PS 4 2004 Die Sache mit der Heterogenität

PÄDAGOGIK – P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

Die Sache mit der Heterogenität

Der Unterschied zwischen Schulen, die gelingen, und anderen, in denen Grundlegendes nicht stimmt, lässt sich mit einem einfachen Test bestimmen. Wie wird der Satz betont, der ganz neutral ausgesprochen heißt: »Auf euch haben wir gewartet.« Klingt er freudig, »Hey, kommt her …« Oder grollt es misanthropisch: »Auf euch haben wir gerade noch gewartet.« Letzteres kommt uns sehr bekannt vor. Gewiss, auch wir haben Schulen, in denen die nächste Generation willkommen ist, und in denen jeder anders sein darf. Auch bei uns gibt es Unterricht, der Differenz nicht als Abweichung bekämpft, sondern als Reichtum nutzt. Aber man muss zugeben, der Normalfall ist das nicht. Langsam dämmert uns allerdings der Zusammenhang zwischen der schlechten Stimmung und der miesen Leistung. Von der Schule bis zur Hochschule sind Spitzenleistungen schwach. Die »Risikogruppe« unter den Schülern ist stark. Bei den Studienabbrechern sind wir Weltspitze und bei den Studienanfängern fast Schlusslicht.

Eigensinn

Nach Timss, Pisa & Co. hat es der politische und wissenschaftliche Bildungsdiskurs immerhin auf den kleinen gemeinsamen Nenner gebracht: Alle geben Schwierigkeiten im Umgang mit »Heterogenität« zu. Das Wortungetüm ist wohl der Preis für den sehr ungefähren Konsens. Wir ziehen es halt vor, mit Ideendrachen zu kämpfen, statt ganz einfach Menschen zu mögen, ihnen etwas zuzutrauen und ihren Eigensinn zu akzeptieren. Ohne diesen Eigensinn ist allerdings das Eigene nicht zu haben. Es ist zugleich das Wertvollste der Person und sein Leistungszentrum. Unterschiede steigern Individualität und daraus entsteht ein Sog nach Zusammenarbeit. Die Wertschätzung der Verschiedenen erhöht jene »Vorfreude von Menschen auf sich selbst«, mit der Peter Sloterdijk Lernen definiert.

Der neue Blick auf Heterogenität muss die Aufmerksamkeit auf die Pseudodifferenzierung im fünfgliedrigen System – bitte die Sonderschulen nicht vergessen – richten! Und die meisten unserer Gesamtschulen, pardon, sind ein Bastard eigener Art. Anders als in den Sonntagsreden der Konservativen behauptet, erhöht das »gegliederte System« nicht die Vielfalt. Es eröffnet nicht das große Spiel, Unterschiede auszudifferenzieren, ja zu kultivieren. Es bedroht die Teilnehmer, die Risiken wagen, mit Ausschluss. Das gegliederte System ist der Institution gewordene Glaube an Perfektion und Homogenität. Seine Lebenslüge ist, jeder Schüler komme auf die für ihn richtige Schule, abgesehen von schnellstens zu korrigierenden Fehlentscheidungen.

Prokrustes

Nur wer an das Heil des Prokrustesbettes glaubt, kann es als einen Vorteil empfinden, mehrere Größen davon anzubieten. Besser wäre es, sich von der Methode dieses Wirtes aus der Antike, der die Körper seiner Gäste, damit sie passen, beschnitt oder dehnte, zu verabschieden. Dafür ist die Situation günstig. Nicht als Revival der alten Gesamtschuldebatte, sondern als Vorantreiben einer neuen Heterogenitätsdebatte! Ihr Ausgangspunkt ist ganz unideologisch. Es ist die Erkenntnis, dass Homogenisierung gar nicht gelingt. 40 Prozent der Realschüler in Baden-Württemberg könnten nach ihren Pisa-Leistungen im Gymnasium sein. Vergleichbare Schüler werden in der »höheren« Schule besser gefördert, weil die besseren Schüler sie mitziehen. Für alle Kinder ist die Aufteilung in fünf Menschengruppen der messbaren Leistung nicht förderlich. Von den schwerer messbaren Kollateralschäden ganz zu schweigen. Selbst wenn die Verteilung der Schüler in homogene Kohorten erstrebenswert wäre, sie klappt nicht. Man kann sich auf den Kopf stellen und wie in NRW verschiedene Typen von 10. Hauptschulklassen einrichten, die homogenisierende Schulzentrifuge läuft nicht rund. Wenn sich diese Erkenntnisse herumsprechen, könnte die auf die Gesamtschule projizierte Angst vor der Zwangskollektivierung in pädagogische LPG’s endlich an den Absender zurückgeschickt werden: an unser Prokrustessystem.

Club of Rome-Schulen

Aber die Reformation des Glaubens von der Homo- zur Heterogenität allein wird die Schulen nicht verbessern. Hinzu kommen muss eine neue Kombination von Pragmatismus und Phantasie, wie sie in Skandinavien und in der angloamerikanischen Tradition stärker ausgebildet ist. Einer von vielen deutschen Einstiegen in diese Mentalität sind die vor der Gründung stehenden Club of Rome-Schulen. Alle deutschen Schulen, die sich bewerben und deren Konzept anerkannt wird, können als COR-Schulen akkreditiert werden. Das Ziel, nicht die Startbedingung, ist, mit den Dreijährigen in der Vorschule zu beginnen und sie möglichst bis zur Hochschulreife zu führen. Keine Rede ist mehr vom gegliederten System. Realistisch setzt der Club of Rome nicht darauf, dass die Kultusministerkonferenz nun jubelt und sagt, das beschließen wir. Es geht um einen Rahmen, ja um Schutz für Schulen, die sich in diese Richtung entwickeln wollen. Ein Kongress Anfang März hat die Sache mit lautem Paukenschlag in die Welt gesetzt. Dem Club of Rome ist es gelungen, in vielen Kultusministerien für diese neue Schule Freiheitsspielräume herauszuschlagen. Ein gutes Beispiel, wie ein Zusammenspiel von Regierung und Nichtregierungsorganisationen aussehen kann.

P. S.

Über Vielfalt, Selbständigkeit und die Chancen einer zivilgesellschaftlichen Bildungspolitik wird am 4./5. Juni eine Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin diskutieren: www.boell.de

P.P.S.

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: Kahl-Lob.des.Fehlersgmx.de und neuerdings auch unter www.reinhardkahl.de