Bildungsgeiz taz Kommentar zur OECD Studie

NEUE STUDIE VERWEIST AUF DIE ANDERE DEUTSCHE BILDUNGSTRADITION

Geiz an Geld und Glaube

Deutsche Leser stutzen bei manchen Zahlen in der gestern veröffentlichten neuen OECD-Bildungsstudie. Was, mehr als 70 Prozent eines Jahrgangs beginnen in den skandinavischen Ländern oder in Neuseeland ein Studium? Ein Studium wird in den wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern der Normalfall. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sieht darin eine wichtige Investition ins Humankapital. Aha, doch keine richtige Bildung, nur Humankapital? Vorsicht: Auf dem deutschen Sonderweg herrscht Sackgassengefahr.

Auch wenn die OECD in Deutschland bei den Studienanfängern eine Trendwende feststellt, so liegt der Anteil immer noch unter dem Schnitt der Industriestaaten. Unser Land muss sich erneut vorrechnen lassen, dass es mit Investitionen in die Bildung geizt. Von den 28 verglichenen Staaten liegt die Bundesrepublik bei den Ausgaben auf dem 20. Platz. Nur 4,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gehen ins Bildungssystem. Das ist eine Schande. Dänemark, Island, Norwegen, Schweden und Belgien investieren über 6 Prozent. Auch an der Weiterbildung nehmen hierzulande nur halb so viele Menschen teil wie in Kanada, den USA, der Schweiz oder Großbritannien.

Warum, so fragt man sich, geizt dieses Land so sehr mit Bildung? Es ist doch gerade auf diese Tradition so stolz. Und niemand widerspricht mehr der zentralen These der OECD, die da lautet: Bildung ist kein Kostenfaktor, sondern eine Investition, die sich auszahlt. Der Einsatz verzinst sich höher als Geld auf einem Bankkonto. Das Risiko, arbeitslos zu werden, nimmt mit steigendem Bildungsgrad deutlich ab. Die Argumente der Zahlen sind erdrückend. Ein zusätzliches Jahr in Vorschulen, Schulen oder Hochschulen, so die Statistiker, könne langfristig mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts zwischen 3 Prozent und 6 Prozent gleichgesetzt werden.

In Deutschland ist die Zustimmung zu dieser Einsicht häufig nur ein Lippenbekenntnis. Ein Grund dafür ist, dass Bildung hierzulande immer als ein Privileg gedacht wurde. Es ist immer noch ein Thema für Sonntagsreden. Von Montag bis Freitag spricht man dann über den Bedarf, gar über den Ersatzbedarf. Wie viele Abiturienten und Hauptschüler, wie viele Juristen oder Chemiker brauchen wir? Nur die wirklich Geeigneten sollen aufs Gymnasium und dann studieren.

In diesem Begriff von den Geeigneten ist ein misanthropisches Gift verkapselt. Aus ihm ergibt sich der Generalverdacht, zu viele Ungeeignete wollten zu hoch hinaus. Und so manch einer fühlt sich in der Schule denn auch wie ein blinder Passagier. Unser Schulsystem macht es den Lehrern leicht, bei Schwierigkeiten im Unterricht zu sagen, sie müssten halt die falschen Schüler unterrichten. Auf unerklärliche Weise sollen Schüler für die jeweilige Schule geeignet sein, und nicht die Schulen für ihre Schüler. Natürlich sind sie so unendlich verschieden, voller Schwächen und Stärken. Es ist aufschlussreich, wie unterschiedliche Länder mit dieser Tatsache umgehen.

In der angloamerikanischen und skandinavischen Tradition wird darauf gesetzt, dass eine Ausbildung gar nicht gut genug sein kann. Von Bedarf spricht man nicht. Das Wort Humankapital ist dort positiv besetzt. Niemand kommt auf die Idee, es zum Unwort des Jahres zu küren. Unter Humankapital versteht man den subjektiven Faktor. Weil niemand die Zukunft kennt, muss man sich möglichst gut auf sie vorbereiten. Also sagt man den Schülern, ihr seid schon ganz gut, aber in euch steckt noch viel mehr, als ihr glaubt. Lasst uns was draus machen. Man macht den Schülern klar, dass auf sie gewartet wird. Der gleiche Satz wird in Deutschland noch zu häufig ganz anders betont: „Auf euch haben wir gerade noch gewartet, ihr werdet noch euer blaues Wunder erleben.“

In der klassischen Industriegesellschaft hatte das Beschämen der vielen angeblich Ungeeigneten durchaus Logik: der Beruf war dann die Chance, mit besonderer Anstrengung doch noch Anerkennung zu gewinnen. Wem in der Schule klar gemacht wurde, er solle sich bloß nichts einbilden, wer dort Lernen als bittere Medizin kennen lernte, der wollte mit dem Lernen später nicht mehr viel zu tun haben. Diese Tradition ist heute unsere Hypothek. Hinter dem Geiz an Geld für Bildung steht der Geiz in einer anderen Währung: Geiz an Anerkennung von Verschiedenheit und ein kleinmütiger Glaube an das Potenzial eines jeden.

REINHARD KAHL