taz 22. 1. Entgiftet die Schule – Kommentar zum Bildungspapier der Grünen

Die Grünen haben ein lesenswertes Schulkonzept vorgestellt

Entgiftet die Schulen

Die Grünen, respektive die Spitzen von zehn Landtagsfraktionen, der

Bundesfraktion und was es der Gremien mehr gibt, haben als erste Partei

nach Pisa ein umfassendes Positionspapier zur Schulbildung vorgestellt –

und das ist richtig gut geworden. Es kann eine Grundlage sein für die

längst überfälligen Friedensgespräche zur Beendigung des 30-jährigen

deutschen Bildungskrieges. Schluss mit dem Schisma: entweder Leistung

oder humane Schule. Nicht mehr diese so eitle wie bequeme Generalkritik:

erst wenn wir eine bessere Gesellschaft haben, kann es auch eine gute

Schule geben. Nein. Nächste Schritte könnten gar nicht zu klein sein,

wenn dabei der Horizont erweitert wird.

Die Grünen lassen keinen Zweifel daran, dass die frühe Selektion in

Deutschland ein Gift ist, das auch die Leistungsbereitschaft lähmt. Aber

sie wissen, dass die anstehende Entgiftung den ganzen Bildungskörper

betrifft. Eine orthopädische Generalkur des vermaledeiten gegliederten

Schulsystems allein reicht nicht. Die bloße Organisationsdebatte darüber

könnte zur Neuauflage des alten Liedes führen: vor der großen Reform

können wir nichts machen.

Deshalb ist es gut, ein neues Leitbild zu formulieren. Und Kompliment,

es ist kein Leidbild der Bildungsphilister geworden. Also: Schulen

müssen selbstständig sein. Dann kommt dort eine die Schüler ansteckende

Souveränität auf. Sie müssen Zeit haben und ihre Rhythmen finden. Den

ganze Tag offene Türen und die Lehrer müssen da sein. Das heißt

Ganztagsschule. Bis zum neunten Schuljahr bleiben alle Schüler zusammen.

Das hat den Vorteil, endlich die Illusion von homogenen Lerngruppen

aufzugeben. Die Gemeinschaftsschule ermöglicht das Recht und die Lust,

verschieden zu sein. Lehrer müssen für all das keine Beamte sein, aber

sie müssen Ideen haben und menschenfreundlich sein. Standards müssen

gesetzt werden. Aber sie dienen nicht dem Rausprüfen, Angstverbreiten

und Beschämen. Sie helfen, sich Rechenschaft zu geben. Und sich zu

verbessern. Das ist häufig anstrengend, aber macht irgendwann richtig

Freude. REINHARD KAHL