als nicht machbar heraus. Was er für die Zusammenarbeit in der Schulleitung bedeutet, hat Enja Riegel bei ihrer Abschiedsrede so geschildert: „Während ich am Trapez die kühnsten Figuren vorführe, hoch oben in der Zirkuskuppel, spannt er das Netz, dass ich nicht abstürze. Er gibt dem Orchester den Einsatz und sorgt für das richtige Licht.“ Ohne dessen klaren Blick für hohle Ideen, wäre mancher in der Schule sich selbst auf den Leim gegangen. Schwalbenbach  war für Riegel die leibhaftige Evaluation. Und wenn dann auch die anderen Mitglieder der Schulleitung überzeugt waren, machte sich Klaus Schwalbenbach an die Kleinarbeit. An der hatte er seine Freude. Er war ein Meister der Organisation, die  nicht unbedingt Enja Riegels Leidenschaft war. Mehr und mehr entwickelt sich die Schulleitung zu einem Zusammenspiel, auch mit den Lehrern. Aus einem Orchester mit der Dirigentin und den ausführenden Instrumentalisten wurde immer häufiger eine Jazzband, in der jeder den Einsatz für seinen Soloauftritt dann am besten findet, wenn er die der anderen im Kopf schon mitspielt. Führung braucht Autorität. Und Führung muss diese auch wieder abgeben können.

Vielleicht war das Wichtigste, dass die Schulleiterin selbst das tut, was sie von den anderen verlangt. Diese Symmetrie ist die Basis für Glaubwürdigkeit. Denn Schulleiter sind, wenn sie gut sind, keine Funktionäre. Sie sind so erfolgreich, wie es ihnen gelingt ihre Sache zu verkörpern., Dazu müssen sie vieles von dem, was ansteht, erst in einer Art Selbstversuch an sich selbst durchspielen. Deshalb ist eine Quelle für erfolgreiche Führung auch eine gewisse Unzufriedenheit. Schulleiter, die – sagen wir es so pathetisch – an der Welt leiden, sind leidenschaftlicher. Ich habe bei meinen Beobachtungen von Schulen in Deutschland und auch in anderen Ländern keinen starken Schulbeweger kennen gelernt, der mit dem, was er in der Institution bewirkte, nicht zugleich auch sein Lebensskript umschreiben wollte. Das ist genau das, was Lessing über den genialen Mann gesagt hat: „Was ihn bewegt, bewegt; was ihm gefällt, gefällt. / Sein glücklicher Geschmack ist der Geschmack der Welt.“ Für die geniale Frau gilt das erst recht.

Wie gesagt, gute Schulleiter sind keine Funktionäre, keine Landgerichtspräsidenten und keine andere Art eines  Nowhere Man oder einer Nowhere Woman. Dass darin auch Risiken und Nebenwirkungen liegen,  versteht sich, aber ohne diesen Mindesteinsatz hätten wir eine Schule der Zombies.