Albert Einstein nannte sich das „ewige Kind“. Und Friedrich Schillers Satz „Der Mensch ist nur dann ganz Mensch, wenn er spielt“ hört man in seinem Jubiläumsjahr häufig. Mit dem Zitat spricht so mancher aus, was ihm schon länger dämmert. Die große Epoche des Homo faber, des durch Arbeit definierten Menschen, läuft aus. Homo ludens kommt wieder mehr zu seinem Recht. Und zwar nicht erst am Feierabend. Die Arbeit selbst braucht Spielräume, wenn sie in einer Wissensgesellschaft produktiv sein soll. „Die Welt entstand, als Atome von ihrer geraden Bahn abwichen.“ Epikur Dem großen Selbstgespräch der Gesellschaft kommen die Jubiläen von Einstein und Schiller gerade recht. Sie sind Paten eines veränderten Blicks. Schillers Leben wird von Rüdiger Safranski als so produktiv geschildert, weil er sich nicht dem Zwang zu einer berechenbaren Identität gebeugt habe. „Alle acht Tage war er ein anderer und ein vollendeterer“, schrieb Goethe über ihn. Oder Mozart. Günter G. Bauer rechnet vor, dass ein Notenkopist etwa 99 Jahre bräuchte, um dessen Werk zu kopieren. Mozart aber hat nur 30 Jahre komponiert. Wie geht das? Eine Frage, die nicht beantwortet werden kann, ohne die Begeisterung und die Versenkung ins Spiel mit einzubeziehen. Der kürzlich verstorbene Mediziner und Hirnforscher Detlef Linke bezeichnet das Spiel als den Punkt, an dem der „Halbzombie Mensch“ zu Freiheit und Kreativität kommt. Jenseits aller Fragen nach dem guten und richtigen Leben – der Bedarf nach Menschen, die wie Automaten funktionieren, ist rückläufig. Zum Beispiel McKinsey. Schon im Herbst 2002 hatten die Unternehmensberater einen viel beachteten Bildungskongress abgehalten. Neben Wissenschaft- 483 Die Kinder, das Humankapital und der Aufbruch in die Wissensgesellschaft Reinhard Kahl lern sprach der Regisseur Robert Wilson. Er erzählte, wie ihn die Erfahrung des Raums durch Tänzer und Choreographen in New York geprägt hat. Seine wichtigsten Entdeckungen brachten ihm die Freundschaft mit einem tauben afroamerikanischen Jungen und mit einem autistischen Kind. Sein Fazit: „What’s important today, is to have some understanding of others in other fields. And, perhaps, we as individuals would act in a different way.“ Ausgerechnet McKinsey, denkt nun manch ein Leser. Wundern Sie sich weiter! Im Frühjahr 2005 bereiten vier Werkstattgespräche den zweiten Kongress „McKinsey bildet“ vor. Diesmal stehen nur die Kinder auf dem Programm. Thema sind Krippen, Vorschulen und Kindergärten. Es geht um Spracherwerb, Science und Musik, darum wie Kinder lernen und wie ErzieherInnen ausgebildet werden. In einem der Werkstattgespräche plädierte die Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard für den Matsch, das Kochen und das Zusammenspiel mit anderen Kindern. Das zieht sie einem Kindergartencurriculum vor. Gestandene Naturwissenschaftler schickte McKinsey in Kitas, damit sie erklären, warum zum Beispiel der Himmel blau ist. Faszinierend, wie sich Staunen und Intelligenz, ja Poesie und Erkenntnis verbinden. Selten wird das Lernen des Homo ludens so intensiv, wie wenn Kinder etwa mit Naturwissenschaftlern oder Künstlern Entdeckungen machen und sich gegenseitig Fragen stellen. Nun ist die Koevolution von staunenden Kindern und erfahrungsklugen Erwachsenen keine brandneue Idee. Aber kann es sein, dass man sie beim organisierten Lehren fast vergessen hat? Einsteins ewiges Kind war ein Gegenspieler im Erwachsenen, der es ihm ermöglicht hat, Anfänger auf immer höherem Niveau zu werden. Staunen und Phantasie bringen sicheres Wissen wieder durcheinander und helfen es neu zu ordnen. Aber das geht nicht ohne blinde Flecken und Leerstellen. Der Mangel 484 Einsteins ewiges Kind war ein Gegenspieler im Erwachsenen, der es ihm ermöglicht hat, Anfänger auf immer höherem Niveau zu werden. hält unsere Konstruktionen beweglich. Viele Erwachsene verleugnen oder bekämpfen ihn. Er passt nicht zur Perfektibilität der Verwachsenen. Mit ihren lückenlosen Selbst- und Weltbildern verstopfen sie sich diesen Ur-Sprung, der das Individuum zum Individuum macht und das endlose Spiel der Differenzen eröffnet: Dialoge, Fragen, Fehler, Missverständnisse und schließlich das Spiel selbst und die Erfolge beim Lernen und im Forschen. Es wird Zeit, dass wir uns überlegen, wie in Kitas und Schulen nicht nur die Kinder von Erwachsenen lernen, sondern wie sich auch Erwachsene von ihnen kräftig irritieren lassen. Jedenfalls kommt heute – zumal in Deutschland – vieles zusammen. Das Land vermisst seine Kinder – und entdeckt sie. Vielleicht korrigieren die Deutschen dabei auch ihr Bild von Kindern? Im Blick auf Kinder drückt sich das Verhältnis aus, das wir zu uns selbst haben. Das ist mehr als die demographische Krise. Vielleicht lässt sich die demographische Krise mit bevölkerungspolitischen Mitteln allein gar nicht lösen? Neben einer Begeisterung für Kinder und einer Renaissance des Spiels muss auch die Arbeit neu gedacht werden. Humankapital Wer dieses Wort in den Diskurs bringt, macht sich damit selten Freunde. Nun wurde Humankapital von einer Sprachjury sogar zum „Unwort des Jahres“ erklärt. Abgesehen davon, dass „Unwort“ selbst unmöglich ist, wurde hier ein Ressentiment bedient. Zumal wenn dieses Wort auf Bildung bezogen wird. Denn das weiß man ja, Bildung verhält sich zu Wirtschaft wie Feuer zu Wasser. Oder? Nein, der Gemeinplatz gehört ins Inventar der Philister. Genauer besehen erweist sich Humankapital als Wasserzeichen eines Denkens und Handelns, das am Ende der Bildung bekommt. Wenn in Deutschland die Sonntagsreden mit hehren Präambelsätzen über „Bildung“ verklungen sind, geht man werktags zur Sache. Argumentiert wird dann mit dem „Qualifikationsbedarf“. Aufschlussreich ist, dass in der angloamerikanischen und skandinavischen Tradition an allen sieben Tagen der Woche das verdächtige Wort gebraucht wird. Gewiss, Humankapital hört sich nach kruder Ökonomie an. Tatsächlich steht das Wort eher für das Vertrauen in junge Menschen, dass sie aus ihren auf keinen Bedarf zugeschneiderten Fähigkeiten Wissenswelten Schwerpunkt „Was Kinder (und Eltern) brauchen“
485
schon was machen werden. Aufs Humankapital wird gesetzt, weil niemand die
Zukunft kennt. Weil sie offen ist, muss sich jeder so gut vorbereiten wie möglich.
Diese Denkweise führt anderswo zu einem hohen Anteil von Studierenden.
Alles nur um sie für die Wirtschaft verwertbar zu machen?
Die deutsche Konstruktion „Qualifikationsbedarf“ ist international einmalig. Sie
ist die Kehrseite des abgehobenen Bildungsbegriffs. Vorausgesetzt wird, dass
die Zukunft im Groben bekannt ist. Die nächste Generation wird einem vermeintlich
objektiven Bedarf unterworfen. Schlimmer noch, viele Jugendliche
glauben selbst an diese Fiktion. Am deutlichsten wird die Vorstellung, dass ein
Bedarf zu bedienen sei, an der verbreiteten Angst, zu viele Hochqualifizierte
endeten als akademisches Proletariat, sei es als Revoluzzer oder als Taxifahrer.
Alle Statistiken beweisen das Gegenteil, doch der Mythos hält sich. Er wird
vom Argwohn getrieben, viele wollten zu hoch hinaus. Auch darin liegt eine Verwandtschaft
mit dem idealisierenden Bildungsbegriff und seiner Kehrseite, der
Neigung zur Herabsetzung und Selektion.
Mit dem Denkmuster „Humankapital“ werden Bildungssystem und Beschäftigungssystem
entkoppelt. So entsteht Freiraum für Bildung. Die aktuelle OECDStatistik
verzeichnet sinkende Arbeitslosenquoten in Ländern, deren Anteil von
Studierenden seit 1995 um mehr als 5 Prozent gestiegen ist. Jedes zusätzliche
Jahr an Bildung, das eine Bevölkerung im Durchschnitt genießt, steigert das
Bruttoinlandsprodukt um 3 bis 6 Prozent. Gestärkt wird der „subjektive Faktor“.
Hätten die Finnen vor 25 Jahren, als bei Nokia noch Stiefel und andere Gummiwaren
hergestellt wurden, gefragt, für welchen Bedarf sie ausbilden sollen, wer
würde heute diese Firma kennen? „Kommunikationsgesellschaft“ wurde als
Staatsziel in die finnische Verfassung geschrieben. Definiert wird sie damit, dass
zumindest 70 Prozent der jungen Leute studieren. Ein zumindest vierjähriges
Studium! Inzwischen beginnen es in Finnland 71 Prozent. „Wohin führt das,
486
Jedes zusätzliche Jahr an Bildung, das eine Bevölkerung im
Durchschnitt genießt, steigert das Bruttoinlandsprodukt um
3 bis 6 Prozent.
wenn jeder studiert?“, fragen sich noch immer viele Deutsche. Ja, wohin führt
das? Eine Quittung für die deutschen Bildungsphilister ist unsere im internationalen
Vergleich niedrige Quote von Studienanfängern: 35 Prozent. Im OECDSchnitt
sind es 45 Prozent. Wir sind allerdings Weltmeister bei den Abbrechern.
Nur 19 Prozent verlassen eine Hochschule mit Examen.
Schüler und Studenten, die sich fragen, wie stärke ich mein Potenzial, und sich
nicht darauf beschränken, vorauseilend zu erfüllen, was angeblich gebraucht
wird, werden auch in der Schule oder Hochschule seltener fragen, was von
ihnen verlangt wird. Sie müssen herausfinden, was sie wollen. Etwas zu wollen
und eigene Ideen zu haben, das wird zum Kern von Humankapital und von
Bildung. Eine Bildung, die sich allerdings eher im Handeln als im Genuss von
„Bildungsgütern“ erweist.
Wer heute ein Architekturbüro, einen Verlag oder eine automatisierte Produktion
betritt, findet dort gewöhnlich ein höheres Zivilisationsniveau als in Schulen.
Als Erstes fällt der Unterschied an den Räumen auf. Dann am Umgang. Wie
kommt das? Ihre Arbeit sehen die meisten Mitarbeiter in diesen Unternehmen
eher als ihre eigene Sache an, als das gewöhnlich bei Schülern der Fall ist.
Wäre das nicht ein Maß, den Grad an Entfremdung zu beurteilen?
Wie kommt es, dass in einer der besten Schulen, bei einer Befragung der Schüler,
was ihnen gefällt, Praktika in Betrieben an erster Stelle stehen? Wie kommt
es, dass Kinder nach einem mehrtägigen Spiel „Leben im Mittelalter“ davon
schwärmen, dass Kinder damals arbeiten durften? Sie sehnen sich danach,
nicht nur gefragt zu werden, sondern auch gefragt zu sein, mit anderen etwas
auf die Beine zu stellen und dabei ihre Wirksamkeit zu erleben.
„Ökonomie ist Kunst“, sagte Josef Beuys, „und Kunst ist Ökonomie.“ Der gemeinsame
Nenner beider Gleichungen ist die Verwandlung von Knappheit in
Form. Ist das nicht auch Bildung? Und erkennt man Dummheit und Ressentiment
nicht an deren Formlosigkeit? Bis wir die Wirksamkeit des Humankapitals
an seiner Schönheit erkennen, wird wohl noch etwas Zeit vergehen. Aber
das wär’s natürlich.
Wir Deutsche müssen über unseren Schatten springen. Das wird nicht leicht
werden. Nirgendwo wirft die Industriegesellschaft so lange Schatten wie hier-
Wissenswelten Schwerpunkt „Was Kinder (und Eltern) brauchen“
– Essay – R. Kahl487
zulande. In der Epoche der Entfremdung war Deutschland Weltmeister.
Die Deutschen funktionierten gut. Die Schulen haben dazu ihren Beitrag geleistet.
Mit Sprüchen wie: „Aus dir wird nie was!“ Viele Menschen erinnern sich an
Demütigungen. Sie wollen später von der Schule nichts mehr hören. Manchmal
haben sie dort sogar das Lernen verlernt. Viele Erwachsene finden, was sie
geworden sind, das seien sie trotz der Schule geworden. Sie trauen ihr nicht viel
zu. Solch einer Schule meint man natürlich nichts zurückgeben zu müssen.
Schon gar keinen Respekt. Und irgendwie tröstet man sich über Leid,
Langeweile und das dumpfe Gefühl von Vergeblichkeit damit, geschadet habe
es doch nicht. Wirklich? Die Schulzeit ist im kollektiven Imaginären der Deutschen
überwiegend noch als eine auf das „spätere Leben“ zur Bewährung
ausgesetzte Vorstrafe gespeichert. Was ist das für eine Initiation, wenn Kindern
mit diesem „späteren Leben“ gedroht wird und wenn sie nicht von Erwachsenen
zum Leben eingeladen werden? Und was heißt Leben anderes als jetzt ganz
gegenwärtig zu sein? Und was ist dieser Mythos vom „späteren Leben“ anderes
als aufgeschobenes, ja enteignetes Leben? Wer sich seiner gegenwärtig
wird, will wissen, wo er herkommt und wo es hingeht. Kinder fragen dauernd
danach. Warum? Weshalb? Wieso? Solche Fragen waren auch in den Familien
nicht besonders beliebt. Gewiss, das hat sich geändert und man kann heute beobachten,
wie sich das Bild von Kindern und vom Lernen und damit die Vorstellung
vom Leben in einem großen, faszinierenden Wandel befindet.
Blicken wir einen Moment noch auf unsere Herkunft. Nach dem sauren Anfang
in der häufig erniedrigenden Schule gab es immerhin eine zweite Chance: Aufstieg
durch Arbeit. Der Beruf bot Möglichkeiten sich zu rehabilitieren. Nicht selten
wurde dort die Flucht in die Maloche angetreten. Endlich konnte bewiesen
werden, dass man gebraucht wird. Und es gab Belohnung. Dieser Regelkreis
488
Die Schulzeit ist im kollektiven Imaginären der Deutschen
überwiegend noch als eine auf das „spätere Leben“ zur Bewährung
ausgesetzte Vorstrafe gespeichert.
aus Entfremdung und Leistung, aus Klein-gemacht-werden und Auswegen
nach oben konditionierte auf Außensteuerung. Sie kennzeichnet den Zivilisationstyp
der Industriegesellschaft. Er hatte gelernt an Perfektion zu glauben
und sich selbst zu misstrauen. In diesem Klima gediehen die Ideologien der
Reinheit. Aber das ungelebte Leben meldet sich immer zurück. Als Verbitterung
und als Destruktion. Nach innen und nach außen. Auch der Faschismus war ein
Meister aus Deutschland. Nach seinem Wüten gab es wieder viel Arbeit. Nun
wurden die Deutschen, exakt die Westdeutschen, doch noch Weltmeister. Das
Wirtschaftswunder der rekonstruierten Industriegesellschaft war der größte
Triumph im Regelkreis der Entfremdung. Das Wunder beglaubigte seine Vorgeschichte
als richtigen Weg – solange man nur nicht genau hinsah. Doch das
Programm dieses Regelkreises läuft nicht mehr so richtig, immer häufiger
stürzt es ab. Das große Sicherheitsversprechen des Sozialstaates kann nicht
mehr gehalten werden. Sicherheitsgarantien waren ein Kompensationsgeschäft
mit den massenhaft biographisch Verletzten. Nun traut man sich in
Deutschland nicht so recht, den Glauben an das Programm der Gesellschaftsmaschine
im Großen und an die Programmierung von Lebensläufen im Kleinen
aufzugeben. Man fürchtet, das hielten die Menschen nicht aus. Tatsächlich
kann der Abschied von der Religion der Industriegesellschaft nur gelingen, wenn
die Menschen gestärkt werden. Weniger auf die Systeme und mehr auf die Subjekte
setzen: Auf ihre Biographien. Auf ihren Erfindungsreichtum. Und nicht zuletzt
auf ihre Kooperation. Man könnte auch sagen: Auf ihre Bildung.
Nicht nur die Krise des Sozialstaates steht auf der Agenda. Ginge es bloß um
dessen Verschwinden, der Angst wäre außer Versprechungen nichts entgegenzusetzen.
Es gibt einen anderen, viel wichtigeren Referenzpunkt des Wandels.
Die Arbeit hat sich verändert. Malocher werden immer weniger gebraucht. Das
perfekte Funktionieren können Maschinen besser, zumal Computer. Im Übergang
von der Industrie- zur Wissensgesellschaft geht es immer weniger darum,
Vorgegebenes auszuführen. In der Arbeitswelt müssen zunehmend Probleme
erkannt und gelöst werden. Man braucht Wissen und Ideen, um Neues
hervorzubringen. Voraussetzung dafür ist ein anderer Zivilisationstyp. Ihn zeichnet
Empfindsamkeit aus. Um zu handeln, muss er die Dissonanzen der Wirk-
Wissenswelten Schwerpunkt „Was Kinder (und Eltern) brauchen“
– Essay – R. Kahl489
lichkeit wahrnehmen können. Wer bei VW in der Produktion eine Transferstraße
überwacht, muss am Sound der Maschinen hören, wenn etwas nicht stimmt.
Es reicht nicht, auf Anweisungen zu hören.
Zum neuen Zivilisationstyp gehört auch ein neuer Sozialisationstyp. Sein Hunger
auf Selbst- und Weltverwirklichung ist durchaus willkommen. Welt und
Selbst, beides gehört zusammen. Denn Produzenten brauchen diesen Antrieb.
Es zeichnet sie aus, etwas zu wollen. Konsumenten brauchen diesen Antrieb
nicht. Bleiben wir bei den Produzenten. Sie müssen ihr Eigenes mit ins Spiel
bringen. Ihre Verschiedenheit wird als ein Kapital erkannt und nicht als störende
Abweichung gesehen. Ideen verweigern sich Menschen, die ihrer inneren
Stimme misstrauen. Gewiss ist jede Intuition zu überprüfen. Doch die innere
Stimme, in der sich das Unverwechselbare eines Menschen äußert, ist unser
schönstes und produktivstes Organ. Es geht darum, diese Stimmen zu achten
und zu kultivieren. Sie machen den Reichtum einer Gesellschaft aus.
„Jeder Mensch“, schrieb Hannah Arendt in ihrem Buch Vita Aktiva, „steht an einer
Stelle in der Welt, an der noch nie ein anderer stand.“ Die Menschen, so argumentiert
sie, kommen als Fremdlinge auf die Welt. Man muss sie also freundlich
empfangen. Man muss auf ihre Eigenarten neugierig sein, damit ihr
Zur-Welt-kommen gelingt. Dann werden sie auch etwas zurückgeben.
Sind unsere Schulen gewöhnlich Orte, die dazu einladen, sich mit sich selbst
anzufreunden, in der Welt heimisch zu werden und etwas zurückzugeben?
Wird dort eine Kultur von Produzenten gepflegt oder die Öde von Konsumenten
angebahnt? Wird dort das Eigene respektiert?
Macht man sich dort überhaupt einen Begriff davon, was dieses Eigene ist?
Dürfen Schüler jenes „krumme Holz“ sein, aus dem, wie Immanuel Kant
schrieb, Menschen gemacht sind, oder lernen sie so zu tun, als seien sie im-
490
Die innere Stimme, in der sich das Unverwechselbare eines
Menschen äußert, ist unser schönstes und produktivstes
Organ.
mer schon glatt und rechtwinklig? Wird man so genommen, wie man ist, und
wird zugleich darauf vertraut, dass in jedem noch viel mehr steckt? „Jeder“,
sagte Georg Christoph Lichtenberg, „ist des Jahres zumindest einmal ein Genie!“
Das wäre ein Motto für die Schule der Zukunft.
Wissenswelten Schwerpunkt „Was Kinder (und Eltern) brauchen“
– Essay – R. Kahl491
Reinhard Kahl
, geb. 1948 in Göttingen, Studium der Erziehungswissenschaften,Philosophie, Soziologie und Psychologie in
Frankfurt und Hamburg. Seit 1975 Journalismus als Beruf,
zunächst frei, zwischenzeitlich als Realisator und Moderator im
NDR-Fernsehen, dann wieder frei. Zahlreiche Auszeichnungen,
u. a. 1987 (mit anderen) den Grimme-Preis für die NDR-Serie
„Kindsein ist kein Kinderspiel“.
Kontakt
Eppendorfer Landstraße 46, 20249 Hamburg
UNIVERSITAS setzt SCHWERPUNKTE
1/2001: Zukünfte, 3/2001: Biowissenschaften,
5/2001: Alter, 7/2001: Bildung für morgen,
9/2001: Erinnerung, 11/2001: Kosmos Gehirn,
1/2002: Globalisierung und Gerechtigkeit,
3/2002: Konsum, 5/2002: Kinder,
7/2002: Zukunft des Lesens (vergriffen),
9/2002: Gemeinwohl und Gemeinsinn,
11/2002: Gegenwart der Vergangenheit,
1/2003: Wasser, 3/2003: Erziehung und Familie,
5/2003: Lehren und Lernen, 7/2003: Lebens-Werte,
9/2003: Typisch deutsch?, 11/2003: Jung gegen Alt?,
1/2004: Gesundheit und Gerechtigkeit,
3/2004: Was Deutschland jetzt braucht,
5/2004 Israel und Palästina,
7/04 Sprache/n, 9/04 Die Zukunft Europas,
11/04 Heimat, 1/05 Zukunft der Medien,
3/05 Alles hat seine Zeit, 5/05 Was Kinder (und Eltern) brauchen,
7/05 Die Sache mit der Liebe
Die vorliegenden Hefte können Sie unter der Postanschrift oder
per E-Mail
(universitas@hirzel.de) anfordern