Leben entzündet sich an Leben

„Leben entzündet sich nur an Leben“

Über Erziehung, Bildung und das Generationenverhältnis

Reinhard Kahl

 

I.

ambivalenz

Mit den Werten verhält es sich wie mit der Zauberfee im Märchen: sobald man sie beim Namen ruft, ist sie schon wieder verschwunden. Werte gedeihen in Zwischenräumen. Tugend, Liebe, Überzeugung, Wissen und Gewissen, meinte Hannah Arendt, werden immer erst zu Werten erklärt, wenn sie bereits zu Mitteln gemacht und wie Sachen austauschbar geworden sind. Dann beginnt man abstrakt über sie zu sprechen. Sie werden relativierbar und durch andere ersetzbar. Sind sie dann noch Werte?

 

Manchmal scheint es, als würde die Debattenkonjunktur des Themas mit dem Verschwinden der gelebten Werte einhergehen. Nie wurde in den vergangenen Monaten so viel von ihnen gesprochen, wie während des Kosovo-Krieges. 5000 Meter über dem Balkan wurden Werte zu unangreifbaren „Flugscharen“, und am Boden herrschte das ewige Durcheinander. Im Kosovo triumphierte die mörderische Religion des Entweder-oder, während sich in unseren Regionen Ambivalenz ausbreitete. Viele Menschen konnten sich zu keiner eindeutigen Meinung durchringen. Vielleicht keimt in dieser ausgehaltenen Uneindeutigkeit bereits ein neuer, unschätzbarer Wert? Aber keiner von den vielen, die in dieser Zeit innerlich zerrissen waren, hätte dabei flott von einem neuen Wert gesprochen und ihn taxiert. Am Boden treten Werte nicht rein und selten offensichtlich auf. Erst wenn sie hoch über uns am Himmel fliegen, werden sie leicht identifizierbar. So könnte man von den Werten sagen, was Peter Sloterdijk über die Begeisterungen schrieb: „Die Begeisterungen haben die Welt bisher nur verschieden überflogen, es kommt drauf an, zur Welt zu kommen.“

 

II.

„…ach, die werte“

Das Themenfeld aus Erziehung, Bildung und Generationenverhältnis ist in der Wertediskussion gut für eine Probe aufs Exempel. Jede Debatte über Bildung und Erziehung wird unweigerlich zum Selbstgespräch der Gesellschaft darüber, wie sie ist, was sie sich wünscht und was sie befürchtet. Es geht also um die „Werte“.

 

„Ach, die Werte“, seufzt Hartmut von Hentig, der Nestor der deutschen Pädagogik in seinem neuen, gleichnamigen Buch. „Über eine Erziehung für das 21. Jahrhundert“ heißt es im Untertitel. Hartmut von Hentig argumentiert leidenschaftlich und mit sicherem Gespür für die falschen Töne in der Agitation gegen den Werteverfall. Er verwehrt sich gegen die neuerdings wieder geforderte Werteerziehung. Das sei doch ein Pleonasmus. In der Erziehung ginge es immer schon um Werte, wenn auch implizit. Aber wie kann man das Implizite darstellen, ohne es zu verdinglichen oder in großer Distanz oben am Wertehimmel zu installieren? Das ist ein Dilemma, auch dieses Buches.

 

Zunächst entzieht Hartmut von Hentig der Wertedebatte ihren doppelten Boden: Diejenigen, die nun laut nach Werten in der Erziehung verlangten, seien doch die gleichen, die die Schule zur dürren Unterrichtsanstalt gemacht hätten. Würden sie der Schule zugestehen, ein reicher, allerdings auch riskanter Erfahrungsraum zu sein, niemand käme auf die Idee, in Klarsichtfolie verpackte Wertetabellen nachzureichen! Wäre die Schule, wie Hentig fordert, eine kleine Polis, wäre sie die „embryonale Gesellschaft“, der Begegnungsort der Generationen, viele abstrakte Wörter würden sich erübrigen. Nun wollen die Händler der Werte die von ihnen selbst ausgetrocknete Wüste mit Kunstblumen versorgen. Daraus kann nichts werden.

 

Hentig spottet über den Aufruf, die Schule müsse wieder mehr Werte vermitteln. Was heißt denn vermitteln, fragt er. Das Beschwören von Werten ist offenbar ein Indikator für deren Abwesenheit. Mit Werten verhält es sich ähnlich wie mit dem „guten Leben“. Auch das läßt sich positiv kaum beschreiben. Wenn es allerdings verletzt wird, bekommen wir eine Vorstellung von dem, was fehlt. Die von Hentig kritisierte Werteertüchtigung erinnert an Reden von Feiglingen, die mit großen Worten andere ermutigen wollen, statt selbst mutig zu sein.

 

Eine weitere Grenze für eine Wertedebatte in der Erziehung findet von Hentig an der prinzipiellen Ungewißheit von Zukunft. Gewißheit schränkt die Offenheit von Zukunft ein. Also gilt es, die schöpferische Kraft des Nichtwissens zu entdecken. „Wir müssen den Wert `Gewißheit` relativieren, das heißt ihm einen anderen, den der Wahrhaftigkeit, gegenüberstellen. Wir müssen uns zweitens ein `philosophisches` Wissen aneignen: das Wissen, daß wir in den `wichtigsten Angelegenheiten` nicht wissen und zugleich, daß wir uns damit nicht zur Ruhe setzen können.“

Gedanken an die Zukunft rufen Ungewißheit hervor. Jeder stimmt zu. Aber die Umkehrung wird brisant: Nicht verleugnete Ungewißheit selbst erzeugt Zukunft! Sie ist der Kreißsaal, in dem Neues zur Welt kommt. Und in dem Maße, wie Wandel zunimmt, wächst der Bedarf an Potentialität, also an Ungewißheit. Wie können wir Ungewißheit mit Gewißheit ausbalancieren? Was folgt daraus fürs Aufwachsen? Leider läßt Hentig dieses spannende Thema fallen, nachdem er einige Gewißheiten über die Ungewißheit formuliert hat. Daß er das Thema Bildung verläßt, ist dennoch folgerichtig. Denn wenn Werte nicht proklamiert, sondern gelebt werden müssen, dann ist das zunächst die Sache der Erwachsenen. Ob nun in Larmoyanz oder voller Hoffnung, oft sind besorgte Reden über die nachwachsende Generation Ausreden der Erwachsenen, um nicht von sich selbst zu sprechen.

 

So ist es konsequent, wenn Hartmut von Hentig von den Erwachsenen nicht das Befolgen von Erziehungsprinzipien verlangt, sondern daß sie, die Bürger, wieder Politik machen. Und damit meint er etwas anderes als die Aufführungen der Politiker-Politik, wie sie uns in der Tagesschau präsentiert werden. Hentig macht Vorschläge zur Neuerfindung der Politik. Abgeordnete sollten beim Einzug ins Parlament ihre Parteizugehörigkeit ablegen und keinem Fraktionszwang mehr unterliegen. Sie sollen ihre Meinung im Parlament ändern dürfen, ja ändern müssen. Was hätten die Reden im Bundestag für einen Sinn, wenn nicht den, sich gegenseitig zu überzeugen und sich überzeugen zu lassen? Politiker sollen lernen. Abgeordnete sollen als Personen agieren und keine Marionetten der Fraktion sein. Für Personen gäbe es nur eine letzte Instanz, ihr Gewissen.

Hier flammt Hentigs Liebe zur antiken Polis wieder auf, seine Leitidee. Dazu gehört auch sein Glaube, daß Menschen mit vernünftigen Entwürfen über ihre Welt das einmal als richtig Erkannte auch verwirklichen. „Werte sind das, was wir um seiner selbst willen suchen: Zwecke. Tugenden sind meist ein Ergebnis von Erfahrung und sehr oft bloße Konventionen.“ Aber läßt sich unser Handeln so klar und sauber nach Zwecken, Mitteln und Ergebnissen trennen?

 

III.

„was“ oder „wie“

Solche Fragen stellt die Amsterdamer Erziehungswissenschaftlerin Frieda Heyting in der von Hartmut von Hentig herausgegebenen Zeitschrift „Neue Sammlung“. Sie beginnt mit ihm eine Kontroverse über die Wirksamkeit von Ideen und Absichten. Für Frieda Heyting ist die Gesellschaft nicht Resultat unserer Entwürfe, wenngleich sie natürlich Resultat menschlichen Handelns ist. Wir haben die Gesellschaft nicht geplant, bevor wir sie geschaffen haben. Anstatt strategisch unsere Absichten zu verwirklichen, produzieren wir eine Vielzahl schwer kalkulierbarer Nebenfolgen. Wir wissen eben nicht, was wir tun, zumindest nicht vorher. Deshalb, so Heyting, sollten Aufmerksamkeit, Verantwortung und ein Gespräch ohne Aussicht auf letzte Worte an die Stelle der von Hentig letztlich doch noch geteilten Überzeugung treten, daß sich aus Werten und Zielen, über die man sich zunächst einigen muß, die nachgeordneten Mittel, Techniken und Handlungen ergeben, die benötigt werden, Ziele zu realisieren und Werte zu verwirklichen. Kommt es am Ende weniger auf das Was, also auf die weitgesteckten Ziele, als aufs Wie an? Schafft die Art und Weise, in der wir handeln, nicht jene übergreifende Atmosphäre, die dann auch als Ziel oder Wert verbal verdichtet wird? Kurz: Konstituiert das Wie nicht das Was? Ist das Wie nicht der Modus, in dem wir wirksam werden, also unsere Welt gestalten?

 

IV.

erwachsen gewordene erwachsene

„In der Erziehung entscheidet sich, ob wir die Welt genug lieben, um die Verantwortung für sie zu übernehmen“, sagte Hannah Arendt vor vier Jahrzehnten, am 13. Mai 1958, in der Bremer Böttcherstraße. Ihre  Analyse hat seitdem an Aktualität gewonnen. Die Philosophin, die sich ungern Philosophin nennen ließ, vermied in ihrem Vortrag „Krise der Erziehung“ das alte Jammerlied vom Wertezerfall und jedes Lamento à la „nach uns nichts Nennenswertes“. Im Gegenteil: Ihr Thema waren die Erwachsenen. „Die Autorität ist von den Erwachsenen abgeschafft worden, und dies kann nur eines besagen, nämlich daß die Erwachsenen sich weigern, die Verantwortung für die Welt zu übernehmen, in welche sie die Kinder hineingeboren haben.“ Erwachsene hätten für die Welt, wie sie ist, den Kindern gegenüber einzustehen, auch und gerade dann, wenn sie mit ihr nicht einverstanden sind. Vor allem dürften sie den Kindern nicht die Probleme aufladen, die zu lösen sie selbst sich scheuten. Das sagte sie, lange bevor jedes Neugeborene in Deutschland mit über 20 000 Mark Staatschulden und jeder Menge ökologischer Hypotheken belastet wird. Zehn Jahre vor dem antiautoritären Schub nahm Hannah Arendt die Schattenseite der „Progressive education“ in den USA aufs Korn und kritisierte hellsichtig, was vielen heute erst langsam dämmert: Die Erwachsenen haben vielleicht gar nicht so sehr versucht, die Kinder zu befreien, als sich selbst aus dem Staub zu machen. Sie enthalten ihren Kindern, die sie doch so idealisieren, etwas nicht Ersetzbares vor: sich selbst.

 

Es ist natürlich ein Zufall, daß im Jahr 1999, auf den Tag 41 Jahre nach Hannah Arendts großer Rede, wieder an einem 13. Mai, einem Himmelfahrtstag, vor einem Gesamtschulkongreß in Berlin Günter Grass sprach. Sein Thema war „Erbarmen mit den Lehrern“. Das gefiel einem Publikum, das sich allzu gern als Opfer sieht. Grass bestärkte es darin: „Wer möchte da Lehrer sein, wenn die Politiker die Folgen ihres Unvermögens bis in die Schule hinein auslagern?“ Nirgendwo werden so hohe Larmoyanzwerte gemessen, wie in deutschen Lehrerzimmern. Wahre Brutkästen der Wehleidigkeit entstehen, wenn sich pädagogische Weltflucht und jenes Milieu der alt gewordenen Neuen Linken kreuzen, in dem man es vorzieht, Opfer zu sein, aus lauter Angst davor, Täter werden zu können. Was „Täter“ und „Opfer“ allerdings so unheimlich verbindet, ist ihr Reinheitswunsch, ihre Angst davor, sich zu mischen oder einzumischen und ihr Verzicht, risikoreich zu handeln. Also werden Feindbilder konstruiert und Vernichtungsphantasien gepflegt. Jemand muß ja Schuld haben. Günter Grass sichtet den Feind, den „Verfassungsfeind“, in den „Chefetagen von Daimler und Siemens.“ So rahmt man Weltbilder und bastelt sich die große Exkulpation: „Die Verfassungswirklichkeit sieht bis in die Chefetage der Firma Henkel & Hundt asozial aus“. Was kann man da noch machen, gar Lehrern empfehlen? Gar nichts. Nur eine Klagegemeinschaft eröffnen und sich an der Sorgenagitation, der einzigen, die geblieben ist, gegenseitig laben.

 

Günter Grass spürte wohl diese Sackgasse und versuchte in seiner Rede am 13. Mai 1999 noch die Kurve. Er setzte auf „lernende Lehrer“. Aber auch diese Aufforderung blieb nur ein Appell von der Kanzel.

 

Hannah Arendt sprach am 13. Mai 1958 nicht von dieser schwachen Abstraktion, „der Gesellschaft“, die verantwortlich zu machen sei. Verantwortlich ist nur, wer sprechen kann. Was also sagen Erwachsene im Subtext ihren Kindern, wenn sie ihre Verantwortung auf Abstraktionen oder Instanzen schieben? „Es ist, als ob sie ihnen täglich sagten: In dieser Welt sind auch wir nicht sehr verläßlich zu Hause, und wie man sich in ihr bewegen soll, was man dazu wissen und können muß, ist auch uns nicht sehr gut bekannt. Ihr müßt sehen, wie ihr durchkommt; wir waschen unsere Hände in Unschuld.“ Heute ist Hannah Arendts Befund evident: Erwachsene, die ihre Welt wie Untermieter bewohnen, die ihre Träume und Wünsche in Stoßseufzern oder im larmoyanten Konjunktiv artikulieren, die also eigentlich nichts wollen, diese Erwachsenen ziehen mutlose Kinder auf. Sie verweigern ihnen das wichtigste Lebensmittel: Resonanz.

 

Uns fehlen nicht so sehr die Werte, schon gar nicht mangelt es uns an großen Appellen und scharfen Anklagen, es fehlen erwachsen gewordene Erwachsene. „Leben entzündet sich nur an Leben“, sagte Jean Paul. Selten wurde das klarer ausgedrückt als in Hannah Arendts großer Rede vom 13. Mai 1958:

„Erziehen tun wir im Grunde immer für eine aus den Fugen geratene oder geratende Welt, denn dies ist die menschliche Grundsituation, in welcher die Welt von sterblichen Händen geschaffen ist, um Sterblichen für eine begrenzte Zeit als Heimat zu dienen. Weil die Welt von Sterblichen gemacht ist, nutzt sie sich ab; und weil sie ihre Bewohner dauernd wechselt, ist sie in Gefahr, selbst so sterblich zu werden wie ihre Bewohner. Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muß sie dauernd neu eingerenkt werden. Die Frage ist nur, daß wir so erziehen, daß ein Einrenken überhaupt möglich bleibt, wenn es auch natürlich nie gesichert werden kann (…). In der Erziehung entscheidet sich, ob wir die Welt genug lieben, um die Verantwortung für sie zu übernehmen und sie gleichzeitig vor dem Ruin zu retten, der ohne Erneuerung, ohne die Ankunft von Neuen und Jungen, unaufhaltsam wäre.“

 

V.

lob des anfangs

Wie Hartmut von Hentig setzt auch Hannah Arendt an die Stelle, an der es häufig um Werte geht, Politik. Aber was ist Politik? Das ergibt sich für Hannah Arendt unmittelbar aus der menschlichen Kondition: der Mensch ist das Tier, das seine Dinge selbst in die Hand nehmen muß. „Wo Gewalt in die Politik eindringt“, schrieb sie, „ist es um die Politik geschehen“. Denn „der Mensch, sofern er ein politisches Wesen ist, existiert im Miteinandersprechen.“ Nur im Sprechen kann eine Welt vieler Möglichkeiten entstehen. Der Sieg der einen Wahrheit wäre für Hannah Arendt gleichbedeutend mit der Zerstörung der Welt. Die Auflösung der Zwangsvorstellung von der einen Wahrheit, die keine andere neben sich duldet, ihre Transformation in viele, nicht zu Ende gehende Gespräche und in viele Handlungen, die die Gespräche unterbrechen und Tatsachen schaffen, an die sich wieder Gespräche und neue Handlungen anschließen, diese Befreiung, die kein Paradies verspricht, aber die Möglichkeit gelingenden menschlichen Lebens, das ist Hannah Arendts Thema und ihr Begriff von Politik.

 

In Lessing fand sie ein Beispiel für diese genuin politische Gesinnung. Er nämlich stellte Erfahrungen mit der Welt über die Weltanschauung, die ja immer ein System ist, das, wie Hannah Arendt sagte, „vor weiterer Erfahrung schützt, weil sie sich auf eine mögliche Perspektive festlegt“. An Lessings politischem Denken pries sie die Lust, mit der er in sich viele Möglichkeiten vereine; das sei die Voraussetzung dafür, auch die anderen, ja die Welt, im Plural sehen zu können. Lessing habe sogar einen der heiligen Grundsätze unserer Tradition, den der Widerspruchslosigkeit mit sich selbst, geopfert, wenn die verschiedenen Gedanken nur Stoff zum Denken böten.

Die Welt nicht in den Rahmen eines Weltbildes zu zwingen, erweitert Möglichkeiten zum Handeln. Denn, so zitiert Hannah Arendt Lessing, der Mensch sei zum Handeln und nicht zum Vernünfteln geschaffen. Das Handeln, das Hannah Arendt vom Arbeiten und Herstellen unterschied, ist die Lust, das Leid, in jedem Fall die Leidenschaft, mit anderen Menschen eine gemeinsame Welt zu errichten. Diese gemeinsame Welt, das Zwischen, das Menschen verbindet und in Abstand hält, ist immer ungesichert, ist vergänglich und bedarf ständiger Erneuerung.

 

Hannah Arendts Denken kreist um die Fremdheit, die Menschen als, wie sie sagte, Neuankömmlinge und Anfänger in der Welt haben, eine Fremdheit, die sie nur durch den Aufbau einer gemeinsamen Welt überwinden können.

In der gemeinsamen Welt, in diesem Zwischenraum, in dem unabsehbare Möglichkeiten entstehen, wenn Freundschaften aufkommen, darf es aber, das ist sozusagen das Grundgesetz, nie nur eine Wahrheit geben, wie immer diese auch definiert sei. An die Stelle der Wahrheit tritt Freundschaft, die so wählerisch sei, wie das Mitleid egalitär ist. Freundschaft war für Hannah Arendt das Medium, in dem Neues und die menschliche Welt überhaupt erst entstehen. „Macht“, so schrieb sie, komme ursprünglich von „mögen“.

Die Vorstellung von der einen Wahrheit, die ja in unserer Geschichte so bestimmend ist, war ihr ein Greuel.

 

Jede Person, die wirklich eine Person ist, und kein Funktionär, ist widersprüchlich und kann nicht nur einer Wahrheit folgen. Jeder Mensch ist gewissermaßen ein Dissident, jeder ist anders unvollkommen, und eben weil wir unvollkommen sind, brauchen wir den Zusammenschluß, und dieser Zusammenschluß ist Politik. Politik wiederum gibt es nicht ohne das Wagnis der Öffentlichkeit. „Es geschieht nichts Neues unter der Sonne, es sei denn, daß Menschen das Neue, das in die Welt kam, als sie geboren wurden, handelnd als einen neuen Anfang in das Spiel der Welt werfen.“ Eine zentrale Kategorie in Hannah Arendts Denken ist die Person. Das ist nicht banal. Denn es ist ein Wagnis, nicht nur eine Rolle zu spielen und nur zu funktionieren: „Das Risiko, als ein Jemand im Miteinander in Erscheinung zu treten, kann nur auf sich nehmen, wer bereit ist, im Miteinander unter seinesgleichen sich zu bewegen, Aufschluß zu geben, wer er ist und auf die ursprüngliche Fremdheit dessen, der durch Geburt als Neuankömmling in die Welt gekommen ist, zu verzichten.“

Die Wahrheit indessen, immer verstanden als Alleinvertretungsanspruch und nicht zu verwechseln mit der Wahrhaftigkeit des Sprechens oder mit jenen Wahrheiten beschränkter Geltung, die bereit sind, sich mit anderen Wahrheiten anzufreunden, die große, eine Wahrheit also ist das so verführerische wie zerstörerische Gegenkonzept zu dieser Pluralität und Dissidenz des Menschen. Wenn Hannah Arendt von menschlicher Pluralität sprach, dann hieß das für sie, daß jeder Mensch an einer Stelle in der Welt steht, an der noch nie ein anderer stand. Jeder hat einen anderen Ausgangspunkt. Es ist ein Ausgangspunkt für Bewegungen, für eine Reise. Es ist nicht der Standpunkt, von dem aus man den Rest der Welt rezensiert. Den einen, uns von der Qual unserer ursprünglichen Einsamkeit und Fremdheit erlösenden, einzig richtigen und stabilen Weltpunkt, ihn gibt es nicht. Glauben wir an ihn, dann bringen wir uns um die große zerklüftete und schöne Weltlandschaft, dann könnten wir dieses differenzierte Spiel in den Zwischenräumen mit einem Satz überspringen und dabei die Welt erledigen. „Jede Wahrheit, ob sie nun den Menschen ein Heil oder ein Unheil bringen mag, ist unmenschlich im wörtlichsten Sinne, weil sie zur Folge haben könnte, daß alle Menschen sich plötzlich auf eine einzige Meinung einigten, so daß aus vielen einer würde, womit die Welt, die sich immer nur zwischen den Menschen in ihrer Vielfalt bilden kann, von der Erde verschwände.“ Für Hannah Arendt war, wie für Kant, das Erwecken der Vernunft eine zweite Geburt, ein selbstgemachter Anfang gegen das Gelebtwerden. Denn die erste Geburt haben wir uns nicht ausgesucht. Die erste Geburt war für Kant ein „Skandal des Anfangs“, den Menschen nur kompensieren können, wenn sie sich die Freiheit des Selber-anfangen-Könnens nehmen. Die Urszene des Anfangens ist das Staunen. Auf sie folgt die Kraft des Anfängers, der selbst anfangen kann.

Dieses Ziel kann weder durch Belehrung noch durch Überredung und schon gar nicht durch Indoktrination vermittelt werden. Es kann eigentlich gar nicht semantisch vermittelt, sondern nur in der Performanz mitgeteilt werden. Dieses Ziel wirkt nicht durch Inhalte, Bekenntnisse oder Werte, sondern durch das Wie des Denkens, des Handelns und vor allem des Sprechens. Es breitet sich wie eine ansteckende Gesundheit aus.

 

Mit der Fähigkeit, „Ich“ zu sagen, statt vorschnell ins „Wir“ zu fliehen, plädiert Hannah Arendt nicht für den einsamen einzelnen und schon gar nicht für einen Misanthropen. „Menschlichkeit, die sich in den Gesprächen der Freundschaft verwirklicht, nannten die Griechen Philanthropia, eine Liebe zu den Menschen, die sich darin erweist, daß man bereit ist, die Welt mit ihnen zu teilen. Ihr Gegensatz, die Misanthropia oder der Menschenhaß, bestand darin, daß der Misanthrop niemanden findet, mit dem er die Welt teilen möchte, daß er niemanden gleichsam für würdig erachtet, sich mit ihm an der Welt und dem Kosmos zu erfreuen.“

 

VI.

empowerment

Bildung, verstanden als Generationenverhältnis, ist die beste Arena, in der Erwachsene ihr Handeln und ihre Wirkung überdenken können. Hier können sie damit beginnen, andere Impulse zu setzen, als die für sie bisher gültigen. Wenn Schulen, Kindergärten und Hochschulen als Einrichtungen angesehen werden, an denen die Grammatik der Gesellschaft gewissermaßen als Verdichtung des Ganzen offen liegt, weil sie dort ja weitergegeben werden soll, dann können diese Orte für Erwachsene ein Spiegel zur Selbsterkenntnis und zur Welterkenntnis sein: Selbstversuche mit der von ihnen geschaffenen Welt.

 

Eine Bildungsreform, die heute ansteht, wird mehr als nur eine Schulreform sein müssen. Eine mentale Währungsreform steht auf der Agenda. Und zum Glück gibt es bereits einige Hoffnung machende Schwalben vor dem Sommer. So zum Beispiel das Durham Board of Education in Kanada, wo die Bertelsmann-Stiftung nach Recherchen auf allen Kontinenten die innovativsten Schulen fand. Die „Stille Revolution“ in Kanada begann mit Lehrern, die sich aus Peter Senges Theorie über lernende Organisationen diesen Satz gemerkt hatten: „Wir haben den Feind lange gesucht. Nun haben wir ihn gefunden. Wir sind es selber.“ Das war nicht büßerisch oder selbstgeißelnd gemeint. Im Gegenteil, das Schlagwort dafür heißt Empowerment, und das ist schwer ins Deutsche zu übersetzen: Ermächtigung? – Machtverlagerung, jedenfalls nach unten.

Lehrer müssen heute, im Übergang von der belehrten zur lernenden Gesellschaft, in ihrer Person mit dem Aufbruch beginnen, der für die gesamte Gesellschaft ansteht. In Durham haben sie dabei eine zunächst paradoxe Erfahrung gemacht: Wenn sie ihre Rolle als Wissensmonopolist aufgeben und Anfänger auf höchstem Niveau werden, haben sie die Chance, wieder zur Avantgarde in der Gesellschaft zu gehören.

 

Auf einem Symposion von ISIS, dem internationalen Netzwerk innovativer Schulen, rechnete Steve Benson vom Ministerium für Erziehung und Unterricht in Neuseeland kürzlich vor, 80% der Technologie, die heutige Schüler später benutzen werden, seien noch gar nicht erfunden. Daraus folgerte er, Kinder müßten in Schulen vor allem die Erfahrung machen, Wissen selbst zu entwickeln. Sie müssen Erfinder werden, während die herkömmlichen Schulen doch vor allem Ausführende herangezogen haben. Das größte Hindernis, das dieser Wende von der Belehrung zum Lernen entgegensteht, seien nicht die Lehrpläne und auch nicht die Regierungen. Das größte Hindernis ist tief in die Institution Schule eingeschrieben, es sind Lehrer, die nie etwas anderes gemacht haben als zu unterrichten oder unterrichtet zu werden. Steve Benson: „Lehren kann keine lebenslange Karriere mehr sein, aber Lernen muß eine solche lebenslange Karriere werden.“

 

Ein ebenfalls international strahlendes Beispiel für den anstehenden Aufbruch findet man in der Ferdinand Freiligrath-Schule in Berlin-Kreuzberg. Als diese Hauptschule am Ende schien, als Lehrer nicht mehr wollten oder nicht mehr konnten, als Unterricht nicht mehr möglich schien, holte man sogenannte „Dritte“ in die Schule, Künstler, Handwerker und andere Meister ihres Metiers. Sie verbreiten dort nun die Atmosphäre von erwachsen gewordenen Erwachsenen und zeigen Schülern andere biographische Modelle als das des verbeamteten Lehrers. Schulen müssen für Erwachsene selbst bedeutende Orte werden. Nur dann werden Schüler das Gefühl haben: Ich verpasse was, wenn ich nicht dorthin gehe – und eben nicht fürchten, sich und die Welt zu versäumen, wenn sie im Klassenzimmer sitzen.

 

VII.

nordlicht

Vielleicht sieht es bald in vielen Schulen so aus wie in dänischen Berufsschulen. Überall hängt Kunst. Selbst in der KFZ-Werkstatt. Und zwar Originale. Etwa 15 000 € hält das EUC SYD, der Verbund zweier gewerblicher Schulen in Aabenraa und Sonderborg, in ihrem Jahresetat für den Ankauf von Kunst bereit. Der Besucher glaubt zuerst, sich verhört zu haben. „Noch nie“, sagt Paul W. Lorenzen, Abteilungsleiter für Umwelt und Lernmilieu, und klopft dabei auf das edle Holz seines Schreibtisches, „noch nie sind Bilder vandalisiert worden.“ Er kennt schon die ungläubigen Blicke ausländischer Besucher. Vor allem die Deutschen trauen bei einem Rundgang nach kurzer Zeit ihren Augen nicht mehr. „Hängen sie die Bilder bei Schulfesten ab?“ wollte kürzlich einer wissen. „Nein“, sagte Paul W. Lorenzen, „dann würden wir lieber keine Feste mehr feiern. Wir zeigen den Schülern damit unsere Werte.“ Und nach einer kleinen Pause: „Was uns wichtig ist, müssen wir zeigen und vor allem leben, aber nicht predigen.“ Aber etwas extravagant sei eine Berufsschule voller Kunst doch schon? Der freundliche Däne wird streng. „Das ist gar nicht extravagant, mein Herr, das ist so nötig wie Stühle und Tische.“


 

Literatur in der Reihenfolge der Bezugspunkte im Text:

 

Hartmut von Hentig: Ach, die Werte – Über eine Erziehung im 21. Jahrhundert. München 1999

Frieda Heyting: Über Pluralität und Verantwortung

Hartmut von Hentig: Vernunft, Verständigung, Verantwortung. In: Neue Sammlung, Vierteljahres-Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft, Heft 1/1999

Hannah Arendt: Die Krise der Erziehung. In: Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft

Günter Grass: Der lernende Lehrer. In: Günter Grass, Für und Widerworte

Aus anderen von Hannah Arendt zitierten Büchern:

Hannah Arendt: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Rede bei Verleihung des Lessing Preises, liegt in verschiedenen Ausgaben vor, u.a.: „Menschen in finsteren Zeiten“ (Piper Verlag) oder EVA Reden, Bd. 27 (Europäische Verlagsanstalt)

Hannah Arendt: Vita Aktiva oder vom tätigen Leben (Reihe Piper, Band Nr. 217)

Das Durham Board of Education wird in dem Film von Reinhard Kahl, „Die stille Revolution“, porträtiert. Das Video (45 Minuten) wird von der Bertelsmann-Stiftung, Carl-Bertelsmann-Straße 256, 33311 Gütersloh vertrieben

Die Entwicklung der Ferdinand Freiligrath-Schule wurde in dem Film von Reinhard Kahl, „Die Dritten kommen“, über fünf Jahre begleitet. Langfassung (108 Minuten) und Kurzfassungen (10 Minuten und 60 Minuten) werden vom Verlag Pädagogische Beiträge, Rothenbaumchaussee 11, 20149 Hamburg vertrieben

Über die Erneuerung dänischer Berufsschulen: „Die Zukunft erfinden“, eine Videodokumentation von Reinhard Kahl, 60 Minuten, Bertelsmann-Stiftung, Carl Bertelsmann Straße 256, 33311 Gütersloh

 

 

ad personam:

 

Reinhard Kahl, geb. 1948, freier Publizist, schreibt, macht Rundfunksendungen und dreht Fernsehfilme über die Lust am Lernen, die Qual, belehrt zu werden und die endlosen Dramen des Erwachsenwerdens.

Im Hamburger Literaturhaus ist er Gastgeber des dort monatlich stattfindenden „Philosophischen Cafés.“