Feindbild Lehrer, Feindbild Streber – DIE WELT

Feindbild Lehrer, Feindbild Streber Unser Schulsystem erzeugt Angst vor Prüfungen, statt mit bestandenen Abschlüssen zu lockenvon Reinhard KahlNun wissen es alle: Deutschland hat ein Bildungsproblem. Auch kleine Verbesserungen im Pisa-Ranking ändern daran nichts. Deutschland hat aber auch ein Mentalitätsproblem: Häufig nämlich wird ein Flirt mit Katastrophenszenarien einer Liaison mit dem Gelingen vorgezogen. Es gibt auch einen Pisa-Masochismus. Und manchmal präsentiert die Bildungspolitik selbst das ganze Problem wie in der Nußschale: Die Pisa-Studie wird in Deutschland gleich dreimal vorgestellt. Erst gehen die Kultusminister mit den deutschen Ergebnissen an die Öffentlichkeit. Dann stellt Andreas Schleicher für die OECD die internationalen Resultate vor. Schließlich gibt Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn ihre Interpretation. Alle Versuche zu einer gemeinsamen Konferenz sind mißlungen. Wenn man sich nicht mal in der Präsentation der Diagnose einigen kann – wie schlecht ist es dann wohl erst um die Therapie bestellt?
Es gibt einen gemeinsamen Nenner von Schulklima und Bildungsdebatte in Deutschland. Er lautet: Kleinkrieg und Ressentiment. Ein Beispiel. Zwei finnische Austauschschülerinnen in Berlin beschweren sich, daß es ihnen schwer fällt, in der deutschen Klasse zu lernen. Da sei ständig Unruhe. Mitschüler kämen eigentlich nur, um sich zu treffen. Sogar Lehrer hätten die beiden Finninnen schon gefragt, ob sie Probleme hätten, daß sie immer ganz genau mitbekommen wollten, was gerade unterrichtet wird. In Deutschland nennt man solche Schüler Streber. Ein Wort, das andere Sprachen nicht kennen oder sich als Lehnwort bei uns ausleihen. Der Streber ist ein Kollaborateur. Die beiden finnischen Schülerinnen sagen, daß sie es gewohnt sind, für ihr Lernen selbst verantwortlich zu sein und daß sie in der Schule natürlich lernen wollen. Was denn sonst?
Schüler aus anderen Ländern fragen in Deutschland immer wieder: „Warum sind die Lehrer eigentlich eure Feinde?“ Dann werden die Deutschen still. Diese Frage haben sie sich noch nie gestellt. Die latente Feindseligkeit fanden sie bisher ganz normal. Aber dann packen die deutschen Schüler aus, was sie zuweilen von ihren Lehrern zu hören bekommen. Sätze wie: „Ihr seid wie der Rotz an meinem Ärmel.“
Warum gehen in Deutschland viele Kinder zur Schule, als müßten sie zum Zahnarzt? Warum erinnert ihr Lernen zuweilen an Bulimie: Informationen sammeln, Prüfungen bedienen und sich wieder entlasten? Könnte es sein, daß deutsche Schüler häufig deshalb so widerwillig lernen, weil das Lernen ihnen eher als eine Art Fronarbeit erscheint und nicht etwa als das faszinierende Projekt des eigenen Lebens?
Die neue Pisa-Studie gibt hier einen interessanten Hinweis. Diesmal nämlich wurde neben dem Verständnis von Texten, Mathematik und Naturwissenschaften auch die „Problemlösekompetenz“ untersucht. Während in den schulbezogenen Tests die deutschen Resultate um den internationalen Mittelwert von 500 liegen, fallen die Ergebnisse beim Problemlösen deutlich besser aus. Dabei haben diese Aufgaben überwiegend eine mathematische Struktur. Nur sind sie alltagsnäher formuliert.
Nehmen wir diese Mathe-Testaufgabe: Fritz läuft 100 Meter in 17 Sekunden. Wie lange braucht er für 1000 Meter? Dann antworten die meisten Schüler: in 170 Sekunden. Sie denken nicht darüber nach, daß man auf der mittleren Strecke nicht das gleiche Tempo hält wie bei 100 Metern. Im Alltag sind sie klüger. Warum jedoch regredieren sie in der Schule zum pawlowschen Automat? Sie lernen, intelligent zu gucken, damit der Lehrer denkt, sie beherrschten den Stoff und hätten verstanden, statt Fragen zu stellen, die nie dumm sind, wenn es die eigenen sind.
Wir haben in unseren Schulen ein Entfremdungsproblem. Lernen wird häufig zum Mittel fürs bloße Überleben entwertet. Welche Noten brauche ich, um aufs Gymnasium zu kommen? Welche brauche ich, um auf dem Gymnasium zu bleiben? Wer das Nötigste geschafft hat, lehnt sich zurück, stellt häufig nur noch seinen Körper in der ungeliebten Anstalt ab und geht mit seiner Phantasie spazieren.
Gute Schulen – die gibt es in Deutschland ja auch – können die Überlebensängste beruhigen. Sie vermitteln den Schülern, daß sie willkommen, ja: in der Schule zu Hause sind. Gewiß, der deutsche Schulneurotizismus hat etwas zu tun mit dem gegliederten System, in dem viele Schüler ständig abstiegsbedroht sind. Allerdings haben die deutschen Gesamtschulen, von einigen hervorragenden Beispielen abgesehen, dieses Problem auch nicht gelöst. Worauf also setzen? Auf die „Biographie“ gelingender Schulen! Sie zeigen, was die Pisa-Studie weltweit nahelegt: Wenn es gelingt, die Angstintegration durch ein Lernen zu ersetzen, das Schülern Vorfreude auf sie selbst macht, steigen die Leistungen. Den Schulen ihre eigene Biographie zugestehen, damit auch Schüler dort an ihrer Biographie arbeiten; den Druck der Abschlüsse reduzieren und die Verlockung bestandener Anschlüsse steigern. Das könnte eine Abkehr vom deutschen Sonderweg in der Bildung weisen, über die jetzt zu diskutieren ist, jenseits des Bildungskrieges. Denn eines steht nun mal fest: Die Wirksamkeit der deutschen Schulen ist gering. Das betrifft die soziale Gerechtigkeit genauso wie das Kerngeschäft des Lernens.
Reinhard Kahl, Fernsehjournalist und Autor, lebt in Hamburg
Artikel erschienen am Mi, 8. Dezember 2004Artikel drucken © WELT.de 1995 – 2004