SWR Hartmut von Hentig

SÜDWESTRUNDFUNK

SWR2 Wissen – Manuskriptdienst

Vom Wissen zum Denken

Hartmut von Hentig und die Erneuerung der Schule

Reihe: Pädagogischer Aufbruch (Teil 2)

Autor: Reinhard Kahl

Redaktion: Anja Brockert

Regie: Hans-Peter Schnicke

Sendung: Samstag 11.12.2004, 8.30 Uhr, SWR 2

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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.

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manuskript

 

Zitator:

Will ich meine Pädagogik erklären, muss ich mich erklären…

Sprecher:

… schrieb der bekannte Pädagoge Hartmut von Hentig in einem autobiografischen Essay. Denn Pädagogik ist für Hentig keine Sache und kein Programm, keine Maschine zur Produktion von Abschlüssen oder von Qualifikationen. Pädagogik ist für ihn ein Verhältnis zwischen Personen und zwischen den Generationen.

Sprecherin:

Das klingt unzeitgemäß konservativ und zugleich in einer subversiven Weise zukünftig. Pädagogik, sagte Hentig einmal in einem Interview, sei ein so hochindividueller Vorgang, dass man sie nur mit der Liebe vergleichen könne. Menschen kommen in ihrer ganzen Einmaligkeit und Besonderheit zusammen.

Sprecher:

Die Schule, die Hartmut von Hentig meint, ist keinem anderen Ziel unterworfen als dem, die Kinder und Jugendlichen in der Gesellschaft willkommen zu heißen. Die Schule – also die Erwachsen in ihr – müssen darauf neugierig sein, was diese Neuankömmlinge in die Welt bringen, und sollen ihre Talente so gut es geht fördern. Das sind Vorstellungen, bei denen man nicht unbedingt an seine eigene Schulzeit oder an die Schule seiner Kinder denkt.

Cut 1

Ich will sagen, die Schule, die jungen Menschen hilft erwachsen zu werden, oder ganz konventionell gesprochen, auf das Leben vorbereitet, die gibt’s eigentlich gar nicht.

Wir bereiten immer das nächste Examen, also auf die nächste Klassenarbeit vor oder auf die Versetzung oder auf einen nächsten Laufbahnschritt vor, und um den Rest kümmert man sich sehr wenig. Natürlich gibt es immer wieder Lehrer, die wahrnehmen, was ein Kind da für eine Not hat, und dann sind sie nett mit ihm und helfen ihm, aber die Institution ist überhaupt nicht so gedacht.

Sprecherin:

Die alltägliche Schule kritisiert Hentig als eine Maschine, die Menschen eher einander angleicht und jeden für sich abstumpft. Und das sei dumm, denn so bringe sie sich um die Chance, mit der Verschiedenheit der einzelnen Menschen den Reichtum der Gesellschaft zu mehren.

Hartmut von Hentig wird deshalb nicht müde, die „Schule neu zu denken,“ wie eines seiner Bücher heißt. Er ist Deutschlands einflussreichster Pädagoge, Schulkritiker und Gründer von Reformschulen.

Cut 2

Ich habe ja nie Pädagogik gelernt, bin Lehrer gewesen, Lehrer der alten Sprachen an süddeutschen Gymnasien. Habe da meine Fehler gemacht und habe vor allem, nachdem ich die überwunden hatte, an den ärgerlichen Rahmenordnungen unserer Schule gelitten.

Sprecherin:

Vielleicht half dem emeritierten Starprofessor der Pädagogik ja, nie Pädagogik studiert zu haben, um seine eigene Pädagogik zu erfinden?

Sprecher:

Hartmut von Hentig wurde am 23. September 1925 in Posen geboren. Sein Vater war Preuße aus Passion und Diplomat von Beruf. Dessen Tätigkeit im auswärtigen Dienst brachte es mit sich, dass Hartmut von Hentig in vielen Ländern aufwuchs. So machte er bereits als Kind ein unvergleichliches „Praktikum“, aus dem die Leidenschaft seines Lebens wurde.

Cut 3

Ich habe erst später darüber nachgedacht, dass dies vermutlich mehr für meine Pädagogik ausgemacht hat als alles andere. Das nächste ist doch, dass ich mit meinem Vater, der Diplomat war und dauernd meine Posten wechselte und mitreisend 13 Mal die Schule gewechselt habe in fünf oder sechs Ländern. Und das belehrt einen ja gründlich darüber, dass es nicht die gute Schule gibt, sondern sie waren alle ein bisschen schlecht und ein bisschen gut und immer war ich gut dran, wenn ich die Schule selbständig nutzte. Selbständig nutzen hieß, die Lehrer fragen – die Lehrer werden ganz gerne gefragt, um Rat gebeten, um Auskunft gebeten…. Arbeiten selber in Vorschlag brachte, könnte ich mal das machen …. meistens sagen sie dann ja, warum eigentlich nicht …. Die Selbstständigkeit gegenüber dem System, das nicht unfehl war, das hatte ich also herausgefunden: es gibt nicht die Schule. Und das ist auch heute meine Überzeugung, auch wenn ich das in einem bestimmten Abschnitt meines Lebens entworfen habe und gefunden habe, das machen wir jetzt mal, weil das ist besser als was anderes, halt ich die doch nicht für die beste aller denkbaren Schulen, beileibe nicht.

Sprecher:

Das war seine Initiation und eine Ressource für das Pädagogenleben. Unterschied ist gut. Unterschied macht Freude und bringt Vorteil. Und der Unterschied aller Unterschiede liegt in den Personen die Schule machen, in den Lehrern.

Cut 4

Es ist einer der Fehler unserer Schule, dass sie die entscheidende Ressource, die sie hat, den erwachsenen Lehrer, der ganz für die Kinder da ist, so wenig einsetzt. Das ist komischer Weise für sie eine austauschbare Sache, das ist ein Unterrichtsfunktionär, das wäre ja beinahe noch ein Mensch, er ist eine Unterrichtsfunktion.

Der Lehrer muss ein Mensch sein. Der muss auch seine Fehler haben und die muss er überwinden.

Sprecherin:

Die Frage nach der Person, nach dem Lebensentwurf des Pädagogen, ist die nach dem Dialog, ohne den Bildung und Erziehung nicht denkbar sind. Der Dialog ist nicht bloß Austausch, kein Hin -und Hersenden von Informationen. In jedem Dialog entsteht Welt. In dem Dialog zwischen den Menschen ebenso wie in dem inneren Dialog, dem Denken. Und das Denken ist neben dem Dialog auch Hentigs zweites großes pädagogisches Medium, das für ihn in den Schulen zu kurz kommt. Ohne Dialog und das Selbstdenken wird Bildung zur Abrichtung, zur Verwahrung oder gar zur Indoktrination. Allerdings sind Dialog und Denken ohne Unsicherheit, ohne Fehler und Sackgassen, ja auch ohne sich in Irrtümern sozusagen zu „zeigen“ undenkbar. Die Angst vor Umwegen, Fehltritten und vor Scheitern führt zu einer Schule, die einfach diktiert, was richtig und was falsch ist, oder die eine Schule der Gleichgültigkeit und Verwahrlosung wird. Letzteres ist heute die größere Gefahr. Eine Schule, in der die Erwachsenen so tun, als ob sie gar nicht sind. Der Lehrerberuf als Job, in dem die Person gar nicht dabei ist.

Sprecher::

Die Frage nach der Person ist also die entscheidende Frage – eine Frage, die man Hartmut von Hentig stellen muss und stellen darf, wenn man nach seiner Pädagogik fragt. Bleiben wir noch einen Moment bei seiner Biografie.

 

Sprecherin:

1945 begann Hentig in Göttingen das Studium der alte Sprachen, das er in den USA fortsetzte.

Zurück kam er mit dem Doktortitel, aber ohne staatliches Examen. Mitte der 50er Jahre holte ihn Georg Picht als Griechisch- und Lateinlehrer an das Internat Birklehof. Als er später sein Referendariat am Uhland Gymnasium in Tübingen nachholte, probierte Hartmut von Hentig einen anderen Lateinunterricht aus – einen Unterricht, der die Sprache inszenierte, eher wie Theater, keine Belehrung, kein Pauken.

Sprecher:

Zu Beginn der 60er Jahre veröffentlicht Hartmut von Hentig seine Kritik an der Schule. Sein erfrischender Geist wird beachtet; er wird die erste Stimme in der anstehenden „Erneuerung“ der Schule.

Sprecherin:

Der Schulkritiker von Hentig, nicht habilitiert und ohne Studium der Pädagogik, wird 1963 als Professor nach Göttingen berufen. Einige Jahre später schon, 1968, bekommt er einen Ruf an die neu gegründete Universität Bielefeld. Als Bedingung für den Wechsel verlangt er zwei Modellschulen: die Laborschule und das Oberstufenkolleg an der Uni, das für die Pädagogische Fakultät das werden soll, was das Klinikum für die Mediziner ist.

Sprecher:

1972 hätte er in Hessen Kultusminister werden können. Aber als ihm klar wurde, dass ein Minister durchs Land ziehen und immer das Gleiche sagen muss, winkte er ab und betrieb weiter den Aufbau seiner Reformschule.

Hartmut von Hentig entwarf die Schule als einen Lebensraum für Kinder und Jugendliche, nicht als eine Unterrichtsanstalt. Er wollte eine Schule, in der Kinder dadurch besser lernen, dass sie dort auch leben.

Die Schule – eine kleine Welt, wie die Polis, das überschaubare Gemeinwesen im antiken Griechenland.

Cut 5

Sie muss erlebbar sein in ihren Grundelementen: der Einzelne und seine Würde wird dort geachtet. Das muss man dort erfahren, der Einzelne kann Einfluss nehmen auf das Ganze, das muss er erfahren, sogar ich kleinste Person unter den Größeren habe mein Recht auf mein Wort und meine Meinung. Es muss Gemeinsinn geben. Es muss eine Befriedigung entstehen, weil ich meine Verantwortung getragen habe und nicht das überall erlebbare Weglaufen vor der Verantwortung. Schon ihre Lehrer machen ihnen dieses vor. Wir können keine gute Gesellschaft haben, wenn man nirgendwo erfahren hat, wo diese drei eben genannten Elemente einer guten Polis sind. In der großen erfahren wir es nicht. Da ist Ellbogen gefragt, da betrügt man den Staat wo man kann, da geht man alle 4 Jahre auf Grund von idiotischen Plakaten und ohne jedes Urteil zur Wahl, das kann es doch nicht sein. Es müsste in dieser Schule erst einmal Polis sein und dann müsste sie so sein, dass man in ihr lebt und deshalb Lebensprobleme hat und deshalb Lösungen für sie sucht, Ordnungen, Reviere, Zeiten, Abgrenzungen, Rechte, alles sich selbst noch mal klar macht, den kleinen Gesellschaftsvertrag dort schließt. Und damit ist die Schule wunderbar beschäftigt und alle Dinge wie Geschichte oder wie Schreiben und Rechnen und Lesen, das sind ganz wichtige Mittel dabei.

Sprecherin:

Die Schule ein Lebensraum. Ein Rundgang durch die Laborschule zeigt, was das heißt.

In dem Haus für die Kleinen lernen die 5 bis 8-jährigen, von der Vorschule bis zum zweiten Schuljahr. Ein Haus ohne abgeteilte Räume, aber vielfältig gegliederte

Flächen auf unterschiedlichen Höhenniveaus. Galerien, Nischen zum Kochen und Backen, Ecken zum Drucken oder Lesen. Einige Kinder backen, andere schreiben, dort wird vorgelesen. In der Tat eine kleine Polis mit Werkstätten, mit Wohnungen und Plätzen. Viele Zentren. Fließende Übergänge. Lebendige Zwischenräume. Der Raum verwandelt sich je nach Standpunkt und Interesse des Kindes.

So wie es keine Klassenräume gibt, so gibt es in dem Haus für die Kleinen hier auch noch keine Schulklassen. Jedes Kind gehört zu einer Stammgruppe.

Sprecher:

Nebenan das große Haus mit den Schülern von der dritten bis zur zehnten Klasse. Hier lernen die Kinder in altersgleichen Jahrgängen. Aber auch hier gibt es keine trennenden Wände, nur bewegliche Sichtblenden, auch zum akustischen Schutz. Mit vielfältigen Mitteln sind Reviere abgegrenzt, z.B. mit Blumen oder mit Regalen. Aus Teppichen werden kleine „Nester“ zum Plaudern und Lesen gebaut. Und dazwischen die Schreibtische der Lehrer.

Außer diesem offenen Großraum hat die Laborschule noch spezielle Räume: Werkstätten, Fachräume, eine große Bibliothek oder den Computerraum.

Sprecherin:

Dass die Laborschule, außer zum Abschluss, keine Noten vergibt, muss man kaum erwähnen. Dass die Schule mehr Bewerber hat als Plätze, es liegt auf der Hand. Dass es auch an dieser Schule Probleme gibt, man kann es sich denken.

Cut 6

Solange Kinder so viele Lebensprobleme in die Schule mitbringen, die ihnen kein anderer Mensch löst: Eltern bestimmt nicht, das Fernsehprogramm nicht, die Wahrnehmungen, die sie in der Straße haben, langweilige Straßen, kein Stück Natur, für die meisten Kinder; keine Erwachsene, die sie auf ihre Tätigkeiten einlassen – also ich sage: in einer Welt, in der man seine Probleme nicht anbringen kann, nicht verständlich machen, sich nicht verständlich machen kann, muss es eine Instanz geben – die Schule ist dafür nicht gedacht gewesen, das geb ich zu, aber nun ist sie die alleinige Einrichtung, die dieses könnte. Da sitzen Pädagogen, die wissen, was ein Kind braucht; wissen sie angeblich, und in vielen Fällen wissen sie es auch wirklich. Es steht ja zum Beispiel bei dem Rousseau, es steht ja bei den großen Pädagogen so viel Gutes. Nur wir machen es nicht. Wir Lehrer müssen da Unterrichtsbeamte sein. Noch einmal: es muss diese Schule sich dazu bequemen, die Lebensprobleme der Kinder zu behandeln, damit sie überhaupt an die Lernprobleme herankommen, die überlagern das ja vollkommen.

Sprecherin:

Hartmut von Hentigs Schule ist ein überschaubarer Ort, an dem jeder erfährt, dass er gebraucht wird. Sie ist eine erste Öffentlichkeit, in der Kinder und Jugendliche genießen, gesehen zu werden und in der sie lernen, sich zu exponieren. Diese Schule ist ein Laboratorium, in dem man Fehler machen darf.

Sprecher:

Und wenn Schulen das nicht gelingt ?

Dann werden sie verwahrlosen, dann werden sie Orte, an denen Zerstörung beginnt.

Hentigs 1993 erschienenes Buch „Die Schule neu denken“ wird von dieser Befürchtung getrieben:

Zitator:

Wenn eine Gesellschaft ihre jungen Menschen nicht braucht und sie dies ausdrücklich wissen lässt, indem sie sie in Schulen, an Orten, von denen nichts ausgeht, kaserniert und mit sich selbst beschäftigt, sie von allen Aufgaben ausschließt, dann zieht sie ihre eigenen Zerstörer groß.

Sprecher:

Wenn für Kinder und Jugendliche, die nicht gebraucht werden, Gewalttätigkeit gewissermaßen ihre „Ultima Irratio“ wird, wenn die Destruktion an die Stelle der Möglichkeit tritt, tätig zu werden, dann könnten Schulen zu Schauplätze eines Krieges zwischen den Generationen werden.

Cut 7

Die konservativen Erwachsenen, und die meisten sind das, haben Angst vor der nächsten Generation von Barbaren, die daher kommen und die Gesittung noch nicht gelernt haben, die Institutionen noch nicht verstehen, und die mit brutaler Kraft und unbefangen alles kaputt machen. Das ist die große Angst. Und dafür sorgt man in den Erziehungsanstalten, dass man das Stillsitzen und den Gehorsam und die Ordnung das alles bitte, bitte lernt, bevor man irgend etwas anderes wie Phantasie und Selbstentfaltung oder gar Selbstbehauptung oder gar Kritik, eigenes Handeln, lernt. Nein, nein, `bleibt mal still sitzen, ich sag dir schon, was du zu tun hast‘. Es ist Furcht, es ist die blanke Furcht, dass die jungen Leute, die ja das alles nicht wissen können, was wir schon wissen, dass die mit ihrer Unkenntnis und ihrer Unbefangenheit kühner sind, als wir es uns erlauben dürfen.

Sprecherin:

Die Ergebnisse dieser misstrauischen und lebensfeindlichen Schule sind dürftig. Vielleicht finden wir in diesem misstrauischen Klima und dem Kleinkrieg die triftigste Erklärung für das schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei PISA. Das Problem liegt tiefer als in Lehrplänen, Schulausstattung, Standards und so weiter.

Hartmut von Hentig warnt: Versucht die Pädagogik ihre Ziele auf dem kürzesten Weg zu erreichen, verfehlt sie dabei ihr Ziel. Das indirekte Spiel ist wirksamer als die direkte Einflussnahme. Respektvoller und schöner, ja eleganter ist es sowieso.

In seinem 2003 erschienenen Buch „Rousseau oder die wohlgeordnete Freiheit“ schreibt er:

Zitator:

Die größte Gefahr kommt der Pädagogik von ihrem eigenen Zweck. Will sie einen guten Menschen „machen“, wird sie ihn nicht bekommen.

Sprecher:

In der Schuldebatte kommen heute neue Töne auf. Nach der großen PISA-Irritation beginnt man tatsächlich, die Schule neu zu denken.

Eine Chance, aus der Schule den Ort zu machen, der Hartmut von Hentig immer vorschwebte, ist die Diskussion um die Ganztagsschule.

Cut 8

Ich habe eigentlich immer gefunden, dass die Ganztagesschule eine riesige Veränderung, vielleicht die größte überhaupt, der durchgreifendste Reform-Impuls wäre, den wir haben könnten. Wir haben die unsinnige Aufteilung von: es gibt Belehrung durch Unterricht und es gibt Leben und für das Zweitgenannte ist die Familie da. Die andere Aufgabe der Schule: „to be a place for kids to grow up in“, die wird durch die Ganztagesschule eingefordert, wird erst ermöglicht und auch eingefordert. Das Leben und seine Schwierigkeiten, Eitelkeiten und Ängste finden Antworten in dem Schulcurriculum, es stärkt, die Person wird gestärkt dadurch, dass ich das ein bisschen besser durchschaue, die Sache geklärt habe, na, das wäre die gute, gegenseitige Ergänzung.

Die Bildung, die Schulbildung, öffnet die Augen, stärkt das Lebensgefühl, gegenseitig, und wenn wir uns dann angucken, was wir da haben: eine nach dem Fließbandmuster taylorisierte Belehrungsanstalt.

Sprecherin:

Die „Belehrungsschule“ verweist drohend auf den Ernst des späteren Lebens. Das verbreitet nicht gerade Vorfreude. Folglich gehen die meisten Kinder schon nach ein paar Jahren zur Schule wie zum Zahnarzt. Schule muss statt dieser Drohung eine Einladung sein, sie muss: Begeistern. Aber wie?

Auch in der Laborschule Bielfeld nimmt die Lust der Schüler auf die Schule in der Pubertät ab. Hentigs Antwort hieß: Entschulung der Schule. Ein Vierteljahr leben die Schüler in England. Dort lernen sie ohnehin besser die Fremdsprache sprechen als in einer noch so guten Schule. Ein weiteres Vierteljahr sollen sie an einem ökologischen Projekt mitarbeiten und noch ein Vierteljahr an einem künstlerischen. Aber selbst die Laborschule hat Schwierigkeiten, diese Ideen der Schulbürokratie verständlich zu machen.

Sprecher:

Was also ist Bildung für Hartmut von Hentig? Jedenfalls nicht das, was in Lehrplänen steht.

Cut 9

Die Menschen zum Aushalten von Offenheit in unser Welt, zum Aushalten von Ambivalenz, von Zweiwertigkeit zu erziehen. Man muss das aushalten. Es ist ein Zwiespalt. Und nicht den kleinen Menschlein immer schon sagen, läuft alles nach dieser Regel: der Ablativ folgt immer wenn…, nicht wahr. Und dieses erst mal einprägen, dass die Welt geordnet ist wie ein Rechenschieber, das ist falsch. Sie dauernd darauf vorbereiten, dass das, was man ihnen jetzt gibt, Mittel sind für unterschiedliche Lagen: kann ganz anders sein nachher – und du bist vor allem immer wieder anders als ich. Und deine Lösung könnte besser sein, probier mal aus, sieh mal zu, und ich helfe dir. Und dieses sich gegenseitig Helfen stört die Lehrer und die Schule und ihre Ordnung so furchtbar. Die gewaltigsten Maßnahmen, fahren sie dagegen auf. Es muss still sein.

Sprecherin:

Für Hentig ist Bildung die Kunst, sich selbst zu erfinden. Bildung ist eine Leistung des Individuums – eines Individuums, das versteht, seinen Mangel in Stärken zu verwandeln, und das auf andere angewiesen ist. In Einsamkeit oder von anderen abgeschnitten kann sich niemand bilden. Und doch bleibt diese Bildung eine Arbeit des Subjekts, die ihm niemand abnehmen kann, schon gar nicht jemand, der es in ein Objekt verwandelt.

Cut 10

Der Rousseau ist da relativ unsentimental. Er sagt, ich will euch erklären, was für einen Vorteil der Mensch hat, dass er schwach geboren wird, vollkommen hilflos. Er erklärt, wie zerstörerisch es wäre, wenn er ohne Erfahrung gleich alle Kräfte hätte. Das haben die großen Verhaltensforscher unserer Zeit auf ein Gesetz gebracht und gut fundiert, was bei Rousseau bare Intuition war. An diesem Beispiel wird deutlich, dass diese Schwäche eine Funktion der Stärke hat. Wir haben eine ewige Entwicklungsfähigkeit, fast, also ewig für unsere Lebensspanne, und insbesondere haben wir sie am Anfang. Und es ist so merkwürdig, dass alle diese überzeugenden und einfachen Lehren der Pädagogik so schlecht in die pädagogische Praxis zu übersetzen sind.

Sprecher:

Die Schwäche des Individuums, seine Entwicklungsfähigkeit, die aus seiner Entwicklungsbedürftigkeit kommt, das ist die Passion der Hentigschen Pädagogik, seiner Kunst, immer wieder Anfänge zu ermöglichen.

Zitator:

Die Sprache räumt die Erfahrung auf und hält die auseinanderfallenden Phänomene zusammen….

Sprecher:

…schreibt Hartmut von Hentig in seinem Buch „Aufgeräumte Erfahrung„.

Die Sprache, nicht die Lehrsätze! Sprache ist für ihn der Schlüssel zur Dechiffrierung der Welt. So sehr Hentig komplette Theorien und geschlossene Systeme ablehnt, so sehr vertraut er doch gewissen Prinzipien. Zum Beispiel: Denken ist wichtiger als Wissen, Beobachten ist wichtiger als Einordnen, Lernen ist besser als belehrt werden. Und vor allem: man muss sich für all das Zeit lassen.

Sprecherin:

1988 ließ sich Hartmut von Hentig vorzeitig emeritieren. Er bezog in Berlin eine Wohnung am Kurfürstendamm und nutzt dort die Zeit für Freunde, zum Schreiben und nach wie vor dafür, sich einzumischen – zum Beispiel mit Aufsehen erregenden Büchern wie „Die Schule neu denken“. Er brachte eine große Gedichtsammlung heraus und die Reiseberichte „Fahrten und Gefährten.“ Zuletzt erschien ein langer Brief an seinen Neffen Tobias: „Warum muss ich zur Schule gehen“; es folgten das Buch über Rousseau und eines mit dem lakonischen Titel „Wissenschaft – Eine Kritik“.

Darin wendet er sich gegen den vorschnellen Glauben an die Objektivität von Wissen, vor allem gegen die – wie er immer wieder insistiert –

Zitator:

Flucht vor dem Denken ins Wissen.

Sprecherin:

Er schreibt:

Zitator:

Wissenschaft muss mehr sein als Beschaffung von Daten und die Feststellung von Beziehungen; Daten und Beziehungen, die kein Denken auslösen, sind nicht wert, gewusst zu werden.

Sprecherin:

In den vergangenen Jahren hat von Hentig auch gegen die Überschätzung von Computern in der Schule interveniert. Dabei will er nicht die Technik verteufeln. Aber er warnt davor, die Technologie zum Fetisch zu machen – so als könnte sie unsere Probleme lösen, uns gar das Denken abnehmen.

Cut 11

Ich denke, wir sind immer als Menschen und schon gar die neueren Gesellschaften mit dieser hochentwickelten Wissenschaft in der Gefahr, das Denken durch das Wissen zu ersetzen, das Denken ist immer riskant, das Denken ist für die meisten Leute irgendwie ein bisschen verschieden. Das Wissen, das wissenschaftlich erworbene, gilt als gesichert oder das Neueste muss sein, und dann kann ich nicht mehr nachdenken. So ist mein Urteil weggebügelt.

In der Pädagogik wird das Wissen bei weitem überschätzt. Es ist wichtig, das wird man nie von mir hören, dass es unwichtig sei, aber weder in der Quantität noch in der Weise, in der wir es haben, nämlich einfach nachplappern bedeutet es was.

Zweitens: Lernen gelingt bei weitem besser ohne Zwang als mit Zwang.Drittens: Lernen gelingt besser in einem Zusammenhang als in der Isolierung, das ist nicht wie die Fertigung von Autoteilen, gerade nicht – wir wissen das alle, wir wissen, dass eine Erinnerung an etwas bleibt, wenn sie mit dem oder dem, mit einer Erregung, vielleicht mit Musik, mit einem Geruch – zusammenhängt und schließlich, dieses alles kostet alle Menschen ganz unterschiedlich viel Zeit.

Sprecher:

Hartmut von Hentig ist fraglos der Pädagoge, der die Bildungsdebatten in Deutschland seit Anfang der 60er Jahre am nachhaltigsten beeinflusst hat. Aber er hat keine akademische Schule gegründet, das würde seinem Prinzip des Selbstdenkens widersprechen. Epigonen, die sich bequem in seinem Denkgebäude einrichten wollten, wären ihm zuwider; schon die Vorstellung des festen Gedankengebäudes macht ihn skeptisch. Lieber steigert er seine nomadische Kunst, Zelte auf Zeit zu errichten und wieder abzubauen.

Cut 12

Ich habe mir ja meine ganze Pädagogik zusammen gestohlen, aber mein eines großes Vorbild neben dem Sokrates ist der Rousseau, – der war aus der eigenen Biografie, aus den eigenen Qualen heraus und aus der eigenen liebevollen Wahrnehmung des Kindes Jean Jacques, an das er sich erinnert, so überzeugt, dass das anders gemacht werden könnte. Mir geht es genauso, ich bin so überzeugt. Diese Überzeugung ist so stark, dass ich denke, die muss sich doch anderen mitteilen lassen, dann werden die das auch machen und siehe da – die tun es ja auch in der Laborschule. Das ist wie eine Infektion, das von dem wenigen, was ich da vorgedacht habe, ausgegangen ist, es ist übergesprungen. Dazu gehört beim Sokrates diese wunderbare Grundfigur des Nichtwissens.

Man muss hindurchgehen durch ein Stadium, in dem man etwas gründlich bezweifelt, über es gründlich verzweifelt, gründlich im Unklaren ist, um die Klarheit in der neuen Formel und in der neuen Form zu suchen, und dem entspricht bei dem Rousseau – wissen sie, seine Pädagogik erwächst aus der liebevollen Erkenntnis der Schwächen, die er selber hat, es ist ein große Pädagogik der Stärkung des Schwachen. Deine Schwächen sind nämlich alle zu was gut. Diese ganz Starken, diese ganz Harten, diese Gepanzerten, diese allwissenden Leute sind die entsetzlichsten.

Aber in den Schwächen da steckt ein großes Stück unserer Menschlichkeit, wenn wir sie verarbeiten. – Wenn ich diese Schwächen liebevoll, wenn ich mich mit ihnen befreunde, will ich mal so sagen, dann kann ich etwas aus ihnen machen, dann wird das Individuum reich und groß. Und mit diesen Herren im Hinterrund, mit dem Sokrates und dem Rousseau mit zwei so großen, mit so zwei Riesen auf deren Schultern ich da stehen kann, kann ich ganz gut auch es einsam aushalten ne Weile.

Sprecher:

Hartmut von Hentig wird am 23. September 2005 achtzig Jahre alt. Er schreibt derzeit an der Geschichte seines Lebens. Diese Geschichte ist auch die von mehr als 40 Jahren Debatten um die Bildungsreform in Deutschland.

Diese Debatten erleben seit den PISA-Studien eine stürmische Renaissance. Hartmut von Hentig ist darin immer noch eine der leidenschaftlichsten und frischesten Stimmen. Seine Begeisterung gilt den Kindern. Seine Idee ist, dass sie einen guten Ort zum Aufwachsen und Lernen brauchen. Sein Leiden ist, dass den meisten Schulen das immer noch nicht gelingt. Aber aus diesem Leiden entspringt seine Leidenschaft.

Literaturhinweis:

Die Schule neu denken.
von
Hentig, Hartmut von; Kartoniert
Eine Übung in pädagogischer Vernunft. Beltz Taschenbücher Bd.119 279 S. 440g  
2003
Beltz, ISBN 3-407-22119-3 | KNV-Titelnr.: 11308083

Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit.
von
Hentig, Hartmut von; Kartoniert
Beck’sche Reihe Bd.1596 124 S. 19,5 cm 146g  
2004
Beck, ISBN 3-406-51103-1 | KNV-Titelnr.: 12868306

Aufgeräumte Erfahrung

Von Hentig, Hartmut von

Hanser Verlag

Fahrten und Gefährten.
von
Hentig, Hartmut von;
Kartoniert
Reiseberichte aus einem halben Jahrhundert 1936-1990. Beltz Taschenbücher Bd.120 406 S. 21 cm 545g  
2002
Beltz
ISBN 3-407-22120-7 | KNV-Titelnr.: 10786506

Warum muss ich zur Schule gehen?.
von
Hentig, Hartmut von;
Kartoniert
Eine Antwort an Tobias in Briefen. Beltz Taschenbücher Bd.153 102 S. 21 cm 171g  
2004
Beltz
ISBN 3-407-22153-3 | KNV-Titelnr.: 12793690

Wissenschaft.
von
Hentig, Hartmut von;
Gebunden
Eine Kritik. 297 S. 21 cm 442g  
2003
Hanser
ISBN 3-446-20376-1 | KNV-Titelnr.: 11801236